Best of Sapiens - Tim Wolff - E-Book

Best of Sapiens E-Book

Tim Wolff

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Beschreibung

Eine kurze Geschichte der Menschheit von Satiriker und Journalist Tim Wolff – mal ganz anders: ironisch, sarkastisch, polemisch. Jan Böhmermann meint: »Hoffentlich wird dieses Buch in vierzig Millionen Jahren von Archäologinnen einer uns nachfolgenden Spezies zwischen Sedimentschichten ausgegraben und zur Rekonstruktion der menschlichen Zivilisation verwendet!«  Mit der offensichtlich unaufhaltsamen Klimakatastrophe schafft sich die menschliche Zivilisation ab. Ein guter Zeitpunkt, kurz vor Schluss zurückzublicken auf ein paar tausend Jahre Zivilisation und was trotz allem gar nicht so übel war! Aus der Satellitenperspektive blickt Tim Wolff in »Best of Sapiens« auf die zehn besten Errungenschaften des Homo sapiens während seiner Regentschaft über den Planeten. Dabei wird es ebenso um die Errungenschaften der Demokratie gehen wie um Automobile, Smartphones, Badewannen und die Überlegenheit des Sauerkrauts. Eine Geschichte der Menschheit von der Urzeit bis heute voller ironischer, sarkastischer und polemischer Wendungen, die aber stets das Richtige im Falschen sucht. »Tim Wolff? Erst wird er unterschätzt, dann überschätzt – dann gar nicht mehr geschätzt.« Bernd Eilert »Tim Wolff verdirbt einem die schlechte Laune.« Jean Peters »Tim Wolff ist lustig und dabei intelligent (meistens). Es tut mir leid, dass er Deutscher sein muss.« Hanna Herbst »Viele Kolumnist*innen sind alte weiße Männer, Tim Wolff auch, aber wenigstens kann er schreiben und zwar so, dass selbst ich Bock habe sein Buch zu lesen.« Jasmina Kuhnke  »Er nervt ganz schön, aber aus den richtigen Gründen – und die richtigen Leute, einen selbst eingeschlossen.« Paula Irmschler

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Seitenzahl: 183

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Tim Wolff

Best of Sapiens

Zehn Errungenschaften einer gescheiterten Spezies

FISCHER E-Books

Inhalt

SchlusswortPlatz 10Platz 9Platz 8Platz 7Platz 6Platz 5Platz 4Platz 3Platz 2Platz 1Nachwort

Schlusswort

Das war’s. Die Menschheit macht Schluss. Zumindest mit dem, was sie selbst (in deutscher Sprache) Zivilisation nennt.

