Ending Stories - Swen Artmann - E-Book

Ending Stories E-Book

Swen Artmann

4,8

Beschreibung

Kurzgeschichten sind weitaus mehr, als nur kurze Geschichten. Sie sind mehr, als belanglose Zwischendurch-Lektüre oder Fast-Food-Leseerlebnisse für den gestressten Konsumenten von heute. Gute Kurzgeschichten erscheinen zuweilen dichter, intensiver, nachhaltiger und eindrucksvoller, als so manches 1000-Seiten-Werk. Und das, obwohl sie oftmals auf nur einer einzigen Idee, einem einzigen Bild, einem einzigen Gefühl basieren. „Ending Stories“ ist eine Zusammenstellung der besten Kurzgeschichten von Swen Artmann. Alle Texte dieses Buches entstanden zwischen 1990 und 2016 und wurden größtenteils bereits im Internet, in Anthologien, im Rundfunk oder in Journalen und Zeitungen veröffentlicht. Die in „Ending Stories“ vereinten Geschichten wirken auf den ersten Blick oft unspektakulär, und sie sind doch sehr speziell und außergewöhnlich. Sie könnten sich direkt nebenan in der Nachbarschaft ereignen, doch alltäglich sind sie nie. Sie kommen zuweilen in einem scheinbar harmlosen Gewand daher und entpuppen sich nicht selten als erschütternd, zutiefst emotional, bewegend und immer wieder überraschend. Swen Artmanns Geschichten lassen einen für einen kurzen Moment innehalten – und für einen langen Moment nicht mehr los.

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Seitenzahl: 269

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Über dieses Buch:

Kurzgeschichten sind weitaus mehr als nur kurze Geschichten. Sie sind mehr als belanglose Zwischendurch-Lektüre oder Fast-Food-Leseerlebnisse für den gestressten Konsumenten von heute. Gute Kurzgeschichten erscheinen zuweilen dichter, intensiver, nachhaltiger und eindrucksvoller als so manches 1000-Seiten-Werk. Und das, obwohl sie oftmals auf nur einer einzigen Idee, einem einzigen Bild, einem einzigen Gefühl basieren.

„Ending Stories“ ist eine Zusammenstellung der besten Kurzgeschichten von Swen Artmann. Alle Texte dieses Buches entstanden zwischen 1990 und 2016 und wurden größtenteils bereits im Internet, in Anthologien, im Rundfunk oder in Journalen und Zeitungen veröffentlicht.

Über den Autor:

Swen Artmann, geboren 1972, schreibt seit mehr als 25 Jahren Songtexte, Gedichte, Kurzgeschichten und Bücher. Einige seiner Texte und Geschichten wurden bei bundesweit ausgeschriebenen Literatur- und Kurzgeschichtenwettbewerben preisprämiert.

Nach der tragikomischen Trilogie über den kleinen Finanzbeamten Karl Bauer (2010 – 2012) und dem derb humorvollen „Glaubt mir, ich bin ein Lügner!“ (2014) ist „Ending Stories“ Artmanns fünftes Buch.

Der Autor lebt mit seiner Familie in Billerbeck / NRW

Infos:

www.swen-artmann.de

„Eine Kurzgeschichte ist eine Geschichte, an der man sehr lange arbeiten muss, bis sie kurz ist.“

(Vicente Aleixandre)

„Kurzgeschichten sind wie die Kugel eines Scharfschützen. Schnell, präzise, zielsicher und oft schockierend. Sie können das Gute schlecht machen und das Schlechte schlechter. Und sie können das richtig Schlechte gut erscheinen lassen.“

(Jeffrey Deaver)

„Sie werden überrascht sein, wie viel auf eine Seite passt. Ein Tag, ein Jahr, manchmal ein ganzes Leben. Oder auch nur ein einziger Augenblick.“

(Markus Walther)

„Kurzgeschichten sind spannend oder sentimental, moralisierend oder verrucht. Sie wollen nichts als unterhalten. Und zwar in der kürzesten Zeit und mit den kräftigsten Mitteln.“

(Edith Oppens)

Für die unzähligen Menschen, die mich während der letzten 25 Jahre inspiriert haben, die vorliegenden Geschichten zu schreiben.

Und für die,

die mich in der Zukunft noch

inspirieren werden.

Inhaltsverzeichnis

Im Zug

Perfekt

Elterngespräch

Wie immer

Der Neubeginn

Mont Ventoux

Ein wunderschöner Abend

Zwanzig Stunden

Viva Theresa

Gut angekommen

Die Achterbahn

Etwas vergessen?

Die Gratifikation

Das Comeback

Friedvolles Frankreich

Kein Weihnachtsmärchen in Recklinghausen

Valentin

Leipzig

Der Anruf

Die Entscheidung

Am Strand

Kleidermarkt

Die letzte Meditation

Nachwort

Im Zug

„Sind Sie sich sicher, dass Sie das wirklich wollen?“

Ich sah den Mann, den ich ungefähr auf mein Alter schätzte und der mir direkt gegenübersaß, überrascht an.

„Wie bitte?“

„Entschuldigen Sie meine Aufdringlichkeit“, erwiderte er freundlich. „Aber es würde mich wirklich interessieren, ob Sie sich Ihren Entschluss auch gut überlegt haben. Wenn Sie diesen Schritt nämlich erst einmal gegangen sind, gibt es nur ganz selten ein Zurück. Wenn ich mich recht erinnere, ist bisher erst einer zurückgekehrt. Und bei dem ist man sich da auch nicht so ganz sicher. Man hört ja so einiges.“

Ich runzelte die Stirn, hustete lautstark in mein Taschentuch und faltete es anschließend wieder sorgsam zusammen.

