Between the Stories - Swen Artmann - E-Book

Between the Stories E-Book

Swen Artmann

0,0

Beschreibung

"Between the Stories - Best of WinterArt" beinhaltet die besten, emotionalsten und intensivsten Kurzgeschichten der Autoren Swen Artmann und Frank Winterfeld, die diese während der letzten 30 Jahre unab-hängig voneinander verfasst haben. Es sind 31 außergewöhnliche Short-Stories über Liebe, Hass, Glück, Verlust, Vertrauen und Enttäuschung. Eben Geschichten über das wahre Leben. Oder anders formuliert: Es sind Geschichten, wie sie das wahre Leben nicht besser hätte schreiben können. Das Besondere an diesem Buch ist die Tatsache, dass Artmann und Winterfeld in ihren Geschichten komplett unterschiedlich vorgehen, unterschiedlich agieren, dabei jedoch immer ein ge-meinsames Ziel verfolgen: Die Leserinnen und Leser zu unterhalten, zu überraschen, emo-tional zu berühren und stets zum Nachdenken zu verleiten. "Wenn der Winter und die Kunst aufeinandertreffen, kann wahrlich Großes entstehen!" WinterArt Infos: www.swen-artmann.de

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 310

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über dieses Buch:

"Between the Stories" beinhaltet die besten, emotionalsten und intensivsten Kurzgeschichten der Autoren Swen Artmann und Frank Winterfeld, die diese während der letzten Jahre unabhängig voneinander verfasst haben. Es sind 31 außergewöhnliche Short-Stories über Liebe, Hass, Glück, Verlust, Vertrauen und Enttäuschung – eben Geschichten über das wahre Leben. Oder anders formuliert: Es sind Geschichten, wie sie das wahre Leben nicht besser hätte schreiben können.

Das Besondere an diesem Buch ist die Tatsache, dass Artmann und Winterfeld in ihren Geschichten komplett unterschiedlich vorgehen, unterschiedlich agieren, dabei jedoch immer ein gemeinsames Ziel verfolgen:

Die Leserinnen und Leser zu unterhalten, zu überraschen, emotional zu berühren und stets zum Nachdenken zu verleiten.

Über die Autoren:

„WinterArt“ ist ein Gemeinschaftsprojekt der Autoren und Storyteller Swen Artmann (Billerbeck) und Frank Winterfeld (Hamburg). Beide veröffentlichten während der letzten Jahre zahlreiche Bücher, Kurzgeschichten und Beiträge für Social-Media-Plattformen, fürs Radio oder für Anthologien. Artmann und Winterfeld lernten sich während des von Sebastian Fitzek ausgeschriebenen Charity-Wettbewerbes #wirschreibenzuhause im Jahre 2020 kennen. „Between the Stories“ (2021) ist der erste gemeinsame Kurzgeschichten-Band dieser beiden Autoren.

„Schreiben ist leicht. Man muss nur die

falschen Wörter weglassen.“

(Mark Twain)

„Wünsche dir nicht, dass es einfacher wäre. Wünsche

dir lediglich, dass du besser wirst.“

(Jim Rohn)

„Bleistift, Papier und Bücher sind das

Schießpulver des Geistes.“

(Neil Postman)

„Das Leben wird dir nie mehr schenken, als das, was

du erwartest. Dein Heute ist das Ergebnis der Dinge,

die du gestern gedacht hast.“ (Bruce Lee)

„Es geht nicht darum, wie oft du zu Boden gehst. Es

geht nur darum, wie oft du wieder aufstehst.“

(Rocky Balboa / Sylvester Stallone)

Für Jerry Siegel & Joe Shuster,

Bob Kane & Bill Finger.

Zeigten sie mir doch, dass es immer einen Weg gibt, damit

das Licht am Ende über die Dunkelheit triumphiert.

(Frank Winterfeld)

Für die Menschen und Seelen, die ich liebe. Und diejenigen,

die diese Liebe stets erwidert haben

und noch immer tagtäglich erwidern.

Ohne euch wäre ich nur ein verlorenes Blatt im Sturm.

Und für Werner Arnold.

Danke für alles!

(Swen Artmann)

Inhaltsverzeichnis

Ein ganz normaler Arbeitstag

Wenn das Universum klopft

Momo

North-Pride-Story

Abschied

Industrie gegen Natur

Mont Ventoux

Der Schulranzen

Roadtrip

Monster unterm Bett

Die silberne Katze

324,8 Millionen

Das Gebet

Die Fährte des Bluthundes

Perfekt

Achterbahn

Der Ponyjäger

Die ersten richtigen Ferien

Das erste Mal

Wie immer

Zwischen Lavendel und Leder

Die Story seines Lebens

Wenn die Autos hinter dir verschwinden

Kleidermarkt

Clarks Gesetze

Kein Weihnachtsmärchen in Recklinghausen

Ein Päckchen voller Hoffnung

Selbstmordhilfe

Nur fünf Sekunden

Gut angekommen

Einsen und Nullen

Nachwort und Danksagungen

Vorstellung, Danksagungen und Nachwort

Ein ganz normaler Arbeitstag

(Swen Artmann)

Es war Dienstag, ein ganz normaler Arbeitstag.

Und es war 18.01 Uhr. Meine magische, sorgenfreie, selbstbestimmte Ich-Zeit hatte vor 75 Sekunden begonnen.

Vor 80 Sekunden genauer gesagt, und ich kippte bereits den zweiten Drink. Ich war kein Alkoholiker, ganz bestimmt nicht. Dafür hatte ich viel zu viel Disziplin. Schließlich trank ich nie vor 18 Uhr.

Mein Handy klingelte, störte, schrie, ertappte mich. Mich, der ich allein in meiner blitzblank geputzten Single-Wohnung auf dem teuren Ledersofa saß. Ich griff nach dem technischen Monstrum, ohne es zu wollen. Las die Nachricht, ohne sie an mich heranzulassen.

Denn schließlich hatte ich Feierabend.

Und ich musste jetzt um diese Uhrzeit definitiv nicht mehr lesen, zuhören oder fühlen.

"Herr Müller, ich müsste dringend mit Ihnen sprechen. Es geht mir nicht gut. Hier ist es aktuell sehr schlimm. Hätten Sie wohl ganz kurz Zeit? Bitte! Lisa."