Ein Hitzerekord folgt dem nächsten. Das polare Eis schmilzt rasant. Permafrostböden tauen. Riesige Waldflächen brennen oder werden von Käfern und Pilzen kaputtgefressen. Größte Riffe erstarren. Jedes Jahr gibt es irgendwo auf dem Planeten Jahrtausendfluten. Es regnet Mikroplastik auf die Plastikinseln, die durchs Meer treiben. Tier- und Pflanzenarten sterben massenweise aus. Viren hüpfen von Wild- zum Nutztier oder direkt zu dem Tier über, das keines sein will und sich irgendwie aus der Evolution gestohlen hat. Und trotzdem macht diese über den Planeten herrschende Spezies, der Homo sapiens, unverdrossen weiter mit den Aktivitäten, die all das verursachen. Er bläst weiter und weiter klimaerwärmende Gase in die Atmosphäre, rodet aber dabei noch die Bäume weg, die wenigstens einen Teil davon schlucken könnten. Er, oder präziser: die Reichsten dieser Spezies, also die, die den größten Teil der Nordhalbkugel der Erde bewohnen, besonders die Länder Europas, die der Welt Imperialismus und Kapitalismus brachten – also: Sie! –, lebt so, als gäbe es drei oder vier Erden. Und je offensichtlicher das Ende dieses rücksichtslosen Lebens näher rückt, desto intensiver und verlogener wird die Selbstzerstörung zelebriert. Ob die großen Staaten und Firmen per Fracking noch die letzten Reste Treibstoff für den Treibhauseffekt aus dem Boden pressen oder noch die letzten Ecken des Planeten touristisch erschlossen und mit immer größeren Kreuzfahrtschiffen zugeparkt werden: Alle wissen auf die eine oder andere Weise, dass es die letzte Gelegenheit ist, das zu tun. Also wird sie »genutzt«. Der Rest ist Gewissensberuhigung durch Greenwashing. Wer drei Euro fürs Bäumepflanzen spendet (zum Beispiel per Bierkauf), kann auch mit dem SUV zum Kurzstreckenflug fahren. Und selbst dieses bisschen Ablass ist eine Randerscheinung. Ein Blick auf die konsequente ansteigende Entwicklung des Ausstoßes von die Katastrophe hervorbringenden Gasen genügt, um zu wissen, dass kein Klimagipfel, keine Werbekampagne, kein Schüler:innen-Streik etwas daran ändert, dass der im Kapitalismus zu sich gekommene Homo sapiens nicht anders kann, als immer weiter zu »wachsen«. Und Wachstum gibt es nur mit den Feuern, mit denen der Mensch alles antreibt und kocht, zuletzt sich selbst. Im Angesicht der Katastrophe hat sich die erfolgreichste Spezies der bisherigen Erdgeschichte ungefähr diese Logik bereitgelegt: »Die Suppe ist komplett versalzen, bin ich nicht toll, da ich ab jetzt gelegentlich nur etwas weniger zusalze?« Um dann aber neue Salzmassen reinzukippen.

Kleider machen Leute, behaupteten mal die Deutschen. Das ist aber nur eine Unterregel der Bedingungen, die den Homo sapiens zum Herrscher über die Erde gemacht haben: Klima macht Wetter, Wetter macht Kleider, Kleider machen Leute.

Kurz: Klima macht Kultur. Ist das Klima anders, werden es auch die Menschen. Was immer folgt, wenn das Klima nicht mehr das ist, das den Sapiens zugelassen hat, ist mindestens eine gänzlich andere Kultur des Menschen.

Das alles ist nicht lustig, sogar ärgerlich – zum Beispiel für Menschen, die noch einen langlebigen Familienbetrieb oder eine politische Dynastie auf den Weg bringen wollten –, aber ist es auch schade? Hier will dieses Buch allen Mut zusammennehmen, nicht in naheliegende Misanthropie verfallen und festen Standes ausrufen: Ja! Ja, es ist schade, dass Milliarden Menschen unsinnige und wahrscheinlich grausam ängstigende Tode werden sterben müssen! Ja, es ist sogar schade um das, was der Mensch trotz allem erreicht hat!

Gut, er hat es seit seiner Sesshaftigkeit vor circa 10000 Jahren wohl kaum mal ein paar Wochen ohne Krieg, Brandschatzen und all das ausgehalten. Es gab Genozide, systematisierte Brutalität zuhauf. Es gab Dschingis Khan, Iwan, den Schrecklichen, Pol Pot, Idi Amin, Hitler, Stalin, Mao und Horst Lichter. Es gab Nero, Attila, Tomás de Torquemada, Louis XIV., Leopold II. und Karl-Heinz Rummenigge. Es gab Mussolini, Pinochet, Gaddafi, Saddam Hussein und bestimmt auch einmal irgendwo eine Frau, die grausam war.

