Bertram Vogelweid - Marie von Ebner-Eschenbach - E-Book

Bertram Vogelweid E-Book

Marie von Ebner-Eschenbach

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Beschreibung

Bertram Vogel ist ein erfolgreicher Zeitungsredakteur, hat aber die Nase voll von seinem Beruf. Er beschliesst aufs Land zu ziehen und dort Bauer zu werden. Aber schon bei einem "Probewohnen" stellt er fest, dass die Dinge oft anders sind als sie scheinen ...

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Bertram Vogelweid

Marie von Ebner-Eschenbach

Inhalt:

Marie von Ebner-Eschenbach – Biografie und Bibliografie

Bertram Vogelweid

I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

VII.

VIII.

IX.

X.

XI.

XII.

XIII.

XIV.

XV.

XVI.

XVII.

XVIII.

XIX.

XX.

XXI.

Bertram Vogelweid, Marie von Ebner-Eschenbach

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849611156

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Marie von Ebner-Eschenbach – Biografie und Bibliografie

Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach, geborene Gräfin Dubsky, Dichterin und Novellistin, geb. 13. Sept. 1830 auf Schloß Zdislavic in Mähren, genoss ihre Erziehung teils in Wien, teils in Zdislavic und heiratete 1848 den Freiherrn Moritz v. C., damals Hauptmann im Geniekorps und Lehrer an der Kriegsschule zu Klosterbruck, später Feldmarschalleutnant. In der kinderlosen Ehe widmete sich Marie v. E. mit großem Eifer umfassenden literarischen und wissenschaftlichen Studien, und ihr frühzeitig sich offenbarendes Talent fand Ermunterung durch Grillparzer und Förderung durch Fr. Halm. Seit Mitte der 1860er Jahre wohnte sie ständig in Wien, 1900 erfuhr sie zu ihrem 70. Geburtstag zahlreiche Ehrungen. Der dichterische Ehrgeiz Marie v. Ebner-Eschenbachs galt anfänglich der Bühne; ihr Schauspiel »Maria Stuart in Schottland« wurde 1860 in Karlsruhe ausgeführt, während das Trauerspiel »Marie Roland« (1867), wie das vorige nur als Manuskript gedruckt, nicht auf die Bühne gelangte. Im Wiener Burgtheater wurden zwei Einakter von ihr: »Doktor Ritter« (Wien 1871) und »Die Veilchen« (das. 1878) gespielt; im Wiener Stadttheater ihr Schauspiel aus der modernen Wiener Gesellschaft. »Das Waldfräulein« (1873) und der Einakter: »Untröstlich« (1874). Doch konnte die Dichterin auf der Bühne bei aller Begabung nicht festen Fuß fassen, und sie wandte sich daher der Erzählung zu. Ihre ersten Bücher: »Die Prinzessin von Banalien« (Wien 1872), ein satirisches Märchen, »Erzählungen« (Stuttg. 1875, 4. Aufl. 1901) und »Božena« (das. 1876, 6. Aufl. 1902) fanden indessen noch nicht viel Beachtung. Als sie aber mit heitern Sittenbildern der österreich ischen Aristokratie, den »Zwei Komtessen« (Berl. 1885, 6. Aufl. 1902), großes Aufsehen erregt hatte, wirkte ihr Ruhm auf die früher erschienenen Dichtungen zurück und steigerte sich noch, als die Dichterin in rascher Folge poesiereiche Novellen schrieb, die nicht bloß porträttreue Bilder des österreichischen Adels und seiner Umgebung in Stadt, Schloss und Dorf enthalten, sondern auch von einer hohen ethischen Gesinnung getragen und glänzend in der geistsprühenden Darstellung, fesselnd durch die Anmut des Humors sind. Es erschienen die Novellen: »Neue Erzählungen« (Berl. 1881, 3. Aufl. 1894; darunter die Meisterstücke: »Die Freiherren von Gemperlein«, »Nach dem Tode« und »Lotti, die Uhrmacherin«), »Dorf- und Schloßgeschichten« (das. 1883, 5. Aufl. 1902), »Neue Dorf- und Schloßgeschichten« (das. 1886, 3. Aufl. 1901), »Miterlebtes« (das. 1889, 3. Aufl. 1897), »Margarete« (Stuttg. 1891, 5. Aufl. 1901), »Drei Novellen« (Berl. 1892, 3. Aufl. 1901), »Das Schädliche. Die Totenwacht« (das. 1894), »Rittmeister Brand. Bertram Vogelweid« (das. 1896), »Alte Schule« (das. 1897), »Aus Spätherbsttagen« (das. 1901, 2 Bde.), »Agave« (das. 1903); die Romane: »Das Gemeindekind« (das. 1887, 7. Aufl. 1901), ihre bedeutendste Dichtung, »Unsühnbar« (das. 1890, 6. Aufl. 1902), »Glaubenslos?« (das. 1893, 3. Aufl. 1903). E. gilt jetzt mit Recht als die größte deutsche Schriftstellerin der neuesten Zeit. Ausgehend von der Kritik des Adels, in dem sie aufgewachsen war, hat sie nach und nach zu allen Zuständen und Streitfragen ihrer Zeit Stellung genommen und das Ideal der Menschenliebe, ohne Rücksicht auf Nation und Konfession, und der tätigen Entsagung in den verschiedensten Variationen verkündet. Freimütig und tapfer, fesselt sie durch die Schönheit ihrer Seele, die sich als der Erwerb eines durch reiche Erfahrung zur Harmonie gelangten empfindsamen Herzens erweist. Außer den Novellen veröffentlichte sie die mit Recht berühmten »Aphorismen« (Berl. 1880, 5. Aufl. 1901), die gehaltvollen »Parabeln, Märchen und Gedichte« (das. 1892) und das Märchen »Hirzepinzchen« (Stuttg. 1900). Ihre »Gesammelten Schriften« erschienen in 8 Bänden (Berl. 1893–1901). Vgl. Bettelheim, Marie v. E., biographische Blätter (Berl. 1900); Necker, Marie v. E. nach ihren Werken geschildert (das. 1900).

