Beuteherz - Ulrika Rolfsdotter - E-Book
SONDERANGEBOT

Beuteherz E-Book

Ulrika Rolfsdotter

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Auftakt der ersten schwedischen Krimireihe, in der eine Sozialarbeiterin ermittelt: Der erste Fall für Annie Ljung

Sozialarbeiterin Annie Ljung fährt durch die schneebedeckte Landschaft Nordschwedens auf dem Weg in ihr Heimatdorf Lockne. Nur eine Narbe am Hals erinnert sie daran, warum sie diesen Ort einst verlassen hat und nie zurückkehren wollte. Es soll nur ein kurzer Besuch bei ihrer demenzkranken Mutter im Pflegeheim werden. Doch dann verschwindet Saga, die 17-jährige Tochter ihres Cousins. Wiederholt sich die Vergangenheit? Als die Polizei mit den Ermittlungen ins Stocken gerät, beschließt Annie, zu bleiben und auf eigene Faust nach Saga zu suchen. Je näher sie der Lösung des Falls kommt, desto näher rücken auch die Schatten ihrer eigenen Vergangenheit.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 445

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

»Die Schneeflocken peitschten gegen die Windschutzscheibe. Annie hatte das Gefühl, durch einen weißen Tunnel zu fahren. Sie hatte verdrängt, wie es hier oben sein konnte. Die Dunkelheit. Die Kälte. Fichtenwälder und schwarzes Wasser. Schotterstraßen, stillgelegte Sägewerke. Verschlossene Gesichter, die durch einen Spalt in den Gardinen spähen. Wälder, in denen man sich verirren konnte.

Keine zehn Kilometer mehr bis Lockne. Ihr Herz schlug immer schneller. Alles kam zurück, wie Diabilder. Die Anrufe, oft mitten in der Nacht. Eine eingeschlagene Scheibe. Zerstochene Fahrradreifen. Die Worte ihrer Mutter von damals hallten in ihren Ohren wider.

Annie, so geht es nicht weiter. Du musst hier weg. Sie werden nie aufgeben, sieh das doch ein. Es ist egal, Annie, keinen interessiert, was wirklich passiert ist. Die Leute entscheiden sich für eine Wahrheit und glauben dann daran.

Jetzt war sie doch wieder auf dem Weg zurück. An den Ort, an den sie nie mehr hatte zurückkehren wollen.«

Die Autorin

Ulrika Rolfsdotter wurde 1977 in Ådalen in Nordschweden geboren, wo auch ihre Krimis spielen. Als Sozialpädagogin und kognitive Verhaltenstherapeutin hat sie sich um misshandelte Frauen und Suchtkranke gekümmert. »Beuteherz« ist ihr Debüt und der Auftakt der Serie um Sozialarbeiterin Annie Ljung, deren Geschichten von realen Fällen aus der Region inspiriert sind. Heute lebt die Autorin mit ihren beiden Kindern in Gävle.

Kriminalroman

Aus dem Schwedischen von Sabine Thiele

Wilhelm Heyne Verlag München

Die Originalausgabe Rovhjärta erschien erstmals 2021 bei Bazar Förlag, Stockholm.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2021 by Ulrika Rolfsdotter Published in Agreement with Ahlander Agency Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Redaktion: Julie Hübner Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von © Shutterstock.com (Alex Stemmers, Wirestock Creators) Satz- und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-641-28998-0V001

www.heyne.de

Für alle Frauen, die für sich einstehen. Und für Ådalen, meine wunderschöne Heimat, die mich zu der gemacht hat, die ich bin, und die ich immer in mir trage.

1

Ein kalter Luftzug weckte Sven Bergsten, der hinter seiner Kasse eingenickt war. Er sah in die Richtung der zuschlagenden Ladentür, auf die hereinwehenden Schneeflocken.

Die alte Tür hätte er schon längst gegen eine moderne mit einem ordentlichen Schloss austauschen sollen. Wo auch immer er das Geld dafür hernehmen sollte.

Sven ging um die Kasse und die Einkaufswagen herum und zog den Schlüsselbund aus der Tasche. Er seufzte. Die Straße lag verlassen da, und Schneeflocken wirbelten im Schein der Straßenbeleuchtung. Noch mehr Schnee. Hörte das denn gar nicht mehr auf? Der Winter war schon im Oktober eingekehrt, und jetzt war es April.

Sven sah auf seine Armbanduhr. Halb fünf, eine halbe Stunde war noch geöffnet. Doch es würden sicher keine Kunden mehr kommen. Es war Gründonnerstag, die Leute saßen alle zu Hause und begannen mit den Osterfeierlichkeiten. Und heutzutage fuhr man zum ICA-Supermarkt nach Nyland, der fünfzehn Kilometer nördlich lag und eine größere Auswahl zu niedrigeren Preisen als Bergstens Livs hatte. Die Leute haben einfach keinen Anstand mehr, dachte Sven und schob den Schlüssel ins Schloss. Steif bückte er sich nach der Vase mit Osterzweigen vor der Tür, um sie hereinzuholen. Zwei glänzende Augen blickten ihm entgegen. Sven zuckte so heftig zusammen, dass ihm die Vase aus den Händen glitt und zerbrach.

Die Katze rannte davon und blieb ein paar Meter weiter stehen, von wo aus sie ihn anstarrte.

»Los, hau ab, geh nach Hause!«, scheuchte er das Tier weg, das in der Dunkelheit verschwand. Was musste das verfluchte Vieh ihn auch so erschrecken.

Sven verschloss sorgfältig die Tür. Die Scherben versteckte er in einer Schublade hinter der Fleischtheke und ging durch den schmalen Flur zur Laderampe.

Vor dem kleinen Büro neben dem Treppenhaus zögerte er. Dort lag der Brief in einer Schublade, immer noch ungeöffnet. Verfolgte ihn.

Sven öffnete die Tür zum Treppenhaus einen Spalt und lauschte. Im Obergeschoss befand sich die Vierzimmerwohnung, in der er aufgewachsen war und immer noch wohnte, seit er als einziger Sohn den Laden von seinen Eltern übernommen hatte. Lillemor kochte gerade das Abendessen und würde sicher nicht nach unten kommen.

Entschlossen ging er ins Büro, holte den Umschlag hervor und riss ihn mit raschen Bewegungen auf.

Sein Blick zuckte zur letzten Zeile. Die Buchstaben verschwammen, vor seinen Augen flimmerte es. Er hatte es befürchtet, aber dennoch auf einen anderen Bescheid gehofft. Ein weiterer Kredit wird nicht bewilligt.

Schwer ließ er sich auf den Schreibtischstuhl fallen. Gütiger Gott, hilf mir, flehte er stumm. Was sollten sie jetzt tun? Sie hatten keine Angestellten; Saga, ihr einziges Kind, half ihnen. Sie bezahlten sich ein geringes Gehalt aus, gönnten sich keine Reisen, hatten keine extravaganten Hobbys. Trotzdem trug sich der Laden nicht länger. Sein ganzes Erbe, sein Leben drohte ihm zu entgleiten.

Sven sah zu dem Foto über dem Schreibtisch, das seinen Vater und ihn selbst als kleinen Jungen vor dem Geschäft zeigte. Lebensmittelhändler Lars Bergsten hatte sein Lebenswerk in die Hände seines Sohnes gelegt, ihm vertraut, dass er sich gut darum kümmern würde.

Nur zwei Jahre noch, dachte Sven. Mehr hätten sie nicht gebraucht. Dann hätten sie in Rente gehen und alles Saga übergeben können, die dann mit neunzehn das Familienunternehmen weiterführen könnte.

Seine Kehle wurde eng, und er biss sich in den Fingerknöchel, um nicht zu weinen. Reiß dich zusammen, dachte er und schloss die Augen. Lillemor würde es sicher bald herausfinden und wäre am Boden zerstört. Natürlich wegen der Situation an sich, aber vor allem, weil er sie belogen und ihr das wahre Ausmaß ihrer Probleme so lange verheimlicht hatte. Aber er würde es in Ordnung bringen. Irgendwie.

»Was sitzt du denn da im Dunkeln?«, fragte eine Stimme hinter ihm.

Sven zuckte zusammen und drehte sich um. Lillemor stand in der Tür. Ihr von grauen Strähnen durchzogenes, schulterlanges Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, und sie sah aus wie früher als junge Frau. Als alles noch gut gewesen war.