Ich war seit 18 Jahren Vertrauenslehrer an dieser viel zu großen Gesamtschule. Und ich war der einzige Vertrauenslehrer. Nur Gott und die verwaltenden, zahlenden, zerstörenden Ministerien und Behörden wussten, warum das so war und so sein sollte.

Viel zu viele Kinder! Verletzte Seelen, in desolaten Familienverhältnissen vor sich hin vegetierend, ausharrend, mit Gewalterlebnissen, Missbrauchserfahrungen und massiven psychischen Problemen.

Aber Scheiße! Ich war allein!

Und auch ich war nur ein normaler, schwitzender, manchmal schlecht riechender Mensch – kein unbesiegbarer Superheld.

Dennoch wurde ich gezwungen, einen brechenden, berstenden, aufgeweichten Schutzdeich während einer nächtlichen Sturmflut an der Nordseeküste mit bloßen Händen zu stützen. Zu bewahren. Um somit die Kinder, die Menschen, die Welt zu retten. Ich genehmigte mir noch einen Drink und ignorierte die Nachricht.

Verdammt! Ich hatte doch Feierabend.

***

Als ich am nächsten Morgen gegen neun vor meiner 10 b stand, klingelte, störte, schrie, ertappte mich das Klassentelefon, das neben der alten, kaputten Kreidetafel hing.

"Müller!"

Ich hörte zu, nickte, schloss die Augen, bedankte mich, hängte den Hörer ein, schluckte ... und fuhr vertrauensvoll und professionell mit dem Unterricht fort.

Ich hatte nicht einmal bemerkt, dass Lisa fehlte.

Meine Hände zitterten, meine Stimme wahrscheinlich auch – doch die Schüler merkten nichts. Schließlich war ich Profi. In der Stunde ging es um Nächstenliebe, um Fürsorge, um Mitmenschlichkeit.

Ethikunterricht!

Ich war gut. Ich war diszipliniert.

Denn ich wusste, dass ich vor 18 Uhr definitiv nichts trinken würde.

***

Es war Mittwoch, ein ganz normaler Arbeitstag.

Und es war 18.01 Uhr. Meine magische, sorgenfreie, selbstbestimmte Ich-Zeit hatte vor 75 Sekunden begonnen. Und bereits jetzt spürte ich die drei Wodka-Shots.

Hätte ich denn ahnen können, dass Lisas Vater dieses Mal so brutal vorgegangen war? Dass sich meine Schülerin danach in einer schäbigen Gartenlaube am Rande von Berlin die Pulsadern aufschneidet?

Verdammt! Nein!

Ich hätte es nicht ahnen können. Es war doch nur ein ganz normaler Arbeitstag gewesen.

Und ich hatte definitiv Feierabend gehabt.

Ich stellte das Handy aus, griff nach der Flasche, setzte sie an die Lippen und begann hemmungslos zu weinen.

"Arme Lisa. Armes Kind. Armes Deutschland!"

Wenn das Universum klopft

(Frank Winterfeld)

Heute war wieder einmal einer dieser Samstagabende, an denen sich die Sendeanstalten damit begnügten, die x-te Wiederholung eines Klassikers aus vergangenen Tagen auszustrahlen. Oder aber sie ließen irgendwelche C-Promis lustige Filmchen kommentieren. Das Sommerloch hatte in der Fernsehlandschaft mal wieder erbarmungslos zugeschlagen.

„Ohne mich, Freunde!“

Meine Hand tauschte die Flasche Bier, die ich mir gerade geöffnet hatte, wie ferngesteuert mit der Fernbedienung meines Smart-TVs. Wenn nichts mehr geht, Streaming Dienste und ein Serienmarathon gehen immer.

Bier hatte ich, Programm war auch klar. Meine Wahl fiel auf einen Mystery-Mehrteiler, aber irgendetwas fehlte noch für einen entspannten Samstagabend vor der Glotze.

Mein Magen und das dazugehörige Knurren lieferten die Antwort. Als Junggeselle sind Hunger am Samstagabend und der Gang zum Kühlschrank immer auch eine Art Glücksspiel. Heute hatte ich aber Glück.

Alles auf Rot.

Alles auf Pizza.

Alles „all in“ den Backofen.

***

Ich wollte es mir gerade wieder gemütlich machen, als es an der Tür klingelte.

Samstagabend, 20.43 Uhr, wer konnte das sein? Besuch erwartete ich eigentlich nicht, und dass mich das letzte Mal jemand mit seiner Anwesenheit beehrt hatte, war auch schon Ewigkeiten her. Und obwohl heute ein ganz besonderer Tag war, hatte ich niemanden dazu eingeladen. Gespannt trat ich an die Tür, setzte ein Auge ganz dicht an den Türspion und lugte hindurch.

Auf meiner Fußmatte stand eine mir gänzlich unbekannte Person. Der Mann trug einen braunen Tweet-Anzug, dazu einen passenden Schlapphut. Er war nicht sehr groß, etwas rundlich und lächelte. In der einen Hand hielt er etwas, das auf den ersten Blick nach einer Aktentasche aussah.

„Jetzt, wo Sie mich schon eine ganze Weile beobachten, können Sie mich doch auch gleich hereinbitten.“

„Wer sind Sie?“, entgegnete ich wortkarg.

„Heute ist Ihr Glückstag, Herr Ford. Sie haben in der Lotterie gewonnen.“

Ich? Gewonnen? Ich hatte noch nie etwas gewonnen.

Okay, hier und da mal einen richtigen Tipp im Lotto, aber mehr als Kleingeld war dabei nie herausgesprungen.

„Lassen Sie mich nun herein, oder soll ich wieder gehen und ein anderer freut sich über den Gewinn, Herr Ford?“

„Wer garantiert mir denn, dass Sie kein Trickbetrüger sind? Haben Sie einen Ausweis?“

„Sicher habe ich einen Ausweis.“ Der kleine, rundliche Mann hielt etwas, das an eine ID-Card erinnerte, direkt vor das Loch in der Tür, nachdem er sie aus der Hemdtasche herausgefingert hatte.

U.S.L. Universum Spezial-Lotterie, las ich mir in Gedanken vor. Noch nie gehört.

„Was habe ich denn gewonnen?“

„Das würde ich Ihnen lieber drinnen erzählen.“

Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass von dem Mann, der sich mir immer noch nicht vorgestellt hatte, keine Gefahr ausging und öffnete die Tür.