Der Mensch, der alte Sauhund, hat in seinen paar tausend Jahren Zivilisation einiges getan und geschaffen, um mächtige individuelle Spuren zu hinterlassen. Mit dem höheren Bewusstsein, das vor allem ein Bewusstsein der Sterblichkeit ist, kam die Arroganz und Dreistigkeit, der Nachwelt etwas mitgeben zu wollen, Fragmente eines Ichs zur Instanz für die Nachgeborenen zu machen. Die Protzigkeit der Gräber und Denkmäler des Sapiens ist Legende. Doch auch über Grabbeigaben hinaus gibt der Sapiens fleißig gute wie schlechte Ideen weiter, über das, was ihn noch vor dem aufrechten Gang und diesem praktischen Daumen zum einzigartigen Tier macht: die Sprache. Jede Vermutung, jeder Glaube, jede Erkenntnis hat die Chance, zur Welterklärung oder -erschaffung zu werden, wenn die mündliche Übertragung – oder noch besser: die Niederschrift – gelingt und die Vermutungen, der Glaube und die Erkenntnisse anderer die Zeit nicht genauso gut überdauern. Das alte Rom etwa ist vor allem das Rom Ciceros. Und Geschichte vor allem das Missverständnis, Männer wüssten, was sie tun oder getan haben.

Also wer anderes sollte zum Schluss sich trotz der Beweislast gegen den Sapiens zu dessen Anwalt aufschwingen, zum Advocatus humanoli, als ein Mann, der auch nicht so genau weiß, was er tut?

Und selbstverständlich muss dieser Mann ein Deutscher sein. Wer ungefragt in Deutschland hineingeboren wurde, also dem Land in der Mitte Europas, in der Mitte der nördlichen Welt – und somit gemessen an der Historie des menschlichen Reichtums auch der gesamten –, der stammt aus einer Nation, einem Volk, einer Kultur (oder was Deutsche noch so gerne an Begriffen verwenden), das den schlimmsten, weil skrupellos industriell ausgeführten, Massenmord der Geschichte nur ein paar Wimpernschläge später mit der Haltung »Ach komm, Schwamm drüber! Es haben doch nicht nur die anderen gelitten« weggewischt hat. Und nur noch ein paar Augenaufschläge mehr für das Selbstverständnis »Wir haben unsere Geschichte besser verarbeitet als alle anderen, deswegen sind wir ein Vorbild für die ganze Welt!« gebraucht hat. Wenn also jemand gegen jeden offensichtlich grausamen Fakt sich und seinesgleichen einfach so gut finden kann, dann ja wohl nur ein weißer deutscher Mann.

Es folgt also, zum großen Finale der Menschheit, eine Top 10 aus Hunderttausenden Jahren Sapiens, geschrieben von einem deutschen Mann, der glaubt zu wissen, was er tut. Es folgen zehn Preisungen dessen, was vielleicht doch ganz okay war, vor allem in den letzten mindestens zehntausend Jahren. In jedem Kapitel wird eine Errungenschaft vorgestellt, von der zehntbesten bis zum absoluten Höhepunkt menschlichen Strebens, aus unterschiedlichen Bereichen der ausgesprochen vielfältigen Betätigungen des Sapiens über die Zeit. Es sind die zehn wesentlichen Errungenschaften der gescheiterten Spezies Homo sapiens, höchst subjektiv ausgewählt und doch so wahr wie jedes andere Ranking, das sich der Mensch im Laufe seiner Jahrtausende ausgedacht hat.

Oder anders gesagt: In diesem Buch ist der Mensch des Menschen Sonja Zietlow.

Platz 10

Um zu erzählen, was die Krönung der Geschichte der menschlichen Ernährung war, muss man ein wenig ausholen.

Der ganze Gag am Homo sapiens ist seine Fähigkeit, die eigene Natur zu reflektieren und dann gegen sie handeln zu können. Das im Vergleich »höhere Bewusstsein«[1] gegenüber anderen Spezies erlaubt ihm wissenschaftliche, aber auch auf anderen Wegen zufällig treffende Erkenntnis grundlegender Funktionen irdischen Lebens und die theoretische Reflexion und praktische Umsetzung der Ausnutzung oder gar Umgehung dieser. Egal, was dem Homo sapiens die eigene Biologie vorgibt – Größe, Geschlecht, Kraft, Begehren, Gesundheit und so weiter –, er hat die Werkzeuge gefunden, Limitationen zu überwinden, gerade weil er so etwas wie den Begriff und das System der Biologie erschaffen hat. Zu beobachten, externe Funktionsweisen und interne Gesetze der Natur festzustellen und sie auszunutzen und erstaunlich oft umzuschreiben, ist eine ganz exquisite Fähigkeit. So etwas ist keiner anderen Spezies des Planeten auch nur ansatzweise gelungen.