»Essen ist fertig«, sagte sie und trat neben ihn. »Kommst du?«

Sven sah auf die Uhr. »Aber ich muss doch noch Saga von Fridebo abholen.«

»Sie ist schon zu Hause, Johan Hoffner hat sie mitgenommen.«

»Was? War sie wieder im Stall?«

Lillemor tätschelte seine Wange. »Das war doch nett von ihm, so musst du bei diesem Wetter nicht noch mal losfahren. Stell das Auto in die Garage, bevor das Essen kalt wird.«

Sven schob den Brief unter ein paar Ordner und stand hastig auf. Er schwankte, und Lillemor packte seinen Arm. Sie musterte ihn besorgt.

»Was ist denn los, Sven? Du bist ja ganz blass.«

Er wedelte abwehrend mit der Hand. »Ich bin nur müde.«

Sie waren schließlich beide über sechzig, rief er ihr in Erinnerung. Da waren ein paar Wehwehchen ja wohl nichts Ungewöhnliches, oder?

Vor dem Haus hielt Sven schützend die Hand über die Augen, um die beißenden Schneeflocken abzuwehren.

»Nett!? Von wegen!«, murmelte er und manövrierte den Wagen in die Garage.

Er und Lillemor waren unterschiedlicher Meinung darüber, dass ihre Tochter den Hoffners auf ihrem Hof mit den Trabrennpferden half. Als Saga eines Tages verkündete, dass man sie gefragt hatte, ob sie im Stall mithelfen wolle, hatte sich Svens Magen umgedreht. Trabrennpferde waren unberechenbar. Außerdem traute er keinem Hoffner über den Weg, das hatte er ihr ganz deutlich vermittelt. Im Gegensatz zu Lillemor wusste Saga nichts von der alten Familienfehde und verstand natürlich nicht, warum er immer so auf die Hoffners schimpfte. Sie hielt ihn einfach für einen übervorsichtigen Vater, und das durfte sie ruhig weiter glauben. Sie sollte den Grund nur erfahren, wenn es sich überhaupt nicht vermeiden ließ.

Sven sah das Gesicht seines Vaters vor sich, als dieser ihm sein Herz ausgeschüttet hatte.

Wir trafen uns oft zum Pokern, eine ganze Gruppe. Eines Abends trank mich John Hoffner unter den Tisch, und ich setzte meinen ganzen Waldbesitz. Am nächsten Tag kam er mit den Übertragungspapieren. Ich erinnerte mich an nichts mehr, aber es gab Zeugen, weshalb ich nur noch unterschreiben konnte. Ich wollte nicht das Gesicht verlieren. Ich war so dumm, Sven. Dumm und betrunken. Doch ich musste dazu stehen und die Verantwortung dafür übernehmen. Unrecht Gut gedeiht nicht, und eines schönen Tages werden die Hoffners dafür bezahlen müssen. Ihre Zeit wird kommen. Früher oder später, wenn auch vielleicht nicht mehr zu meinen Lebzeiten. Denk an meine Worte.

Sven hatte seinem Vater versprochen, es niemals zu vergessen.

Irgendwie werde ich den Wald zurückbekommen, dachte er. Kommt Zeit, kommt Rat.

Er fuhr das Garagentor wieder herunter und ging zum Haus. Aus dem Augenwinkel nahm er plötzlich eine Bewegung wahr und erstarrte. Im Dunkeln stand jemand.

Eine Frau in einem weißen, knöchellangen Kleid, das grauschwarze Haar hing ihr ins Gesicht. Sie starrte ihn an.

Eine Hexe, dachte Sven.

Die Frau streckte die Hände nach ihm aus. Ihre Stimme klang schwach und geisterhaft.

»Hilfe«, flüsterte sie. »Das Mädchen! Hilf dem Mädchen.«

2

Annie Ljung betrachtete die magere Frau, die auf der Stuhlkante saß. Das ungewaschene Haar hing ihr strähnig ins Gesicht, die Nägel waren abgekaut und unlackiert. Sie trug eine verschlissene, schmuddelige Jacke und Batikhosen. Wie eine Vogelscheuche sieht sie aus, dachte Annie.

Der Bluterguss am linken Wangenknochen der Frau war seit dem letzten Besuch verblasst. Der unverkennbare Geruch nach Zigarettenrauch und Bier umgab sie.

Die Frau wippte nervös mit einem Bein, während sie die Unterlagen für den angebotenen Klinikaufenthalt durchsah. »Rosenhem heißt die Einrichtung? Und da ist es gut, meinen Sie?«, sagte sie, ohne aufzublicken.

»Es ist Schwedens bestes Therapiezentrum für misshandelte Frauen mit Suchtproblemen. Es liegt weit draußen auf dem Land, in der Nähe von Hudiksvall.«

Die Frau sah Annie unsicher an. »Und er wird nicht erfahren, wo ich bin?«

»Solange Sie es ihm nicht erzählen. Diese Information ist vertraulich. Niemand darf wissen, wo Sie sich aufhalten.«

Die Frau senkte wieder den Blick und zog die Pulloverärmel über die Hände. »Ich weiß nicht«, sagte sie zögernd. »Ich habe irgendwie das Gefühl, als würde ich ihn im Stich lassen.«

Er hat sie immer noch in seiner Gewalt. Er beherrscht sie.

»Der Aufenthalt ist vollkommen freiwillig«, antwortete Annie. »Niemand kann Sie zum Bleiben zwingen, wenn es Ihnen dort nicht gefällt.«

Die Frau wiegte sich vor und zurück. Annie beugte sich zu ihr und legte ihr eine Hand auf den Unterarm. »Jetzt oder nie. Tun Sie es.«

Komm schon, flehte Annie stumm. Sag Ja. Bevor er dich totschlägt.

»Okay«, willigte die Frau ein. »Ich fahre. Aber erst nach Ostern.« Sie schlang die Arme um den Oberkörper.

Annie ballte unter dem Schreibtisch frustriert die Faust, lächelte dann jedoch und sagte: »Gut, dann hören wir am Dienstag voneinander.« Sie stand auf. »Passen Sie über die Feiertage auf sich auf.«

Als sie die Bürotür öffnete, kam gerade ihr Vorgesetzter Tord Hellman vorbei und blieb abrupt stehen. Annie brachte ihre Klientin zur Schleuse am Ende des Korridors, wartete, bis sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, und ging zurück zu ihrem Büro, wo Tord immer noch stand.

»Was war das denn gerade?«, fragte er.

»Das ist die Klientin, der ich einen Platz in der Klinik Rosenhem verschafft habe. Sie will ihn antreten.«

Annie drängte sich an ihm vorbei und setzte sich an ihren Schreibtisch.

»Du weißt, was ich meine, Annie«, erwiderte Tord. »Was hatte sie hier in deinem Büro zu suchen? Klienten werden ausschließlich im Besuchsraum empfangen. Niemand kommt durch die Schleuse. Wir haben diese Regeln nicht ohne Grund.«

»Sie war so fragil, und meiner Einschätzung nach hat sie keine Gefahr dargestellt. Außerdem hätte ich jederzeit den Alarm betätigen können.«

Tord schüttelte den Kopf. »Das ist nicht deine Entscheidung, Annie. Diese Frauen sind keine Engel. Sie sind drogenabhängig und kriminell. Sie könnten dir für eine Packung Zigaretten die Kehle durchschneiden. Du hast uns alle in Gefahr gebracht.«

»Das stimmt alles, aber zuerst einmal sind sie misshandelte Menschen. Man hat ihnen Dinge angetan …«

Tord hob die Hand. »Das darf nicht mehr vorkommen, hast du verstanden? Außerdem halten wir uns an die Einrichtungen, mit denen wir Rahmenverträge haben, das weißt du ganz genau. Svanudden hat einen freien Platz, den die Klientin morgen schon antreten kann.«

Annie verschränkte die Arme. »Svanudden ist nicht nur für Frauen. Dort sind lauter Männer, die …«

»Und Rosenhem berechnet von allen therapeutischen Kliniken den höchsten Tagessatz.«

»Weil es die beste Einrichtung für misshandelte Frauen im ganzen Land ist, ja. Ich habe ihr jetzt Rosenhem versprochen.«

Tord zuckte mit den Schultern. »Dann ändere das, sie kommt nach Svanudden, keine Widerrede«, sagte er. »Dort erzielt man sehr gute Behandlungsergebnisse, über die du dich informieren solltest.«

Annie senkte den Blick. Das alles wusste sie schon längst. Svanudden war eine Klinik fünfhundert Kilometer nördlich von Stockholm, in der Nähe von Kramfors. Eine Gegend, über die sie alles wusste. Und sie hatte sich vor vielen Jahren geschworen, nie wieder dorthin zurückzukehren.