Bertram Vogelweid

I.

Bertram Vogel hatte ein Pack Manuskripte in die ohnehin schon überfüllte Lade seines alten Ungeheuers von Schreibtisch gestopft und bemühte sich nun, sie zuzuschieben. Aber sie leistete Widerstand, und als er böse wurde und anfing, heftig an ihr zu rütteln, spießte sie sich gar. Auf einmal schien sie ein menschliches Gesicht anzunehmen, das einen großen, viereckigen Rachen voll Bosheit gegen ihn aufsperrte.

Er trat zurück und seufzte grimmig: "Schon wieder! Schon wieder!"

Auch eine Folge seiner entsetzlichen Nervosität, daß alles Leblose, das ihn umgab, sobald er in die geringste Aufregung gerieth, ein höhnisch grinsendes Gesicht annahm, – das Gesicht eines seiner Feinde und Neider. Er hat ihrer zahllose, er, von Natur der friedfertigste und wohlwollendste  Mensch, ist mit Feinden und Neidern bespickt, wie der Schild des Achilles mit Speeren. Und daran, und überhaupt an allem Übel, das ihn trifft, ist der Beruf schuld, den er ausübt und haßt, der Beruf, in den die Verhältnisse ihn hineingeschoben haben und für den die zärtlichste, geliebteste, thörichtste Mutter ihn auserwählt glaubte.

"Wart’, du Verfluchter, wie ich dich sitzen lasse," murmelte er und ballte die Fäuste gegen etwas Unsichtbares in der Luft. "Wart’ nur noch ein Jahr! Wartet auch ihr, wie ich euch verlassen werde", rief er den verrauchten Wänden zu.