Dann sagte ich:

„Werter Herr, ich glaube, ich kann Ihnen noch immer nicht ganz folgen. Wenn Sie sich bitte ein wenig klarer ausdrücken möchten.“

Der Andere lächelte nachsichtig und wies mit einer dezenten Kopfbewegung auf meinen Mantel, den ich, aus Ermangelung eines geeigneten Hakens, sorgsam neben mich auf den Sitz gelegt hatte.

„Das Faltblatt in der Innentasche“, antwortete er und lächelte entschuldigend. „Ich war vorhin zufällig Zeuge, wie Sie es hineingesteckt haben. Bitte sehen Sie es mir nach.“

Ich spürte, wie ich errötete, was bei mir, angesichts meines fortgeschrittenen Alters, ansonsten nur äußerst selten vorkam.

„Ich verstehe noch immer nicht.“

„Ich habe das Faltblatt gesehen, das Sie bei sich führen.“

„Ach das“, winkte ich unwirsch ab, während ich erneut das Bedürfnis verspürte, den Schleim, der sich in Lunge und Rachen angesammelt hatte, abzuhusten. „Das ist nur so ein Info-Blatt, das man mir eben am Bahnhof in München zugesteckt hat.“

Der Mann auf der gegenüberliegenden Sitzbank, in dessen Gesicht sich während der vergangenen Jahrzehnte tiefe Falten gegraben hatten, verzog scheinbar amüsiert den Mund.

„Selbstverständlich, der Herr. Ich hatte vergessen, dass die Mitarbeiter von Exitorus ihre Kundschaft mittlerweile an öffentlichen Plätzen und in Bahnhofshallen ansprechen. Verzeihen Sie mir meine Dummheit.“

„Exitorus?“

„Bitte, der Herr“, entgegnete der Mann. „Nehmen Sie mich nicht auf den Arm. Ich mag ja zuweilen ein wenig verwirrt, beschränkt und einfältig auf Fremde wirken, aber glauben Sie mir: Ich bin es beileibe nicht. Zumindest noch nicht komplett. In meinem alten Oberstübchen greifen die Räder allesamt noch recht störungsfrei ineinander.“

„Aber …“

„Nichts aber“, unterbrach mich der Mann. „Lassen Sie uns doch auf diesen Unsinn verzichten. Ich denke, dass uns beiden unsere verbleibende Zeit für solchen Schmarrn zu kostbar sein sollte, oder etwa nicht?“ Er beugte sich ein wenig zu mir herüber und sprach weiter.

„Passen Sie auf, mein Freund: Sie sind ein Mensch weit jenseits der besten Jahre, husten andauernd herzerweichend blutige Brocken in Ihr Taschentuch, während Sie ein Gesicht machen, als befände sich ein rostiger Nagel in Ihrer Lunge. Sie reisen allein und mit leichtem Gepäck in die Schweiz und haben zu allem Überfluss auch noch einen Prospekt von Exitorus dabei. Da müsste man ja mit dem Klammerbeutel gepudert sein, um nicht zu begreifen, dass Sie sich auf Ihrem einsamen und heroischen Trip gen Sonnenuntergang befinden.“

Endlich verstand ich.

„Sie meinen …?“

„Jetzt verkaufen Sie mich bitte nicht für blöd. Natürlich meine ich! Sie fahren in die Schweiz, um sich dort der allerletzten Behandlung Ihres Lebens zu unterziehen, wenn ich das mal so flapsig formulieren darf.“

Ich lehnte mich zurück und schaute eine Weile auf die vorbeifliegende Landschaft. Schließlich sah ich meinen Gesprächspartner wieder an.

„Sie irren sich. Ich muss Ihnen zwar eine ausgezeichnete Beobachtungsgabe bescheinigen, Sie befinden sich aber dennoch auf dem Holzweg.“

Mein Gegenüber grinste, und seltsamerweise wirkte es weder herablassend noch hochnäsig auf mich.

„Hören Sie, Herr …?“

Ich überlegte einen Augenblick, ob ich dem Fremden meinen richtigen Namen nennen sollte und entschied mich schließlich dagegen.

„Müller.“

Der Andere zwinkerte mir zu.

„Müller? Großartig! Ich hätte dasselbe geantwortet. Wie dem auch sei. Sie sollten sich sagen lassen, dass ich mir nichts vormachen lasse. Und schon gar nicht von einem Todgeweihten, der entschieden hat, seinem Leben ein Ende zu bereiten, bevor dieses ihm jegliche Möglichkeiten nimmt, selbstständig und eigenverantwortlich zu handeln. Glauben Sie mir, ich kenne Menschen wie Sie. Ich war vor meiner Pensionierung über 30 Jahre lang Chefarzt in einer Universitätsklinik.“

„Aber …“

„Lassen Sie mich bitte ausreden“, fuhr mir der ehemalige Mediziner bestimmt ins Wort. „Von mir aus können wir uns noch bis Zürich über belanglose Themen und das Wetter unterhalten, doch ich glaube, dass das tief in Ihrem Inneren gar nicht Ihr Wunsch ist.“

Ich hustete erneut kräftig in mein Taschentuch, fuhr mir mit dem Handrücken über die glühend heiße Stirn und warf dem Fremden einen missmutigen Blick zu. Ich war stets ein zuvorkommender und höflicher Mensch gewesen, aber so langsam ging mir dieser seltsame Kauz gehörig auf die Nerven.