„Bitte, kommen Sie herein. Wie war noch Ihr Name?“

„Mein Name ist nicht wichtig, aber Sie dürfen mich gerne Herr Schwarz nennen, wenn Sie mögen. Aber glauben Sie mir: Wenn ich Ihre Wohnung wieder verlasse, haben Sie zum einen meinen Namen wieder vergessen, und zum anderen ist mein Name das Letzte, was Sie dann interessieren wird.“

Das Unbehagen in meinem Inneren wuchs wie ein Magengeschwür, auf das man Frust, Ärger und schlechte Gedanken kippt, von Sekunde zu Sekunde, und ich stellte mir die Frage, ob es vielleicht doch keine so gute Idee gewesen war, Herrn Schwarz die Tür zu öffnen. Aber als würde mein Gegenüber meine Gedanken lesen, versuchte er mich zu beruhigen.

„Haben Sie keine Angst, es war schon die richtige Entscheidung, mir zu öffnen. Aber bevor ich Sie jetzt länger auf die Folter spanne, erläutere ich Ihnen in ein paar kurzen Sätzen, warum ich hier bin. Sie, Herr Ford, sind der Gewinner unserer diesjährigen Universum Spezial-Lotterie.

Jedes Jahr suchen wir Menschen, die an einem Punkt im Leben angelangt sind, an dem sie ihren zurückgelegten Lebensweg hinterfragen dürfen. Sie, Herr Ford, sind genau diese Person.“

***

Schweigend, aber den Kopf voller Fragen, gingen wir ins Wohnzimmer, und dort, neugierig auf meinen Gewinn, bat ich ihn, auf dem Sofa Platz zu nehmen.

Herr Schwarz setzte sich, nahm seine Aktentasche, öffnete den Verschluss und holte etwas aus selbiger, was an ein Tablet erinnerte, nur mit dem Unterschied, dass dieses Tablet komplett durchsichtig war. Durch das Gerät konnte ich die Finger von Herrn Schwarz sehen und wie er anfing, auf dem Glas zu tippen. Ich gebe zu, ich muss schon reichlich beknackt ausgesehen haben, wie ich so mit offenem Mund dastand. Unbeeindruckt meiner Mimik fuhr Herr Schwarz fort:

„Das Universum existiert nun einmal nur im Gleichgewicht. Gut und Böse. Ying und Yang. Liebe und Hass.

Sie, Herr Ford, sind eine statistische Ausnahme. Ein Ungleichgewicht. Eine Disparität. Innerhalb Ihrer jetzt 50 Lebensjahre haben Sie überproportional viele falsche Entscheidungen getroffen, sind des Öfteren auf dem Weg des Lebens falsch abgebogen. Dadurch, dass Sie nun in der USL ausgelost wurden, bietet Ihnen das Universum eine zweite Chance.“

Ich verstand nur Bahnhof. Zweite Chance? Universum? Und was zum Teufel war eine Disparität? Hier erlaubte sich doch jemand einen Scherz mit mir.

„Zunächst einmal müssen wir unsere Daten abgleichen. Sie sind Brian Ford, geboren am 19.08.1970? Und nein, es ist kein Scherz, Herr Ford.“

Schon wieder dieses Gedankenleserding? Bei der Art, wie er das Datum betonte, deutete Herr Schwarz scheinbar darauf hin, dass heute der 19.08. war und ich meinen 50. Geburtstag feierte. Wobei man eine Feier ohne Gäste ja nicht wirklich als Feier bezeichnen konnte. Eine Flasche Bier und eine Tiefkühlpizza waren alles andere als ein dem Anlass entsprechendes Geburtstagsfestmahl.

„Das ist richtig“, stammelte ich wahrheitsgemäß, immer noch nicht sicher, was hier eigentlich vor sich ging. War das hier die Versteckte Kamera? Meine Gedanken tanzten wild, taktlos und ohne Musik.

Immer schneller.

„Super, Herr Ford! Dann lassen Sie mich Ihnen zum Geburtstag gratulieren. Und ich überreiche Ihnen Ihren Gewinn, sozusagen Ihr Geschenk zum 50. Geburtstag.“

Herr Schwarz griff erneut in seine Aktentasche, und zum Vorschein kam eine kleine Schatulle. Sie war aus Holz, würfelartig und umgeben von einer Art Nebel. Die mysteriöse Box war umhüllt von einem blauen Licht. So etwas hatte ich noch nie gesehen.

Herr Schwarz überreichte mir mein Geschenk, und ich betrachtete es näher. Was ich zuvor für eine Art Nebel gehalten hatte, kristallisierte sich als etwas ganz anderes heraus. Was genau es war, vermochte ich nicht zu sagen, aber das nebelartige Gebilde schimmerte im rotbläulichen, phosphoreszierenden Licht, und innerhalb dieses Farbenspiels konnte man unser Sonnensystem erkennen.

Wenn das ein Spezialeffekt war, dann ein verdammt guter.

***

Gerade als ich mein Geschenk öffnen wollte, schritt Herr Schwarz ein.

„Herr Ford, bevor Sie den Würfel der Entscheidungen öffnen, muss ich Ihnen eine Frage stellen. Bitte antworten Sie erst, wenn Sie sich wirklich zu 100 Prozent sicher sind. Die Erklärung dazu folgt später. Darf ich Ihnen diese Frage stellen, Herr Ford?“

„Klar, dafür sind Sie doch hier, oder?“

„Gut, Herr Ford, oder darf ich Brian sagen?“

Ich nickte.

„Brian, gibt es Entscheidungen in Ihrem Leben, die Sie bereuen, die Sie gerne ungeschehen machen würden?

Irgendwelche, irgendwann, irgendwo bis zu diesem Zeitpunkt?“

Ich erschrak. Ein unangenehmes Gefühl machte sich in meinem Körper breit und nahm von jeder Zelle, jeder Faser meines Menschseins Besitz. Wie sollte ich auf diese Frage eine passende Antwort finden?