Tord kam zu ihr an den Schreibtisch. »Nimm es nicht so schwer, Annie. Du steigerst dich in jeden Fall zu sehr hinein. Das soll keine Kritik sein, versteh mich nicht falsch.« Er runzelte die Stirn. »Wie geht es dir eigentlich?«

»Warum?«

»Du bleibst oft für dich. Zum Beispiel habe ich keine Ahnung, wie du deine Freizeit so verbringst. Eigentlich weiß ich fast nichts über dich. Da mache ich mir natürlich Gedanken.«

Tord legte ihr die Hand auf die Schulter. Er war ihr so nahe, dass sie seinen Schweiß riechen konnte und noch etwas anderes. Etwas Bekanntes, das in ihrem Innersten widerhallte. Ihr Herz schlug schneller.

Abrupt schob sie den Stuhl zurück und stand auf.

»Fass mich nicht an«, sagte sie scharf, riss Mantel und Tasche an sich und eilte zur Toilette, wo sie sich auf den Klodeckel sinken ließ. Sie beugte sich vor, legte den Kopf zwischen die Knie und versuchte sich zu beruhigen. Einatmen. Halten. Ausatmen. Reiß dich zusammen. Du hast nur eine Vertretungsstelle. Gib ihm keinen Grund, dir zu kündigen.

Sie tastete nach der Pillendose in ihrer Handtasche, schüttete zwei Tabletten in die Handfläche und schluckte sie mit etwas Wasser. Langsam beruhigte sich ihr Herzschlag.

Als der Schwindel sich gelegt hatte, stand sie auf und spritzte sich am Waschbecken kaltes Wasser ins Gesicht. Sie musterte ihr Spiegelbild. »Nimm dich zusammen«, sagte sie leise.

Ein dumpfer Ton erklang in ihrer Handtasche. Sie holte das Handy heraus und sah Sven Bergstens Namen im Display, der Cousin ihres Vaters. Ihr Magen verkrampfte sich. Es klingelte ein zweites Mal. Ein drittes Mal. Widerwillig nahm sie das Gespräch an.

Sven klang angespannt. »Bekomm keinen Schreck, Annie, aber deine Mutter ist bei mir. Ich habe sie vor dem Haus gefunden, nur im Nachthemd. Sie war unterkühlt und verwirrt.«

Annie biss die Zähne zusammen. Das verdammte Pflegeheim. »Wie geht es ihr?«, fragte sie.

»Nicht gut. Der Krankenwagen ist unterwegs«, informierte sie Sven. »Du musst dir keine Sorgen machen, aber ich dachte, es hilft ihr vielleicht, wenn sie deine Stimme hört. Sie versucht ständig, etwas zu sagen, aber ich verstehe sie nicht. Ich habe das Handy auf laut gestellt.«

Annie holte Luft. »Mama«, sagte sie. »Ich bin’s, Annie. Deine Tochter.«

Stille, dann hörte sie ein Flüstern.

»Pass auf … Rette das Mädchen.«

Annie schloss die Augen. Sie vermischt früher und heute. Lass dich nicht darauf ein, sonst wird sie nur noch verwirrter.

»Mama, hör mir zu. Mir geht es gut, du musst dir keine Sorgen machen.«

Annie hörte, wie Sven im Hintergrund versuchte, ihre Mutter zu beruhigen, bevor er ihr das Telefon aus der Hand nahm.

»Wir haben sie in ein paar Decken eingewickelt, und gleich bringt sie der Krankenwagen ins Krankenhaus«, versicherte er Annie. »Du musst nicht alles stehen und liegen lassen, aber es wäre gut, wenn du morgen herkommen könntest. Ruf an, wenn du unterwegs bist, ja?«

Annie biss sich fest auf die Unterlippe, um nicht zu weinen. Nein. Ich schaffe das nicht, dachte sie. Es geht nicht. Ich will nicht.

3

Auch wenn bereits ein Tag vergangen war, sah Sven immer noch Birgitta Ljungs geisterhafte Gestalt vor sich, als er im Auto vor dem Pflegeheim Fridebo saß und auf Saga wartete. Er schauderte. Seine Tochter, die als Aushilfe in der Einrichtung arbeitete, hatte angerufen und erzählt, dass es Birgitta so weit gut ging und sie bereits wieder im Heim war. Aber wo blieb Saga jetzt nur? Ihre Schicht war um fünf zu Ende, und es war schon Viertel nach. Sie wusste doch, dass Annie unterwegs war und sie zum Abendessen zu ihnen kommen würde.

Es begann wieder zu schneien. Kleine Flocken fielen auf die Windschutzscheibe, und das Thermometer zeigte null Grad an.

Sven schaltete die Scheibenwischer ein und sah zum Eingang, doch niemand war zu sehen.

Er griff nach seinem Handy und wählte Sagas Nummer. Nach dem vierten Klingeln meldete sie sich.

»Ich stehe draußen, wo bist du denn?«, fragte er.

»Im Stall, ich habe dir eine SMS geschrieben, hast du die nicht bekommen?«

»Nein. Und was machst du da überhaupt, wenn ich fragen darf? Annie kommt bald, hast du das vergessen? Ich hole dich jetzt ab.«

Er seufzte laut und startete den Motor. Aufgebracht lenkte er den Wagen auf die Straße und beschleunigte die lang gezogene Steigung hinauf. Als er auf den Hof fuhr, sah er wütend zum Wohnhaus der Familie Hoffner hinüber, der hellgelben Achtzimmervilla mit Kristallkronleuchtern und Eichenparkett in allen Räumen. Vor dem Stall blieb er stehen und ließ demonstrativ den Motor laufen. Er ging niemals hinein.

Durch das schmutzige kleine Stallfenster sah er eine Silhouette, die sich im Inneren bewegte. Komm schon, dachte er.

Fünf Minuten vergingen, zehn.

Resigniert stellte Sven nun doch den Motor aus und blickte wieder zum Wohnhaus. Auf der Weide links daneben nahm er eine Bewegung wahr. Ohne den Atem, der in weißen Wölkchen vor dem Maul stand, hätte er den großen Jungstier fast nicht bemerkt. Das kohlschwarze Tier stand völlig still und verschmolz mit dem dunklen Wald hinter ihm. Es starrte das Auto an und blähte die Nüstern. Der Stier hieß Zlatan, doch alle im Ort nannten ihn Satan, weil er genau das war. Unberechenbar und gefährlich. Er ging auf alles los. Maschinen, Bäume, Menschen.

Sven schauderte und sah zurück zum Stall. Weitere fünf Minuten vergingen. Musste er etwa wirklich hineingehen und sie holen?

Was würde sein Vater sagen, wenn er ihn jetzt sähe? Lässt du zu, dass die Hoffners deine eigene Tochter ausnutzen?Setz dich durch, Sven.

Er wollte Saga gerade noch einmal anrufen, als sie aus dem Stall eilte und sich beim Einsteigen die Kapuze ihrer Jacke über den Kopf zog.

»Nun fahr doch«, sagte sie angespannt und sah aus dem Beifahrerfenster.

Sven startete den Wagen und fuhr auf die Straße. »Ist etwas passiert?«, fragte er.

Saga schwieg.

»Sie haben dich doch hoffentlich bezahlt?«

Saga gab keine Antwort.

»Haben sie dich bezahlt?«, wiederholte Sven, ein wenig lauter.

»Ich bekomme das Geld später«, murmelte Saga.

Sven starrte aufgebracht nach vorn. »Du gehst da nicht mehr hin«, sagte er.

»Ich kann tun und lassen, was ich will.«

»Du bist noch nicht achtzehn«, erwiderte er. »Noch bestimmen wir, deine Eltern, und ich werde nicht zulassen, dass Johan Hoffner dich schuften lässt, ohne dich zu bezahlen.«

Saga drehte den Kopf zu ihm um. Ihre Augen glänzten. »Aber ich will im Stall arbeiten. Du kannst es mir nicht verbieten.« Sie sah wieder aus dem Fenster.

Sven parkte den Wagen vor dem Haus. »Sei nicht traurig«, sagte er. »Es ist nicht deine Schuld. Sie nutzen dich aus, verstehst du?«

»Ach, hör auf. Du denkst nur ans Geld, du kapierst überhaupt nichts!«, rief Saga und stieg hastig aus. Sie stürmte ins Haus und knallte die Tür hinter sich zu.

Sven umklammerte das Lenkrad. Was ist denn nur in sie gefahren?, dachte er. So hatte er seine Tochter noch nie erlebt. Sonst stritten sie nie.