Soll der eine oder andere Vogel mit Steinen, Stöcken oder anderen Proto-Werkzeugen das Nest verschönern, sollen Primaten Hunderte Begriffe oder Zeichen zur Kommunikation erlernen, sollen sich Nacktmulle mit Holzspänen eine Art Mundschutz während der Grabarbeiten schaffen oder ein Krake den Marshmallow-Test bestehen[2] – das ist alles nur ein schlechter Witz im Vergleich zur Spezies, die Braunkohlebagger, Atombomben, den Suezkanal, den Reißverschluss, Bratengabeln mit integriertem Thermometer und den Rubikwürfel erschaffen hat. Ja, hack darauf mal herum, Geradschnabelkrähe! Versuch mal, nur eine einzige Seite einfarbig zu bekommen, du Vogel!

Diese Fähigkeit begann mit der Manipulation der Nahrung, die der Homo sapiens benötigt. Als kreativer Allesfresser besorgte er sich so die Energie, die fürs Ausbilden des komplexen Gehirns notwendig war. Mit dieser Fähigkeit setzte sich der Mensch im Laufe der Zeit ans Ende aller Nahrungsketten. Wobei das eventuell zu nobel gedacht ist; Nahrungsketten haben ja einen der natürlichen Ordnung intrinsischen Sinn. Raubtiere helfen, das Gleichgewicht im Fress- und Ausscheidungswettkampf von Pflanzen und Tieren zu erhalten. Der Mensch zerstört es, seit er sich nicht mehr als Teil der Natur begreift. Er tötet individuell längst nur noch beiläufig aus Hunger innerhalb der Wildnis, meist aber aus Rache, Spaß oder einfach, weil Tiere Autos im Weg sind.[3]

Diese einmalige Gabe zur Reflexion seiner Umwelt hat schon dem Frühmenschen Werkzeuge beschert, mit denen er sich stärkerer Tiere erwehren und sie zu nahrhaftem Brei hauen konnte. Womit er auch schon ohne Landwirtschaft die eigene Umgebung sich anpassen konnte. So wurde die Spezies, erst langsam, dann aber unaufhaltsam zur Gewinnerin der Konkurrenz ums Leben auf der Erde. Der Rest des Geweses der Savanne, der der Homo sapiens entsprungen ist, musste sich weiter der Umgebung anpassen. Wie dann auch alle anderen Arten von Wildnis, in die der Mensch vordrang. Und die Tierwelt und Pflanzenwelt, die das (bisher) überlebt hat, muss es bis heute, da der Mensch die Umgebung endgültig rasant, rabiat und restlos nach seinen zumeist kurzfristigen Vorstellungen variiert.[4]

Der Stolz auf diese menschliche Besonderheit führte zu dem narzisstischen Selbstbetrug, den der Mensch später Kultur[5] taufte. Böden, Steine, Höhlenwände bemalte er, Rituale fand er, in denen er die anderen Tiere nachtanzte. Und wer die Natur abbilden, duplizieren kann, ist schon eine Ebene über ihr – also gar nicht mehr so richtig Teil ihrer. Und wenn die Natur mit all ihren Gefahren und Rücksichtslosigkeiten mal als das andere erscheint, das kontrolliert werden muss – die Reflexionsfähigkeit des Menschen hängt stark an der Kenntnis der eigenen Sterblichkeit –, also wenn die Natur das ist, was den Mensch tötet, muss sie ihm untertan werden. Sich über und außerhalb der Natur zu sehen, die einen umgibt, ist die höchst praktische Utopie aller Religion. Selbst die vermeintlichen »Naturvölker« mit ihren »Naturreligionen« waren Auslöser von Naturkatastrophen (ohne Anführungszeichen), die nicht selten auf die Menschen zurückfielen (weil sie, wenn es darauf ankommt, eben doch Teil dieser einen Natur sind).[6]