Ich versuchte es diplomatisch:

„Ich denke, dass jeder Mensch zu irgendeiner Zeit mal Entscheidungen getroffen hat, die er gerne rückgängig machen würde.“

„Brian, stellen Sie sich das Leben als eine Straße vor. Eine Straße mit geraden Abschnitten, mit Kurven, mit Bergen und mit Tälern. Ein Auf und Ab, ein Kreuz und Quer. Auf dieser Straße befinden sich unzählige Kreuzungen, und an jeder Kreuzung gibt es die Möglichkeit, nach links oder nach rechts abzubiegen oder aber auch einfach weiter geradeaus zu fahren. Nur ein Zurück, ein Zurück gibt es auf dieser Straße nicht. Bis jetzt! Sie, mein lieber Herr Ford, standen an vielen Kreuzungen und hatten oftmals die Entscheidung zu treffen, wie Ihr Weg weitergehen sollte. Und Sie trafen sehr oft, zum Leidwesen des Universums, die falsche Entscheidung. Und genau deswegen bin ich hier. Sie sind eine Anomalie. Das Leben, das Sie jetzt führen, ist die Summe Ihrer Entscheidungen.“

„Bitte was?“, unterbrach ich Herrn Schwarz.

„Brian, das Universum meint es gut mit Ihnen und bietet Ihnen heute einen Weg zurück an. Eine Entscheidung in Ihrem Leben dürfen Sie ändern, einmal lieber links oder rechts abbiegen. Was sagen Sie?“

Vorsichtig legte ich mein Geschenk auf dem Tisch ab. Irgendwie war ich mir gar nicht mehr so sicher, ob ich es überhaupt annehmen sollte.

„Und wie soll das gehen?“

Ich mach den Spaß einfach so lange mit, bis …, dachte ich gerade, als sich die Wände meines Wohnzimmers langsam verflüssigten. Sie lösten sich auf wie Würfelzucker in heißem Kaffee. Dort, wo eben noch die Wände meiner Wohnung waren, befand sich nun eine gallertartige Masse, die in Sekundenbruchteilen komplett verschwand.

Ich fühlte, wie mir sprichwörtlich der Boden unter den Füßen weggerissen wurde. Aber ich fiel nicht. Schwindel überkam mich, vor meinen Augen zuckten Blitze.

Ich schwebte.

War ich tot?

Um mich herum manifestierte sich die Umgebung nach und nach. Es war, als würde ich schwerelos durchs All fliegen.

Mich umgab blauer, in vielen Facetten schimmernder Nebel. Plötzlich bemerkte ich wieder feste Materie unter meinen Füßen. Wo eben noch das Nichts gewesen war, stand ich nun auf einer Art Holzplanke. Von dort blickte ich in das riesengroße Antlitz von Herrn Schwarz.

***

Stand ich wirklich auf der Schatulle? Ich musste tot sein! Eine andere Erklärung für das Geschehene konnte es einfach nicht geben.

„Das Universum fordert Sie, Brian!“, dröhnte es mir im Ohr. Obwohl Herr Schwarz den Mund nicht öffnete, hörte ich seine Stimme in meinem Kopf. Laut, eindringlich und mit einer gottesgleichen Stimmlage. Der Bass von Herrn Schwarz hämmerte in meinen Synapsen wie in einem alten Detroiter Technoclub.

Mich fröstelte. Können Tote Kälte spüren? Genauso schnell, wie der ganze Spuk gekommen war, war er auch schon wieder vorbei, und ich saß direkt auf meiner Couch, in meinem Wohnzimmer. Herr Schwarz lächelte.

„Habe ich nun Ihre volle Aufmerksamkeit, Brian?“

„W-W-Was zur Hölle war das?“, versuchte ich zu sagen, brachte aber nur zusammenhangloses Gestammel heraus.

Sprachlos.

Fassungslos.

Hilflos ergab ich mich dem Schicksal und sprang panisch wie eine wasserscheue Katze, die man gerade mit einer Sprühflasche bespritzte, von der Couch, um ein wenig Abstand zwischen mir und dem geheimnisvollen Unbekannten zu bekommen.

Aber ob es was nützte?

***

Mein Puls raste. Mein Herzschlag schlug im Stakkato. Ich spürte, wie mich der Mantel der Dunkelheit fest umschlang. Aber der Mantel passte einfach nicht. Helles, blaues Licht ließ mich fast ohnmächtig werden, bis zu dem Moment, in dem Herr Schwarz mit den Fingern schnippte und das blaue Licht gänzlich verschwand. Konzentriert auf seine Stimme, die nun wieder etwas Beruhigendes hatte, hörte ich seinen Ausführungen weiter zu.

„Bitte beruhigen Sie sich wieder, Brian. Es ist alles okay. Sie sind nicht in Gefahr, im Gegenteil. Es bietet sich Ihnen heute die einmalige Gelegenheit, Ihr Leben neu zu sortieren. Ich werde Sie nun bitten, den Würfel der Entscheidung zu öffnen. Im Inneren finden Sie zwei Pillen. Eine gelbe und eine grüne. Diese beiden Pillen sind das Geschenk des Universums an Sie. Die gelbe Pille ist für diejenigen, die einen Neustart wünschen. Die ganz von vorne anfangen möchten. Gelb schickt Sie zurück, zurück zum 19.08.1970. Zum Beginn Ihres Lebens. Von dort haben Sie die Möglichkeit, alles anders, alles besser zu machen. Sollten Sie die gelbe Pille wählen, dann wählen Sie den kompletten Neubeginn. Den Brian Ford, den Sie morgens im Spiegel anlächeln, den gibt es dann nicht mehr. Und alles, was Brian Ford bis heute erlebt hat, ist nie passiert. Sie beginnen Ihren Weg erneut am Anfang, auf Ihrer eigenen Straße.“

***

Ich wollte einfach nur weg.

Weg aus meinem Wohnzimmer, weg aus diesem Gespräch, aber weg aus meinem Leben? Ich hatte 1000 Fragen im Kopf, konnte aber nicht eine einzige davon stellen. Wie paralysiert hing ich an Herrn Schwarz` Lippen.

„Kommen wir nun zur grünen Pille, die Pille der Hoffnung. Wählen Sie die grüne, dann bringt Sie die Pille an eine Kreuzung auf Ihrer Lebensstraße. Irgendeine Kreuzung, an der Sie irgendeine Entscheidung in Ihrem Leben getroffen haben, die Sie lieber nicht getroffen hätten.