Nein, dachte er. Jetzt reicht es. Er ließ den Motor an und fuhr rückwärts aus der Einfahrt.

Im Stall war noch Licht. Sven stieg aus. Sein Mund war trocken, die Halsschlagader pochte, als er die Stalltür aufschob. Johan Hoffner stand im Gang zwischen den Boxen und füllte Wasser in einen Eimer. Sven ließ die Tür offen und ging auf ihn zu.

»Jetzt reicht es, verdammt noch mal«, sagte er aufgebracht. »Hast du denn keinen Funken Anstand im Leib?«

Johan Hoffner drehte den Wasserhahn zu. »Was meinst du damit?«

Sven kam näher. »Das weißt du ganz genau, Johan. Hör auf, Saga auszunutzen, so wie deine Familie meine ausgenutzt hat. Ich habe lange genug geschwiegen, aber jetzt ist Schluss.«

Hoffner stellte den Eimer ab. »Wovon redest du, Sven?«

»Ich will meinen Wald zurückhaben.«

Johan schüttelte den Kopf. »Das ist doch längst Schnee von gestern, Sven. Wir leben jetzt. Du kannst mir nichts vorwerfen, was meine Vorfahren getan haben. Ich habe damit nichts zu tun.«

Sven schnaubte. »Ja, das war vor deiner Zeit. Aber die Habgier hast du geerbt. Jeder weiß, dass du die Leute mit deiner Schneeräumerei übers Ohr haust. Und ganz bestimmt hat niemand so viel bei mir im Laden anschreiben lassen wie du.«

Sven ballte die Fäuste. Dieser Mistkerl hatte Saga ohne Lohn arbeiten lassen.

»Und warte nur, wenn sich im Ort herumspricht, dass du junge Mädchen ausnutzt«, platzte er heraus, bevor er sich zurückhalten konnte.

Johan Hoffner wurde hochrot.

»Red nicht so einen Unsinn, Sven«, sagte er und trat näher. »Worauf willst du eigentlich hinaus?«

»Gib mir den Wald zurück, ein für alle Mal. Es ist höchste Zeit.«

Johan schwieg.

»Na, was ist?«, drängte Sven.

»Du erwartest doch nicht, dass du darauf jetzt sofort eine Antwort bekommst? Ich muss das erst durchrechnen.«

»Dann beeil dich.«

Sven drehte auf dem Absatz um und marschierte mit hoch erhobenem, glühendem Kopf zum Auto. Mit zitternden Händen fuhr er nach Hause. Konnte es sein, dass sich tatsächlich alles klären würde?

4

Die Schneeflocken peitschten gegen die Windschutzscheibe. Annie hatte das Gefühl, durch einen weißen Tunnel zu fahren. Sie stellte die Scheibenwischer eine Stufe höher und ging ein wenig vom Gas. Das Mietauto hatte Sommerreifen, und sie hatte nicht damit gerechnet, dass noch Schnee liegen würde. Sie hatte verdrängt, wie es hier oben sein konnte. Die Dunkelheit. Die Kälte.

Sie fuhr über die Sandöbron, von der aus sie die Lichterreihe der Högakustenbron im Süden sah. Auf der Südseite des Flusses war die Straße beleuchtet gewesen, doch hier wurde es immer dunkler. Die Birken und Fichten bogen sich unter der Schneelast, wie ein Tor zum Reich des Bergkönigs. Sie hatte ganz vergessen, wie schön es hier war. Fichtenwälder und schwarzes Wasser. Schotterstraßen, stillgelegte Sägewerke. Verschlossene Gesichter, die durch einen Spalt in den Gardinen spähen. Abgestellte Schrottautos. Der Fluss ohne Grund. Wälder, die sich kilometerweit erstreckten und in denen man sich verirren konnte.

Keine zehn Kilometer mehr bis Lockne. Ihr Herz schlug immer schneller. Sie ließ das Fenster einen Spalt herunter, und die kalte Luft strömte herein, doch es half nichts. Alles kam zurück, wie Diabilder. Die Anrufe, oft mitten in der Nacht. Eine eingeschlagene Scheibe. Zerstochene Fahrradreifen. Die Worte ihrer Mutter von damals hallten in ihren Ohren wider.

Annie, so geht es nicht weiter. Du musst hier weg. Sie werden nie aufgeben, sieh das doch ein. Es ist egal, Annie, keinen interessiert, was wirklich passiert ist. Die Leute entscheiden sich für eine Wahrheit und glauben dann daran.

Jetzt war sie doch wieder auf dem Weg zurück. An den Ort, an den sie nie mehr hatte zurückkehren wollen. Vor drei Jahren hatte Sven sie schon einmal angerufen, als man im Dorf darüber sprach, dass Birgitta Ljung im ultrakurzen Minirock und mit tiefem Ausschnitt einkaufen ging. Kurz darauf hatte es eine Diagnose für Birgittas Persönlichkeitsveränderung gegeben, für die aggressiven Ausbrüche und das zügellose Verhalten. Sie war an Frontotemporaler Demenz erkrankt, mit gerade mal fünfundsechzig Jahren. Da war Annie nur ganz kurz in Lockne gewesen, und keiner außer den Leuten im Pflegeheim und Sven und seiner Familie hatte sie gesehen.

Sven und Lillemor hatten so viel geholfen, wie sie konnten, damit Annie nur im äußersten Notfall nach Hause kommen musste.

Nach Hause. Sie hatte jetzt ein neues Zuhause. Eine Wohnung, einen Job, ein neues Leben weit weg von allem, was früher einmal ihr Leben gewesen war. Einen Tag nachdem sie das Gymnasium abgeschlossen hatte, war sie nach Stockholm gezogen. Sie war gezwungen gewesen, alles hinter sich zu lassen, was sie geliebt und was ihr etwas bedeutet hatte.

Da hast du mich verloren, Mama, dachte sie. Und jetzt bist du selbst verloren. Du hast mich geopfert, und ich habe nie eine Antwort bekommen. Kein einziges verdammtes Mal hatten sie über das Geschehene gesprochen, und jetzt war es zu spät. Hoffnungslos zu spät.

Sie blinzelte und kämpfte gegen die Tränen an. Nicht daran denken. Sie schüttelte den Kopf und versuchte, ihre Gedanken ins Hier und Jetzt zu zwingen.

Hinter Lugnvik, an der Kreuzung bei Bergstens Livs, bog sie nach links in den Ort ab. Sie fuhr an der ehemaligen Grund- und Mittelschule vorbei. An den Birken bei den Fahrradständern, den Hagebuttenbüschen an der Längsseite des Gebäudes, in denen sie sich oft versteckt hatten, die mit den roten und weißen Rosen. Wo sie stundenlang gespielt und geschaukelt hatten. Dann waren sie älter geworden, ernst und fantasielos.

Zur Rechten, gleich hinter der Schule, lag das Pflegeheim Fridebo. Der braunrote, niedrige Backsteinbau war in die verschneite Landschaft eingebettet.

Annie parkte gegenüber dem Eingang, sah in den Rückspiegel und zupfte ihre Mütze zurecht. Unwillkürlich berührte sie die Narbe unter dem Ohr.

Sie griff nach ihrer Tasche auf dem Beifahrersitz. Die Tablettendose war nicht da. Hatte sie sie in die Reisetasche gepackt?

Nein. Die Personaltoilette. Sie musste sie dort vergessen haben. Und ihr Name stand auf dem Etikett. Sie hatte sie als Absicherung, für die wenigen Momente, in denen die Angst zuschlug, doch Tord wusste so wenig über sie und könnte sie daher leicht für tablettensüchtig halten.

»Verdammt«, fluchte sie laut.

Sie sah ein letztes Mal in den Rückspiegel, schlug den Mantelkragen hoch und stieg aus.

Eine rothaarige Frau in blauer Schwesternkleidung öffnete ihr die Tür.

»Hallo«, sagte Annie und streckte die Hand aus. »Ich bin Annie, Birgitta Ljungs Tochter.«

Die Pflegerin musterte sie rasch von oben bis unten.

»Ich weiß, wer Sie sind. Birgitta schläft, aber kommen Sie rein. Ich heiße Pernilla.«

Sie ging vor Annie in den dunklen Flur.