Nur weil die Wohnstube wohlfeil war, hatte er so lange in ihr ausgehalten. Sie lag im vierten Stock eines alten Zinshauses der inneren Stadt, hatte die Form einer Bratröhre und nur ein einziges Fenster, das nie und niemals von der Glorie eines Sonnenstrahls umspielt wurde. Und das Gäßchen, in dem das alte Haus stand, war so schmal, und die bösartig duftenden Rauchfänge seines Gegenübers waren so nahe! Mit einem langen Pfeifenrohr hätte man die Katzen, die Nachts auf dem Dache herumspazierten und ein  verachtungswürdiges Konzert aufführten, herunterfegen können. In diese Versuchung gerieth Bertram nicht, er besaß keine lange Pfeife, er war (ebenfalls aus Sparsamkeit) kein Raucher. Er hielt das Fenster überhaupt geschlossen, denn es kam nichts Gutes herein, und für Ventilation war durch die beiden Öffnungen der Bratröhre hinlänglich gesorgt. Die verruchten zwei standen in beständiger, heimtückischer Wechselwirkung und verbanden sich alle Augenblicke zu einem grausamen Attentat gegen den am Schreibtisch sitzenden Mann. Plötzlich legte sich’s ihm wie ein eisernes Band um den Hals, oder es bohrte sich ihm ins Ohr wie ein Dolch, und nun begann das Tosen und Brausen im Kopf und machte ihm die Anstrengung des Denkens zur Höllenqual.

Gedacht aber mußte, es mußte sogar erfunden werden, spannend und originell um jeden Preis, ohne weiteres auch – um den des gesunden Menschenverstandes. O greulich!

In der Fenstervertiefung, über dem Abreißkalender, der das Datum 25. Juli zeigte, hing der Rasierspiegel. Bertram trat vor ihn hin, betrachtete  nach langer Zeit einmal wieder das Bild, das ihm daraus entgegensah, mit Aufmerksamkeit. Sie ging allmählich in zornige Entrüstung über.

Achtunddreißig Jahre alt sein und schon so tiefe Falten auf der Stirn haben und so eingefallene Wangen, so rothumränderte, trübe Augen, das ist doch des Teufels! Den verbissenen Zug um den Mund verdeckt glücklicherweise zum Theil der blonde Schnurrbart, dessen Enden sich breit ausgebürstet mit dem kurz gehaltenen Backenbart vereinigen; es sieht fein aus, und der ganze Mensch sieht fein aus, aber schrecklich unruhig und nervös. – Fortwährend muß er blinzeln und von Zeit zu Zeit verzieht ein blitzartiges Zucken ihm das Gesicht. Wie er das häßlich fand, wie er sich darüber kränkte und wie er nun einen neuen Grund zur Kränkung erfuhr! Eine Überraschung – aber was für eine! Mitten im üppigen Wald seiner Haare, gerade auf dem Scheitel, hatte er eine kleine Lichtung entdeckt.

"Das hast du mir angethan," rief er und ballte wieder die Faust, diesesmal gegen den Arm des Gasrohrs an der Wand über dem Schreibtisch.

 Die Flamme war längst ausgelöscht worden, aber bis zum Morgen hatte sie dem unermüdlichen Arbeiter geleuchtet. Achtstundentag – lächerliches Wort! Sei du ein fleißiger Schriftsteller und Redakteur an der großen Zeitung: "Die junge Grenzenlose" und sprich vom Achtstundentag. Habe allmorgendlich ein halbes Hundert Briefe zu verschlingen, ein paar Dutzend Manuskripte, Brochuren, Bücher durchzublättern, habe gewohnheitsmäßig zwei Romane unter der Feder und sprich vom Achtstundentag. Ein Roman "läuft" in einem Volksblatt, der andere in einem Salonblatt, und: Fortsetzung folgt, heißt’s unerbittlich. Eher dürfte die Zeit in ihrem Laufe innehalten, als so ein Roman in dem seinen.

Trotzdem ist die tägliche Arbeit nicht die arge, weil man an sie nur denken braucht, so lange man dabei ist. Die argen, die nervenzerrüttenden Arbeiten sind die, die nur wöchentlich einmal erscheinen, an die man aber beständig denken muß. Da ist der gewisse "Überblick über die neueste Litteratur." Heißes Pech und brennenden Schwefel über den Erfinder dieses an "über" überreichen Titels.