Alles, was Sie nach dieser Kreuzung erlebt haben, wäre nie passiert. Auf jede Aktion folgt eine Reaktion. Nur Ihre Reaktionen auf die Aktionen hat es dann nie gegeben. Sie dürfen eine Entscheidung wählen, eine Kreuzung Ihrer Wahl aufsuchen und Sie dann in eine andere Richtung passieren. Also, wählen Sie mit Bedacht. Grün oder Gelb? Hoffnung oder Neustart? Sie dürfen nun Ihr Geschenk öffnen. Ach halt, das Wichtigste habe ich noch vergessen: Sie haben ab der Öffnung des Würfels nur fünf Minuten Zeit. Der Countdown beginnt mit Anheben des Deckels.“

Fünf Minuten Zeit. Fünf Minuten, um eine Entscheidung zu treffen, die schwerwiegende Folgen hat. Eben dachte ich noch an ein Bier gemütlich auf der Couch, zusammen mit meiner Lieblingspizza. Da fällt mir ein: Warum riecht es hier nicht nach verbranntem Spinat?

„Unsere Unterhaltung befindet sich im zeitlosen Raum. Von dem Moment an, wo Sie mir die Tür geöffnet haben, gab es so etwas wie Zeit nicht mehr. Es ist immer noch 20.45 Uhr am Samstagabend.“

***

War ja klar, dass es auch darauf eine Antwort von Herrn Schwarz gab. Wie sollte ich einen klaren Gedanken fassen? Grün oder Gelb? Was gab es in meinem Leben, was ich gerne ungeschehen gemacht hätte, welche Entscheidung bereute ich am meisten? Noch einmal 50 Jahre zurück kam für mich nicht in Frage. Aber eine Entscheidung zu ändern, einen anderen Weg einzuschlagen, das war schon mehr mein Fall. Ich entschied mich für Grün und öffnete die Schatulle. Zu meinem Erstaunen lag im Inneren nur eine grüne Pille. Von einer gelben war weit und breit nichts zu sehen.

***

„Der Countdown läuft ab jetzt! Vier Minuten und 59 Sekunden.“

Mein Leben lief im Zeitraffer an mir vorbei. Ab dem Zeitpunkt, wo ich freien Willens war und meine eigenen Entscheidungen getroffen hatte. Da war Georg, mein Schulfreund, dem ich die Freundin ausspannte und damit die beste Freundschaft, die man haben konnte, zerstörte.

Georg und ich wir waren wie Brüder, nur aus verschiedenen Familien. Wir folgten denselben Idealen, hatten die gleichen Interessen. Bis zu dem Tag, als ich die Hände nicht von Sara lassen konnte. Zwei gebrochene Herzen und eine gebrochene Nase waren das Ergebnis dieses One-Night-Stands.

„Vier Minuten und 30 Sekunden.“

Dann sah ich Herrn Kunze, meinen Abteilungsleiter, der mir anbot, für zwei Jahre ins Ausland zu gehen, um dort eine Zweigstelle unserer Firma zu leiten. Damals lehnte ich ab. Ich war nicht bereit für etwas Neues, neue Herausforderungen. Konnte mich mit dem Gedanken nicht anfreunden, auf mich alleine gestellt zu sein.

„Vier Minuten und 10 Sekunden.“

Und dann sah ich sie, Kati. Die Liebe meines Lebens. Kati und ich waren verliebt, dachten über Heirat nach, über ein gemeinsames Leben. Aber das Schicksal meinte es nicht gut mit uns. Kati erzählte mir, dass sie schwanger war, und ich war so glücklich. Endlich eine Familie, endlich meine Familie. Sie schenkte uns einen Sohn, aber es gab Komplikationen bei der Geburt. Der Arzt konnte nur noch den Tod von Kati feststellen. Unser gemeinsamer Sohn lebte nur einen Tag.

Tränen liefen mir die Wangen runter.

Warum nur?

Der Tod der beiden war so sinnlos.

„Drei Minuten und 30 Sekunden.“

Ich brauchte lange, um mit diesem Verlust fertigzuwerden. Jahre! Eine Therapie half mir über die anschließende Zeit hinweg. Ich beschloss, eine Auszeit zu nehmen und verschwand für viele Monate ins Ausland. Ich baute mir eine neue Existenz auf und wurde wieder glücklich. Der Verlust von Kati und unserem Kind warf mich zwar aus der Bahn, aber ich fiel nicht.

Im Gegenteil! Über die Jahre wuchs in mir die Erkenntnis, dass dieses traumatische Erlebnis mich zu dem gemacht hat, der ich heute war.

Ich war mit mir im Reinen.

„Eine Minute und 56 Sekunden.“

Ich war genau da, wo ich sein wollte.

Genau der Mensch, der ich sein wollte.

Nun wusste ich ganz genau, welche Entscheidung ich ändern musste. Ich schluckte die grüne Pille. Die Welt um mich herum verschwand. Ich gab mich dem Universum hin. Noch nie war ich mir mit einer Entscheidung so sicher gewesen wie mit der, die ich nun bereit war, zu treffen.

***

„Ohne mich, Freunde!“

Meine Hand tauschte die Flasche Bier, die ich mir gerade geöffnet hatte, wie ferngesteuert mit der Fernbedienung meines Smart-TVs. Wenn nichts mehr geht, Streaming Dienste und ein Serienmarathon gehen immer.

Bier hatte ich, Programm war auch klar. Meine Wahl fiel auf einen Mystery-Mehrteiler, aber irgendetwas fehlte noch für einen entspannten Samstagabend vor der Glotze.

Mein Magen und das dazugehörige Knurren lieferten die Antwort. Als Junggeselle sind Hunger am Samstagabend und der Gang zum Kühlschrank immer auch eine Art Glücksspiel. Heute hatte ich aber Glück.

Alles auf Rot.

Alles auf Pizza.

Alles „all in“ den Backofen.

Ich wollte es mir gerade wieder gemütlich machen, als es an der Tür klingelte.

„Ach, lass es klingeln!“, sprach ich laut.

Ich griff mir mein Bier und prostete mir selbst dankbar, glücklich und zufrieden zu.

„Happy birthday, Brian! Du hast alles hier, was man braucht. Kann man sich mehr wünschen?“

Momo

(Swen Artmann)

Er hatte die Augen geschlossen, während er unter dem alten Apfelbaum im Garten lag. Bei dem schönen, warmen Sommerwetter trug er nur Shorts und ein verblichenes T-Shirt. Die Füße waren nackt.