Aber diese Katastrophen waren Bestandteil des großen, Hunderttausende Jahre anhaltenden und expandierenden Trial-and-Error-Verfahrens, das der Homo sapiens bis zum bitteren Ende betreibt. Den Tod, den er als Individuum so fürchtet, zu überwinden, ist Antrieb genug, um das Leben (bevorzugt anderer) zu riskieren. Und wer reflektieren kann, kann auch projizieren. Den vermutlich aller Natur innewohnenden Überlebenstrieb kann der Mensch ausschalten, indem er sich einredet, sein Sterben sei zum Nutzen seiner Nachkommen, seiner Sippe, seiner Truppe, seines Landes oder welche Gruppe ihm da noch so einfällt.[7] Wer sich zum höchsten Wesen erklären kann, kann auch jede Handlung als dem Höheren geschuldet imaginieren. Auch das eine Fähigkeit, die in Religionen, vor allem den erfolgreichsten, ganz zu sich fand.

Vielleicht ist es aber unbewusste späte Rache, dass der Mensch die Erde und ihre Geschöpfe nur noch als seinen Supermarkt sehen kann. Verdammt lange muss der Frühmensch gebraucht haben, um schon das Naheliegendste der natürlichen Umgebung kontrolliert oder zumindest kennengelernt zu haben, bei der Beantwortung der Frage: Was ist überhaupt essbar?

Wie viele Sapientes müssen komplett unheroisch gestorben sein, um festzustellen, was man essen kann und was nicht? Müssen nicht sehr viele nach dem Griff zur falschen Frucht oder Wurzel ins Gras gebissen haben, bis einigermaßen sicher war, was nicht unsicher ist? Woher wusste Eva, dass sie den Apfel, aber nicht die Schlange verspeisen kann? Ein gewisses tierisches Erbe, ein Instinkt aus dem noch nicht ganz so hohen höheren Bewusstsein, wird es gegeben haben, der bei der Nahrungsauswahl geholfen hat. Aber spätestens mit der Kenntnis der eigenen Sterblichkeit und der Betrachtung einer ordentlichen Magenverstimmung eines Sippenmitglieds, müsste doch der eine oder andere frühe Sapiens Zweifel bekommen haben, ob er jetzt wirklich in diese unbekannte Frucht, dieses seltsame Tier beißen soll. Kurz: Des Menschen Ursprung sind Zehntausende Generationen »Der Hunger treibt’s rein«.

Welch Segen da doch das Feuer gewesen sein muss! Mit der praktischen Erkenntnis, dass fast alles an Nahrung, die man da eine Weile reinhält, nicht ganz so oft üble Folgen zeitigt. Der Mensch mag sich in seinem kultigen Wachstumsfetisch der Natur entwachsen fühlen, sich ihr entfremdet haben, doch dieses Ursprüngliche hat er sich erhalten: Nahrungslappen aller Art mit Begeisterung ins Feuer zu halten.

Kraken mögen den Marshmallow-Test bestehen[8] – aber auf die Idee kommen, einen auf einen Stock[9] gespießt ins Lagerfeuer zu halten? Sicher nicht.

Und weil er kein Krake ist, verwendet der Mensch noch im frühen 21. Jahrhundert lieber Zeit darauf, neue Varianten der Outdoor-Nahrungsbefeuerung zu finden[10], als auf die Lösungen der Probleme, die die immer größeren Feuer verursachen, mit denen alles Menschliche betrieben wird. Nicht zuletzt für seine unendlich dumm gewordenen Nahrungsrituale. Uralte Wälder wegzubrennen, damit Soja wachsen kann, den man wiederum mit gigantischen Mengen Kraftstoff aus verwesten Urzeit-Echsen über die Meere schippert und über Straßen schleppt, damit eingepferchte und gequälte Tiere ihn fressen, bis sie schmerzhaft fett geworden sind, um sie dann erst lebendig und später in Leichenteilen abermals über ganze Kontinente auf bewegten Brennöfen zu transportierten, damit am Ende eine Gruppe Arschgeigen im Park einen kleinen Teil des Tieres[11] auf einen »Einmal-Grill« über verkohlte Baumreste legen und Bier drüberkippen kann – da ist eine Spezies schon ein wenig ins Extrem gegangen mit dem Konzept »Nahrung plus Feuer gleich gut«.