 "Ändern wir ihn, er ist zu lügenhaft," hatte Bertram Vogel dem Chef und den Kollegen vorgeschlagen. "Wenn wir von einem Einblick in den Wust sprächen, wär’s protzig genug von uns. Ordinäre Ehrlichkeit spräche von einem Streif- oder Seitenblick."

Man lachte ihn aus. Der Überblick gehörte zum eisernen Bestand der "Grenzenlosen," die Abonnenten waren an ihren Überblick gewöhnt, hatten ihn bezahlt und geschluckt und glaubten ihn zu haben.

Einer noch größern Beliebtheit als der Überblick erfreute sich das Sonntagsfeuilleton. Es hatte Bertrams Schriftstellerruf begründet, ihn populär gemacht, ihm seinen begeisterten Anhang erweckt und seine ehrenvollen Feindschaften.

Niemand sagte mehr: "Das Feuilleton von Vogelweid," wie niemand sagt: "Der Wein Burgunder." Es hieß nur noch: "Haben Sie den heutigen Vogelweid gelesen?" Und: "Der ist wieder unerreichbar, macht einen witzig für die ganze Woche. Und das alles nur so hingeworfen, man spürt ordentlich, wie er sich selbst dabei unterhalten hat."

 Über die Leichtigkeit, mit der Vogel produzirte, hatten sich Legenden gebildet, die man ihm erzählte, ihm ins bärbeißige Gesicht. Er konnte wüthend werden und widersprechen, so viel er wollte; es half nichts, die Leute schworen auf ihren Unsinn. Auf den zum Beispiel, daß er seine Feuilletons am Setzkasten diktire, oder daß er ihrer zwölf an jedem Samstage hinkritzle, eines davon ziehen lasse von der Hausmeisterin, die übrigen ins Feuer werfe.

In Wirklichkeit waren die lustigen Feuilletons, die ins Leben hineingeflattert schienen, lauter Zangengeburten, und Bertram fühlte die Qualen, unter denen sie entstanden, in demselben Verhältniß wachsen, in dem seine Jugend abnahm. Sie war’s, ihr Frohsinn, ihre Lebenslust, was einst in seinen Arbeiten gesprudelt hatte, er besaß kein eigentliches wahres, nur ein Formtalent. Die Form war auch noch immer anmuthig, geschmeidig, tadellos rein, aber der Inhalt bot nichts Neues mehr. Die Feinde und Neider haben es längst gemerkt, die Leser noch nicht. Werden sie sich noch fünfundzwanzig Mal, werden sie sich noch ein Jahr lang  darüber täuschen lassen, daß es dieselbe Voltige ist, die ihnen bei veränderter Dekoration in einem fort vorgemacht wird?

Noch ein Jahr, nur noch ein Jahr, und mit der widerlichen Tintenkleckserei ist’s vorüber. Bertram Vogelweid ist todt, Bertram Vogel auferstanden. Er lebt in tiefster Zurückgezogenheit auf seinem eigenen Grund und Boden, auf dem Bauerngütchen, das er erworben und allmählich schuldenfrei gemacht hat. Er wird sein Feld bebauen, sein Gärtlein pflegen, Bäume pflanzen, ... Bäume! Was giebt es Schöneres in der Welt? Was hat er je geliebt wie Bäume, der im Wald geborene Försterssohn?

Bäume! Bäume! Heute noch wird er Bäume sehen und freies Feld. Es wirbelt ihm im Kopf bei dem Gedanken, es schwindelt ihm, er muß sich setzen. Er sieht wieder überall Gesichter, verträgt nicht einmal die Freude mehr; sein Arzt und Freund hat ihm mit gutem Grunde vor kurzem erst gesagt: "Jetzt wird mir der Mensch in seinen alten Tagen noch hysterisch."

Auf dem Schreibtische liegen die Früchte seines  wahnsinnigen Fleißes. Vier Überblicke, vier Feuilletons, die letzten Fortsetzungen seiner, ja, das hat er sich zugeschworen, letzten Romane. Des Volksromans mit seinen idealen Anarchisten, ausbeuterischen Kapitalisten, vom Blut und Schweiß des Volkes lebenden Baronen, Grafen und Fürsten, des Salonromans mit seinen Zweideutigkeiten, seinen Schlüpfrigkeiten. Nur allzu treu nach französischen Mustern, und doch überall Champagner in Bier verwandelt.