Vom See her kam eine Ahnung, die Andeutung, die Idee eines Windhauchs, kühl, duftend, erfrischend. Im Haus spielte Tunja Klavier. Die einzelnen Noten und unbeholfenen Töne kamen ihm wie Engels-, wie Himmelsmusik vor, die sich ihren Weg durch das Wohnzimmer, durch die leichten, sich sanft bewegenden Vorhänge, durch die geöffneten Fenster und durch den ländlich wirkenden Garten suchte.

Sie erreichte ihn nahezu zärtlich, leise und unaufdringlich und doch erfüllte sie seinen gesamten Körper, seine gesamte Seele, so, als wenn sie von einem kompletten opulenten Orchester intoniert und dargeboten würde. Jede vorsichtige Harmonie streichelte seine Psyche, sein Wesen. Jede Melodienfolge ließ ihn ruhiger, stolzer und glücklicher werden.

Noch glücklicher?

Ging das überhaupt?

Seine Frau bereitete in der Küche das Abendessen zu, und die 9-jährige Miriam spielte auf der Wiese, etwa zwanzig Meter von ihm entfernt, mit ihrem neuen Kätzchen. Es war hellbraun mit weißen, samtweichen Pfoten.

Das tapsige Fellknäuel hatte keinen Namen, dafür lebte es noch nicht lange genug bei ihnen, und Miriam wollte sich in dieser Sache ganz sicher sein. Deshalb probierte sie seit Stunden nun schon testweise alle möglichen Namen aus, die ihr einfielen. Sie sprach sie leise vor sich hin, rief sie etwas lauter, mal lobend, mal versuchsweise kritisch tadelnd, und zwischendurch fragte sie sogar ihren Vater, was er zum Beispiel von „Braune“, „Otto-Kathrin“ oder „Stupsnäschen“ hielt.

Natürlich fand er alle Namen irgendwie passend.

Gut, bei „Gertrude, du Fellfaultier“ legte er für kurze Zeit zweifelnd seine Stirn in Falten, doch auch nur deshalb, weil die unmittelbare und äußerst resolute 79-jährige Nachbarin von ihnen, zu der das Verhältnis seit Tunjas Klavierstunden und Miriams Vorliebe für Fußball und schwere, nasse Lederbälle ein wenig getrübt war, denselben Vornamen trug, und er sich abends schon „Gertrude, du Fellfaultier“ im dämmrigen Garten rufen hörte, wenn er die kleine Katze dazu bewegen wollte, endlich ins Haus zu kommen.

Er öffnete die Augen und blinzelte zum See hinüber, auf dem ein einsames Segelboot zu sehen war.

Da und dort schwammen traute Entenfamilien umher, und zuweilen erzeugte ein auftauchender Fisch sich rasch vergrößernde Kreise und Wellenringe.

Die Schatten der am Ufer stehenden Bäume, Büsche und Weiden zauberten einzigartige, verspielte Silhouetten auf das Wasser, und über ihm bildeten weiße Kumuluswölkchen geheimnisvolle, langsam dahinziehende, sich stets verändernde Formationen und Bilder.

Sie hatten das alte, komplett renovierungsbedürftige Haus, welches direkt am Bodensee lag, vor gut einem Jahr durch Zufall während eines Kurzurlaubs entdeckt.

Es selbst war zwar nur klein, es stand aber auf einem fast zwei Hektar großen Naturgrundstück mit eigenem Bootssteg und direktem Blick auf den See.

Die Tatsache, dass das Haus kostenintensiv saniert werden musste und es sich bei dem Grund lediglich um ein Erbpachtgrundstück handelte, ließ den Verkaufspreis für die Familie erschwinglich werden.

Und da er und seine Frau handwerklich äußerst begabt waren und sie sich immer schon so ein Projekt gewünscht hatten, verwunderte es niemanden ihrer Freunde und übrigen Familienmitglieder, Verwandten oder Arbeitskollegen, dass sie den Kaufvertrag binnen zwei Wochen unterschrieben hatten.

Er hatte sehr schnell eine gute Anstellung in einer Tischlerei im Nachbarort gefunden, und seine Frau ging in ihrer Rolle als Hausfrau, Mutter und Innenarchitektin für das neue Heim völlig auf.

Natürlich war das Haus längst noch nicht fertig.

Doch er, seine Frau, seine beiden Töchter hatten keine Eile. Sie hatten keinen Druck.

Es galt, nichts zu beweisen.

Es galt, nichts zu demonstrieren oder darzustellen.

Denn sie hatten ja sich.

Sie hatten unendlich viel Zeit.

Und glücklich waren sie bereits jetzt schon.

Immer wenn es ihr Zeit- oder Bankkonto erlaubte, wurde ein neuer Raum, ein neues Gewerk, ein neuer Traum in Angriff genommen.

Ein Fenster, ein Bodenbelag, ein Möbelstück, ein Anstrich oder eine neue Tapete.

Die Kinder wuchsen, das Haus veränderte sich, und das Leben war das, was es sein sollte.

Leben!

„Papa, kannst du mal für einen Moment auf Momo aufpassen? Ich muss Pipi.“

Er drehte den Kopf und sah, wie Miriam mit dem Kätzchen auf dem Arm direkt neben seinem Liegestuhl stand.

„Momo?“

Das Mädchen zuckte mit den Schultern.

„Ich habe entschieden, dass sie so heißt, bis ich wieder draußen bin. Bis ich wieder bei ihr bin.“

Er lächelte.

„Dann soll es so sein.“

Er nahm das kleine, unschuldige Lebewesen entgegen, legte es sich auf den Bauch und beobachtete nicht ohne ein Gefühl der Wärme in seinem Herzen, wie sich das wenige Wochen alte Kätzchen direkt einrollte und schnurrend zu schlafen begann.

„Aber pass gut auf sie auf“, meinte Miriam streng. „Schließlich ist Momo noch ein Baby.“

„Mach dir da mal keine Sorgen, mein Schatz“, erwiderte er. „Bei mir ist sie so sicher wie in Fort Knox.“

Das Mädchen rümpfte zweifelnd die Nase, während es inzwischen unruhig von einem Bein aufs andere tippelte.

„Wie in was?“

Er lachte.