»Birgitta musste über Nacht im Krankenhaus bleiben, doch laut der Ärztin sind ihre Werte jetzt wieder in Ordnung. Sie hat ein Beruhigungsmittel bekommen und fast den ganzen Tag geschlafen.«

»Warum musste sie nicht länger bleiben? Was hat die Ärztin gesagt? Sie wird doch wieder, oder?«

»Sie war stark unterkühlt, hat sich dann aber schnell erholt. Sie können ganz beruhigt sein, es geht ihr gut.«

»Das ist gut zu hören, aber ich möchte trotzdem gern mit der Heimleiterin sprechen.«

»Sie hat heute frei, es ist ja Karfreitag«, antwortete die Pflegerin und blieb vor Birgittas Zimmertür stehen.

»Wissen Sie, wie meine Mutter nach draußen gelangen konnte?«

Die Pflegerin schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht, ich war zu der Zeit nicht im Dienst«, sagte sie. »Gehen Sie jetzt zu Ihrer Mutter rein. Klingeln Sie, wenn etwas ist.« Sie lächelte und ging davon.

Annie drückte die Tür auf. Birgitta lag im Bett und hatte die Arme über der Brust gekreuzt. Wie dünn sie geworden war, dachte Annie.

Sie setzte sich auf einen Stuhl am Bett und nahm die linke Hand ihrer Mutter. Sie fühlte sich zerbrechlich und leicht an. Annie sah die Gelenke, die unter der bläulichen, fast durchsichtigen Haut hindurchschimmerten, die kurz geschnittenen Nägel, die braunen Altersflecken, die zwei Goldringe, die Birgitta niemals abnahm.

Annie beugte sich vor. »Mama?«, flüsterte sie. »Ich bin’s, Annie. Ich bin jetzt da.«

Birgittas Augenlider flatterten, sie wachte jedoch nicht auf. Ihre Atemzüge waren so leicht, dass sie kaum zu hören waren.

Annie streichelte ihre Hand.

Mehr tot als lebendig. So hatte Sven sie vor dem Laden gefunden, unterkühlt und verwirrt und nur im Nachthemd.

»Was wolltest du denn da draußen, Mama?«, fragte sie leise.

Bei der Vorstellung, wie ihre Mutter allein in der Kälte unterwegs gewesen war, musste sie sich eine Träne abwischen.

Was wäre passiert, wenn Sven sie nicht gefunden hätte? Was, wenn sie erfroren wäre? Birgitta war schon einmal davongelaufen, doch da war es Sommer gewesen. Ein anderes Mal war sie auf der Toilette gestürzt und hatte sich das Gesicht aufgeschlagen. Einmal hatte sie eine Blasenentzündung, und nach vielem Hin und Her war herausgekommen, dass man sie nach einem Ausflug draußen vergessen hatte. Die Heimleiterin hatte den Vorfall rasch auf den Personalmangel geschoben.

Sven und Lillemor hatten sich jedes Mal um alles gekümmert, damit Annie nicht nach Hause fahren musste. Sie hatte es vor sich gerechtfertigt, dass sie Birgitta sowieso nur aufgeregt und verunsichert hätte.

Annie wischte sich eine weitere Träne ab. Warum?, dachte sie. Warum hast du mich im Stich gelassen? Hast du jemals bereut, dass du mich weggeschoben hast? Hast du jemals daran gedacht, wie es mir ging? Oder war dir nur der äußere Anschein wichtig?

Birgitta stöhnte leise, und Annie merkte, dass sie die Hand ihrer Mutter fest umklammert hielt. Sie ließ los und sah auf die Uhr. Sven und Lillemor warteten. Sie beugte sich zu Birgittas Ohr.

»Ich komme morgen wieder, Mama«, sagte sie leise.

5

Sven Bergsten öffnete die Tür, bevor Annie klingeln konnte.

»Willkommen«, sagte er und umarmte sie. »Ich hoffe, die Fahrt verlief problemlos.«

Annie nickte. Sven hatte sich kaum verändert, nur seine Haare waren dünner, und die Hose schien lockerer auf den Hüften zu sitzen als bei ihrem letzten Treffen.

Lillemor trat hinter ihn. Sie wirkte kleiner als in Annies Erinnerung. Trotz ihrer sechzig Jahre hatte sie keine Falten und immer noch volle Wangen.

Sie umarmte Annie fest und lange. »Wie schön, dass du wieder da bist, auch wenn der Anlass nicht so schön ist.«

Sven hängte Annies Mantel auf.

»Wie dünn du geworden bist!«, rief Lillemor. »Isst du überhaupt etwas?«

»In der Arbeit war es in letzter Zeit ein bisschen stressig«, antwortete Annie entschuldigend und zog die Strickjacke enger um den Oberkörper.

Lillemor scheuchte Annie kopfschüttelnd vor sich die Treppe hoch. »Jetzt bekommst du erst einmal etwas Gutes zu essen.«

Die kleine Küche sah immer noch so aus, wie Annie sie in Erinnerung hatte. Als hätte die Zeit stillgestanden. Die weißen Möbel – die Küchenschränke, der Tisch und die Stühle mit den blau geblümten Sitzkissen. Die karierten Tapeten, die Geranien in den Fenstern. Sogar die Kuckucksuhr hing noch an der Wand.

Der Tisch war schön gedeckt, Schüsseln mit verschiedenen Heringsarten, Eierhälften, Köttbullar und Kartoffeln standen bereit.

»Setz dich schon mal, Annie, ich hole schnell Saga«, sagte Lillemor und verließ den Raum.

»Wasser oder Leichtbier?«, fragte Sven.

»Wasser, bitte.«

Lillemor kam mit ihrer Tochter zurück.

»Hallo, Saga, wir haben uns ja schon lange nicht mehr gesehen«, sagte Annie lächelnd.

Saga musterte Annie zurückhaltend und machte keine Anstalten, sie zu umarmen.

Lillemor klatschte in die Hände. »Wie ähnlich ihr euch seid! Findest du nicht, Sven?«

Lillemor hatte recht. Saga war ungeschminkt und ganz eindeutig eine Bergsten. Das helle Haar, die hohen Wangenknochen, die tiefblauen Augen und die breite Stirn. Sie sahen sich wirklich sehr ähnlich, das war nicht zu leugnen. Man hätte sie für Schwestern halten können, wenn der Altersunterschied nicht so groß gewesen wäre.

»Du bist siebzehn, nicht wahr?«, fragte Annie.

Saga nickte kaum wahrnehmbar.

»Sie besucht den Wirtschaftszweig auf dem Gymnasium«, erzählte Sven und strahlte vor Stolz. »In einem Jahr macht sie Abitur und kann dann den Laden von uns übernehmen.« Er lächelte und klopfte seiner Tochter auf die Schulter.

»Das stellt er sich so vor, ja«, meinte Lillemor lachend an Annie gewandt. »Aber jetzt essen wir erst mal.«

»Ich habe keinen Hunger«, sagte Saga zu ihrer Mutter.

»Was ist denn, bist du krank?« Lillemor legte ihr die Hand auf die Stirn. »Ja, du fühlst dich ein bisschen warm an.« Sie strich ihrer Tochter über den Rücken.

»Ich lege mich etwas hin.« Saga verließ die Küche.

»Ruh dich aus, Schatz. Ich schaue dann später nach dir.«

Lillemor war so anders als Birgitta, dachte Annie. Saga war ein Einzelkind, genau wie Annie, und Sven und Lillemor hatten sie Birgittas Ansicht nach immer wie eine kleine Prinzessin behandelt. Eine verwöhnte kleine Primadonna, hatte sie Saga genannt. Vielleicht war das nicht ganz falsch, doch Annie hätte sich gewünscht, dass ihre eigene Mutter wenigstens ein wenig von Lillemors Mütterlichkeit an sich gehabt hätte.

Sie setzten sich an den Tisch.

»Nun, wenigstens konntet ihr euch kurz Hallo sagen. Saga ist sicher sehr müde, sie ist so beschäftigt«, sagte Lillemor und schüttelte den Kopf. »Sie hilft im Laden aus und arbeitet in Fridebo, und dann geht sie auch noch Hoffner mit seinen Trabern zur Hand.«

»Ach ja?« Annie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg.

Lillemor schob ihr eine Schüssel zu. »Bitte, nimm dir.«

Annie gehorchte.

»Wie geht es Birgitta?«, fragte Lillemor.

»Erstaunlich gut, wenn man bedenkt, dass sie so unterkühlt war. Vielen Dank noch mal, dass ihr euch um sie gekümmert habt«, antwortete Annie.

