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Wie gut kennen wir den, den wir am meisten lieben?
Eine kalte Winternacht in Stockholm. Eine junge Frau auf dem Nachhauseweg durch einen menschenleeren Park. Plötzlich Schritte, die immer näher kommen. Gerade als sie sich verloren glaubt, fällt ein Schuss, ihr Verfolger stürzt zu Boden und bleibt tödlich verwundet liegen. Fünf Jahre später findet die Psychotherapeutin Siri Bergman in alten Kisten ihres ersten Mannes Stefan eine merkwürdige Notiz, die auf genau diesen Mord hinweist. Gibt es etwa einen Zusammenhang zwischen dieser grauenhaften Tat und Stefans Entscheidung, sich nur wenige Wochen danach das Leben zu nehmen? Der Gedanke lässt Siri nicht mehr los, sie fragt sich, ob sie ihren Mann jemals gekannt hat ...
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Seitenzahl: 508
Camilla Grebe · Åsa Träff
Bevor du stirbst
Kriminalroman
Aus dem Schwedischen von Gabriele Haefs
Die schwedische Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel Innan du dog bei Walström & Widstrand, Stockholm.
1. Auflage
Copyright © 2012 by Camilla Grebe & Åsa Träff
First published by Walström & Widstrand, Sweden
Published by arrangement with Nordin Agency, Sweden
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013 by btb Verlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-09577-2
www.btb-verlag.de
www.facebook.com/btbverlag
Für Andreas
Stockholm 2005
Sie war eine Seifenblase, die durch den Park schwebte, schwerelos, ein Blatt im Wind. Die Nacht hatte schwarze Kristalle im Haar, und die Sterne stürzten ihr entgegen von allen Himmeln, die sich im Universum drängten, und von denen, die weiter entfernt waren, dort, wo Zeit und Raum ein Ende nehmen und nur noch ein vibrierendes schwarzes Vakuum bleibt.
Der Boden um sie herum war von einer dicken Schicht aus funkelndem weißem Schnee bedeckt. In einiger Entfernung ragte die Kirche auf, wie er gesagt hatte. Spitze Türme zeichneten sich vor dem Himmel ab, als wären riesige Zähne aus dem gefrorenen Boden gewachsen. Und hinter der Kirche lagen der Karlaplan und die U-Bahn, die sie zu ihren Eltern nach Farsta bringen würde.
Obwohl sie nicht mehr Anna war, ein ziemlich trauriges und pickliges Mädchen aus dem Vorort, sondern ein schönes und schwereloses Wesen, das sich mit irdischen Problemen nicht zu befassen brauchte, drangen die Ereignisse des Abends durch die feste Hülle der Seifenblase. Die Wohnung, in der es kein Licht gegeben hatte. Robban und der schwarze Typ ohne Namen, der auf dem einsamen Sofa mitten im Raum ununterbrochen geraucht und gequasselt hatte. Die Katze, die auf der Fensterbank gesessen hatte, beängstigend mager, zusammengekrümmt, die Ohren zurückgelegt, bereit zum Sprung, falls sich etwas Bedrohliches näherte. Und dann natürlich Marko.
Marko, der so weiche Haut hatte, obwohl er älter war als ihr Vater. Marko, der die schönsten Augen hatte, die sie je gesehen hatte. Augen, die sie immer wieder mit einer Mischung aus Zärtlichkeit und Lust betrachteten. Er war nie mehr als einen Meter von ihr entfernt. Seine Hand schien sie immer zu berühren, ihre Schulter, ihren Arm oder ihren Oberschenkel. Manchmal packte sie zu, massierte so fest, dass ihr die Tränen in die Augen traten. Manchmal ruhte sie leicht wie ein Grashalm auf ihr.
Aber sie war immer da.
Sie fröstelte.
Sie hörte aus der Ferne ein Motorendröhnen, das immer lauter wurde. Sie stellte fest, dass sie dieses Geräusch sogar sehen konnte, dass es Farbe und Form besaß. Schwarz, pelzig, mit scharfen Zacken. Eine rotierende düstere Wolke, die wuchs und schrumpfte und tausende scharfe Stahlklingen enthielt.
Was hatten sie an diesem Abend eingeworfen?
Einen chemischen Cocktail, wie er das nannte. Irgendwas wie Acid jedenfalls, das war ihr immerhin klar. Aber obwohl sie noch immer high war, dachte sie klarer als je zuvor in ihrer Erinnerung. Sie verstand das Dasein, fühlte eine Zusammengehörigkeit mit jeder noch so kleinen Schneeflocke und jedem Stein im Park, konnte hören, wie Bäume und Büsche und Steine ihr zuflüsterten und sie riefen.
Die Straßenlaterne auf ihrer rechten Seite flackerte und erlosch mit ausgiebigem Zischen. Sie wusste, dass es kalt war, spürte die Kälte aber nicht. Sah nur überrascht die bläuliche Gänsehaut auf ihren mageren Handgelenken an, die wie Stöckchen aus der dünnen Kapuzenjacke hervorragten.
Vor ihr zog sich die gefrorene Straße dahin, an der ein teures Auto neben dem anderen stand. Auf der anderen Straßenseite hatte die Kirche plötzlich und unerklärlicherweise gewaltige Proportionen angenommen, war zu einer himmelstrebenden Kathedrale angewachsen, wurde mit jeder Sekunde größer. Langsam schwebte sie weiter, merkte, dass sie ihre Richtung ein wenig änderte, wenn der Wind sie erfasste.
Eine Seifenblase, dachte sie, ich bin eine Seifenblase. Schön, aber verdammt leer. Bei diesem Gedanken musste sie lachen, und sie hörte plötzlich ein Kichern. Erst Sekunden später begriff sie, dass dieses Kichern von ihr stammte.
Von irgendwoher hörte sie das Brummen wieder, und es wurde lauter. Vor sich ahnte sie abermals die schwarze Wolke mit den rotierenden Sägeblättern. Ich könnte sie anfassen, dachte sie, aber sie ist scharf. Ich könnte mich verletzen, mich blutig schneiden, meine Handflächen zu Hackfleisch zerfetzen.
Die Wolke wurde größer. Anna blieb stehen und schaute sich um. Die Welt schien zu einem schimmernden Dunst zu verschwimmen. Und weiter entfernt: zwei Lichtpunkte, die immer größer wurden, die zu riesigen Scheinwerfern wurden, zu Sonnen, gigantischen Supernovas, bereit, zu explodieren und ihr Magma über die Erde zu speien.
Langsam begriff sie, dass die Sonnen die Scheinwerfer eines Autos waren, das sich in hohem Tempo näherte. Obwohl sie wusste, dass sie ausweichen müsste, konnte sie sich nicht rühren. In dem Moment, als das Auto sie mit voller Wucht zu treffen drohte, hob sie ein Windstoß behutsam auf und trug sie sanft zur anderen Straßenseite in Sicherheit.
Kann ich platzen?, überlegte sie. Wenn mich jemand anfasst, zusticht, werde ich mich dann in einen grünen Spülmittelfleck im Schnee verwandeln?
Langsam und ohne sich umzusehen, ging sie weiter. Ihre Füße erreichten plötzlich den Boden, und zum ersten Mal spürte sie die Kälte an ihren Knöcheln. Der chemische Cocktail verließ jetzt ihren Körper. Bald würde es nur noch Leere geben, den Hunger nach mehr und eine bohrende Angst.
Sie bog auf den Fußweg ab, der zur Kirche führte, in den dunkelsten Teil des Parks. Große Bäume umgaben sie, die Wipfel verbargen den sternenklaren Himmel, bildeten ein riesiges, geflochtenes organisches Dach. Es war sehr kalt, und die Kälte kam ihr plötzlich so kompakt und undurchdringlich vor wie eine Betonmauer. Ihre Beine meldeten sich, dazu ein schwaches Ziehen im Unterleib und ein klebriges Gefühl zwischen den Beinen.
Niemandem etwas sagen, hatte er gemahnt. Du bist nicht »legal«. Sie hatte laut gelacht, über seine Wortwahl und über den Inhalt seiner Worte, über diesen absurden Kommentar. Sie war doch immerhin fast fünfzehn. Kein Kind mehr. Robban und der Kanacke hatten ebenfalls gelacht. Laut und dämlich und ohne irgendetwas zu begreifen, sie waren eben Idioten. Marko hatte sie angeschrien, sie sollten die Fresse halten, und noch immer hatte sein Arm beschützend um ihre Schultern gelegen.
In dem Moment, in dem sie die massive Klinkerfassade erreicht hatte, hörte sie es. Es war ein ganz anderes Geräusch. Es hatte ebenfalls Farbe und Form, war grau, trocken, rund. Wie eine zusammengeknüllte kleine Papierkugel, nicht größer als ein Apfel, bewegte es sich vor ihrem Gesicht. Ein Tier? Sie streckte in der Dunkelheit vorsichtig die Hand aus, berührte die graue Kugel, die sich augenblicklich in feinen Staub verwandelte, der vom schwachen Wind davongetragen wurde.
Sie drehte sich dem Gebüsch neben der Kirche zu, aber sie sah nur Dunkelheit und den riesigen Lichtkegel einer entfernten Straßenlaterne, die ein bleiches Licht über den Schnee warf. Dann ein neues Geräusch, ein scharfes, knackendes Geräusch. Abermals starrte sie in die Dunkelheit. Ihre Beine schmerzten vor Kälte, und sie hatte jegliches Gefühl in den Füßen verloren. Sie konnte außerhalb des Lichtkreises, den die Straßenlaterne auf den gefrorenen Boden malte, nichts sehen, aber deutlich konnte sie jetzt Schritte hören, sah sie auch. Kompakte graublaue Würfel aus Klang, die wie Schwalben flogen, hintereinander durch die Nacht. Sie näherten sich ihr von hinten. Wie weit war es noch bis zur U-Bahn? Hundert Meter?
Zum ersten Mal verspürte sie etwas, das an Angst erinnerte, die Angst drängte sich durch alle Schichten aus Eindrücken und Empfindungen und Farben und erinnerte sie daran, dass sie sich allein in einem Park befand, den sie nie zuvor betreten hatte. Sie vermutete, dass sie eine leichte Beute wäre, dass ihr Zustand sie in Gefahr brachte, dieser Gedanke war trotz des Rausches vorhanden. Und zum ersten Mal seit langer Zeit sehnte sie sich nach ihren Eltern in Farsta. Nach der Geborgenheit und Vorhersagbarkeit in dem grauen Reihenhaus. Nach dem ewigen Geplapper des Fernsehers im Hintergrund und dem Geruch von Bratkartoffeln und Zigarettenrauch. Sogar nach dem erstickend süßlichen Gestank aus dem Zimmer ihres Vaters, wenn die Frau vom Heimpflegedienst seine entzündeten Wunden neu verband.
Die Kälte zerrte an ihren Armen, und unfreiwillig schüttelte sie sich. Das hier war das Schlimmste – wenn der Rausch abnahm. Wenn der Körper wieder über die Seele gestülpt wurde wie ein Overall und sie nur dastehen und sich anziehen lassen konnte wie eine kleine Rotzgöre.
Als sie die Parkbänke und den Papierkorb erreichte, die die Mitte des kleinen Parks markierten, hörte sie die Schritte wieder. Diesmal waren sie genau hinter ihr, und sie konnte das Geräusch nicht mehr sehen, hörte es nur.
Langsam und mit großer Mühe drehte sie sich um und sah eine riesige Männergestalt, die im Licht der Straßenlaterne aufragte. Der Mann ging vornübergebeugt mit langen, eiligen Schritten. In seiner Hand funkelte ein länglicher Gegenstand, sie wusste nicht, was, aber es ähnelte einem Messer.
Schicht um Schicht ließ der Rausch sie los, wie dann, wenn man eine Zwiebel schält, und ihr kam eine Erkenntnis: Sie wurde in einem dunklen Park von einem Mann verfolgt. Es war Nacht. Sie war allein und noch immer zugedröhnt. Und er hatte ein Messer.
Sie wollte schneller gehen, aber ihre Beine gehorchten nicht, es war, wie durch Sirup zu stapfen. Sie merkte, wie ihre Frustration wuchs. Es spielte keine Rolle, wie sehr sie sich abmühte. Ihre Beine waren wie ungehorsame Holzstöcke, die immer wieder im Schnee stecken blieben. Jeder Schritt verlangte eine gewaltige Willensanstrengung. Die Angst verbreitete sich rasch in ihrem Körper, explodierte im Magen, pflanzte sich durch die Glieder fort und verwandelte sich endlich in ein dumpfes Pochen in Armen und Beinen.
Er hatte sie jetzt fast eingeholt.
Tausend Gedanken erfüllten ihr Bewusstsein. Bilder aus Nachrichtenreportagen über Überfallopfer, ermordete und vergewaltigte Frauen. Trauernde Angehörige. Eltern, die vor einem mit roten Rosen bedeckten Sarg weinten. Wenn ich sterbe, dachte sie, werde ich ihnen dann fehlen? Wird Robin mein Zimmer bekommen, meine Anlage, meinen Fernseher? Wird Marko eine andere finden, an der er sich festhalten kann?
Plötzlich waren ihre Beine keine starren Stöcke mehr. Doch sie schienen alle Lenkbarkeit und Stabilität eingebüßt zu haben, krümmten sich unter ihrem Gewicht nach vorn und nach hinten, als wären sie aus Gummi. Sie schaute nach unten. Statt ihrer mit Jeans bekleideten Beine ragte unter der Kapuzenjacke etwas hervor, das ungeheure Ähnlichkeit mit zwei riesigen rosa Himbeerbonbons hatte. Die Himbeerbonbons gaben unter ihrem Gewicht nach, machten es ihr fast unmöglich, das Gleichgewicht zu halten.
Aus dem Augenwinkel sah sie, wie der Mann von der Seite her näher kam. Und obwohl sie im Grunde wusste, dass sie halluzinierte, fuhr sie zusammen. Der Mann war unnatürlich groß, erinnerte an eine Gestalt aus einem Horrorfilm. Er war ein Riese, er war der Hulk, er war der Turnlehrer aus der Grundschule. Er war alle Ungeheuer, die sie je gesehen hatte, und er kam geradewegs auf sie zu. In der Hand hielt er etwas, das aussah wie ein riesiges Samuraischwert. Es funkelte im Licht der Straßenlaterne.
Sie wollte auf die Laterne am Ende des Parks zu rennen, aber die Himbeerbonbons gehorchten nicht, wackelten unter ihr. Tränen traten ihr in die Augen, ihre Ohren rauschten, ihr Bauch tat weh. Sie verspürte eine plötzliche Übelkeit und meinte, kotzen zu müssen, aber es kam nichts, als sie sich vorbeugte und würgte.
Als sie schon glaubte, der Mann habe sie eingeholt, sah sie eine weitere Gestalt, die sich aus den Schatten bei den Sträuchern löste. Ein Mann in Parka, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Eine Sekunde lang spielte sie mit dem Gedanken, seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, um Hilfe zu rufen, aber als sie den Mund zu öffnen versuchte, passierte gar nichts. Stattdessen knickten die Himbeerbonbons unter ihr zusammen, und sie fiel hilflos auf die Parkbank. Sie stützte sich mit den Händen ab. Die glitten durch die dicke Schneeschicht, bis sie endlich auf den gefrorenen Boden stießen. Mit den letzten Kräften, die sie aufbringen konnte, kroch sie auf das Gestrüpp zu, um dort Schutz zu suchen.
Nur wenige Sekunden darauf hatte der Mann mit dem Schwert die Parkbank erreicht. Er schien um einiges geschrumpft zu sein, und das Schwert – das jetzt nicht mehr aussah wie ein Schwert – ragte aus einer kleinen roten Tüte hervor, die er in der linken Hand trug. Dann hatte der Typ im Parka ihn eingeholt, legte ihm die Hand auf die Schulter, rief etwas. Sie krümmte sich im Schnee zusammen, versuchte sich in eine winzige unsichtbare Kugel zu verwandeln.
Wenn einer der Männer sie gesehen hatte, so schien doch keiner auf ihre Anwesenheit zu achten. Vielleicht wurde sie von den verschneiten Zweigen versteckt. Vielleicht waren die Männer zu sehr mit ihrer eigenen Auseinandersetzung beschäftigt. Vielleicht war sie wirklich unsichtbar für die beiden, wie eine echte Seifenblase, die in dieser Nacht durch den Park schwebte.
Sie registrierte Bruchstücke eines erregten Wortwechsels, dann versetzte der Mann aus dem Gebüsch dem Samurai mit einem schwarzen Gegenstand, den er in der Hand hielt, einen harten Schlag über die Wange. Der Samurai fiel langsam und lautlos um, wie ein im Wald gefällter Baum, und blieb nur wenige Meter von ihr entfernt liegen. Der Mann im Parka stieß ihn mit dem Fuß an, als suche er im Müll nach etwas, das er soeben verloren hatte.
Eine Sekunde darauf fiel der ohrenbetäubende Schuss. Die Kraft dieses Geräuschs war so ungeheuer, presste sie auf den Boden, drohte ihr Trommelfell in Fetzen zu zerreißen.
Der Mann im Parka beugte sich über den Körper im Schnee und sagte etwas.
Dann war er verschwunden, und abermals war alles still.
Sie blinzelte einige Male, schaute den Mann im Schnee an, sah genau in seine Augen. Die waren so leer und schwarz wie die Februarnacht. Langsam begriff sie, dass sie ihren Verfolger ansah. Den Riesen. Den Hulk. Der jetzt nur noch ein ganz normaler Spießer in Anzug und Wintermantel war. Ein ganz normaler toter Spießer in Anzug und Wintermantel. Um seinen Leichnam wurde die Blutlache im Schnee immer größer. Sie dampfte ein wenig.
In der Hand hielt der Mann eine rote Plastiktüte mit dem Aufdruck »BR-Spielwaren«. Ein Hello Kitty-Malbuch war in den Schnee gefallen, und ein länglicher, blanker Gegenstand ragte aus der Tüte.
Es war kein Schwert. Es war kein Messer.
Es war ein großes buntes Plastiklineal.
Stockholm 2010 – fünf Jahre später
Die Küche ist groß. Sicher fünfundzwanzig Quadratmeter. So groß wie meine alte Studentenbude in Lappkärrsberget. Im Zimmer gibt es eine geräumige Kücheninsel mit einem riesigen Gasherd, einen Tisch aus Birkenholz mit Platz für mindestens acht Personen und einen großen alten Schrank, den angeblich Markus’ Urgroßvater gezimmert hat. Vor dem Fenster fällt der Schnee, und im offenen Kamin prasselt ein Feuer. Es ist idyllisch, fast unwirklich, und unter dem Tisch drücke ich Markus’ warme Hand.
Wir sind zu Besuch bei Göran und Eva, seinen Eltern, meinen Schwiegereltern. Hoch oben in Nordschweden, in der Nähe von Kalix. Wir wollen hier ein langes Wochenende verbringen, um Markus’ Geburtstag zu feiern und damit Göran und Eva ihr Enkelkind sehen können.
Vom Herd her duftet es nach Knoblauch und Kräutern, und Göran rührt ab und zu im Topf mit der Pilzsoße, damit die nicht anbrennt. Eva schenkt für sich und Markus Wein in überdimensionale Weingläser ein. Ich trinke Mineralwasser mit Zitrone. Erik sitzt neben mir und zeichnet auf einem Block.
»Das bist du, Mama.« Er zeigt auf einen Kreis mit lachendem Mund und Punkten als Augen. Krakelstriche stellen Arme und Beine dar. Ich streichele seine seidenweichen hellen Haare und spüre seinen kleinen Körper an meinem.
»Wie schön. Das bin ich?«
Ich fühle, wie die Wärme sich in meinem Körper verbreitet. Mein Sohn sieht mich als frohe Mama. Als eine, die lacht. Er nimmt die Freude selbstverständlich hin, und das macht mich dankbar.
»Aber wo ist denn Papa?« Markus macht ein besorgtes Gesicht, und Erik kichert.
»Du darfst nicht dabei sein, Papa. Das ist Mama. Das ist Mama, nur Mama.« Er schaut mich an und lacht, und dabei sind alle seine kleinen, perfekten Zähne zu sehen. Dann nimmt er den Buntstift und zeichnet auf einem blauen Blatt einen weiteren Kreis.
»Papa, das bist du!« Er malt weiter Kreise, und jetzt sind auch Oma und Opa dabei.
»Und hier ist Ludde!«
Er zeigt auf einen kleinen Kringel, der offenbar den schwarzen Labrador zu meinen Füßen darstellen soll. Eva und Göran haben innegehalten und verfolgen mit großem Interesse die Bewegungen, die ihr Enkel mit dem Buntstift macht.
Ich habe mich nur selten irgendwo so willkommen gefühlt wie in dieser großen Küche in dem norrländischen Dorf. Ich sehe Markus an, dass er sich hier wohlfühlt. Sein Gesicht ist entspannt, und die feinen kleinen Runzeln um seine Augen haben sich geglättet. Hier, zu Hause bei seinen Eltern, findet er Platz zum Atmen und Wärme.
Lange habe ich die enge Beziehung zu seinen Eltern nicht verstanden, fühlte mich davon fast provoziert. Ich habe Markus kritisiert, behauptet, er habe sich nicht abgenabelt, aber bei unserem ersten Besuch hier oben in Kalix habe ich eingesehen, dass die Wärme zwischen ihm und seinen Eltern echt ist. Und Eva und Göran haben nie gezögert, mich in die Familie aufzunehmen. Obwohl ich zehn Jahre älter bin als Markus, gab es keine Zweifel und keine Einwände. Ich war Markus’ Freundin und dazu die Mutter ihres Enkelkindes. Vom ersten Moment an wurde ich in die Gemeinschaft einbezogen. Ein seltsames Gefühl. Meine eigene Familie ist im Vergleich dazu distanziert und abwesend. Meine Eltern freuen sich natürlich über Erik, aber er ist ihr sechstes Enkelkind, und der Reiz des Neuen ist verflogen. Außerdem haben sie mit ihrem eigenen Leben genug zu tun. Obwohl sie jetzt in Pension sind, sind sie fast immer unterwegs. Spielen Golf auf Mallorca, wandern in der Provence, segeln in der Ägäis oder basteln an ihrer roten Kate bei Nyköping herum. Meistens sind sie mit ihrem eigenen Leben beschäftigt. Eva und Göran dagegen kümmern sich um Erik und pendeln zwischen den Flughäfen Kalix und Arlanda hin und her, um Erik sehen zu können.
»Na, dann prost und herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Markus.« Eva hebt ihr Glas, Göran schiebt den Kochtopf zur Seite und greift nach seinem Weinglas. Ich nehme mein Wasser und drücke Markus noch einmal die Hand. Unsere Blicke begegnen sich, und ich sehe das Funkeln in seinen Augen. Glück. Erwartung.
Nach dem Essen werden Göran und Eva auf Erik aufpassen, während wir uns in Kalix mit Markus’ alten Freunden treffen. Noch vor wenigen Jahren wäre mir die Vorstellung, im nördlichsten Schweden in einer Hotelbar zu stehen und mit einer Bande von zehn Jahre jüngeren Hockeyspielern und ihren Freundinnen zu reden, unangenehm gewesen. Aber als meine Beziehung zu Markus stärker wurde, habe auch ich mich verändert. Was mir früher provinziell und banal vorkam, wirkt nun echt und wertvoll.
Göran stimmt mit seinem schönen, im Kirchenchor geschulten Bariton »Hoch soll er leben« an, und wir anderen singen mit. Erik mustert uns aus großen Augen, verwirrt, weil die Erwachsenen sich plötzlich aufführen, als säßen sie bei der Sammelstunde im Kindergarten, dann singt er aber ebenfalls. Papa hat Geburtstag, und das muss natürlich gefeiert werden. Erik wickelt sein schönstes Auto in Zeichenpapier und überreicht es Markus. Nach zwei Minuten holt er es sich zwar zurück, aber die Geste kam von Herzen.
Als das Lied verklungen ist, serviert Göran Lammfilet mit Rosmarinkartoffeln und Eva schenkt Wein nach.
»Also, Papa und ich haben eine Überraschung.« Eva lächelt und fährt sich mit der Hand durch die kurzgeschnittenen roten Haare.
Markus und ich wechseln einen Blick und zucken kurz mit den Schultern. Ich habe keine Ahnung, was seine Eltern da vorhaben. Göran nickt und redet weiter.
»Wir wissen ja, dass ihr im Sommer gern hochkommt.« Markus nickt auch, und ich murmele eine Bestätigung, während ich zugleich versuche, Erik, der lieber weiter zeichnen will, zum Essen zu bewegen.
»Und da haben wir gedacht, dass … ja, dass es für euch vielleicht nett sein könnte, eine eigene Bleibe zu haben.«
Eva schaut uns wieder an, als ob sie versuchte, unsere Mienen zu lesen. Ich ahne jetzt, wovon sie redet. Eva und Göran haben ein Ferienhaus im Schärengürtel vor Kalix, ein schönes Holzhaus mit Blick aufs Meer. Das Grundstück ist seit Generationen im Besitz der Familie. In Stockholm wäre es ein Vermögen wert, hier im Norden sind die Preise noch erschwinglich.
»Wir haben euch ein Stück von Hammerskär überschrieben. Wir dachten, ihr könntet euch selbst etwas bauen, wenn ihr Lust habt. Und ja, Erik muss doch auch im Sommer herkommen können. Er ist zwar Stockholmer, aber in ihm steckt schließlich auch ein kleiner Norrländer.«
Göran lacht strahlend, und Eva schaut uns erwartungsvoll an. Ich blicke zu Markus hinüber, sehe sein Lächeln. Ich weiß, welches Heimweh er immer hat, nach Norrland und dem Ferienhaus. Es ist ein wunderschönes Geschenk. Eva wendet sich mir zu, schiebt die Brille höher.
»Siri, ich weiß, dass du es vielleicht öde findest, den ganzen Sommer hier oben zu verbringen, und so ist das auch nicht gemeint. Wir wollten euch nur die Möglichkeit geben. Ihr kommt so oft oder so selten her, wie ihr wollt. Und auf diese Weise habt ihr dann eine eigene Bleibe, wo ihr allein sein könnt, statt immer bei den Schwiegereltern herumhängen zu müssen.« Sie sieht fast flehend aus, als sollte ich das Geschenk gutheißen. Ich schüttele nur den Kopf und lache. Erik legt seinen Buntstift weg und schaut mich fragend an.
»Warum lachst du, Mama?« Sein Gesichtchen ist verwirrt, und er blickt mich aus strahlend blauen Augen an. Markus’ Augen.
»Ich lache, weil ich so froh bin.«
Meine Antwort kommt selbstverständlich und rasch. Markus dreht sich zu mir, beugt sich über Erik und küsst mich auf den Mund. Dann steht er auf und umarmt seine Eltern.
»Mama und Papa geben sich einen Kuss.«
Und er lacht vor Freude.
Der Himmel ist schwarz, aber von Millionen von Sternen beleuchtet. Wir fahren über eine kleine, nicht geräumte Straße. Orange Stöcke kennzeichnen den Straßenrand. Draußen ist es fast zwanzig Grad unter null, aber die Heizung im Wagen läuft, und warme Luft strömt aus dem Ventilator. Ich fahre, konzentriert auf die schmale Straße, und versuche zugleich, den Wald auf beiden Seiten im Auge zu behalten. Das Fernlicht trifft auf verschneite Bäume, und ich rechne damit, dass zwischen den hohen Bäumen jederzeit ein Elch auftauchen kann.
Markus ist beschwipst. Er lässt sich auf seinem Sitz zurücksinken und nickt immer wieder ein, singt aber mit der Musik, die leise aus dem Radio kommt.
»Hattest du einen netten Abend?«
Für einen Moment löse ich meinen Blick von der trügerisch glatten Fahrbahn und sehe, dass Markus mich fragend anschaut. Ich überlege ein wenig. Einige Stunden lang standen wir in einer Bar, und einige Male bin ich mit Robin, einem alten Kumpel von Markus, zum Rauchen nach draußen gegangen.
Ich trinke nicht mehr. Nachdem mein erster Mann, Stefan, ums Leben gekommen war – wie alle zuerst dachten, durch einen Unfall beim Tauchen, doch aller Wahrscheinlichkeit nach war es Selbstmord –, habe ich viel zu viel getrunken. Ein Glas Rotwein wurde zur Flasche. Leere Weinkartons drängten sich unter meinem Spülbecken. Ich brauchte lange, um zu akzeptieren, dass ich mit Alkohol nicht umgehen konnte, dass mein Trinken eine Sucht war. Aber als ich dann Erik erwartete, war es plötzlich ganz einfach. Kein Alkohol. Es hat mir nicht einmal gefehlt.
Schwerer schon waren die Reaktionen meiner Umgebung. Fragende, fast beleidigte Kommentare, weil ich nicht am kollektiven, rituellen Trinken teilnehmen wollte. Wohlmeinende Fragen, ob ich etwas zu erzählen hätte? Neugierige Blicke auf meinen Bauch. Jetzt ist mir das egal. Natürlich fragen auch Markus’ Freunde, aber ich sage einfach, dass Alkohol und ich nicht zueinander passen. Abgesehen von den Fragen, die es immer bei einem Abend in der Bar gibt, war es wirklich nett. Markus’ Freunde sind nett.
Die Gesprächsthemen sind anders als die, die bei meinen Essen mit Aina oder Vijay, meinen engsten Freunden, meistens dominieren, aber auf irgendeine Weise ist das seltsam befreiend. Klatsch über alte Kumpels und das Neueste aus dem Ort wechselt mit der ersten Liga im Eishockey, der Arbeit bei der Gemeinde oder dem neuen Schneemobil. Man will mehr über Markus’ Arbeit als Polizist hören und fragt, ob wir herziehen werden. Den einen oder anderen Scherz über meinen Beruf muss ich ebenfalls hinnehmen: Kann ich Gedanken lesen, als Psychologin? Verwende ich alles, was andere sagen, gegen sie, und sind nicht alle Psychologen ein wenig verrückt? Ich antworte auf all diese Fragen mit ja, sage, dass ich die verrückteste von allen bin, und meistens reicht das für einen Themenwechsel.
Ab und zu merke ich, dass ich älter bin, dass ich nicht alle Sprüche und Anspielungen von Markus und seinen Freunden verstehe. Zehn Jahre Altersunterschied machen sich natürlich bemerkbar. Und es bleibt das Wissen, dass ich keine von ihnen bin. Dass ich eine hoffnungslose Stockholmerin bin. Aber trotzdem fühle ich mich in ihrer Gesellschaft wohl. Mir gefallen die fröhliche, anspruchslose Stimmung und die Tatsache, dass Markus sich gut unterhält, dass er ruhig und entspannt ist. Ich fühle mich gemocht und akzeptiert. Außerdem ist es schön, für eine Weile mit Markus zusammen zu sein und Babysitter zu haben. Ich liebe Erik über alles, aber ab und zu fehlt mir die Möglichkeit, mit meinem Lebensgefährten über etwas anders sprechen zu können als Kitatermine, Schnupfen und Topftraining.
»Doch, das war lustig. Robin ist super, und es war nett von ihm, mir Zigaretten zu spendieren.«
Ich will Markus aufziehen, es passt ihm nicht, dass ich rauche. Aber er lacht nur.
»Fahr da vorne nach rechts.« Er zeigt auf das Fenster, und ich sehe, dass der Wald sich lichtet und sich vor dem jetzt gefrorenen Meer eine verschneite Ebene öffnet. Wir werden den freigeräumten Eisweg fahren, der zwischen zwei Landzungen entlangführt und die restliche Wegstrecke um zwanzig Minuten verkürzt.
»Und du? Hat es dir gefallen?«
Er schweigt eine Weile, denkt über die Frage nach.
»Es ist immer lustig herzukommen. Und meine Eltern und meine Freunde zu treffen. Ich bin hier doch aufgewachsen. Aber jetzt bin ich in Stockholm zu Hause. Da habe ich dich und Erik. Und meine Arbeit. Da sind wir verwurzelt, und ich möchte wirklich nicht mehr herziehen.«
Plötzlich reißt er an der Handbremse, der Wagen gerät ins Schlingern, zieht eine scharfe Kurve, drehte sich auf der Eisbahn. Zuerst habe ich Angst, dann höre ich Markus lachen. Die Straße ist leer und fast dreißig Meter breit, es ist mehr Platz geräumt worden, als nötig wäre.
»Was soll das denn? Was machst du da?«
»Entschuldige, Siri.« Markus lacht wieder, und mir geht auf, dass er beschwipster ist, als ich angenommen habe. Er nimmt meine Hand und drückt sie fest.
»Die Straße ist leer, ich habe vorher nachgesehen, glaub mir. Und du bist ganz langsam gefahren, es bestand also keine Gefahr. Wir haben so was gemacht, als wir jünger waren. Wettfahrten auf dem Eis.« Wieder lacht er, und ich mustere ihn, die blonden Haare und die blasse Haut. Die schönen blauen Augen. Er beugt sich vor und küsst mich, und ich merke, wie mein Ärger verfliegt.
»Komm, Siri.« Er öffnet den Sicherheitsgurt und die Autotür. Ich wüsste gern, was er vorhat, gehe aber hinterher. Draußen auf dem Eis ist alles stumm und still. Kein Auto ist zu hören. Überhaupt kein Geräusch. Nur ich und Markus. Die Kälte beißt mir in die Wangen, und unser Atem verpufft zu weißen Wolken. Ich sinke in seine Arme. Lehne den Kopf an seine Schulter, höre seine ruhigen Atemzüge und nehme den Biergeruch wahr.
Er drückt mich an sich, flüstert mir ins Ohr.
»Siri, geliebte Siri.«
Ich streiche ihm die Haare aus der Stirn und küsse seinen Hals.
»Ich liebe dich, Markus.« Das flüstere ich gegen seine Schulter und spüre, wie er mich fester an sich drückt.
Und so stehen wir da, unter dem schwarzen Himmel, unter den unzähligen Sternen. Still. Und denken über das Wunder des Lebens nach.
Wir liegen unter der Decke und schauen aus dem Fenster auf den in der Dämmerung fallenden Schnee. Die Fahrt von Kalix nach Hause verlief problemlos, aber wie immer auf Reisen wurde Erik rasch müde. Er schlief schon gegen fünf auf dem Sofa ein, und wir beschlossen, ihn dort zu lassen, um ihn nicht zu wecken. Wir deckten ihn vorsichtig zu, steckten ihm den Schnuller in den Mund und schlichen uns ins Schlafzimmer.
Jede ruhige Minute ist so wertvoll, denke ich und schaue Markus an, dessen Haare zerzaust sind. Er hat sich die Decke um die nackten Beine gewickelt.
»Salzhering oder Gummibärchen?«, fragt er und lässt die Tüte rascheln, die wir im Videoladen mit Süßigkeiten gefüllt haben.
»Hast du keine Colaflaschen mehr?«
»Alle«, murmelt er und grinst wie ein Wolf.
Ich strecke die Hand nach der Tüte aus, aber er hält sie so hoch, dass ich nicht herankomme.
Blitzschnell springe ich auf und reiße die Tüte an mich, ehe er reagieren kann. Ich durchsuche den klebrigen Inhalt und finde das, was ich will: eine mit knisterndem Zucker bedeckte Colaflasche.
»Ich wollte am Wochenende den Dachboden aufräumen, Stefans Sachen durchgehen. Ich dachte, ich könnte versuchen, mich von dem alten Schrott zu trennen.«
Markus zieht mich dichter an sich, gibt mir einen raschen Kuss, und ich spüre die Wärme seines Körpers, lasse mich davon umfangen.
»Du brauchst nichts wegzuwerfen. Wir können das doch in den Schuppen stellen.«
Seine Stimme ist sanft, und er redet langsam, als habe er Angst, sich nicht richtig auszudrücken. Er weiß, dass Stefan ein brisantes Thema ist.
Vorsichtig schmiege ich mich an ihn, lehne die Wange an seine Schulter, küsse sein Ohrläppchen.
»Du brauchst nicht so vorsichtig zu sein«, flüstere ich. »Stefan ist so lange tot, und auch wenn es schrecklich war, habe ich doch jetzt losgelassen. Bin weitergegangen. Was wir haben …« Ich verstumme, weiß plötzlich nicht, wie ich mich ausdrücken soll. Wie erklärt man jemandem das Gefühl, das Leben zurückerhalten zu haben? »Was wir haben, ist so stark«, sage ich. »Das andere liegt jetzt hinter mir. Ich will diese Kartons los sein. Wirklich. Sie sollen nicht als Erinnerungen an ihn im Schuppen liegen. Aber ich muss alle Papiere durchsehen, damit ich nichts Wichtiges wegwerfe.«
Markus nickt, sagt nichts. Ich spüre, wie seine Kiefer sich an meiner Wange bewegen, als er die Lakritzkugel bearbeitet.
Der Mann, den ich liebe, ist Markus. An einem anderen Ort, jenseits von Raum und Zeit, dort, wo ich mir vorstelle, dass Dunkelheit und Schweigen sich ausbreiten, ruht Stefan. Wir waren frischverheiratet, als wir in dieses Haus hier gezogen sind. Verliebt, auf eine nicht ganz gesunde Weise voneinander besessen. Unsere Zweisamkeit war so eng, manchmal fast erstickend. Wir stritten, liebten und renovierten einen ganzen Sommer lang. Badeten nackt in der Bucht. Trugen barfuß Bretter über die Felsen. Jagten einander durch den Tannenwald, dass die Nadeln an unseren Fußsohlen klebten.
Nie ist man so stark wie dann, wenn man liebt, denke ich. Und nie so verletzlich.
Dann denke ich an das Kind, das in mir heranwuchs. Und mit dem Kind wuchs auch der Traum von einer Familie: ich, Stefan und unser Kind. Aber es kam nie so weit, der Fötus war nicht lebensfähig, die Schwangerschaft musste abgebrochen werden, und für mich und Stefan tat sich die Hölle auf. Ich war natürlich traurig, gelähmt von Schock und Trauer nach der Abtreibung. Aber die Wochen vergingen, und auf irgendeine Weise kehrten das Leben und der Körper in den normalen Zustand zurück. Ich traf meine Klienten, war mit Freunden zusammen, und auch die Arbeit am Haus ging doch weiter. Die schien wirklich nie ein Ende zu nehmen. Sowie eine Arbeit erledigt war, entdeckten wir etwas anderes, das repariert werden musste.
Aber bei Stefan war das anders. Während meine Stimmung sich verbesserte, versank er in einem seltsamen apathischen Zustand. Er verlor alle Energie, wurde wortkarg und unzugänglich. Machte seine Post nicht mehr auf. Zog sich zurück und mied soziale Kontakte.
Das Einzige, was ihm noch wichtig war, war das Laufen. Er lief und lief und lief. Im letzten Winter ging er manchmal morgens mit seinen Spezialschuhen hinaus aufs Eis und kam erst am Nachmittag zurück. Im Laufe der Zeit wurde er immer magerer. Sein Desinteresse am Essen und das harte Training forderten ihren Tribut von seinem Körper. Die Wangenknochen schienen die immer dünnere Gesichtshaut wie Zeltstangen zu tragen. Sein Mund verwandelte sich in einen dünnen, blutlosen Strich, und um die Lippen breiteten sich wütend rote Hautrisse aus.
Ich versuchte, mit ihm zu reden. Fragte, was los sei. Ob er wegen des Kindes traurig sei oder ob es an mir liege. Aber er ließ mich nicht an sich heran. Lag nur stumm im Bett, als wäre er bereits tot.
Im Frühling schien dann alles leichter zu werden. Er lächelte wieder, lief weniger, wurde weicher, ließ mit sich reden. Aber ganz ließ er mich noch immer nicht an sich heran. Er schien ein Geheimnis zu haben. Etwas Schwarzes, Böses, das er im Sonnenlicht nicht zeigen wollte.
Im Nachhinein glaube ich jetzt, dass er schon damals beschlossen hatte, sich das Leben zu nehmen, dass diese Entscheidung ihm auf seltsame Weise Frieden schenkte. Aber an diesem schmerzlich schönen Frühlingstag, als seine Freunde zu mir kamen, bei der Wäscheleine zwischen den Tannen standen und sagten, Stefan sei tot, da konnte ich es nicht in mich aufnehmen.
Ein Unfall.
Sie waren im tiefen Wasser getaucht, nicht weit vom Haus entfernt. Niemand wusste, was passiert war, warum Stefan trotz aller Erfahrung beim Tauchen die Kontrolle verloren hatte. Die Voraussetzungen waren perfekt gewesen. Gutes Wetter, keine Strömung, klare Sicht. Auch an der Ausrüstung war kein Defekt zu finden.
Ein Gedanke, der zu wehtut, um gedacht zu werden. Er war zum Tod entschlossen.
Und dann meine eigene, hoffnungslos egozentrische Deutung des Handlungsverlaufs – dass er von mir weggestorben war. Als hätte seine Tat sich auf irgendeine Weise gegen mich gerichtet. Als hätte sein Tod mit mir zu tun.
Ich sehe Markus an, der die Augen schließt und weiter auf der Lakritzkugel herumkaut, spüre, wie mich wieder dieses warme, weiche Gefühl erfüllt, schließe die Augen, ruhe in dem Gefühl. Dass ich noch einmal in diesem Bett liege, in diesem Haus, mit einem Mann, den ich liebe, ist unfassbar und logisch zugleich. So sollte mein Leben doch werden. Hier sollte ich doch wohnen.
Das Leben ist so viel größer als die Worte, denke ich. Und zerbrechlicher.
Wieder sehe ich Markus an. Die zerzausten blonden Haare. Die bleiche, fast durchsichtige Haut, die blauen Adern, die sich unter der Oberfläche verstecken. Die fast kindlichen Züge. Zehn Jahre jünger als ich, wer hätte das gedacht? Sein Körper ist muskulös. Die großen Hände weisen Reste von Malerfarbe auf, und ein schmutziges Pflaster bedeckt den Daumen. Er ist hoffnungslos unbeholfen, schafft es immer, sich zu verletzen, wenn er hämmert, anstreicht, sogar wenn er kocht.
»Ich räume die Kartons weg«, sage ich.
»Und ich streiche danach neu an.«
Ich lache. Küsse ihn wieder, diesmal auf den Mund.
»Und dann streichst du neu an.«
Aina hält das schwarze Trägertop hoch. Mustert ihr Spiegelbild mit skeptisch gerunzelter Stirn und streicht sich eine blonde Locke hinter das Ohr.
»Zu tief ausgeschnitten?«
Ich zögere, überlege eine Sekunde.
»Zu tief für was?«
Sie lacht laut und wirft den Kopf in den Nacken.
»Du bist doch einfach … keine Ahnung. Zu tief ausgeschnitten für ein Rendezvous?«
»Nicht, wenn du einen BH darunter trägst. Hast du heute Abend ein Rendezvous?«
Sie macht ein geheimnisvolles Gesicht.
»Es ist doch Freitag. Wie war es übrigens in der Lappenhölle?«
Ich schüttele den Kopf, weil sie so abfällig über Markus’ Geburtsort spricht.
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