„Ist schon gut. Lauf ins Haus und geh aufs Klo.“

Und mit einem Augenzwinkern:

„Bevor hier gleich noch ein Unglück passiert.“

„Papa!“, antwortete Miriam streng und ein wenig vorwurfsvoll. „Mir passiert sicher kein Unglück, ich bin doch schon groß.“

„Natürlich bist du das. Aber jetzt beeil dich trotzdem. Und pass auf die Baumwurzeln auf. Nicht, dass du noch stolperst und dir wehtust.“

Das Mädchen rannte los, und kurz bevor es die Terrasse erreichte, hörte er sie noch „Mama, Mama, mach das Badezimmer frei, ich muss ganz doll!“, rufen.

Er schloss erneut die Augen. Tunjas Klaviertöne streichelten sein Gemüt, umschmeichelten, liebkosten das Haus, den Garten, die wispernden, im Wind flüsternden Bäume, den stillen See.

Und während er in Vorfreude auf die gebackenen Forellen im Ofen und einen ruhigen Abend mit seiner Frau auf dem Bootssteg bei Wein, einzigartiger Aussicht und Kerzenlicht einzudösen begann, fühlte er das pulsierende, weiche, warme, vertrauensvolle Leben auf seinem Bauch.

Und es schnurrte.

***

Er erwachte.

Und noch immer hörte er Tunjas Klavier, roch den friedvollen See, spürte den Apfelbaum über sich, roch den köstlichen Duft von in Knoblauch, Thymian und Öl eingelegten, selbst gefangenen Forellen.

Wie dankbar er doch war.

Womit hatte er so viel Glück verdient?

Er war doch nur ein kleiner Tischler.

Ein ganz normaler Kerl.

„Er ist aufgewacht“, sprach eine erregte Frauenstimme irgendwo im Universum. „Er kommt endlich zu sich.“

Er öffnete die Augen und sah den wunderschönen Himmel über sich. Die Äste und Blätter des Baumes, die erntereifen, pausbäckigen roten Äpfel.

Und er strahlte innerlich.

Gott, hatte er einen Hunger.

Ob er seine Frau bitten sollte, ihm zu den gebackenen Forellen noch ein paar Apfelstückchen in der Pfanne zu karamellisieren?

Er lächelte, und die starken Medikamente und Spritzen sorgten dafür, dass sein zu 50 Prozent verbranntes Gesicht, seine zu 65 Prozent verbrannte, komplett bandagierte Haut keine schmerzhaften Signale und Impulse an sein schläfriges, dämmriges Gehirn sendeten.

Er sah zu dem Kätzchen auf seinem Bauch.

Das braune, niedliche Fellwesen mit den weißen Pfötchen schlummerte noch immer friedlich, beschützt und ruhig schnurrend vor sich hin.

Und dabei war es so sicher wie in Fort Knox.

Und dann wieder die Frauenstimme:

„Er sieht so glücklich aus. Glauben Sie, dass er die Katze auf seinem Körper spürt?“

„Wer weiß das schon?“, antwortete eine sonore Männerstimme. „Ich weiß nur, dass diese seltsame Nachbarin, wie hieß sie noch gleich?“

Fünf Sekunden Stille.

Dann erneut die Frauenstimme:

„Gertrude Weißnacht.“

„Richtig, Gertrude“, meinte der Mann beinahe tonlos.

„Zumindest sagte diese alte Dame aus, dass Herr Fälber nach der Gasexplosion, die ihm nicht nur sein komplettes Haus, sondern auch seine gesamte Familie genommen hat, wie von Sinnen ins Feuer gelaufen ist. Sie hat es wohl vom Gartenzaun aus beobachtet, während sie ihre Rosen wässerte.“

Der Profi räusperte sich und fuhr unbeirrt fort:

„Und nachdem sie die Polizei und die Feuerwehr angerufen hatte, hat sie ihn völlig verbrannt, zitternd, vor Schmerzen schreiend und der Ohnmacht nahe auf dem Rasen vor der Terrasse gefunden. Und in seinen Armen muss er wohl diese Katze gehalten haben.“

„Und Sie finden es in Ordnung, dass er nun dieses verlauste Tier bei sich auf dem Krankenhauszimmer hat?“, wollte die Frau wissen. „Schließlich haben wir hier unsere Regeln und Bestimmungen.“

„Ach, wissen Sie“, reagierte der professionell wirkende Mann, während er die einzelnen Blätter seines Klemmbrettes ordnete. „Nach zwei Monaten befindet sich Herr Fälber nun endlich nicht mehr auf der Intensivstation. Als er eingeliefert wurde, gaben wir ihm eine Überlebenschance von weniger als zehn Prozent. Natürlich war ich skeptisch, als diese Gertrude uns mit dem Vorschlag kam, die Katze, um die sie sich seit dem Unglück kümmert, für eine Stunde am Tag auf den Bauch des Patienten zu legen. Aber auch für mich als Schulmediziner gibt es immer wieder Situationen, in denen ich mein Herz sprechen lasse und nicht meinen Verstand. Dafür gibt es einfach noch zu viele Dinge zwischen Himmel und Erde, die ich nicht verstehe.“

***

Er lag auf seinem Liegestuhl, während die Krankenschwestern und Ärzte in den anderen Zimmern, Stationen und Etagen arbeiteten, begleiteten, hinüberführten, pflegten, trösteten, kämpften und ihre Jobs zugleich liebten und verfluchten.

Und da war der Wind, die Sonne, der See, der Baum über ihm, die Wiese, das alte Haus, das Aroma der gebackenen Forellen und der karamellisierten Apfelstückchen, das Klavier.

Und das Leben, die Wärme, das Vertrauen ruhte wohlig schnurrend auf seinem Bauch.

Er öffnete die Augen, sah das zarte Kätzchen und lächelte.

„Hallo, du Kleine“, kam es schließlich liebevoll zwischen seinen Mullbinden, seinen verbrannten Lippen hervor, während ihn das langsam erwachende Tier hingebungsvoll anstarrte und sich an seine verbundenen, versengten Hände schmiegte.

„Mach dir keine Sorgen. Ich pass auf dich auf. Solange, bis Miriam vom Klo zurück ist. Bei mir bist du sicher wie in Fort Knox.“

Tränen fanden ihren Weg in gerötete, schmerzerfüllte und zugleich hoffnungsvolle Augen. Und Gewissheiten, Ahnungen, Illusionen, Erinnerungen und unterdrückte Wahrheiten traten im Ring, im Kampf gegeneinander an.