Aus einem kurzzeitigen Segen einen lang anhaltenden Fluch zu machen ist also eine wesentliche humane Tradition in Sachen Nahrung. Zehntausende Jahre musste der Homo sapiens essen, was die Nachbarschaft hergab: saisonales Obst, Gemüse, Nüsse, das gerade jagbare Tier. Bis er auf die Idee kam, sich mit Ackerbau ein einigermaßen selbstbestimmtes Menü zu schaffen. Und was dabei rauskam: jede Menge Weizenschleim. Und wenn man den wiederum ins Feuer hält: Brot. Das brachte zwar mehr Nahrung und Energie für mehr Menschen auf engem Raum, aber auch ein Menü, das krank werden ließ, weil die Vitamine der vorher zwangsweise abwechslungsreicheren Nahrung der wandernden Sippen vermutlich eher der Immunabwehr des menschlichen Körpers zuträglich sind als tägliche Teigklumpen. Außerdem übertragen sich Infektionen gleich viel leichter, wenn eine Spezies in Massen eng zusammenhockt und nicht in Kleingruppen umherwandert.

Doch der Natur geht die Quantität einer Spezies über die Qualität des Lebens eines Individuums (und die menschliche Kultur hat verdammt lange gebraucht, dieses amoralische Prinzip per Erfindung von Moral theoretisch zu beseitigen[12]). Und da die Produktion von angebranntem Weizenschleim das ganze Jahr über viel Arbeit benötigt, blieb der Mensch lieber kränkelnd bei seinen Äckern. Machte so aus Bauernsiedlungen Dörfer, aus Dörfern Städte, aus Städten Reiche, aus Reichen Länder und am Ende per Schiff, Automobil und Flugzeug aus der Welt ein Dorf. Und weil der Mensch trotz seiner irgendwie exponentiellen Ausbreitung sich gar nicht so sehr verändert hat und er gerne Schleifchen um Lebensläufe bindet: Was tat er dann in einer Pandemie, die ihn[13] quasi zu einer neuen Sesshaftigkeit zwang? Sauerteigbrot backen, Weizennudeln hamstern und eine Art Begeisterung für Porridge entwickeln.

Die Geschichte menschlicher Nahrung auf Weizen zu reduzieren ist natürlich eurozentrisch. In anderen Regionen des Planeten machten die Menschen, die es von Afrika aus verschlungen und mühevoll dorthin verschlagen hatte, andere Pflanzen zu Nutzpflanzen und Hauptnahrungsmitteln. Im Nachhinein betrachtet aber nur, damit Jahrtausende später Europäer diese als »Super-Food« importieren konnten, um sich immer mal wieder kurz ihre dekadente kulinarische Langeweile zu vertreiben.[14]

So oder so wurden nach der ackergebundenen Sesshaftigkeit Nahrung und die Rituale ihrer Zubereitung langsam aber sicher zu Kampfmitteln regionaler Distinktion. Abgesehen von Sprache und evtl. Kleidung: Wie lässt sich eine Gruppe leichter zusammenhalten als über Nahrungsvorlieben? Man muss nur einen älteren Deutschen außerhalb seines Landes über die Qualität des ausländischen Brotes befragen, um den Zusammenhang von Ernährung und Nationaldenken zu erkennen. Doch auch ohne Weizenschleim-Chauvinismus fungiert Nahrung als Gruppenkitt: Wildfremde Menschen können über die Wahl von Automatensüßigkeiten ihrer Jugend zusammenfinden oder Twitter-Kriege über Risotto, Rosenkohl oder Kartoffelsalat-Ingredienzien ausrufen. Und ganze Nationen können mindestens in verbale Schlachten darüber verfallen, in welcher Form welches durch den Fleischwolf gedrehte tote Tier gegrillt werden sollte; man biete etwa überzeugten Türken Souvlaki und richtigen Griechen Köfte an – oder beiden eine Frikadelle.[15]