Ekel und Greuel! Eine plötzliche Wuth erfaßte ihn über sich selbst, über die Wege, die er ging, und über alle die Hunderte von Narren, die sich an ihn herandrängten und seinen Spuren folgen wollten, und denen er davon abgerathen hatte, im Anfang seiner Karriere recht höflich, in der Folge derb und derber.

Er besann sich auch der Singvögel männlichen und weiblichen Geschlechts, die ihm scharenweise zugeflogen waren. Erbarmungslos hatte er sie verscheucht, und wer weiß, ob sich unter ihnen nicht vielleicht doch eine Nachtigall befand.

Da war eine Anna Mimona, deren er nicht  ohne eine Art Reue gedenken konnte. Sie hatte ihm ein Heft Gedichte – ein kalligraphisches Meisterwerk – geschickt, und um sein Urtheil gebeten. Ein empfehlendes Wort von ihm, schrieb sie, würde diesen poetischen Versuchen einen Verleger verschaffen und dadurch einer verarmten Familie die Existenz erleichtern.

Bertram hatte das Buch nicht aufgeschlagen. Was kann man einer Person zutrauen, die albern genug ist, die Lyrik als Einnahmequelle anzusehen! Als die Poetin nach langer Zeit wieder schrieb und auf das höflichste um Bescheid ersuchte, erhielt sie ihn. Er lautete: "Kaufen Sie sich eine Nähmaschine."

Seitdem hatte sie ihn nicht mehr behelligt, und das gefiel ihm; Anna Mimona war also eine feinfühlige Person und bildete einen gewaltigen Gegensatz zu den vielen, die sich ihm nahten, girrend wie die Tauben, sobald aber der Beifall, den sie verlangten, ausblieb, zu bösartigen Krähen wurden und die Augen des unerbittlichen Kritikers bedrohten.

Das alles aber wäre zu verschmerzen, es giebt  viel Schlimmeres: die Anhänger und Freunde, die gelobt werden müssen, weil sie loben, die Gegner, die getadelt werden müssen, wenn auch der eignen Überzeugung zum Trotze. So lange gelobt und getadelt, bis aus all dem Müssen eine Art Wollen sich entwickelt und die aufgedrungene Meinung zur eignen wird, weil man um sie gelitten und Anfeindung erduldet hat. Aus dem fortwährenden Bekennen entsteht ein Glauben. Das Vorurtheil ist zur Religion geworden, das Amt hat den Menschen gefressen.

Bertram stieß ein höhnisches Gelächter aus und preßte beide Hände konvulsivisch an den Kopf.

Eine alte Kuckucksuhr, die in der Nähe der Thür ihr langes Pendel schwang, erhob jetzt ein lautes Geschnarre. Sie hatte die Absicht, elf zu schlagen, konnte sie aber nicht ausführen.

In einer Viertelstunde wird der Wagen da sein, der den Reisenden nach dem Bahnhof bringen soll. Bertram hat gestern einem Komfortablekutscher auf dem Stephansplatz das Versprechen abgenommen, sich Punkt ein Viertel auf Zwölf vor dem Hausthor einzufinden. Wenn er nur kommt, der  Mensch. Im Moment, in dem Vogel ihm das Angeld gegeben und er’s eingesteckt hat, sind dem Besteller die unverläßlichen Augen des Menschen aufgefallen. Wenn er nur Wort hält. Wort halten ist eine große Tugend, und von einem Komfortablekutscher eine große Tugend verlangen die pure Romantik, die reine Thorheit. Aber man begeht sie, man ist so dumm, man ist ein so vertrauensseliger Esel!