„Jetzt passen Sie mal auf“, setzte ich an. „Mein Wunsch ist es, überhaupt nicht mit Ihnen zu sprechen. Nicht über belanglose Dinge, nicht über das Wetter und schon gar nicht über Ihre abstrusen Hirngespinste.“

Das Gesicht des Fremden zeigte keinerlei Regung.

„In Ordnung, der Herr. Das kann ich akzeptieren. Vorausgesetzt, dass Sie mir eine letzte Frage beantworten.“

Ich verdrehte die Augen und sah wieder aus dem Fenster.

„Und welche?“

„Warum Sie sich für diesen finalen Schritt eine Organisation im Ausland ausgesucht haben. Ein Mann Ihres Formates und Ihrer Intelligenz hätte doch auch in Deutschland Mittel und Wege gefunden, seinem Leben ein adäquates Ende zu bereiten.“

Ich warf dem Mann einen zornigen Blick zu.

„Jetzt passen Sie mal auf, Sie Nervensäge! Wenn Sie weiterhin so dummes Zeug quatschen, werde ich gleich Ihrem Leben ein adäquates Ende bereiten, ist das klar?“

„Wie ich sehe, legen Sie keinen Wert auf eine gepflegte Konversation“, entgegnete der Andere ohne Groll. „Dann respektiere ich jetzt Ihren Wunsch und halte meine Gosch.“

„Vielen Dank.“

Der Fremde schaffte es tatsächlich, sich zehn Minuten lang schweigend hinter einer aufgeschlagenen Zeitung zu verstecken. Gerade als wir jedoch durch einen langen Eisenbahntunnel fuhren, vernahm ich erneut seine Stimme.

„Haben Sie eigentlich Angst?“

Der Zug verließ den Tunnel, und ich musste die Augen zusammenkneifen, um wegen der Sonne, die direkt in unser Abteil schien, überhaupt etwas sehen zu können.

„Angst?“, fragte ich vielleicht eine Spur zu laut. „Wovor sollte ich Angst haben?“

Der Mann faltete die Zeitung zusammen und sah mich offen an.

„Vor dem Tod.“

Resignierend drehte ich den Kopf zur Seite und atmete tief durch. In meinen Luftwegen und Bronchien brodelte es wie in einer Waschküche, und ich antwortete, bevor ich wieder schmerzhaft abhusten musste.

„Ich denke, dass ich nicht mehr oder weniger Angst vor dem Tod habe als jeder andere Mensch auch.“

„Ach“, meinte der Fremde, und ich sprach weiter.

„Er verursacht bei mir nicht permanent Panikattacken oder schlaflose Nächte, herbeisehnen tue ich ihn allerdings auch nicht.“

Der Mann nickte verstehend und leicht abwesend, wobei er für einige Sekunden in einer anderen Welt zu sein schien. Schließlich räusperte er sich.

„Aber warum haben Sie sich dann entschlossen, den Tod in Zürich zu suchen?“

Ich hob die linke Hand und schlug so heftig auf das kleine hochgeklappte Tischchen unterhalb des Fensters, dass die Flasche Wasser, die darauf stand, polternd zu Boden fiel.

„Jetzt hören Sie mir verdammt noch mal gut zu! Ich fahre nicht in die Schweiz, um mich umzubringen, kapiert? Ich bin lediglich ein Mensch, der nicht die Zeit hat, sich ordnungsgemäß von einer heftigen Grippe zu erholen, weil ihn dringende Termine nach Zürich zwingen. Und jetzt halten Sie gefälligst Ihre Klappe. Und verschonen Sie mich mit Ihren kindischen Vermutungen und Spinnereien.“

Die vielen Wörter hatten Kraft gekostet, und ich lehnte mich erschöpft zurück, während der Andere nachdenklich mit seiner Zeitung spielte.

„Sie wollen mir also weismachen, dass Sie nicht sterbenskrank sind und nicht vorhaben, sich selbstständig in der Schweiz das Leben zu nehmen?“

„Ich will Ihnen das nicht weismachen, ich will es Ihnen nur mitteilen“, antwortete ich und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich bin gläubiger Katholik, und für mich wäre Selbstmord eindeutig eine Sünde und ein Vergehen am Leben.“

Mein Gesprächspartner zog die Brauen hoch.

„Also verurteilen Sie Menschen, die für sich diesen Schritt wählen?“

„Ich habe nicht das Recht, andere zu verurteilen“, stieß ich scharf hervor. „Ich sage nur, dass für mich ein solcher Schritt nicht in Frage käme. Für mich wäre es nur eine Flucht.“

„Und wenn Sie so krank wären, dass die Sie behandelnden Ärzte Ihnen jegliche Hoffnung auf Heilung nähmen und Sie von Ihrem Leben nur noch Schmerzen und Qualen zu erwarten hätten?“

„Werter Herr“, erwiderte ich gedehnt. „Mein Leben bestand oftmals ausschließlich aus Schmerzen und Qualen, und doch sitze ich jetzt hier bei Ihnen und höre mir Ihren Schwachsinn an.“

„Aber warum dann das Faltblatt von Exitorus in Ihrem Mantel?“

„Ich sagte doch, dass es mir zugesteckt worden ist“, entgegnete ich unwirsch. „Und ich habe es angenommen, weil ich einfach ein höflicher Mensch bin. Bisher hatte ich leider noch keine Möglichkeit, es zu lesen oder wegzuschmeißen. Aber wenn Sie das Thema so interessiert, können Sie das Ding gerne haben.“

Der Fremde schüttelte langsam den Kopf und schaute auf seine zusammengefaltete Zeitung. Nach einer Weile des Schweigens griff er in sein Jackett und zog ein ähnliches Faltblatt hervor, wie ich es in meinem Mantel hatte. Der einzige Unterschied bestand darin, dass es wesentlich abgenutzter und zerknitterter war.