Noch besser aber funktionierte das Nahrungstabu. Spätestens als der eine Gott mit seinen vielen Religionen ankam: Die einen bitte keine Krustentiere, die anderen auch kein Schwein, und bei den dritten gibt es freitags nur Fisch! Die Kombination aus Religion und Nahrung stellte sich als hervorragender Anlass zu Hass, Folter und zähem Krieg heraus. Im weizennärrischen Europa zum Beispiel genügte die Frage, ob und wie viel Gott in einem feuergehärteten Weizenkeks steckt, nachdem eine Weile von religiösem Fachpersonal auf den Keks eingeredet worden war, um jahrhundertelang einander zu morden.[16]

Doch benötigt kulinarischer Regionalismus (und damit stets auch Chauvinismus) keine Religion. Er ist sogar eine Kulturleistung, die der Mensch bis in seine Natur biologisch festschreiben kann. Wovor es den einzelnen Sapiens ekelt, zum Teil bis zum Übergeben, hängt stark von der Herkunft und damit der Nahrungsprägung in der Kindheit ab. Und die Nahrung der Region entspringt nicht selten dem lang anhaltenden notwendig radikalen Versuch des Menschen, alles essbar zu machen. Fermentierter Hai in seiner extremen Fischig- und Salzigkeit dürfte außerhalb Islands einige Überwindung zum Genießen benötigen – aber auf Island wuchsen nun mal nie Ananas oder wenigstens Haribo Tropifrutti. Und auch sonst sehr wenig. Und wem, aus Deutschland betrachtet, bestimmte, sagen wir: koreanische Gerichte eklig vorkommen (roher, marshmallowfreier Krake zum Beispiel) sollte nicht vergessen, dass er aus einem Land stammt, in dem regelmäßig Schweinefüße verzehrt werden.

Womit wir endlich vom frühen Menschen bis zum späten Deutschen gekommen wären. Und dem Einzigen, was dieses Land der Gesamtgeschichte der Spezies einigermaßen einwandfrei hinzufügen konnte (und dem Schweinefuß!). Gemeint sind nicht seine circa 4328 Varianten Brot[17], sondern: Sauerkraut!

Falls es noch nicht bekannt ist: Deutschland war ein menschheitshistorischer Fehler. Im Vergleich zu den anderen imperialistischen europäischen Nationen mit Hang zum Massenmord zu spät geformt, war es allzu eifrig darin, beim Morden aufzuholen und zu überholen. Also richtete es gleich im Gründungskrieg gegen Frankreich erstmals schwere Artillerie gegen Menschen[18], um in der Folge so ziemlich jedes Kriegsverbrechen, das sich industriell begehen lässt – Einsatz von Giftgas, Flammenwerfern, Raketenangriffe auf zivile Ziele und so weiter –, als Erstes zu begehen und obendrein zwei Weltkriege, einige Kolonialverbrechen und die einzige industriell betriebene Menschenvernichtung der Historie in erstaunlicher Konsequenz und Effizienz zu begehen.

Wenig Gutes steht dem gegenüber, ein paar Dichter und Denker, die aber vor allem dann gut waren, wenn sie gegen ihr Land gedichtet und gedacht haben. Aber auch der meist genannte und kulturell vermeißelteste, der alte, mehr als solide Reimfetischist Johann Wolfgang von Goethe, löste gleich mit seinem ersten Roman, dem ersten deutschen überhaupt, eine Selbstmordwelle aus. Weil ohne eine gewisse Menge Leiden und Leichen nichts Großes deutsch ist; und umgekehrt.