»Völlig verantwortungslos von dem Heim«, sagte Lillemor. »Eine alte Frau … sie hätte erfrieren können.«

»Ja, ich finde das auch furchtbar. Und ich begreife nicht, warum sie nur eine Nacht im Krankenhaus bleiben durfte.«

Lillemor schüttelte den Kopf. »Da ist es wohl noch schlimmer. Fast jeden Tag steht etwas darüber in der Zeitung. Alle Stationen sind überbelegt, es herrscht das reinste Chaos.«

Sven seufzte. »Saga und Birgitta verstehen sich gut«, sagte er. »Wenn Saga Dienst gehabt hätte, wäre das niemals passiert. Wie hat sie es überhaupt nach draußen geschafft?«

»Das hat man mir nicht gesagt. Die Leiterin war heute nicht da, ich rede morgen mit ihr.«

Sven hörte auf zu kauen. »Bleibst du denn noch länger?«, fragte er.

»Ich muss nach Ostern wieder arbeiten«, antwortete Annie und sah auf ihren Teller. Sie glaubte zu spüren, wie Sven und Lillemor einen Blick tauschten.

Sie aßen schweigend.

»Es schmeckt sehr lecker, vielen Dank«, sagte Annie schließlich.

»Wie schön, nimm dir noch was!« Lillemor schob ihr die Schüssel mit den Kartoffeln zu.

»Ihr habt ja noch ganz schön viel Schnee«, meinte Annie nach einer Weile. »Ist mit dem Haus alles in Ordnung?«

»Ja, mach dir keine Gedanken. Ich habe die Heizung aufgedreht. Und Saga hat Johan Hoffner gesagt, er soll deine Einfahrt räumen«, erwiderte Sven. »Leider ist er der Einzige mit einem Traktor mit einer kleineren Schaufel als die all jener, die die Wege für die Gemeinde räumen. Diesen Winter hat er sich eine goldene Nase verdient.«

Johan Hoffner. Ihr Johan. Wann hatte sie ihn zum letzten Mal gesehen? Vor siebzehn Jahren? Und jetzt wusste er, dass sie zurück war.

Sie räusperte sich. »Wie geht es ihm?«

Lillemor schüttelte vielsagend den Kopf und kaute ihren Bissen zu Ende. »Seine Mutter Inger ist an Krebs gestorben, das müsste jetzt drei Jahre her sein. Sein Vater ist nur ein Jahr später gestorben. Johan hat den Hof übernommen, die Kühe aber schon bald verkauft. Er hat jetzt nur noch Trabrennpferde, und es scheint gut zu laufen, da sie sich kürzlich einen neuen Mercedes zugelegt haben.«

Annie spürte einen Stich in der Brust. »Sie?«

»Johan hat letztes Jahr geheiratet«, erklärte Lillemor.

Was hast du denn gedacht, Annie? Das Leben geht weiter. Für alle außer dich.

»Wir hatten ihn vorher nie mit einer Frau gesehen, wir dachten fast schon, dass er … Du weißt schon«, meinte Lillemor lächelnd.

»Ist sie hier aus der Gegend?«

»Nein, aus Torsåker. Eine Krankenschwester. Sie arbeitet in Fridebo und heißt Pernilla.«

Annie sah die rothaarige Pflegerin vor sich. Das war Johans Frau? Sie hatte sich jemand Weiblicheren für Johan vorgestellt. Jemand wie sie?

»Aber sie haben keine Kinder«, fuhr Lillemor fort. »Man sagt, irgendetwas würde nicht stimmen, sie könnten keine Kinder bekommen. Aber das sind nur Gerüchte. Und du weißt ja, wie das ist, Annie.« Lillemor verzog das Gesicht.

»Tja, so läuft es, wenn man zu gierig ist«, sagte Sven leise. »Manche straft Gott sofort, wie mein Vater zu sagen pflegte.«

Lillemor legte ihre Hand auf die ihres Mannes. »Hier in der Gegend erkranken viele an Krebs und sind unfreiwillig kinderlos«, bemerkte sie. »Ich glaube, dafür ist Tschernobyl verantwortlich.«

»Ja, wir hatten unglaubliches Glück, dass wir Saga bekommen haben«, sagte Sven. »Sie ist unser kleines Wunder.« Er sah Lillemor zärtlich an.

Annie wollte noch mehr zu Johan und seiner Frau fragen, fand aber nicht die richtigen Worte.

Die Zeit verging. Die Kuckucksuhr schlug acht.

»Wie wäre es mit einem Kaffee?«, meinte Sven.

»Danke, aber es ist schon spät, und ich bin ziemlich müde«, erwiderte Annie. »Vielen Dank für das leckere Essen.« Sie stand auf. »Grüßt bitte Saga von mir. Hoffentlich geht es ihr bald besser.«

»Ach ja.« Sven holte eine Tüte aus dem Kühlschrank und reichte sie ihr. »Ein bisschen norrländisches Frühstück, falls du nicht zum Einkaufen gekommen bist.«

Annie warf einen Blick in die Tüte. Milch, Butter und ein Laib Brot. Sie lachte. »Stimmt, daran habe ich nicht gedacht. Danke, Sven.«

Sie umarmte ihn, und er tätschelte ihren Rücken.

»Wie gesagt, heute Morgen habe ich die Heizung aufgedreht, aber das Haus war ausgekühlt, es ist sicher noch nicht warm. Du brauchst bestimmt zwei Decken.«

»Das wird schon, ich bin so müde, dass ich im Stehen einschlafen könnte«, erwiderte Annie.

Lillemor umarmte sie. »Es ist gut, dass du da bist, wenn auch nur für ein paar Tage. Komm jederzeit zu uns, wenn es dir da oben in dem Haus zu einsam wird.«

6

Der Weg lag völlig im Dunkeln. Die Straßenbeleuchtung war hier nicht mehr in Betrieb, weshalb Annie das Fernlicht einschaltete. Die Straße war frisch geräumt und gestreut, und trotzdem rutschten die Räder bedenklich auf dem Weg den Hügel zu dem alten Haus hinauf. Lockne lag in einer Talsenke. Eine lange Schotterstraße wand sich durch den Ort, an der alten Grund- und Mittelschule vorbei, hinauf zum Sportplatz und weiter bis zum Kamm, wo sich die Abzweigung nach Saltviken befand, einer hübschen kleinen Bucht des Ångermanälven, die von Sommerhäuschen gesäumt war, die seit Generationen im Besitz der jeweiligen Familien waren.

Als Annie das Haus fast erreicht hatte, sah sie die Scheinwerfer eines Traktors. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, und sie hielt das Lenkrad fester, während sie langsam auf die Einfahrt zurollte. Der Weg war zu schmal für zwei Fahrzeuge, weshalb der Traktor ein Stück zurückfuhr, um sie in die Einfahrt einbiegen zu lassen.

Sie stieg aus und beschattete mit der Hand die Augen gegen das grelle Scheinwerferlicht, doch sie wusste, wem sie gleich gegenüberstehen würde. Die Traktortür wurde geöffnet, der Fahrer kletterte heraus. Eine gefütterte Jacke, eine Mütze mit Ohrenklappen. Der vertraute Gang.

Ihr Herz schlug noch schneller. Reiß dich zusammen, Annie. Atme.

»Hallo, Johan«, sagte sie.

Johan blieb stehen. Die hellblauen Augen. Das Grübchen in seiner Wange.

»Hallo«, antwortete er schließlich. Er fuhr sich mit der Zunge über die Unterlippe. Die Erinnerung an ihren ersten Kuss kam mit aller Macht zurück. Seine weichen, tastenden Lippen. Zungenspitzen, die sich vorsichtig trafen.

Du bist dran. Sag etwas.

»Ganz schön lange her.« Sie schluckte. »Danke, dass du geräumt hast. Ich hätte nicht gedacht, dass noch so viel Schnee liegt. Wie viel bin ich dir schuldig?«

»Du bist mir gar nichts schuldig«, antwortete Johan ernst. »Zumindest nicht fürs Schneeräumen, darum hat sich Sven gekümmert.«

Schuldig. Diesen Blick hatte Annie schon einmal gesehen. Vor langer Zeit.

»Okay.« Sie wich zurück.

Johan schien noch etwas sagen zu wollen, kletterte dann jedoch wieder in den Traktor und fuhr davon.

Annie sah ihm nach. Tränen brannten in ihren Augen, und sie biss sich fest in die Innenseite der Wange.

»Fahr zur Hölle«, sagte sie laut.