„Kein Bedarf“, murmelte er leise, während er es fast liebevoll betrachtete. „Ich habe bereits seit Jahren ein eigenes Exemplar. Und mir ist es, im Gegensatz zu Ihnen, auch nicht in irgendeinem Bahnhof zugesteckt worden.“

Er hob den Kopf, und ich erkannte Tränen in seinen Augen, als er flüsterte:

„Und zum Glück bin ich auch kein Katholik.“

Perfekt

Der Wind war so eisig, dass Chris seine Finger kaum mehr spürte. Wenn er sich selbst gegenüber ehrlich war, spürte er noch nicht einmal mehr den Wind.

Vielleicht hätte ich doch Handschuhe anziehen sollen, dachte er, während er sich bückte, zugriff und die Filmrequisite in die Höhe wuchtete. Hatte er bei der akribischen Ausarbeitung und Analyse des Drehbuchs nicht sogar Handschuhe in Erwägung gezogen, ja, sogar fest eingeplant?

Scheiß drauf!

Was tut man nicht alles für seinen Ruhm. Da sind im Namen der Kunst schon ganz andere Opfer gebracht worden.

Hatte sich Stallone für den Film „Cop Land“ nicht sogar extra über 30 Kilogramm angefressen?

Seine trainierten und ausgeprägten Muskeln spannten sich, schwollen an, und er drehte sich so, dass die neuen Tattoos auf seinem rechten Oberarm grandios zur Geltung kamen.

Perfekt!

Und in dieser Sekunde erinnerte er sich daran, dass das genau der Grund dafür gewesen war, warum er sich gegen Handschuhe entschieden hatte. Sein enges T-Shirt und diese groben Handschuhe hätten ästhetisch einfach nicht zueinandergepasst. Hätten, im Gegenteil, sogar das eindrucksvolle Bild, das sein Körper erzeugen würde, zunichtegemacht.

Aus den Augenwinkeln heraus sah er die Kamera, die jede seiner Bewegungen einfing, jede seiner Aktionen für die Ewigkeit festhielt und für die Nachwelt konservierte.

Die Kamera, die ihn bekannt und zum Star machen würde.

Es war die Rolle seines Lebens, das wusste er. Wenn Klara ihn nicht so weit gebracht hätte, hätte er sich wohl nie getraut, sie anzunehmen. Er wäre wohl niemals bereit gewesen, vor einem Objektiv sein Innerstes nach außen zu kehren.

Wenn er Glück hatte, würde der Film deutschlandweit zu sehen sein, vielleicht sogar im benachbarten Ausland. Auf jeden Fall würden sie Ausschnitte im Internet bei YouTube bringen, und er würde zum Klick-Star avancieren.

Alle würden sie über ihn reden, und seine darstellerische Kraft würde sie hypnotisieren, sie faszinieren und zugleich schockieren.

So wie Jack Nicholson die Welt mit seinem weltentfremdeten Wahnsinn in „The Shining“ hypnotisiert, fasziniert und zugleich schockiert hatte.

Er stöhnte und schnaufte, während ihm Schweißtropfen auf die Stirn traten und aufs T-Shirt tropften.

Gut, dass es bei dieser Außenaufnahme in erster Linie nicht auf den Ton ankam. Der würde bei seiner Ausstrahlung, seiner Aura später keine große Rolle spielen. Und ihm war es wichtig, dass er mit authentischen Gegenständen arbeitete. Er hasste und verabscheute Requisiten und Nachbauten aus Pappmaschee oder Sperrholz.

Wenn da nur nicht diese Kälte gewesen wäre.

Wie war das jetzt hier an dieser Stelle eigentlich nochmal gewesen? Sollte er lächeln oder doch eher verbissen, entschlossen und ernsthaft aussehen?

Er blickte kaum wahrnehmbar zur Kamera, doch sowohl der Regisseur als auch der Kameramann ließen ihn gewähren. Sie wussten allem Anschein nach um seine Genialität.

Und wenn sie es noch nicht wussten, so spürten sie dennoch wahrscheinlich, dass hier gerade etwas wirklich Großes geschah – etwas Perfektes.

Klara hatte ihn mal einen Versager genannt. Einen Taugenichts. Und dann hatte sie ihm doch noch diese Filmrolle, diese einmalige Chance besorgt. Hatte ihn am Casting vorbeigeschleust und direkt an den Set gebracht. Und der Regisseur, der Produzent und die Aufnahmeleitung hatten ihn akzeptiert, angenommen und motiviert – ohne ihn auch nur einmal zu testen.

Geliebte Klara. Ich werde dich nicht enttäuschen. Schon sehr bald wirst du spüren, was in mir steckt. Wozu meine Gefühle zu dir mich beflügeln.

Wie verabredet erblickte er in diesem Augenblick das kleine, rote Auto. Auf die Sekunde genau kam es auf ihn zugefahren.

Ja, hier waren Profis am Werk. Hier überließ man nichts dem Zufall.

Perfekt!

Das Licht war genial, die Sonne stand am Himmel wie bestellt und anmontiert, und der Wind ließ seine Haare sogar ein wenig verwegen aussehen. Wenn nur diese Kälte nicht gewesen wäre.