Einen weiteren Vorzug haben die Deutschen noch: Man kann (mittlerweile) gut über sie lachen. Das kam so: Am 8. Mai 1945 wurden die Deutschen nicht, wie sie selbst behaupten, befreit – von wem auch, der nicht zu ihnen gehört hätte? –, sondern die Deutschen wurden nach langem, zähem Kampf gezwungen, ihre Lebensgeschichten umzulügen. Plötzlich hatte es an der Ostfront so viele Köche gegeben, dass das Welthungerproblem auf einen Schlag gelöst gewesen wäre. Und wissen hatte man sowieso nichts können, und wenn man doch nachgewiesen bekam, dass man wusste, was offensichtlich war, behauptete man, man wäre als quasi Widerständiger sonst selbst dran gewesen.

Aus Tätern und Mitläufern wurden potenzielle Opfer. Und weil sie beim Lügen recht brav sich in die neuen Verhältnisse einfügten, mussten die Deutschen nur einen lächerlichen Preis für ihre historisch exzeptionellen Verbrechen zahlen. Längst sind sie selbst darauf stolz, wie toll sie das – im Vergleich zu anderen Nationen, die ja auch schlimme, vielleicht noch schlimmere Sachen angestellt haben – »bewältigt« haben. Sie sind ein Vorbild unter den Nationen. »Germans – you can’t stay mad at ’em«, wie es Homer Simpson mal bierschwenkend auf einem Oktoberfest zusammenfasst, »Deutsche – man kann ihnen einfach nicht lange böse sein.«[19]

Und sei es, weil sie eines richtig gut gemacht, ja ihm sogar zu Weltruhm verholfen haben: Kraut. Kraut in seiner ganzen Herrlichkeit. Ob als Krautsalat oder aber vor allem als Sauerkraut: Deutsches Kraut ist ein Segen! Nahr- wie schmackhaft rettet es vor Mängeln aller Art. Es ist so unzerstörbar wie der deutsche Wunsch, am eigenen Wesen die Welt genesen zu lassen. Nur, dass hier einmal das Potenzial vorhanden ist, ohne die Herabwürdigung und Tötung anderer zu einer Genesung beizutragen.

Es ist eben kein Hohn, wenn der Brite, der sich trotz zeitweiliger Weltherrschaft keine akzeptable Cuisine zusammenrauben konnte, wenn der Amerikaner, der sich trotz Weltherrschaft nur eine Kitschvariante von Küchen aller Welt erschaffen konnte[20], den Deutschen »Kraut« nennt; es ist Anerkennung dafür, dass hier in einer großen Tristesse des ewig herbstlichen Mampfens etwas wirklich Großartiges kultiviert wurde.

Natürlich ist das Sauerkraut keine rein deutsche Erfindung, dafür ist es zu gut und rechtschaffen. Und doch gebührt dem Volk der Richter und Henker der wesentliche Dank für diese Herrlichkeit. Selbst die Sprache rund um das Kraut ist eine Freude. Das Storzmesser, der Krauthobel, die Salzlake, der Krautstampfer – alles Begriffe von Kraft und Eleganz, die nicht-deutsche Ohren aufhorchen lassen, weil sie klingen, wie Deutsch nun mal klingt: knackig, säuerlich, aber im Abgang rund und zuweilen fast schon süß. So wie Sauerkraut eben.

Sauerkraut ist, wie alles Gute, das der Mensch geschaffen hat, in sich schlüssig. Es ist einfach und wird doch ganz leicht Teil einer umfassenden Erfahrung. Will man alle Geschmäcker der Sapienszunge ohne größeren Aufwand harmonisch verspüren, so brate man Schupfnudeln mit Sauerkraut und Äpfeln an und füge ein wenig Chilipulver hinzu. Jahrtausende menschlichen Schmeckens zusammengekommen in einem Schnellgericht, zusammengehalten von durch Milchsäuregärung konserviertem Weiß- oder Spitzkohl.