Sie holte ihre Tasche und die Tüte mit dem Essen aus dem Wagen. Sven hatte die Lampe im Küchenfenster eingeschaltet, die anderen Fenster starrten ihr schwarz entgegen. Sie eilte die Stufen zur Veranda hinauf und schloss die Tür auf, trat in die Diele, stellte die Reisetasche ab und verschloss die Tür hinter sich. Sie streifte die Schuhe ab und hängte ihren Mantel auf, ging in die Küche und stellte die Tüte mit dem Essen in den Kühlschrank, den Sven eingeschaltet hatte. Dann holte sie die Reisetasche und eilte die grau gestrichene Treppe hinauf ins Obergeschoss.

Vor der geschlossenen Tür zu ihrem Kinderzimmer blieb sie stehen, ging dann aber weiter zu Birgittas und Åkes altem Schlafzimmer.

Darin war es noch kälter als im Erdgeschoss, doch sie wagte es nicht, den alten gusseisernen Kaminofen in der Küche, über den das Haus auch geheizt werden konnte, so kurz vorm Schlafengehen anzufachen.

Sie schaltete die Nachttischlampe ein, schlug den Überwurf zurück und ließ sich auf das Bett sinken. Das Kopfkissen war kühl und roch immer noch leicht nach Lavendel. Sie zog nur die Hose aus und kroch in Pullover und Unterwäsche unter die Decke, zog diese bis zum Kinn hoch und wickelte sich wie in einen Kokon ein.

Sie schloss die Augen. Die Wände knackten, während sich die Wärme langsam ausbreitete. Etwas raschelte auf dem Dach. Wenn sie als Kind die Mäuse in den Wänden gehört hatte, hatte sie nach ihrem Vater gerufen. Er hatte dann gegen die Wände gehämmert, und es war still gewesen. Dann hatte er auf ihrer Bettkante gesessen, bis sie eingeschlafen war.

Warum musstest du sterben, Papa? Ich brauche dich doch.

Jetzt kamen die Tränen, rollten ins Kopfkissen.

Wenn man die Zeit doch nur zurückdrehen könnte, dachte sie. Bis dahin, als alles noch in Ordnung gewesen war. Bevor alles zerbrochen und sie an allem schuld gewesen war.

7

Als sie die Augen aufschlug, wusste Annie zuerst nicht, wo sie sich befand. Es war kalt im Zimmer. Das Haus. Lockne.

Sie tastete nach ihrem Handy auf dem Nachttisch. Neun Uhr, sie hatte lange geschlafen.

Widerwillig setzte sie sich auf und zog zitternd die Jeans an, die sie vor dem Bett liegen gelassen hatte. Dann ging sie ins Bad, wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser und putzte sich die Zähne. Ihre Zahnpastatube war fast leer. Außerdem musste sie Lebensmittel kaufen und neue Tabletten holen, doch bei Bergstens Livs gaben sie keine rezeptpflichtigen Medikamente aus. Sie würde nach Nyland fahren müssen, das fünfzehn Kilometer Richtung Norden lag. Es war zwar Karsamstag, doch mit ein bisschen Glück hatte die Apotheke dort geöffnet.

Sie ging rasch die Treppe hinunter. Das Thermometer im Küchenfenster zeigte drei Grad minus an. Am besten entfachte sie schnell den alten Kaminofen.

Eine Kiste in der Diele enthielt eine alte Zeitung und zwei Holzscheite. Eine Streichholzschachtel lag auch dabei, doch alle Zündhölzer waren abgebrannt. Sie musste sich also um Tabletten, Feuerholz, Streichhölzer, neue Zahnpasta und Lebensmittel kümmern.

Sie zog Mantel und Mütze an. In der obersten Kommodenschublade fand sie eine alte Pudelmütze ihres Vaters und lächelte. Sie war dunkelblau, und Åke hatte sie nur aus dem Grund so oft getragen, weil Birgitta sie unglaublich hässlich fand. Annie hielt sie sich an die Nase und atmete ein, doch die Wolle roch nicht mehr nach Papa, nur nach Holz und Lavendel. Seufzend legte sie die Mütze zurück in die Schublade und ging hinaus zum Auto.

Die Sonne hatte Frost und Schnee auf der Windschutzscheibe weggetaut, doch der Wagen war störrisch und wollte erst beim vierten Anlauf anspringen. Langsam rollte sie den Hügel hinunter, vorbei an windschiefen Scheunen und knorrigen Bäumen, von denen sie als Kind Äpfel geklaut hatte, vorbei an dem halb zugefrorenen Fluss, über dem noch der Nebel stand.

Unten an der Kreuzung bei Bergstens Livs bog sie links ab. Die Straße war gestreut und geräumt, und die Fahrt nach Nyland verlief problemlos.

Annie bog auf den Parkplatz ein und schaltete den Motor aus. Die Apotheke befand sich immer noch neben dem ICA-Supermarkt.

Sie blieb noch eine Weile sitzen. Eine ältere Frau und ein Mann mit Rollator unterhielten sich vor dem Eingang. Eine andere Frau stand vor dem Geldautomaten an der Ecke. Mit ein bisschen Glück würde Annie alles erledigen können, ohne erkannt zu werden.

Mit gesenktem Blick stieg sie aus. Sie unterdrückte den Impuls, die Kapuze ihres Mantels aufzulassen und zog nur die Mütze ein wenig tiefer in die Stirn.

Zuerst ging sie in den Supermarkt, in dem sich nur wenige Kunden befanden. Schnell hatte sie ihre Einkaufsliste abgearbeitet und nahm noch ein paar Pflanzen für das Grab ihres Vaters mit.

Sie verstaute alles im Auto und ging zur Apotheke, in der ein älterer Mann auf einer Bank saß und wartete. Annie zog eine Wartenummer aus dem Automaten, konnte aber sofort zu einer der Kassen gehen. Sie bekam ihre Tabletten, bezahlte und wollte gerade gehen, als eine Frau mit einem Kinderwagen eintrat.

Das braune Haar, die Sommersprossen, die Lachfältchen. Alles wie früher. Helena Sundin. Ihre einzige gleichaltrige Freundin in Lockne. Ihre beste Freundin, ihr Ein und Alles. Bevor alles zerbrach.

Helena sah sie überrascht an.

»Annie?«, sagte sie ungläubig.

»Hallo, Helena«, sagte Annie im selben Moment und schob die Tabletten schnell in die Manteltasche.

Ein paar Sekunden stand Helena wie versteinert da, dann umarmte sie Annie lange.

»Du bist es wirklich«, murmelte sie. »Was machst du hier?«

»Meine Mutter lebt seit ein paar Jahren in Fridebo und ist aus dem Heim davongelaufen«, erzählte Annie leise. »Wenn Sven Bergsten sie nicht gefunden hätte, hätte sie erfrieren können.«

»Oh, wie schrecklich. Aber du wohnst doch so weit weg«, sagte Helena. »Du bist doch noch in Stockholm, oder?«

Annie nickte und sah zu dem Kleinkind im Wagen. »Und wen haben wir hier?«

»Das ist Ture, er wird bald ein Jahr alt. Hilma ist vier und gerade zu Hause bei ihrem Vater.«

»Bist du verheiratet?«

»Verlobt.« Helena hob die linke Hand und zeigte einen Ring aus Weißgold mit einem kleinen Diamanten. »Errätst du, mit wem?«

»Henrik Jönsson?«, vermutete Annie. Helena war während der letzten Schuljahre immer in denselben Jungen verliebt gewesen.

Helena lachte. »Er hat schließlich nachgegeben. Beharrlichkeit siegt.«

»Glückwunsch. Wohnt ihr hier in Nyland?«, fragte Annie.

»Auf Sandslån«, antwortete Helena. »Wir haben das Haus von Henriks Großvater übernommen, das große weiße, wenn du dich erinnerst.«

Annie sah den hübschen Hof mit der großen Scheune und Pferdeweiden fast bis ans Haus vor sich. Helena hatte seit ihrer Kindheit davon geträumt, eine Familie zu haben und auf einem Bauernhof zu wohnen. Wovon hatte sie selbst eigentlich geträumt?

»Warum hast du dich nie gemeldet?«, fragte Helena.

Annie blinzelte. Hätte ich mich denn melden sollen? Mich hat man doch gezwungen, von hier fortzugehen. »Du bist in die USA gegangen«, sagte sie.

»Und du hast dir eine geheime Telefonnummer zugelegt«, konterte Helena.

Sie schwiegen. Die nächste Nummer wurde piepsend angezeigt.

»Tut mir leid«, sagte Helena schließlich, »aber ich habe dich vermisst.«

Annie lächelte. »Ich dich auch.«

Es piepste erneut, und Helena sah auf ihren Nummernzettel.