Bertram spürte einen gallbittern Geschmack im Munde und betrachtete mit Wehmuth das hübsche Kofferchen, das er sich gestern angeschafft hatte. Es stand in der Ecke auf zwei Sesseln sauber zusammengeschnallt. Die Schlösser glänzten wie zwei Augen und schienen zu fragen: Nun – wird’s? Wandern wir? Die Handtasche (auch neu und fertig gepackt) war auf dessen Rücken etablirt und noch offen. Sie wartete auf den Schreibtischschlüssel, den sie aufnehmen sollte. Aber der steckte, und die Lade gähnte wie ein Haifisch. Bertram sprang auf und wollte sie mit einem gewaltigen Ruck zuschieben. Da entfaltete sie eine teuflische Bosheit und spie ihm, soviel sie von ihrem Inhalt nur herausbringen konnte, vor die Füße.

 Sinnlose Wuth übermannte ihn, er fiel über die Tückische her und rüttelte an ihr, daß sie stöhnte und in allen Fugen bebte.

Jetzt wurde an der Thür geklopft und ohne weitere Umstände eingetreten. Frau Hundlgruber, die Hausmeisterin, ein Bild grandioser Gelassenheit, zwang sich zu einem kleinen Schrei beim Anblick des Zimmerherrn, der seinen Schreibtisch prügelte:

"Jessas und Joseph, Herr von Vogel, was sein’s denn schon wieder nervios, was regen’s Ihnen denn auf? Kommen’s, gehn’s weg, lassen’s mich her."

Sie schob ihn fort mit einer sanften Macht und Leichtigkeit, wie sie ein Feldsesselchen fortgeschoben hätte, sammelte die auf dem Boden liegenden Schriften und legte sie mit glättenden Händen in die Lade, die, empfänglich für anständige Behandlung, den ganzen Reichthum nun gutwillig aufnahm und sich auch ohne Widerstand absperren ließ.

Frau Hundlgruber warf den Schlüssel in die Reisetasche und meldete auch, daß es Zeit, und daß der Einspänner vorgefahren sei.

Wieder gerieth Bertram außer sich: "Zeit ist’s;  ich versäum’ den Zug! ich versäum’ den Zug!" stieß er hervor, riß seinen Hut und Überzieher vom Kleiderstock und wollte mit Hinterlassung aller seiner Reiseeffekten davonlaufen.

Frau Hundlgruber ertheilte ihm eine neue Ermahnung, gab ihm seine Tasche und seinen Regenschirm in die Hand, nahm selbst das Kofferchen unter den kräftigen Arm und fragte, was mit den Sachen auf dem Schreibtisch zu geschehen habe.

Bertram rief voll Hast: "Alles Rekommandirte auf die Post ... Die Rezepisse verwahren Sie, die bind’ ich Ihnen auf die Seele, mit Spagat, Frau Hundlgruber. Das große Paket tragen Sie, bitte, auf die Redaktion."

"Jessas und Joseph, das is g’wiß das End’ von Ihrer schönen G’schicht," sprach Frau Hundlgruber und lächelte seelenvergnügt: "Sagen Sie mir nur noch g’schwind, ich könnt’ ja heut’ nit schlafen vor Neugier: Wird der Baron wirklich lebendig begraben? Verdienen thät er’s, der Schuft der miserable. Is der Pülcher wirklich der Stiftsdam’ ihr Sohn, und wird der brave Anarchist richtig noch Minister bei der Polizei?"

 "Das alles soll die Zukunft Ihnen enthüllen, jetzt lassen Sie uns scheiden. Leben Sie wohl, Meisterin dieses Hauses," sprach Bertram pathetisch, "und wenn hier Feuer ausbrechen sollte, dann retten Sie alles, nur den," er wies mit ausgestrecktem Finger nach dem Schreibtische, "den lassen Sie verbrennen, der ist assekurirt."

Damit rannte er die Treppe hinab, stieg in den, vor dem Hause wartenden offenen Wagen, das Gepäck wurde untergebracht und fort ging’s im Gezottel eines steifen Fliegenschimmels, dem Nordbahnhofe zu.

II.