Auf dass es keine Sieger und keine Verlierer geben möge.

„Meine kleine Momo.“

North-Pride-Story

(Frank Winterfeld)

Wie glühende Kohlestücke brennen sich die Bilder der vergangenen Minuten in meinen Kopf. Der Schmerz meldet sich, sendet Alarmsignale in den Cortex. Jeder Knochen tut mir extrem weh, so als wäre ich auseinandergenommen und anschließend falsch wieder zusammengesetzt worden.

Ein anatomisches Experiment.

Mein ganzer Körper gleicht einem Trümmerfeld. Hier eine Rippenkontusion, dort ein Hämatom, und auch das Blut meiner gebrochenen Nase, das ich auf meinen Lippen schmecke, ist kein mir gänzlich unbekannter Geschmack.

***

Um mich herum herrscht das Chaos. Laute, hektische Schreie – gemischt mit Aufgeregtheit. Einige Menschen laufen panisch in eine Richtung, von der sie sich erhoffen, dass es die richtige Entscheidung ist.

Raus aus der Konfusion!

Andere wiederum irren ziellos umher, suchen, wie ein Navigationsgerät ohne Satellitenempfang, ihren Weg heraus aus diesem Tumult.

Im Gegensatz zu mir. Ich bleibe hier. Stelle mich meinen Taten.

Mein ganzer Körper zittert. Das hilfreiche Adrenalin, das gerade eben noch durch meine Venen und Arterien pumpte, weicht der nutzlosen Erkenntnis, dass der heutige Tag ein jähes, ein trauriges und absolut trostloses Ende nehmen wird. Dabei sollte es doch ein Freudentag werden. Es sollte der Tag werden.

***

Das Blut, das an meinen Händen klebt, ist größtenteils nicht meins. Es stammt auch von anderen. Aber es ist auch von ihm.

Blutüberströmt liegt er in meinen Armen. Sein schwarzer Hoodie mit dem Jolly Rogers Schädel saugt sich immer schneller voll.

Ein Totenkopf mit Epistaxis kommt mir in den Sinn. Ich versuche die Hämorrhagie zu stillen, aber die Wunde am Bauch hört einfach nicht auf zu bluten. Wie rotes, heißes Magma, das sich einen Weg vom Vulkan in die Stadt sucht, wabert das Leben aus seinem Körper und durch meine Hände.

Woher der Stich genau kam, konnte ich nicht erkennen.

Es ging alles so schnell. War es vielleicht einer von uns?

***

Normalerweise sollte es bei einer dritten Halbzeit keine Waffen geben. Der Ehrenkodex ist da unmissverständlich. Aber wenn Stadtderby ist, nehmen die unausgesprochenen Regeln und Gesetze scheinbar eine Auszeit.

Sein Stadtteilclub gegen meinen heiligen SV. Da herrscht Krieg auf den Straßen, und ein Krieg fordert nun mal Opfer.

Ihre Familie gegen meine Familie.

Mann gegen Mann.

Faust gegen Faust.

Aber warum traf es gerade ihn?

Warum war er hier?

***

Er war anders, aber das durfte natürlich niemand wissen. Außer mir, denn ich kannte ihn besser als jeder andere auf diesem gottverdammten Schlachtfeld.

Zunächst nur flüchtig, aber mit der Zeit lernte ich ihn immer intensiver kennen. Wir studierten zusammen Medizin. Unser erstes Treffen war wie Magie. Flüchtige Blicke, zufällige Berührungen.

Eine Hand auf meiner Schulter reißt mich aus den Gedanken.

„Los, die Bullen kommen! Lass die Zecke liegen. Der Kerl tut niemandem mehr was.“

Dougie ist niemand, dem man widerspricht. Er hat diese autoritäre Art an sich, dass man schon zusammenzuckt, sobald er nur in deine Richtung blickt.

Der geborene Anführer.

Einerseits ist mir klar, dass ich mitgehen muss, soll mein Geheimnis gewahrt bleiben. Andererseits – kann ich den Mann in meinen Armen einfach hier liegenlassen?

Wenn es nicht mein hippokratischer Eid ist, der mich am Weglaufen hindert, dann ist es spätestens die Tatsache, dass er und ich gar nicht so verschieden sind. Zwar getrennt in der Ideologie und den Farben, aber unsere Herzen schlugen seit langer Zeit gemeinsam in einem Takt.

***

Schuld und Reuegefühle, so hoch wie das World Trade Center, türmen sich in meinem Inneren auf. Aber meine unabdingbare, erforderliche Verschwiegenheit und das damit zusammenhängende Totschweigen meines Geheimnisses wirken wie ein American-Airline Flug 11 auf mich … und bringen das Gebäude innerhalb von Sekunden zum Einsturz.

Ich lasse Tony auf den nassen, kalten Asphalt hinabsinken.

Streiche ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht und streichle ein letztes Mal zum Abschied zärtlich über seine rosige Wange. Dann folge ich Dougie in die Anonymität und Dunkelheit der Hamburger Großstadt.

***

Mein Name ist Marius.

Ich bin ein Hooligan.

Und ich bin schwul.

Abschied

(Swen Artmann)

Rosi hielt die Luft an und lauschte angestrengt in die Dunkelheit hinein. Gustaf schien tief und fest zu schlafen. Dann und wann schnarchte er sogar ein wenig. Das Schnarchen klang dabei immer gurgelnd und ungesund.

Kein Wunder, dachte sie. Das Arschloch hat ja auch wieder mal eine ganze Flasche Schnaps intus.

Sie erhob sich vorsichtig, schlüpfte lautlos unter der Bettdecke hervor und befand sich Sekunden später bereits an der Schlafzimmertür. Sie öffnete sie, trat im verwaschenen und ausgeleierten Mickey-Maus-Pyjama in den Flur und atmete tief durch.

Im Badezimmer zog sie die vorbereitete Plastiktüte mit ihren Kleidungsstücken, den sonstigen Klamotten und dem während der letzten Wochen zur Seite gelegten Geld aus der Trommel der Waschmaschine und begann damit, sich blitzschnell und fast völlig geräuschlos anzuziehen.