»Ich bin dran.«

»Und ich muss los«, sagte Annie. »Es war schön, dich zu sehen. Frohe Ostern, und grüß Henrik.«

Helena legte ihr eine Hand auf den Arm. »Wie lange bleibst du?«

»Nur bis morgen.«

»Möchtest du heute Abend zu uns zum Essen kommen? Das würde mich riesig freuen. Henrik ist übrigens ein richtiger Meisterkoch.« Helena neigte den Kopf, wie früher, wenn sie ihren Willen durchsetzen wollte.

Annie zitterte innerlich und umklammerte die Tablettenpackung in ihrer Manteltasche. Sie hörte die Stimme ihrer Mutter. Was werden die Leute sagen, Annie? Es ist nur ein Abendessen, dachte sie. Und sie hatte ihr Auto, sie konnte jederzeit fahren. »Okay, ich komme gern.«

Helena strahlte.

»Wie schön! Sagen wir um sieben.«

8

Gunnar Edholm schlug die Augen auf. Sein Kopf schmerzte, die Zunge klebte am Gaumen. Langsam sah er zum Radiowecker. Halb elf. Sein Magen knurrte. Und er musste verdammt dringend pinkeln.

Er schob die Decke zur Seite und setzte sich mühsam auf, streckte sich nach den Strümpfen auf dem Boden und zog Pullover und Hose an, die über dem Bettpfosten hingen. Unsicher ging er die Treppe hinunter und auf die Toilette. Er stützte sich mit der Schulter an der Wand ab. Der Urin war rostfarben. Er wandte sich ab und sah seine von roten Adern durchzogenen Augen im schmutzigen Spiegel. Die Haare standen in alle Richtungen ab, er war unrasiert. Kerstin hätte bei seinem Anblick geweint.

Er spülte und ging in die Küche. Der Junge saß in Unterhosen und der Daunenjacke seiner Schwester am Tisch. Der Backofen stand offen und war eingeschaltet.

»Was zum Teufel soll das denn, Joel!«, rief Gunnar, machte zwei große Schritte durch die Küche und schaltete den Ofen aus. »Was habe ich dir gesagt? Glaubst du, ich kann Geld scheißen?«

Das Blut pulsierte in seinen Schläfen. Er holte ein Bier aus dem Kühlschrank und öffnete die Dose.

»Aber für das Zeug ist Geld da.«

Gunnar drehte sich um. Katta stand in der Küchentür. Das schwarz gefärbte Haar hing ihr fransig um das Gesicht.

»Halt den Mund«, zischte er zurück und stellte die Bierdose so heftig auf die Arbeitsfläche, dass etwas herausschwappte.

Das Mädchen ging zum Kühlschrank und nahm eine Flasche Cola heraus, aus der sie sich ein großes Glas einschenkte.

»Nennst du das Frühstück?«, sagte Gunnar und starrte sie an. Sie trank das Glas in einem Zug aus und goss sich nach. »Hör auf.« Gunnar nahm ihr die Flasche weg.

»Aber Bier zum Frühstück ist in Ordnung, oder?« Katta sah ihn trotzig an. »Weißt du überhaupt, wie du aussiehst? Wie ein abgestandenes Bier.«

Und wie siehst du aus?, dachte Gunnar und warf ihr einen aufgebrachten Blick zu. Schwarzer Kajal unter den Augen, ausrasierte Lücken in den Augenbrauen. Außerdem zog sie sich wie ein kleines Luder an. Als Kind war das Mädchen so süß gewesen, und jetzt hatte sie alles kaputtgemacht. Tätowierungen auf beiden Armen, schwänzte dauernd die Schule. Aber sie war nicht dumm, hatte immer mühelos gute Noten bekommen. Erst nach Kerstins Tod war alles den Bach runtergegangen. Sollte wohl rebellisch wirken oder was auch immer. Warum war Kerstin nur gestorben und hatte ihn mit dem ganzen Mist allein zurückgelassen?

Kattas Handy piepste. Sie zog es aus der Tasche und ging aus der Küche. Gunnar folgte ihr, nahm ihr das Telefon aus der Hand und las die Nachricht.

Habe mich darum gekümmert. Uffe.

Katta riss das Handy wieder an sich.

»Finger weg«, sagte sie.

»Wer ist Uffe?«, fragte Gunnar. »Und was ist erledigt?«

»Das geht dich nichts an.«

»Warum bist du so frech? Ich habe es verdammt noch mal satt …«

Joel trommelte mit den Fingern gegen seine Schläfen. »Papa hat es satt, Papa hat es satt. Hat uns satt, hat uns satt.«

Katta stellte sich demonstrativ neben ihren Bruder. »Und wir haben dich satt, Papa«, sagte sie.

»Halt den Mund!«, brüllte Gunnar.

»Halt doch selbst den Mund.« Katta zeigte ihm den Mittelfinger und rannte die Treppe hinauf. Ihre Zimmertür fiel mit einem Knall ins Schloss.

»Wann bekomme ich ein neues Handy?«, fragte Joel.

»Hör auf zu quengeln. Du weißt, was ich gesagt habe. Wir haben kein Geld.«

»Aber Katta hat doch …«, begann Joel.

»Ja, weiß der Teufel, wo sie es her hat. Ich habe es ihr nicht gekauft.«

Gunnar seufzte und zog eine Schublade auf. Kein Snus. Verdammt.

»Können wir heute zum Angeln fahren?«, fragte Joel.

»Nicht jetzt. Später vielleicht. Ich habe keinen Tabak mehr. Fahr mit dem Mofa runter zum Laden.«

»Aber ich will angeln.«

»Hörst du, was ich sage? Das geht jetzt nicht. Später.« Gunnar fasste sich an den Kopf.

»Versprichst du es?« Joel blinzelte schnell und schnipste leicht mit den Fingern.

»Vielleicht. Wir werden sehen«, sagte Gunnar, auch wenn er wusste, dass das als Antwort nicht reichte.

Der Junge wurde still. Dann ging es los. Ringfinger, Zeigefinger, kleiner Finger, Daumen. Fingerwalzer nannte Gunnar es. So fing es immer an.

Joel stand auf, stieß gegen den Tisch, kam auf ihn zu. Gunnar spannte sich an, wusste, was gleich passieren würde. Zuerst ein Tritt gegen das Bein. Dann eine Faust in die Seite. Dann noch ein Schlag, schneller, fester.

Gunnar hielt den Arm schützend vor die Augen, als die harten Fäuste seines Sohnes auf ihn einschlugen, seine Brust, das Gesicht, den Kopf.

Irgendetwas stimmte nicht mit dem Jungen. Ohne Vorwarnung konnte er furchtbar böse werden. Mit zehn war Joel bereits so groß und so stark gewesen, dass seine Wutanfälle gefährlich waren. Einmal hatte er seine Mutter so fest gestoßen, dass sie gestürzt war und sich dabei das Schlüsselbein gebrochen hatte.

»Na gut«, sagte Gunnar nach einer Weile, auch wenn er wusste, dass es falsch war. »Wir gehen angeln. Aber du musst mir zuerst noch Snus kaufen.«

Annie bog auf den Parkplatz bei der Kirche ein, der leer war bis auf einen kleinen Traktor, der den Weg bis zur Friedhofskapelle räumte.

Sie nahm die Tüte mit den Blumentöpfen und ging rasch auf den Eingang des Friedhofs zu. Eine hohe, dichte Hecke umgab die Gräber, und leichter Nebel lag noch über den Feldern, die sich bis zum Wald erstreckten.

Auf dem Weg zum Grab ihres Vaters kam sie an Kerstin Edholms Grabstein vorbei. Die nette Frau ihres Nachbarn Gunnar, die auf dem inzwischen geschlossenen Postamt von Lockne gearbeitet hatte. Immer freundlich war sie gewesen, immer hilfsbereit. Geduldig. Genau wie Papa. Warum mussten die Besten immer zuerst gehen?

Åkes Grabstein war halb unter dem Schnee begraben. Annie ging in die Hocke und strich mit dem Handschuh über die Inschrift.

Åke Bergsten 1949–2000.

»Hallo, Papa«, sagte sie leise. »Ich bin jetzt da.«

Sie hatten ihn im Garten gefunden, inmitten seiner geliebten Rosen. Er hatte auf dem Rücken gelegen und nach oben in den blauen Himmel geblickt. Auch wenn schon so viele Jahre vergangen waren, konnte Annie immer noch nicht an den Tag denken, ohne dass ihre Kehle eng wurde. Plötzlich war ihr Vater nicht mehr da gewesen, mit gerade mal einundfünfzig Jahren.