Eine peinliche Fahrt. Wohl zehnmal tippte Bertram mit der Spitze seines Regenschirms dem Kutscher auf die Schulter und flehte: "Fahren Sie zu, vorwärts!" Er suchte zu imponiren und befahl: "Vorwärts. Fahren Sie zu!" Es machte keinen Eindruck. Er knirschte in Verzweiflung: "Wir kommen zu spät! Kutscher! Mensch! Zu spät!" Half alles nichts. Der Kutscher, breit wie sein  Bock, antwortete nur mit undefinirbaren Lauten, einer Art Gegrunze, und sein Fahrgast schalt ihn im Stillen eine Pappendeckelseele, ein stumpfsinniges Halbthier.

Wagen um Wagen, alle mit Koffern beladen, fuhren ihnen vor, der Fliegenschimmel schüttelte dazu nicht einmal den Kopf. Sein Lenker war unzugänglich, und er war ohne Ehrgeiz. Bertram rutschte immer weiter vor auf seinem Sitze und saß zuletzt nur noch auf der Polstereinfassung. Er meinte sich dadurch leichter zu machen; er hätte ums Leben gern mitgezogen und erreichte nichts anderes, als daß ihm zuletzt in seiner Aufregung alles vor den Augen tanzte, und daß er statt des breiten Kutscherrückens ein abscheuliches braunes Gesicht mit Hängebacken vor sich sah. Voll Entsetzen wandte er den Blick ab, lehnte sich zurück im Wagen und gab alle Hoffnung auf, noch zurecht zu kommen. Das begab sich ganz in der Nähe seines Zieles, und ein paar Minuten später hatte er den Bahnhof erreicht.

Aber welch ein Gewirr und Getreibe herrschte da!

"Der Schnellzug is heut’ ungeheuer besetzt,"  sagte ein riesenhafter Träger, der an den Wagen Bertrams herantrat und sich des Gepäcks bemächtigte.

Ungeheuer besetzt. O du liebes Schicksal! Just heute, an dem ersten Tag nach vier Jahren, an dem Bertram reisen kann, müssen Hunderte von Leuten reisen, die’s wahrscheinlich ebenso gut früher hätten thun können. Er springt aus dem Wagen und will dem Träger folgen, der die Stufen zur Halle hinaufsteigt. Da wird der schläfrige Kutscher plötzlich lebendig und schreit:

"Erscht hetzen! und durchgeh’n a no? Halt’s ’n auf!"

Bertram erschauderte bei dem Gebrüll. Der Vorwurf, den ihm der Grobian vom Bocke zuschleuderte, traf ihn wie der Blitz vom Himmel. Er hatte vergessen, seine Fahrt, wie es sich gehört, im Voraus zu bezahlen, stand als Betrüger da, die Blicke der Menschen, die sich nach ihm umsahen, sprachen es aus. Er bemerkte auch, daß ein Wachmann ihn fixirte. In zitternder Eile, mit vor Kälte steifen Fingern (am 25. Juli um die Mittagsstunde, bei 28 Graden über Null) entnahm er  seinem Portemonnaie eine Banknote und reichte sie dem Grobian, der augenblicklich den Hut zog und kriechend und demüthig bat: "Schaffen Euer Gnaden ein andres Mal wieder."

Bertram eilte dem Träger nach, der schon auf ihn wartete, kurzweg fragte: "Wohin?" und ebenso kurzweg hinzufügte, nachdem er die Antwort: "Hullein" erhalten hatte: "Nehmen’s Ihr Billet."

Ja, nehmen! Das ist leicht gesagt. Bei dem Fenster, durch das die Banknoten hinein- und die Fahrbillete herausgeschoben werden, gab es ein Gedränge, als ob dort Brot vertheilt würde unter Hungernde. Bertram stand als der letzte zwischen den eisernen Schlangen, die zum Schalter führen, und zappelte vor Ungeduld und quälte sich mit gräßlichen Zweifeln: "Wohin ist der Kyklope gerannt, was hat er mit meiner Bagage angefangen? Was hat sein mysteriöses Verschwinden zu bedeuten? Der Kyklope ist am Ende gar kein Träger, sondern ein als Träger verkleideter Strolch, der jetzt das Weite sucht mit meinem Hab und Gut."