Scheiß drauf! Noch ein paar Sekunden, dann ist die Szene im Kasten. Dann geht’s wieder in den Wagen – zum Aufwärmen.

Er lächelte, drehte sein Gesicht noch einmal in Richtung der Verkehrsüberwachungskamera, spannte erneut die Muskeln, fixierte das kleine, rote Auto und warf den 50 Kilogramm schweren Gullydeckel genau im richtigen Moment über das Geländer der Autobahnbrücke.

Perfekt!

Elterngespräch

Es war kurz nach sieben, als Sven an der Tür des schmucken Einfamilienhauses klingelte. Wenige Momente später wurde ihm von einer äußerst gepflegten und zierlichen Frau geöffnet, die er spontan auf Anfang fünfzig schätzte. Sie blickte ihn mit einer Mischung aus Überraschung und Sorge an.

„Herr Klauser. Das ist aber mal was Besonderes. Was führt Sie zu uns?“

Sven senkte seinen Blick ein wenig und überlegte genau, was er als Nächstes sagen sollte.

„Guten Abend, Frau Dernekamp. Entschuldigen Sie bitte die Störung, aber ich müsste dringend mit Ihnen reden.“

Die Frau, die mit einem teuren, grauen Designerkostüm gekleidet war, griff sich an die Brust und schnappte nach Luft.

„Oh mein Gott, geht es um Katarina? Ist irgendwas in der Schule passiert?“ Sven räusperte sich verlegen.

„Könnten wir das wohl im Haus besprechen?“

„Ja, natürlich! Wie unhöflich von mir. Kommen Sie herein, Herr Klauser.“

Frau Dernekamp ließ ihn eintreten und führte ihn anschließend durch einen schmalen Flur ins große, lichtdurchflutete Wohnzimmer.

„Mein Mann ist noch oben, um sich umzuziehen. Wir wollen heute Abend mit Freunden in die Oper.“

Sven setzte sich auf ein Sofa und blickte die Frau ernst an.

„Würden Sie ihn wohl rufen? Ich glaube, das Thema geht Sie beide an.“

Frau Dernekamp nickte langsam und verließ das Zimmer wieder in Richtung Flur.

***

Herr Dernekamp war ein stattlicher und gut aussehender Mann Anfang sechzig. Auch er war elegant und teuer gekleidet. Seine leicht geröteten Wangen und seine schimmernde Kinnpartie verrieten, dass er sich gerade frisch rasiert hatte. Er kam auf Sven zu und reichte ihm leicht argwöhnisch die Hand. Dann setzte er sich zu seiner Gattin auf den Zweisitzer.

„Herr Klauser, was führt Sie zu uns? Meine Frau sagte, es geht um Katarina.“

„Richtig“, erwiderte Sven und stützte die Ellenbogen auf die Knie, während er die Hände faltete. „Und die Sache ist wahrlich nicht sehr angenehm.“

„Was ist denn los?“, wollte Frau Dernekamp aufgeregt wissen. „Geht es um Katarinas Noten? Hat sie Probleme in der Schule? Oder wird sie gemobbt?“ Herr Dernekamp legte seiner Frau beruhigend eine Hand aufs Knie.

„Jetzt lass Herrn Klauser doch mal zu Wort kommen.“

Sven lächelte dankbar und atmete tief durch.

„In der Schule läuft eigentlich alles normal, zumindest soweit ich es beurteilen kann. Ich unterrichte Ihre Tochter allerdings auch nur in Mathematik und Deutsch.“

„Aber was ist es dann?“

Sven hörte die Ungeduld aus der Stimme der Frau heraus, die sich nur schwerlich beherrschen und kontrollieren konnte.

„In Ordnung“, begann er schließlich. „Ich erzähle Ihnen die Geschichte so, wie sie sich zugetragen hat. Es begann vor etwa einem Monat. Ich stellte fest, dass Ihre Tochter mir eine Freundschaftsanfrage bei Facebook gestellt hatte, die ich unmittelbar danach annahm. Sie müssen wissen, dass ich mit vielen meiner Schüler im Internet und in den sozialen Netzwerken verbunden bin. Das schafft in der heutigen Zeit viele Vorteile und ist für zahlreiche jüngere Lehrer mehr oder weniger völlig normal.“

Herr Dernekamp verengte seine Augen zu schmalen Schlitzen, während er den Kopf anhob, was ihm ein leicht aristokratisches Aussehen verlieh.

„Nach einigen Tagen begann Katarina damit, mir Nachrichten zu schicken. Erst ging es um belanglose oder schulische Dinge, später wurden ihre Nachrichten persönlicher.“

Frau Dernekamp errötete.

„Persönlicher?“ Sie warf ihrem Mann einen vielsagenden Blick zu. „Hat sie auch über die Familie geschrieben? Etwa über meinen Ehemann und mich?“

Sven sah sie verblüfft an.

„Gibt es da denn Schwierigkeiten, die Katarina belasten könnten?“

„Keine besonderen“, beeilte sich Herr Dernekamp forsch zu sagen. „Halt die üblichen Familienprobleme. Nichts Ernstes.“

„Dann ist gut“, erwiderte Sven. „Nein, sie schrieb nur über sich. Sie wissen ja, wie 17-Jährige sind. Da geht es zumeist um pubertäre Dinge: Liebeskummer, Schwärmereien, der erste Freund, Angst vor Klassenarbeiten.“

Sven bemerkte, wie Frau Dernekamp erleichtert aufzuatmen schien, während ihr Gatte sich nichts anmerken ließ.

„Ich dachte mir anfangs nichts dabei. Es ist mir wichtig, eine vertrauensvolle Beziehung zu meinen Schülern aufzubauen. Schließlich bin ich nicht nur Wissensvermittler, sondern immer auch noch Pädagoge.“

„Erzählen Sie weiter.“ Herr Dernekamps Stimme klang heiser und lauernd zugleich, so als ahnte er, was als Nächstes kommen würde.

„Irgendwann schlug Katarina mir vor, unsere Unterhaltungen in einem geschützten Chat-Bereich fortzuführen. Sie wollte irgendwie nicht, dass unsere Nachrichten gespeichert und archiviert wurden.“

„Und Sie haben sich darauf eingelassen?“ Der Unmut in der Stimme des älteren Mannes war deutlich herauszuhören.

„Ja, das habe ich. Mittlerweile sehe ich ein, dass es ein Fehler war. Ich hatte mir wirklich nichts dabei gedacht. Meine Frau, mit der ich mich darüber unterhalten hatte, hatte mir auch davon abgeraten, doch mir ging es wirklich nur darum, Katarina die Möglichkeit zu geben, über ihre Gedanken und Sorgen sprechen zu können. Ich weiß, wie wichtig es ist, dass Jugendliche während der Pubertät und der Schulzeit erwachsene Ansprechpartner haben, um sich auszutauschen.“

„Was geschah dann?“, bohrte Herr Dernekamp stoisch nach.

„Nach einigen Nachrichten, in denen sie schrieb, wie toll sie meinen Unterricht finde und was ich für ein interessanter Lehrer sei, beichtete sie mir vor einer Woche, dass sie sich in mich verliebt habe. Ich antwortete ihr direkt, dass ich glücklich verheiratet sei und ich sie lediglich als meine Schülerin sähe, doch sie steigerte sich immer weiter in ihre Gefühle zu mir hinein. Sie schrieb mir unzählige Liebesbekundungen, verfasste Gedichte und bat mich allen Ernstes, mich privat mit ihr zu treffen. In der Schule wich sie mir stets aus, sodass der Kontakt immer nur über das Internet stattfand – eben bis vor einer Stunde.“

***

„Ich hatte heute Nachmittag noch eine Probe mit der Theater-AG. Nachdem alle Darsteller und Helfer nach Hause gegangen waren, überraschte Katarina mich hinter der Bühne. Sie trug nur eine enge Bluse und eine kurze Sporthose und fing direkt wieder damit an, dass sie mich liebe und dass sie wisse, dass ich sie auch wolle. Sie bedrängte mich und versuchte mehrfach, mich zu umarmen und zu küssen.“

„Meine Güte“, murmelte Herr Dernekamp, während seine Frau wie abwesend auf den Boden starrte. „Was ist dann passiert?“

„Ich sagte ihr erneut, dass ich meine Frau liebe, dass ich in ihr lediglich eine minderjährige Schülerin sähe und dass sie mit diesem Verhalten aufhören müsse. Ansonsten würde ich es Ihnen und der Schulleitung sagen müssen. Sie reagierte völlig überzogen, panisch und fast schon irgendwie … verrückt. Sie ohrfeigte mich, warf einen Kleiderständer nach mir und schrie mich an, dass sie dafür sorgen würde, dass, wenn sie mich nicht bekommen könnte, auch keine andere Frau mit mir glücklich werden würde.“

Das Ehepaar sah nun geschlossen zu Boden. Herr Dernekamp war ein wenig in sich zusammengesunken, riss sich jedoch nach kurzer Zeit wieder zusammen und meinte tonlos:

„Weiter!“

Sven fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.

„Irgendwann konnte ich sie ein wenig beruhigen. Doch innerhalb weniger Augenblicke waren da wieder diese unbändige Wut und Verzweiflung in ihr. Sie sprang hysterisch vor mir herum, brüllte mich an, zerriss sich vor meinen Augen ihre Bluse, zerkratzte sich Gesicht und Dekolleté mit ihren Fingernägeln und drohte mir immer wieder, dass sie mich fertigmachen würde. Sie …“

Sven stockte und schluckte. „Sie stieß sogar ihren Kopf mehrfach gegen eine Holzwand, sodass eine hässliche rote Stelle an der Stirn entstand.“

„Unfassbar“, flüsterte Herr Dernekamp fassungslos. „Weiter!“

„Sie verließ den Bühnenbereich, rannte davon und schrie dabei, dass sie mich vernichten und bei der Polizei wegen versuchter Vergewaltigung anzeigen würde. Sie beteuerte, dass ich es noch bereuen würde, sie nicht so zu mögen, wie sie es verdiene.“

„Und hat sie es getan?“, fragte Herr Dernekamp kraftlos.

„War sie bei der Polizei?“

„Ich weiß es nicht“, antwortete Sven leise, während er verlegen mit seinen Fingern spielte. „Ich bin direkt nach dem Vorfall ins Lehrerzimmer gegangen und habe die Adressliste der Klasse gesucht. Anschließend bin ich sofort zu Ihnen gefahren.“

„Glauben Sie, dass sie in der Lage wäre, tatsächlich zur Polizei zu gehen?“, wollte Frau Dernekamp mit schwacher Stimme wissen.

„Ich kenne Ihre Tochter natürlich nicht so gut“, begann Sven. „Hinter der Bühne wirkte sie jedoch äußerst entschlossen auf mich.“

„Was sollen wir denn jetzt tun?“, fragte Herr Dernekamp, der während der letzten Minuten um zehn Jahre gealtert zu sein schien.

„Wir können nur abwarten“, antwortete Sven und blickte das Ehepaar offen an. „Sprechen Sie mit Ihrer Tochter, wenn sie nach Hause kommt. Hören Sie ihr in aller Ruhe zu, lassen Sie sie ihre Version erzählen und beruhigen Sie sie.“

„Und wenn sie bei der Polizei gewesen ist?“, flüsterte Frau Dernekamp.

„Dann machen Sie ihr keine Vorwürfe. Katarina befindet sich in einer Ausnahmesituation und braucht jetzt Menschen, die sie in den Arm nehmen und ihr Kraft und Sicherheit geben. Sie braucht jemanden, der ihr verzeiht, sollte sie tatsächlich schon eine Anzeige gemacht und diese Lügengeschichte verbreitet haben.“

„Aber wenn sie Sie tatsächlich angezeigt hat“, hakte Katarinas Vater nach. „Wie geht es denn dann weiter?“

„Wissen Sie, so eine Anzeige kann nicht zurückgenommen werden. Sollte sie bereits bei der Polizei gewesen sein, muss sie dort ihre Aussage unbedingt revidieren. Reden Sie in diesem Fall mit Ihrer Tochter und bringen Sie sie zur Vernunft.“

„Und wenn sie sich nicht beruhigen lässt? Wenn sie sich weigert, den wahren Tathergang zu schildern?“ Frau Dernekamp klang so, als würde sie jeden Moment anfangen zu weinen.

Auf Svens Gesicht erschien plötzlich ein dunkler Schatten. Er hustete, fuhr sich erneut über das Gesicht und antwortete ernst:

„Dann werde ich noch morgen eine Gegenanzeige wegen Verleumdung, übler Nachrede und Vortäuschung einer Straftat erstatten müssen. Alleine aus Selbstschutz. Sie wissen, was Vorwürfe dieser Art mit der Karriere und dem Leben eines Lehrers machen können. Wenn sie mich anzeigt, ist es der Öffentlichkeit doch völlig egal, ob ich schuldig bin oder unschuldig. Irgendwas bleibt immer hängen, auch wenn ich in einem halben Jahr vor Gericht freigesprochen würde. Dann kann ich mein Haus verkaufen, mit meiner Frau und den Kindern in eine andere Stadt ziehen und irgendwo als Nachtwächter arbeiten.“

Herr Dernekamp stand langsam auf und schritt nachdenklich zum Fenster, um in den Garten hinauszusehen.

„Wir werden mit unserer Tochter reden, das verspreche ich Ihnen.“ Er drehte sich um und sah Sven eindringlich an. Seine Augen schimmerten feucht. „Auf jeden Fall danke ich Ihnen, dass Sie mit der Geschichte direkt zu uns gekommen sind. Sie hätten ja auch sofort zur Polizei gehen können.“

„Herr Dernekamp, es geht mir hier in erster Linie nicht um Straftaten oder um meinen Stolz. Es geht mir um das Wohl Ihrer Tochter. Sie ist jung, unglücklich verliebt, innerlich zutiefst verletzt, wütend und verunsichert. In so einer Situation haben schon ganz andere Leute über die Stränge geschlagen. Ich will gar nicht darüber nachdenken, welchen Blödsinn sie in dieser Situation sonst noch so alles machen könnte.“

Frau Dernekamp riss entsetzt die Augen auf und hielt sich eine Hand vor den Mund.

„Sie meinen, sie könnte sich was antun?“

Sven zuckte traurig und mitfühlend mit den Schultern.

„Sie wäre nicht der erste Teenager, der sich aus Liebeskummer versucht, das Leben zu nehmen. Was Katarina jetzt braucht, sind verständnisvolle Eltern, die sie wegen ihrer Gefühle und ihrer … etwaigen Taten nicht verurteilen.“

„Angenommen, Katarina hat Sie noch nicht angezeigt. Und angenommen, wir können die Angelegenheit unter uns bereinigen“, begann Herr Dernekamp und kam wieder einige Schritte auf Sven zu. „Glauben Sie, dass es gut wäre, sie weiterhin in Ihrer Klasse zu unterrichten?“

Sven dachte einen Moment lang nach, ehe er antwortete.

„Ich denke, dass es besser wäre, wenn Ihre Tochter und ich erstmal ein wenig Abstand voneinander hätten. Ich spreche morgen vertrauensvoll mit meinem Schulleiter über die Angelegenheit. Aber ich finde, dass es sinnvoll wäre, wenn Katarina selbstständig unter einem Vorwand die Schule wechselt. Sie verstehen, dass das für alle Seiten die beste und friedvollste Möglichkeit ist. Auf diese Weise wäre die Schule wegen Katarinas Verhalten und ihrer falschen Anschuldigungen nicht gezwungen, sie zu suspendieren.“

Das Ehepaar Dernekamp sah sich betroffen an und nickte einander zu.

„Das denke ich auch“, unterstrich Herr Dernekamp schließlich Svens Vorschlag. „So würde der Alltag sowohl für Sie als auch für unsere Tochter erträglicher und einfacher. Und Katarina könnte an einer anderen Schule neu anfangen, ohne tagtäglich mit der Geschichte oder Ihrer Person konfrontiert zu werden. Außerdem würde erst gar kein Gerede in der Klasse, im Lehrerkollegium oder im Dorf entstehen. Sie müssen wissen, dass ich der Leiter der Sparkasse hier im Ort bin. Da käme mir eine öffentliche Verurteilung meiner Tochter sehr … ungelegen.“

Sven erhob sich.

„Dann sollten wir alle jetzt mal die nächsten Stunden abwarten. Herr und Frau Dernekamp, ich bedanke mich für das Gespräch, auch wenn es einen unangenehmen Hintergrund hatte. Ich weiß, dass Katarina bei Ihnen in sehr guten und verantwortungsbewussten Händen ist. Ich glaube, es ist besser, wenn ich nun nach Hause fahre. Meine Frau und meine Kinder machen sich bestimmt schon Sorgen, weil ich so lange unterwegs bin.“

Herr Dernekamp kam auf Sven zu und reichte ihm die Hand.

„Herr Klauser, ich muss Ihnen nochmals danken. Sie haben hier und heute bewiesen, dass Sie ein hervorragender Pädagoge und wertvoller Mensch sind. Viele andere hätten sicherlich nicht so ruhig und besonnen reagiert. Ich verspreche Ihnen, dass ich die Sache mit meiner Tochter regeln werde.“

Sven drückte die Hand des Älteren sanft, wobei er diesem direkt in die Augen sah.

„Eine Sache noch: Sie sollten wissen, dass Katarinas Geschichte unter Umständen sehr logisch, plausibel und authentisch klingen wird, Herr Dernekamp. Glauben Sie mir, ich spreche aus langjähriger Erfahrung. Junge Mädchen können zuweilen meisterlich lügen. Vor allem, wenn sie selbst von der Wahrheit ihrer Geschichte überzeugt sind.

Sie können dann kaum noch zwischen Realität und Unwahrheit unterscheiden.“

„Nur gut, dass wir die Wahrheit jetzt kennen“, meinte der Banker und nickte. „Wir kriegen das hin. Ich versichere Ihnen, dass sich diese Sache nicht negativ auf Sie, Ihre Familie oder Ihr Leben auswirken wird.“

„Danke, Herr Dernekamp. Sie haben mein größtes Vertrauen.“

In diesem Augenblick ertönte die Haustürklingel.

„Das wird sie sein“, wisperte Frau Dernekamp mit zitternder Unterlippe. „Sie hat heute Morgen ihren Schlüssel hier vergessen.“

Herr Dernekamp überlegte ein paar Sekunden, schritt zur Terrassentür und öffnete sie.

„Ich würde vorschlagen, Sie gehen durch den Garten. Wir sollten ein Zusammentreffen zwischen Ihnen und unserer Tochter jetzt unbedingt vermeiden.“

Sven nickte erleichtert. Ihm fiel eine tonnenschwere Last von der Seele.

„Sehe ich auch so. Vielen Dank.“

***

Er ging zügig über den Rasen, stieg über den weißen Jägerzaun und befand sich wenige Augenblicke später auf der Straße. Er sah vorsichtig und mit eingezogenem Kopf zur Tür des Einfamilienhauses hinüber und stellte fest, dass Katarina bereits eingetreten war. Mit wild pochendem Herzen lief er zu seinem Wagen, stieg ein, startete den Motor und fuhr davon. Und während er das Eigenheim der Dernekamps, das brav bürgerliche Wohngebiet, die arme Katarina und dieses unerfreuliche Ereignis immer weiter hinter sich ließ, ballte er die rechte Faust und zwinkerte sich im Innenspiegel grinsend zu.

Wie immer

Der Mann griff nach der Kaffeekanne und goss sich seine Tasse halb voll. Anschließend gab er Zucker und Kaffeeweißer hinzu. Während er das dampfende Getränk umrührte und sich dem einlullenden Geräusch hingab, das der Löffel auf dem porzellanenen Grund der Tasse erzeugte, ertönten aus dem Wohnzimmer sechs scheinbar gelangweilte Kuckucksrufe.

„Wann kommst du heute nach Hause?“, fragte ihn die Frau, die ihm seit mehr als dreißig Jahren werktags um diese Zeit nahezu dieselbe Frage stellte.

„Wie immer“, antwortete er wie immer, hob die Tasse und setzte sie sich an die Lippen.

„Autsch!“, stieß er hervor und stellte die Tasse wieder ab.

„Jetzt hab ich mir die Zunge verbrannt.“

Die Frau reichte ihm eine Stoffserviette über den Tisch, die sie vorsorglich bereits in kaltes Wasser getaucht hatte – und zwar lange bevor er die Tasse überhaupt zum Mund geführt hatte.

***

Sie stand an der Garderobe, seinen Mantel über dem Arm, die Aktentasche in der Hand und seinen Hut in der anderen.

„Danke“, sagte er, während er ihr zunächst den Mantel, dann die Aktentasche und schlussendlich den Hut abnahm.

„Ich habe dir heute drei Brote eingepackt“, meinte sie. „Die Scheiben waren so klein, da dachte ich, es könne nicht schaden.“

„Danke“, entgegnete er tonlos.

Die Frau betrachtete prüfend sein Gesicht, steckte einen Daumen in den Mund und wischte dem Mann anschließend etwas Marmelade von der Oberlippe.

„Da war noch was“, meinte sie, bevor sie den Daumen anhob, um die Marmelade abzulecken.

„Danke“, wiederholte sich der Mann erneut, beugte sich vor und gab der Frau einen Kuss auf die Stirn. „Bis heute Abend.“

„Ja, bis heute Abend“, antwortete die Frau. „Und viel Spaß im Büro.“

„Danke.“

„Zum Abendbrot gibt es Nudelauflauf. Freust du dich?“

„Ja.“

Als er schon im Treppenhaus stand, rief die Frau ihm noch etwas hinterher.

„Möchtest du nicht deinen Schirm mitnehmen? Im Radio haben sie gesagt, dass es heute regnen soll.“