Bertram späht ihm vergeblich mit verstörten Blicken nach, möchte nach Hülfe schreien und wagt  es doch nicht recht, trotz der Überzeugung, daß er bestohlen ist, beraubt! O die Menschen! die Menschen! Was für ein ausbündiges Gesindel! Fluch über sie und ihre höllische Erfindung, die Eisenbahn, die allen Lastern eine nie dagewesene Fülle von Gelegenheiten bietet, sich auszubreiten, zu wuchern, hereinzustieben, triumphirend mit Dampf in die früher – verhältnißmäßig wenigstens – unschuldige Welt. Bertram seufzte, schnaubte, stampfte und hatte zur Verstärkung seiner Pein ein dumpfes Gefühl, daß er lächerlich sei und sich so ausnehme.

Unweit von ihm, neben einer Säule in der Halle, stand eine junge, große, schlanke Frau in hellgrauem Reiseanzug, mit einem allerliebsten Mützchen ohne Schirm auf dem Kopfe. Sie blieb ganz gelassen mitten in dem fürchterlichen Trubel, der sie umgab, hatte ihre Reisetasche (wo ist die meine, dachte Bertram schmerzlich) auf den Boden gestellt und schien in vollkommener Gemüthsruhe auf jemanden zu warten. Dabei beobachtete sie den armen, zwischen den Eisenbarrièren zuckenden Vogel, diskret, mit höchster Wohlerzogenheit, aber offenbar belustigt. Ihre blauen, ehrlichen und unbeschreiblich  sympathischen Augen sprachen: Du machst mir Spaß.

Der vorletzte Passagier war abgefertigt, Bertram trat an seine Stelle und quetschte mühsam das Wort "Hullein" hervor, während draußen – es fuhr ihm in die Kniee, daß sie zusammenknickten – das erste Läuten erscholl. Der Beamte hinter dem Schalter streifte ihn mit einem flüchtigen Blicke, hielt ihn für einen anderen, schob ihm ein Billet erster Klasse hin und sagte während des Herausgebens auf zwei Zehnernoten:

"Eile, Herr Baron, höchste Zeit."

"Träger! Wo ist der Träger?" rief Bertram und vergaß völlig, daß der ein Schuft, ein Strolch war und die Bagage entwendet hatte.

"Was für a Nummer?" fragten ein paar Blousenmänner.

"Weiß ich’s?" Und noch einmal rief er, aber schon völlig hoffnungslos: "Träger!"

Siehe, da kam der Strolch aus dem Magazin herausgelaufen und hatte ein vertraueneinflößendes Gesicht und sprach: "Da drin hat einer an Koffer falsch aufgegeben."

 "Den meinen," stöhnte Bertram.

"Na, na, den Ihren nit. Jetzt aber machen’s g’schwind. Wo is Ihr Billet?" Er bemerkte die Aufregung des Reisenden und lächelte – die Nervösen sind die einträglichsten – nahm ihn unter seinen väterlichen Schutz, führte ihn zur Wage und wieder an einen Schalter – was das für unnöthige Förmlichkeiten sind! und wieder hieß es bezahlen, und Bertram glaubte zu bemerken, daß ihm ein Fünfer fehle. Jetzt aber war nicht Zeit, nachzusehen, das zweite Läuten ertönte, und Bertram verlor völlig den Kopf. Er riß seinen Regenschirm dem Träger aus der Hand, rannte durch die Halle über die Treppe, durch den Wartesaal an dem verblüfften Portier vorbei auf den Perron.

Dort wieder ein schreckliches Gedränge und grausame Rücksichtslosigkeit gegen den Nächsten. Mit den Ellbogen, den Knieen, den Füßen wird gerungen, gestoßen, gepufft. Die Männer denken nur an sich, die Frauen nur an ihre Brut, nie wird Bertram einen Platz erobern; auf den Faustkampf ist er nicht eingerichtet. Er bleibt stehen, sieht den Anderen nach und hat einen neuen verzweifelten Anfall von Menschenverachtung.

 "Sie! Herr!" schreit ihm plötzlich jemand in die Ohren. Er wendet sich um, und vor ihm steht sein Träger, der gute Kyklop. Er hat sich Bahn gebrochen bis zu ihm und bringt ihm den Gepäckschein, die Handtasche und das Portemonnaie: