Bevor es dunkel wird - Stephanie Merritt - E-Book

Bevor es dunkel wird E-Book

Stephanie Merritt

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Beschreibung

Schließe die Tür, wenn es dunkel wird, denn vielleicht bist du nicht allein ...

Eigentlich erhofft sich Zoe nach einem psychischen Zusammenbruch auf der schottischen Insel Ruhe und Erholung. Doch bereits kurz nach ihrer Ankunft machen unheimliche Gerüchte die Runde, denn in dem Haus, das Zoe den Sommer über gemietet hat, passieren seit dem mysteriösen Tod der Vorbesitzerin Ailsa angeblich immer wieder unerklärliche Dinge. Und tatsächlich hört Zoe nachts eine singende Frau und wird von wilden Träumen heimgesucht – oder bildet sie sich etwa alles nur ein? Doch was ist mit den Möbeln, die morgens nicht mehr an ihrer Stelle stehen? Als ein heftiger Sturm aufzieht, muss Zoe sich schließlich ihren schlimmsten Ängsten stellen und gerät dabei in große Gefahr …

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Buch

Eigentlich erhofft sich Zoe nach einem psychischen Zusammenbruch auf der schottischen Insel Ruhe und Erholung. Doch bereits kurz nach ihrer Ankunft machen unheimliche Gerüchte die Runde, denn in dem Haus, das Zoe den Sommer über gemietet hat, passieren seit dem mysteriösen Tod der Vorbesitzerin Ailsa angeblich immer wieder unerklärliche Dinge. Und tatsächlich hört Zoe nachts eine singende Frau und wird von wilden Träumen heimgesucht – oder bildet sie sich etwa alles nur ein? Doch was ist mit den Möbeln, die morgens nicht mehr an ihrer Stelle stehen? Als ein heftiger Sturm aufzieht, muss Zoe sich schließlich ihren schlimmsten Ängsten stellen und gerät dabei in große Gefahr …

Autorin

Stephanie Merritt arbeitet als Journalistin und Literaturkritikerin für angesehene Zeitungen wie The Times,Die Welt und The Guardian und veröffentlichte unter anderem Namen bereits sehr erfolgreich mehrere historische Kriminalromane. Sie lebt mit ihrem Sohn in Südengland und schreibt derzeit an ihrem nächsten Roman.

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Stephanie Merritt

Bevor esdunkelwird

Roman

Deutsch von Veronika Dünninger

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel

»While you sleep« bei Harper Collins, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright der Originalausgabe © 2018 by Stephanie Merritt

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2018 by Blanvalet

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Ulrike Nikel

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotive: David Lichtneker/Arcangel Images; www.buerosued.de

JF · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-22757-9V002

www.blanvalet.de

Wenn das genau die Dinge sind, denen man durch Stille zu entfliehen hofft, dann ist es alles andere als verwunderlich, dass man die eigenen Sehnsüchte als »Werke des Teufels« zu sehen beginnt und dieses Gefühl des Dämonischen durch die Stille verstärkt wird.

Sara Maitland, Das Buch der Stille

Wenn ein Geist gesehen wird, dann interessiert mich nicht so sehr, was er ist, sondern vielmehr wieso man ihn sieht. Besitzen wir Fähigkeiten, unter außergewöhnlichen Reizen über die normale Bandbreite des Sehens, Hörens und Fühlens hinaus Dinge wahrzuzunehmen? Dass solche Fähigkeiten im Menschen existieren und sich hin und wieder offenbaren könnten, war immer mein Interesse.

Algernon Blackwood, Collected Ghost Stories

PROLOG

Es beginnt, sagen sie, mit einer schreienden Frau.

Anfangs kann man nicht unterscheiden, ob es Lust oder Schmerz ist oder jener heikle Bereich, an dem die beiden zusammentreffen.

Man schämt sich fast, es zu hören, aber horcht man genauer hin, klingt es eher wie eine aus dem Herzen gerissene Wehklage: wie ein animalischer Schrei von Verlust oder Trotz oder Wut, vom salzigen Wind von Klippe zu Klippe über die Bucht getragen.

Wenn man abends am Strand steht mit dem Rücken zum Meer, werden sie sagen, und zum McBride-Haus hochsieht, wird man vielleicht hinter den hohen Fenstern im ersten Stock die fast unmerkliche Bewegung eines Schattens wahrnehmen. Alle Zimmer hinter den Scheiben sind dunkel; nicht einmal das Flackern einer Kerze ist zu sehen. Nur die unheimliche Gestalt, die stets an demselben Fenster steht und plötzlich schnell wie ein Atemzug im diffusen Widerschein des Mondes, der die Wolken durchbricht, verschwindet.

Sie werden sagen, dass das Wimmern der Frau lauter wird, sobald der Sturm ihm schutzlos preisgegebene Winkel des Hauses heimsucht, um die spitzen Giebel fegt, an der Wetterfahne auf dem Turm zerrt und an den Rahmen der Dachbodenfenster rüttelt. Lässt er jedoch nach, ist nichts mehr zu hören außer dem wilden Meer und dem lang gezogenen Heulen der Seehunde hinter der Landspitze.

Lediglich in bestimmten Nächten, erzählen die Inselbewohner den Neuankömmlingen, wenn der Mond hoch am Himmel steht und die Luft ebenso aufgepeitscht wird wie die schaumgekrönten Wellen in der Bucht, dann werden sie es vielleicht hören, sofern sie geduldig sind. Viele schwören darauf.

Die beiden Jungen kauern neben einem Felskamm am Fuß der Klippe und beobachten das Haus. Es ist beinahe eine Ruine, nackte Balken ragen aus dem Dach wie die Rippen eines riesigen, geschundenen Tieres. Zögernd warten sie darauf, dass der andere sich zuerst bewegt. Sie sind eigens gekommen, um den alten Geschichten auf den Grund zu gehen, können jetzt nicht das Gesicht verlieren. Die Sommernacht ist mild und klar, zu lau für Geister. Trotzdem wappnen sie sich innerlich. Als das Schreien beginnt, sehen sie sich erstaunt an und kichern ängstlich.

»Gehen wir«, flüstert der drahtige Rothaarige. Er hält sein Handy in der Hand, bereit, das Geschehen auf Film zu bannen.

Sein kräftiger Gefährte hingegen rührt sich nicht von der Stelle, ist starr vor Schreck, die Augen weit aufgerissen und aufs Haus geheftet.

»Komm schon, sonst verpassen wir es noch«, drängt ihn der Freund, aber er weicht ein paar Schritte zurück, schüttelt den Kopf.

Der Rotschopf zögert, kräuselt verächtlich die Lippen. »Angsthase.«

Er geht los über den Sand und durch das Dünengras auf die halb offen stehende Tür zu, hält das Handy mit ausgestrecktem Arm. Am Strand zurückgelassen, sieht sein Freund, wie er in den Schatten verschwindet.

Die Wellen brechen und weichen zurück, immer und immer wieder, spülen Schichten von Kies in das rastlose Wasser. Ein neuer Schrei hallt über den Strand, diesmal ist es der eines Kindes. Die letzten Spuren des Lichtes verschwinden vom Himmel, und hinter den Fenstern des McBride-Hauses bleibt nichts als tiefe Finsternis zurück.

1

Die Insel tauchte als tintenschwarzer Klecks am Horizont auf, gesprenkelt mit winzigen Lichtpunkten vor dem grauen Himmel. Allmählich dann, während die Fähre durchs Wasser pflügte und sich einen Weg durch die Wellen bahnte, nahm sie allmählich Gestalt an und schien aus dem Meer aufzusteigen wie der Buckel eines gewaltigen Geschöpfes. Am Fuß der Klippen tanzten gebündelte helle Punkte, Reflexionen des Lichtstrahls, den der Leuchtturm am äußersten Ende der Hafenmauer über die Bucht gleiten ließ.

Eine einsame Person stand an Deck der Fähre.

Sie beugte sich hinaus, umklammerte die Reling so fest, dass ihre Hände beinahe in der glatten Maserung des Holzes verankert schienen, und stemmte ihre Beine in den Boden. Um nicht umgerissen zu werden, folgten ihre Bewegungen denen des schlingernden Schiffes, das sich trotzig hob und senkte und jedes Mal eine Kaskade aus Gischt aufwarf, wenn eine Welle seinen Bug erklomm und wieder hinabstürzte. Der Wind verwandelte die Haare der Frau zu verklebten Strähnen, peitschte ihr salzige Feuchtigkeit ins Gesicht, die auf ihren Lippen brannte.

Trotzdem blieb sie, den Kragen ihrer abgewetzten Fliegerjacke zum Schutz gegen Kälte und Nässe hochgeschlagen. Sie war entschlossen, bis zum Anlegen auszuharren, alles von hier oben in sich aufzunehmen statt durch das verschmierte Fenster des Passagierraums im Bauch der Fähre, wo es muffig nach nassen Jacken und abgestandenem Tee roch. Da war ihr der Geruch nach Salzwasser und Benzin lieber. Aufgeregt strich sie sich den nassen Pony aus dem Gesicht, als das Geräusch der Motoren verebbte und Männer in orangefarbenen Regenjacken Taurollen auswarfen, während das Schiff das ölige Wasser des Hafens durchschnitt, um längsseits des Piers anzulegen.

Zwei Tage unterwegs, und sie hatte es fast geschafft. Sie versuchte nicht an die alte Redensart zu denken, dass der Weg wichtiger sei als das Ziel. Auch nicht an das, was sie zurückgelassen hatte, Tausende von Meilen entfernt.

Der Anlegeplatz hatte die hochtrabende Bezeichnung »Fährhafen« nicht wirklich verdient – es gab einen Parkplatz und ein einziges flaches, rau verputztes Gebäude mit einem Schild mit der Aufschrift Café über der Tür, von dem die Farbe abzublättern begann.

Langsam schob sie sich die schäbige kleine Gangway hinunter, rollte ihren Trolley mit der einen Hand vor sich her und zog den großen Koffer mit der anderen hinter sich her, als wären es zwei störrische Kleinkinder. Zusätzlich hatte sie sich eine zusammengeklappte Staffelei unter den Arm geklemmt. Jedes Mal, wenn sie damit gegen das Geländer stieß, war sie froh, dass die Fähre jetzt, Mitte Oktober, nicht überfüllt war wie vermutlich im Sommer. Da hätte sie mit dem sperrigen Teil ständig ihre Mitreisenden angerempelt.

Am Ende des Anlegers sah sie einen Mann in einer Lederjacke, die sich straff über einem beachtlichen Bauch spannte. Er hielt ein Pappschild hoch, auf dem Zoe Adams geschrieben stand. Als sie zielstrebig auf ihn zukam, breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus, und er winkte ihr überschwänglich zu wie einer lieben Freundin. Er war etwa in ihrem Alter, schätzte sie, Anfang vierzig, mit schütterem blondem Haar und einem rundlichen, offenen Gesicht, die Wangen gerötet von Wind und Wetter oder von zu vielen Kneipenbesuchen, vielleicht auch von beidem.

»Mrs Adams?«

Sie zögerte. Überlegte, ob sie es so stehen lassen sollte, aber dann würde es später nur unnötige Fragen geben.

»Äh, Miss, um genau zu sein.«

»Oh, entschuldigen Sie.« Sein Irrtum schien ihm peinlich zu sein. »Mein Fehler. Dann sind Sie also nicht verheiratet?«

Sie gab ein undefinierbares Geräusch von sich, das alles und nichts bedeuten konnte, stellte ihre Koffer ab und streckte eine Hand aus.

»Sie müssen Mr Drummond sein?«

»Mick, bitte.« Er strahlte jetzt wieder, umklammerte ihre Finger und schüttelte sie mit einer Ausdauer, als wollte er zum Ausdruck bringen, wie sehr er sich freue. »Ich bin der, der die ganzen E-Mails geschrieben hat«, sagte er, ließ ihre Hand los und deutete mit einem verlegenen Grinsen auf das Schild, das der Wind ihm fast aus der Hand riss. »Die Idee meiner Frau. Ich fand das eigentlich überflüssig, denn es ist ja nicht so, als ob um diese Jahreszeit die Leute zu Hunderten von der Fähre strömen. Sie meinte trotzdem, Sie würden sich weniger verloren fühlen – schließlich sind Sie zum ersten Mal auf der Insel.«

Zoe lächelte, dachte bei sich, wenn das ihr einziges Problem wäre, erwiderte jedoch, was er bestimmt zu hören wünschte.

»Das war sehr aufmerksam von ihr.«

»O ja, das ist sie. Kaye. Sie werden sie kennenlernen. Kommen Sie und geben Sie mir Ihr Gepäck. Dahinten steht mein Wagen.«

Er klemmte sich das Schild unter den Arm, packte ihre Koffer und wies mit einem Nicken über den Parkplatz auf einen alten, schlammverkrusteten Landrover.

Während er ihr Gepäck im Kofferraum verstaute, warf Zoe einen Blick zurück zum Hafen, wo die Fähre sich leuchtend weiß von dem dunkler werdenden Himmel abhob. Und hinter den hell erleuchteten Fenstern sah sie die Umrisse der Putzkolonne, die alles säuberte, Plastiksäcke mit den Hinterlassenschaften der Fahrgäste wuchtete und das Schiff für die Rückfahrt herrichtete. Möwen kreisten über den Decks, suchten nach Abfällen und stießen ihre schrillen Warnrufe aus.

Zoe kam es vor, als ob hier das Wogen der Wellen lauter und beharrlicher, irgendwie unheimlicher klang als zu Hause.

Als wollte das Meer sicherstellen, dass man seine Gegenwart nicht vergaß. Ob sie sich daran gewöhnen würde, fragte sie sich und sah versonnen hinüber zu der verschwommenen rötlichen Linie am Horizont. Ein Bilderbuchsonnenuntergang war es nicht und dennoch eine Ahnung davon. Außerdem würde sie noch genug Gelegenheit haben, die Sonne im Meer versinken zu sehen.

»Na dann, steigen Sie ein«, forderte Mick sie auf und öffnete ihr die Beifahrertür.

Einen panischen Moment lang glaubte sie, dass sie fahren sollte, weil er auf der falschen Seite des Wagens stand. Dann begriff sie. Sie gewöhnte sich einfach nicht an die perverse Sitte des Linksverkehrs im Vereinigten Königreich.

»Ist es weit bis zum Haus?«

»Fünf Meilen, über den Daumen gepeilt.« Verlegen scharrte er mit den Füßen. »Hören Sie, ich weiß, dass Sie eine lange Reise hinter sich haben und vermutlich müde sind, aber Kaye und ich, wir haben uns gefragt, ob Sie vielleicht auf einen kleinen Schluck bei uns im Pub reinschauen wollen, bevor ich Sie zum Haus bringe?«

Bevor sie höflich ablehnen konnte, kam er ihr zuvor.

»Die Sache ist die, wir haben dort heute Abend Musik, eine einheimische Band wie jeden Donnerstag, daher werden viele Leute da sein, und wir dachten – na ja, eigentlich war es Kayes Idee –, es wäre nett für Sie, Hallo zu sagen, wenn alle beisammen sind. Immerhin werden Sie eine Weile bleiben, was meinen Sie. Nur ein kleines Glas.« Er knetete die Hände und sah sie an, als würde er sie um ein Date bitten. »Kaye ist bereits ganz wild darauf, Sie kennenzulernen«, fügte er hinzu. »Alle sind das.«

Unschlüssig sog Zoe die Wangen ein.

Gott, sie brannte absolut nicht darauf, als Erstes diesen Leute zu begegnen, wer immer sie sein mochten. Ganz im Gegenteil. Zum einen fühlte sie sich schmuddelig und ungepflegt nach der langen Reise, und vermutlich roch sie entsprechend. Zum anderen war es ihre Absicht, hier so anonym wie möglich zu leben, still und leise in ihr Küstenhaus zu schlüpfen und dort für den Rest ihres Aufenthalts in Ruhe gelassen zu werden.

Allerdings, das begriff sie in diesem Moment, war es naiv gewesen zu glauben, das würde in einer kleinen Gemeinde wie dieser funktionieren. Hier wurde jeder Neuankömmling zwangsläufig zum Gegenstand von Gerüchten und Spekulationen, vor allem außerhalb der Saison. Da war es besser, die Einheimischen nicht gleich am ersten Tag vor den Kopf zu stoßen.

»Ich bin nicht unbedingt ausgehmäßig angezogen«, wandte sie dennoch halbherzig ein.

»Sie sehen toll aus«, beruhigte Mick sie. »Ist ja nicht so, dass dort jemand in Dinnerkleidung aufkreuzt.« Er schnallte sich an und startete den Motor. »Bloß einen kleinen Schluck, danach fahre ich Sie zum Haus hoch, versprochen. Das Gepäck lassen wir gleich im Wagen.«

Zoe lehnte die Stirn gegen die Scheibe und betrachtete ihr erschöpftes Gesicht, das sich im kalten Glas spiegelte. Der Jetlag und die schlaflosen Nächte der letzten Monate hatten sich auf ihren Zügen eingegraben und Spuren hinterlassen. Mit ein Grund, weshalb es ihr so widerstrebte, in den Pub zu gehen, bevor sie sich nicht wenigstens ein bisschen zurechtgemacht und geschminkt hatte. Es war schlicht Eitelkeit, gestand sie sich ein.

Und wenn die Einladung ein mieser Trick war?

Sie würde ahnungslos auf einen Drink mit hineingehen, und wenn sie herauskam, wären Mick, der Wagen und ihr Gepäck verschwunden. Nein, wenn sie so dachte, dann könnte die ganze Geschichte ein Schwindel sein, wie Dan immer wieder zu warnen pflegte. Tatsächlich war sie hergekommen aufgrund einer amateurhaft gestalteten Website und ein paar E-Mails. Sonst hatte sie nichts in der Hand. Vielleicht existierte das Haus ja nicht einmal. In dem Fall wäre das Geld verloren, und sie stünde ohne Bleibe da.

»Okay«, willigte sie schließlich ein. »Warum nicht?«

»Wunderbar. Kaye würde mir sonst ewig in den Ohren liegen, dass wir Sie nicht anständig willkommen geheißen hätten.« Zoe konnte die Erleichterung in seiner Stimme hören. »Es wird Ihnen gefallen – es ist ein bunt gemischter Haufen. Wenngleich es nicht unbedingt das New Yorker Nachtleben ist«, fügte er hinzu, als würde er befürchten, falsche Erwartungen geweckt zu haben. »Doch ich nehme mal an, Sie sind sowieso eher hergekommen, um alldem zu entfliehen.«

»Ich bin nicht aus New York«, erwiderte sie, während er losfuhr, und fügte hinzu. »Aus Connecticut, Hartford. Sie liegen also mit Ihrer Vermutung nicht weit daneben.«

»Ach ja?« Mick bog auf die Hauptstraße ein. »War selbst noch nie da. In Amerika, meine ich. Würde ich gern mal. Wenn die Kinder älter sind vielleicht. Kaye will nach Nashville. Sie steht auf diese Countrymusik und so, wissen Sie? Ganz im Gegensatz zu mir. Ich hab’s lieber ein bisschen ländlicher. Wandern, angeln, dieses Zeug. Hab immer davon geträumt, nach Kanada zu ziehen.«

»Das tut im Moment die Hälfte meines Landes«, murmelte sie.

»Ach ja, die großartige, unberührte Natur«, fuhr Mick fort, ohne ihre Anspielung zu verstehen. »Da fühle ich mich zu Hause. Leider kann ich meine Mädels bislang nicht dafür begeistern, obwohl sie sich für Tiere und das alles interessieren. Wir haben hier oben Otter – vielleicht sehen Sie in der Bucht welche.«

Den Kopf gegen das Autofenster gelehnt, ließ Zoe Micks Träume von der Wildnis an ihren Ohren vorbeirauschen. Solange er von sich selbst oder von Ottern redete, stellte er ihr keine Fragen. Draußen zog die Hauptstraße des Ortes vorbei: ein Gemischtwarenladen, ein Geschäft, das Haushaltswaren, Elektrogeräte und Angelbedarf verkaufte, eine Teestube; eine Buchhandlung, ein paar Ladenfronten, deren Fenster milchig weiß getüncht waren, als wollte man ihren Leerstand vor den Augen der Öffentlichkeit verschleiern.

Nach einem kurzen Stück mündete die Straße auf einen dreieckigen Dorfanger mit einem Kriegerdenkmal in der Mitte, einem Schulgebäude mit Pausenhof auf einer Seite und einer kleinen, schlichten Kirche auf der anderen. Mick lenkte den Landrover nach rechts, vorbei am Friedhof, in eine schmale Gasse, gesäumt von schiefen, aneinandergereihten Cottages, die sie an schlechte Zähne erinnerten und dennoch gemütlich aussahen mit dem warmen Licht hinter den zugezogenen Vorhängen.

»Haben Sie immer hier gelebt?«, erkundigte sie sich, als sein Redestrom versiegte.

Er sah sie von der Seite an, eine Mischung aus Erstaunen und Misstrauen, dass sie freiwillig den Mund aufgemacht hatte.

»Geboren und aufgewachsen«, erwiderte er, wobei der Tonfall seiner Stimme gleichermaßen Stolz wie Resignation verraten konnte. »Bin zwischendurch mal weg von hier, abgehauen, sobald ich alt genug war. Wie alle jungen Leute. Dann ist meine Mutter vor fünf Jahren gestorben, und mein Dad konnte den Pub aus Altersgründen nicht allein führen, wissen Sie, und da bin ich nach Hause zurückgekehrt. Samt Frau und Töchtern.« Er seufzte tief auf. »Manchmal steckt dir ein Ort einfach in den Knochen, lässt dich nicht wirklich los. Und du bist machtlos dagegen.«

»O ja, das verstehe ich.« Zoe nickte. »Ich kenne das von meiner Großmutter, sie stammte aus dieser Ecke hier.«

»Tatsächlich?« Er beäugte sie mit wachsendem Wohlwollen. »Dann sind Sie hergekommen, um nach Ihren Wurzeln zu suchen?«

»So ähnlich. Ich schätze allerdings, dass mein schottisches Blut inzwischen ziemlich stark verdünnt ist. Grandma hat einen Engländer geheiratet. Meine Mutter ist in Kent aufgewachsen, und ich wurde dort noch geboren.«

»Das würde ich lieber für mich behalten, wenn ich Sie wäre.« Er zwinkerte ihr zu. »Außerdem klingen Sie nicht, als ob Sie aus Kent kämen.«

»Wir sind während meiner Kindheit in die Staaten gezogen, mein Dad stammte aus Boston.« Sie schlang die Arme um den Oberkörper, der Gedanke an ihren Vater versetzte ihr einen Stich, doch sie verdrängte ihn und wechselte das Thema. »Und das Haus hat immer Ihrer Familie gehört? Das, in dem ich wohnen werde?«

Wieder ein leichtes Zögern, ein Aufflackern seiner Augen, als hätte er sie im Verdacht, ihm Fangfragen zu stellen.

»Ja.«

Es schien, als wäre seine Antwort damit erschöpft, denn eine Weile herrschte Schweigen. Erst als sie sich einer Abzweigung mit einem Schild näherten, das einen weißen Hirschen auf der Kuppe eines Hügels zeigte, offenbar das Wahrzeichen des Pubs, räusperte er sich und setzte erneut zum Sprechen an.

»Das Haus ist an mich gefallen, als mein Vater letztes Jahr starb.«

»Oh, das tut mir leid«, antwortete Zoe automatisch. »Das mit Ihrem Vater.«

»Ach, er war siebenundachtzig und hat bis zum Schluss gearbeitet, mehr oder weniger – das ist kein schlechtes Leben.« Mick schniefte. »Leider hat er das Haus im Laufe der Jahre verkommen lassen. Passiert hier oft mit so alten Gemäuern. War ne Menge Arbeit nötig, um es wieder bewohnbar zu machen. Verstehen Sie mich nicht falsch …« Er wandte sich mit besorgter Miene zu ihr um. »Jetzt ist alles so gut wie neu, besser sogar. Das meiste selbst gemacht – hab früher unten in Glasgow Häuser renoviert, wissen Sie. Jetzt ist es wunderschön, wenn ich das sagen darf. Na ja, Sie haben ja die Fotos auf der Website gesehen. Sie sind nicht mit Photoshop bearbeitet oder so«, versicherte er fast ein wenig defensiv.

»Es ist entzückend. Wollten Sie es denn nicht selbst nutzen?«

Abrupt fuhr er mit dem Kopf herum, seine Augen verengten sich für eine Sekunde, bevor sich seine Miene wieder entspannte.

»Zu weit draußen für uns. Wir wohnen gleich über dem Pub. Da sind wir immer zur Stelle, wenn es irgendwelche Probleme gibt. Und die Mädchen sind in fünf Minuten in der Schule. Das ist der einzige Grund«, fügte er hinzu, als hätte sie etwas anderes unterstellt. »Macht keinen Sinn, sich das Leben unnötig schwer zu machen.«

Er lenkte den Wagen auf den Parkplatz vor einem dreistöckigen, weiß getünchten Gebäude mit Giebelfenstern, in dessen Erdgeschoss sich der Pub befand. Es schien viel los zu sein, denn als Mick den Motor abstellte, drang Musik und Gelächter zu ihnen heraus. Bevor sie ausstiegen, kam er noch einmal auf das Haus zu sprechen.

»Wenn Ruhe und Frieden das sind, was Sie suchen, dann ist das Haus perfekt für Sie.«

Irgendwie wirkte er zu bemüht, dachte Zoe. Vielleicht stimmte mit dem Haus tatsächlich etwas nicht. Auf der Website sah es total idyllisch aus – mit einem Hauch von Exzentrik, als hätte der Architekt alle Spielarten der viktorianischen Gotik an dem Haus ausprobiert und auf das Beste gehofft. Nach den Bildern zu urteilen, die sie gesehen hatte, war das Innere hingegen durchaus geschmackvoll renoviert und eingerichtet, aber was sie wirklich gefesselt hatte, war das Licht.

Die Fotos waren im Sommer aufgenommen worden, und über der kargen Insel, die eine ganz eigene Schönheit entfaltete, wölbte sich ein faszinierender Himmel, dem bizarre Wolkenfetzen Struktur und Tiefe und eben ein spezielles Licht verliehen. Eine Veranda verlief an der West- und Südseite des Hauses, mit freiem Blick auf eine kleine Bucht, die sich auf die silbrige Weite des Atlantiks öffnete. Das Haus selbst war oberhalb des einsamen Strandes an der flachsten Stelle der Klippe in den Hang gebaut – dahinter erhob sich ein Felskamm, der es vor neugierigen Blicken von der Landseite schützte.

Sie hatte die Bilder mit dem Auge eines Malers betrachtet und instinktiv sofort gewusst, dass sie unter diesem Himmel aufwachen wollte, geweckt vom Rauschen der Wellen und dem Gekreisch der Seevögel. Ob es das Blut ihrer Vorfahren war, das sie wie magisch an diesen gottverlassenen Ort gezogen hatte? Zumindest war da eine absolute Gewissheit gewesen, dass dort ihre Bestimmung lag. Ein Gefühl, das sie lange nicht mehr verspürt hatte.

»Ruhe und Frieden sind genau das, was ich will«, bestätigte sie nach längerem Nachdenken. »Ja, deshalb bin ich hier.«

Mick öffnete die Fahrertür. »Die Sache ist die, Mrs, Entschuldigung, Miss Adams, Zoe …« Er kaute auf seiner Lippe, war nicht sicher, wie er fortfahren sollte. »Um dieses Haus ranken sich viele Geschichten. Alle Familien, die seit Generationen hier leben, haben einen eigenen Schatz an Legenden, auch Aberglauben ist verbreitet, verstehen Sie? Viele Bewohner haben die Insel praktisch noch nie verlassen.«

Zoe nickte. »Ich vermute, das macht einen Teil ihres Charmes aus.«

»Schon …« Er sah sie unbehaglich an. »Es ist nur Folgendes … Falls die Leute Ihnen komische Geschichten erzählen, wie sie es gerne tun, wenn sie einen Tropfen Whisky intus haben – achten Sie nicht darauf. Seemannsgarn, Altweibergeschwätz, das ist alles.«

»Oh, ich liebe solche alten Volksmärchen. Meine Großmutter hat sie uns erzählt, als wir Kinder waren. Selkies und Riesen und was sonst alles.«

Kaum waren ihr die Worte über die Lippen gekommen, bereute sie sie bereits und stellte sich voller Schaudern vor, wie sie im Pub von irgendeinem alten Seemann mit allerlei Gruselgeschichten überschüttet wurde.

»Nichts dagegen, solange Sie wissen, dass es nichts anderes als Nonsens ist. Ein Spaß, um Neuankömmlinge aufzuziehen.« Mick erwiderte ihr Lächeln, doch er wirkte nach wie vor seltsam beunruhigt. »Na, dann kommen Sie mal, Sie müssen ja am Verdursten sein.«

Die Luft im Pub schlug ihr schwer und stickig entgegen wie ein Schwall aus einem U-Bahn-Schacht. Trotzdem roch es heimelig nach Holzfeuer und Winteressen, Eintöpfen, heißem Gebäck und Glühwein. Außerdem brach eine Kakofonie von Geräuschen über sie herein, die sie mit ihrer Wucht schier überwältigte. Da war der schnelle, wilde Jig, den die Band spielte, dazu der laute, raue Gesang aus unzähligen Kehlen, das Fußstampfen und das Klirren der Bierkrüge, wenn die Gäste sich zuprosteten. Unwillkürlich legte Zoe eine Hand an die Schläfe. Der Lärm der vielen Menschen, die sich in dem kleinen Gastraum drängten, dröhnte in ihrem Kopf wider, die Ausdünstungen der bierseligen Leute und die Folgen des Jetlag taten ein Übriges.

Erschöpft schloss sie die Augen.

Als sie sie wieder aufschlug, hatte sie das Gefühl, angestarrt zu werden. Fragend und neugierig, indes ohne jede Spur von Feindseligkeit, vor der sie sich als Fremde gefürchtet hatte. Sie rang sich ein kleines Lächeln ab. Mick, der inzwischen seinen Platz hinter dem Tresen eingenommen hatte, winkte sie zu sich herüber und schob ihr einen schweren Kristalltumbler mit einem großzügig eingeschenkten, honigfarbenen Scotch hin.

»Trinken Sie das«, forderte er sie jovial auf. »Damit Sie ein bisschen Farbe in die Wangen bekommen.«

Gehorsam führte sie das Glas an ihre Lippen, atmete Torf und Rauch ein, uralte Gerüche, die zu diesem Land gehörten. Weich glitt der Drink ihre Kehle hinunter und erfüllte ihren Körper mit Wärme, selbst ihre Kopfschmerzen begannen nachzulassen. Und so protestierte sie nicht, als Mick ihr mit einem Augenzwinkern nachschenkte.

»Das da drüben ist meine Kaye.«

Er wies mit einem Nicken auf die behelfsmäßige Bühne, wo die Musik sich gerade zu einem ohrenbetäubenden Crescendo steigerte. Zoe wandte sich um und musterte die Mitglieder der Band.

Die Sängerin war eine vollbusige Frau, vielleicht übertrieben jugendlich herausgeputzt mit einem wallenden schwarzen Rock und schwarzem Spitzentop, dazu lange, provokant rosa gefärbte Haare. Sie sang mit geschlossenen Augen, eine Hand ums Mikrofon gelegt, während ein Fuß in geblümten Doc Martens zum Rhythmus der Bodhrán den Takt klopfte. Ihre Stimme war bluesmäßig, hart, klang nach Rauch und Whisky. Obwohl Zoe die Worte nicht verstand, vermutete sie nach der Wildheit des Gesangs zu urteilen, dass es eine Art nationalistischer Rebellensong war und dass die Wut, die seinen Text durchdrang, von etlichen der Stammgäste leidenschaftlich nachempfunden wurde.

Der Rest der Band bestand aus Männern, alle – bis auf den jungen Fiedler – in mittlerem Alter mit grauen Bärten und grauen Haaren und mit Lederwesten und Cowboystiefeln bekleidet. Die Instrumente bestanden aus Akkordeon, Blechflöte, Gitarre und Geige sowie der Bodhrán, einer kleinen Rahmentrommel. Die Musik klang vage vertraut, erinnerte sie an die Berieselung, die in den irischen Bars von Boston und New York gang und gäbe war, bloß dass sie hier nicht für Touristen gespielt wurde, sondern aus der Seele zu kommen schien.

Kaum waren Jubel und Applaus über die antienglische Ballade verklungen, stimmte die Frau eine herzzerreißende Wehklage an, begleitet allein vom melancholischen Klang der Geige und dem dumpfen Schlag der Trommel. Ehrfürchtige Stille senkte sich über den Raum, während die Tremolotöne der vollen Altstimme sich durch die Decke in den Himmel zu schrauben schienen.

Zoe bekam eine Gänsehaut.

Obwohl sie die schottische Sprache nicht verstand, erkannte sie den jahrhundertealten Schmerz, den das Lied zum Ausdruck brachte. Und sie sah ältere Männer, denen die Tränen übers Gesicht liefen, während ihre Lippen lautlos den Text nachsprachen. Die Stimme der Frau verhallte, und der junge Fiedler trat für ein Solo vor, führte den Bogen behände über die Saiten, wobei ihm bei jeder Bewegung des Kopfes die Haare in die Stirn fielen.

Zoe, die an ihrem zweiten Whisky nippte, verspürte den plötzlichen Drang, eine Hand auszustrecken und ihm die Haare aus den Augen zu streichen, wie sie es immer mit Caleb tat, wenn er über sein iPad gebeugt dasaß, vertieft in irgendeine Animation, und alles um sich herum vergaß. Ihr wurde bewusst, dass Mick sich hinter ihr über den Tresen lehnte, ein Geschirrtuch zwischen seine gefalteten Hände gepresst, und ganz offensichtlich einen Kommentar von ihr erwartete.

»Sie hat eine unglaubliche Stimme«, sagte sie zu ihm.

»Sie ist etwas ganz Besonderes, nicht wahr?«, erwiderte er, ohne den Blick von seiner Frau zu wenden.

Dieser Anflug von zärtlichem Stolz ließ Zoe für einen Moment zusammenzucken. Den gleichen Gesichtsausdruck hatte sie vor langer Zeit bei Dan bemerkt, auf der ersten Ausstellung, zu der sie ihn eingeladen hatte. Bewunderung für ihr Talent lag darin und die Freude, einen Anteil davon für sich beanspruchen zu dürfen. Sie konnte sich nicht erinnern, wann er sie zuletzt so angesehen hatte.

Kurz darauf machte die Band eine Pause, und die Frau mit den rosa Haaren sprang von der Bühne und bahnte sich einen Weg durch die Menge, lächelte nach links und rechts. Schließlich blieb sie atemlos stehen und nahm ihre Hand.

»Wir freuen uns ja so, dass Sie hier sind. Ich bin Kaye Drummond. Ich hoffe, er hat Ihnen einen Drink spendiert? Schenk ihr nach, Michael, ja? Sie sind heute Abend unser Gast. Haben Sie Hunger?«

Zoe schüttelte den Kopf. Falls sie Hunger gehabt hatte, war er vom Whisky betäubt worden.

Kaye musterte sie besorgt, wie eine gute Gastgeberin das zu tun pflegt. Im Gegensatz zu der eher üppigen Figur wirkte ihr Gesicht zart, fast elfenhaft, die großen blauen Augen wurden durch schwarzen Kajal betont, ihr Rosenmund durch einen Lippenstift, der zur Farbe ihrer Haare passte. Sie trug an jedem Finger große Silberringe und wirkte ein bisschen wie eine in die Jahre gekommene Rockerbraut. Zoe schätzte sie auf Ende dreißig.

»Das eben war ein wunderschönes Lied«, sagte sie.

»Oh, danke.« Kaye strahlte, und ihre Augen glänzten. »Es ist eine alte Ballade, die bereits unsere Vorfahren gesungen haben.«

»Wovon handelt der Text?«

»Ach, er ist schrecklich deprimierend. Es geht um eine Frau, die ihre große Liebe ans Meer verliert und sich dann wegen ihres gebrochenen Herzens ertränkt. So sind die meisten Lieder, außer sie haben die Vertreibung der Highlander durch die englischen Gutsherren zum Thema. Die Leute hier haben ein langes Gedächtnis. Und Sie? Sind Sie hergekommen, um zu malen?«, wechselte sie das Thema. »Ich habe zu Mick gesagt, wir könnten hier im Pub eine kleine Ausstellung veranstalten, wenn Sie wollen. Bestimmt würden viele kommen und einige vielleicht sogar was kaufen – es sei denn, sie sind vom Preis her …«

Sie ließ den Satz in der Luft hängen und rieb Daumen und Zeigefinger aneinander.

»Oh, das ist sehr freundlich von Ihnen …« Zoe spürte, wie sie nervös wurde. »Allerdings hatte ich gar nicht vor, welche zu verkaufen. Ich bin ein bisschen aus der Übung, wissen Sie, und wollte vor allem hier wieder zu mir selbst und damit zum Malen finden.«

»Na ja, lassen Sie es uns wissen«, erwiderte Kaye unbeirrt. »Es ist ja nicht so, dass wir Experten sind. Selbst wenn die Bilder totaler Scheiß wären, würden wir es nicht merken.« Sie brach in schallendes Gelächter aus und versetzte Zoe mit dem Handrücken einen Klaps auf den Arm. »Ich ziehe Sie nur auf, keine Sorge. Bestimmt sind Ihre Gemälde kein Scheiß. Ed, du würdest sicher eines kaufen, oder?«

Sie knuffte den Fiedler, der ebenfalls an den Tresen gekommen war, in die Rippen, woraufhin der junge Mann sich umdrehte und Zoe hinter dem Vorhang seiner langen Haare ein schüchternes Lächeln schenkte. Er trug eine große Schildpattbrille, hinter der im diffusen Licht seine Augen nicht deutlich zu erkennen waren.

»Was soll ich kaufen?«

»Eines von Zoes Gemälden.«

»Oh. Na ja, äh, was stellen sie denn dar?«

»Bisher habe ich noch keine gemalt«, gestand Zoe mit einem verlegenen Lächeln. »Ich meine, von dieser Gegend, andere schon. Meistens Landschaften. Im Stil der Impressionisten. Nicht sehr originell.«

Er zuckte die Schultern. »Jeder mag Landschaften, oder? Ich meine, da weiß man wenigstens, was es ist. Niemand steht in Galerien herum und streitet darüber, was eine Landschaft zu bedeuten hat, ist es nicht so?«

Um ein Haar hätte Zoe widersprochen und dem jungen Mann erklärt, dass man sehr wohl über Landschaften streiten konnte, bremste sich aber im letzten Moment. Um nicht überheblich oder herablassend zu wirken. Das würde nicht gut ankommen. Als der Fiedler seine Brille abnahm und sie mit dem Saum seines Hemdes putzte, sah sein Gesicht ganz weich und irgendwie hilfsbedürftig aus.

Soeben stellte die Bedienung ein Pint dunkles Bier vor ihm auf den Tresen. Es handelte sich um ein stämmiges Mädchen von vielleicht achtzehn Jahren in einem Top, das zu eng war, um schmeichelhaft zu sein. Wenig vorteilhaft waren ebenfalls ihr zu dick aufgetragenes Make-up, die dilettantisch schwarz gefärbten und zu einem zerzausten Knoten hochgesteckten Haare und die extrem gezupften Augenbrauen, die ihr flächiges Gesicht ganz verzerrt aussehen ließen. Sie beäugte Zoe mit unverhohlener Verachtung.

»Prost, Annag.«

Ed, der Fiedler, setzte seine Brille wieder auf, schlürfte von der Schaumkrone seines Bieres und fischte mit der anderen Hand in seiner Hosentasche nach Münzen. Dem Mädchen hinter der Bar schenkte er keinen Blick. Stattdessen neigte er den Kopf in Zoes Richtung.

»Kann ich Ihnen einen Drink spendieren?«

Sie nahm ihr Glas in Augenschein, das wie von Zauberhand erneut mit zwei Fingerbreit Scotch aufgefüllt worden war. Sie würde einen Gang zurückschalten müssen. Mittlerweile begann sie die Wirkung zu spüren, wenngleich durchaus angenehm. Ein warmes, tröstliches Gefühl breitete sich in ihrem Körper aus, so als würde sie ein bisschen vor sich hin träumen.

»Ich habe noch, danke.« Sie zögerte, von dem Barmädchen mit Argusaugen beobachtet. »Hingegen würde ich gerne eine von denen da nehmen.«

Sie deutete auf seine Brusttasche, aus der ein Päckchen Marlboro Light hervorlugte. Kaum waren ihr die Worte über die Lippen gekommen, fragte sie sich, was das jetzt sollte. Seit über einem Jahrzehnt hatte sie nicht mehr geraucht – nicht mehr, seit sie mit Caleb schwanger gewesen war. Und eigentlich hatte es ihr nicht gefehlt.

Bis heute nicht.

Unvermittelt kehrte die Erinnerung an ihren ersten Tag auf dem College zurück, als sie sich eine Zigarette angesteckt hatte, kaum dass ihre Eltern weggefahren waren. Zum Zeichen, dass niemand da war, der ihr Vorschriften machte. Dass sie frei war, um sich neu zu erfinden. Weniger schüchtern und weniger eingeengt durch die Erwartungen anderer. Vielleicht war das hier ja, fünfundzwanzig Jahre später, eine ähnliche Reaktion. Dan wäre entsetzt. Sie nahm an, genau das war der Grund, weshalb sie es getan hatte.

»Na klar.« Ed klopfte auf die Zigaretten in seiner Tasche und griff nach seinem Bier. »Dafür müssen wir allerdings nach draußen gehen.«

Als sie sich umdrehte, um ebenfalls ihren Drink vom Tresen zu nehmen, bemerkte sie unverhüllte Feindseligkeit in dem flachen Gesicht des Barmädchens und begriff, dass sie unbeabsichtigt jemandem auf die Zehen getreten war.

»Eigentlich rauche ich gar nicht«, sagte sie fast entschuldigend, als sie dem Fiedler durch eine Seitentür auf einen gepflasterten Hof folgte, an dessen Ende auf einem Rasenstück ein paar Picknicktische standen. Von dort aus bot sich ein freier Blick auf die schwarze Weite des Meeres. Sie nahmen Platz, und er hielt ihr das Zigarettenpäckchen hin.

»Ich rauche lediglich da, wo mich die Kinder nicht beobachten können.«

Erstaunt musterte sie ihn. Er konnte nicht älter als Anfang zwanzig sein. Dass die Leute auf dem Land früher anfingen, wusste man, doch so früh?

»Wie viele Kinder haben Sie denn?«

»Elf.« Er legte eine bedeutungsvolle Pause ein, dann grinste er. »Das jüngste ist vier, das älteste fast zwölf. Ich bin der Dorflehrer.«

»Oh.« Zoe lachte, weil sie auf den Witz hereingefallen war, und betrachtete ihn mit neuem Interesse.

»Der einzige?«

»Ja, ich ganz alleine. Es gibt nur eine Klasse. Die älteren Kinder fahren mit der Fähre aufs Festland und sind unter der Woche im Internat.«

»Wow. Wie lange sind Sie schon hier?«

»Seit Weihnachten. Die bisherige Lehrerin musste aus gesundheitlichen Gründen in den Ruhestand gehen, und sie brauchten schnell jemanden. Ich hatte Glück. Es ist mein erster Job.«

Er lächelte schüchtern, während er ein Streichholz anzündete, schützend eine Hand um die Flamme legte und sich zu ihr vorbeugte. Ihre Gesichter kamen sich dabei so nahe, dass sie die feinen Sommersprossen auf seinem Nasenrücken erkennen konnte. Desgleichen bemerkte sie, dass er ganz lange Wimpern hatte, die fast die Gläser seiner Brille berührten und dunkler waren als seine Haare. Ein Windstoß löschte das Streichholz, bevor es ihre Zigarette erreichte.

»Warum haben Sie sich für einen so abgelegenen Ort entschieden?«, fragte sie leise.

»Dasselbe könnte ich Sie fragen«, entgegnete er lachend, doch für einen Moment meinte sie Misstrauen in seinen Augen aufblitzen zu sehen.

Auch das zweite Streichholz erlosch flackernd im Wind, und er ließ es mit einem leisen Fluch fallen.

»Weggelaufen«, ertönte eine Stimme hinter ihnen.

Zoe erschrak, als hätte man sie bei etwas Verbotenem ertappt. Als sie herumschnellte, sah sie einen Mann auf einer Bank neben der Tür sitzen, nahezu unsichtbar, so tief war er in die Schatten gehüllt. Zwischen seinen Lippen steckte eine Pfeife, zu seinen Füßen lag ein schwarzer Labrador, das Hinterteil unter der Bank verborgen.

»Jeder, der hierherkommt, versucht vor irgendetwas zu fliehen«, erklärte er seinen Einwurf in einem belustigten Ton. »Und die, die hier geboren wurden, träumen davon wegzulaufen.« Er rieb sich seinen gepflegten weißen Bart und lächelte, als hätte er einen Witz gemacht. »Hier, Edward«, er hielt dem Lehrer ein silbernes Zippo hin, »sonst stehen Sie bei dem Wind noch den ganzen Abend hier draußen.«

Der junge Mann trat vor, um das Feuerzeug entgegenzunehmen.

»Und wovor laufen Sie weg, Professor?«

Der Ältere dachte über die Frage nach.

»Vor der Geschichte«, antwortete er nach einer Pause, dann wanderte sein Blick zu Zoe. »Und Sie müssen die Künstlerin aus Amerika sein. Wir haben uns bereits auf Ihr Kommen gefreut.«

Er sprach nicht mit dem Akzent der Insulaner, sondern mit der tiefen, sonoren Stimme eines englischen Bühnenschauspielers. Eine besänftigende Stimme, fand Zoe.

Sie neigte den Kopf. »Zoe Adams.«

»Charles Joseph.«

Er streckte eine Hand aus, erhob sich aber nicht, sodass sie gezwungen war, zu ihm hinüberzugehen. Selbst im Halbdunkel ließ sich erkennen, dass sein Gesicht sonnengebräunt und wettergegerbt war und er eisblaue Augen hatte. Sein Alter hingegen war schwer zu bestimmen, zwischen fünfzig und achtzig schien alles möglich.

»Und das hier ist Horace«, fügte der Professor hinzu. »Nach dem berühmten römischen Dichter Horaz, denn er hat eindeutig eine satirische Ader.«

Der Hund zog die Augenbrauen zusammen und schlug zur Bestätigung einmal mit dem Schwanz.

»Dann sind Sie Professor für Geschichte?«, erkundigte Zoe sich.

Der alte Herr lachte. »Ich fürchte, dieser junge Mann hier schmeichelt mir. Oder er macht sich über mich lustig. Ich bin mir nie sicher, was von beidem. Früher war ich Hochschullehrer, das stimmt, hatte allerdings nie einen Lehrstuhl inne. Bin nie lange genug irgendwo geblieben.«

»Trotzdem nennen alle ihn den Professor«, warf Edward ein, ließ das Zippo aufschnappen und gab Zoe Feuer, die prompt husten musste. »Er ist unser Heimatforscher. Wenn Sie irgendetwas über die Insel wissen wollen, ist er Ihr Mann.«

»Na ja, im Allgemeinen kann ich durchaus ein Buch nennen, das weiterhilft.« Charles Joseph zog an seiner Pfeife und verschränkte die Arme vor der Brust. »Mir gehört das Antiquariat in der High Street. Schauen Sie mal vorbei. Ich mache hervorragenden Kaffee, und außerhalb der Saison ist nicht viel los. Ich freue mich immer über Besuch.«

Grinsend verzog er sein Gesicht, und Zoe bemerkte, dass ein Meer von Lachfältchen seine Augen umgab.

»Er stellt sein Licht immer unter den Scheffel«, erklärte Edward und blies kunstvolle Rauchkringel aus. »Die meisten dieser Bücher hat er nämlich selbst geschrieben. Lassen Sie sich von ihm die Geschichten der Insel erzählen. Bloß passen Sie auf, dass er Sie nicht komplett zutextet.«

Er grinste Charles an, und Zoe spürte die tiefe Verbundenheit zwischen den beiden vom Alter her so unterschiedlichen Männern. Vielleicht war es ja eine Frage der Bildung. In einem kleinen Ort wie diesem rückten die Belesenen und geistig Interessierten meist zusammen, sie kannte das aus eigener Erfahrung.

»Als Aufwandsentschädigung für derartige Dienste pflege ich ein Zimtbrötchen von Maggie’s zu verlangen«, ergriff Charles erneut das Wort und nahm die Pfeife aus dem Mund. »Das ist die Bäckerei drei Türen neben meinem Laden. Bringen Sie mir eines davon, und ich erzähle Ihnen so viele Geschichten, wie Sie wollen.«

Zoe dachte an Micks Warnung vor den Einheimischen und ihren Schauergeschichten, mit denen sie Neuankömmlingen Angst einjagten, und nahm einen weiteren Zug von ihrer Zigarette, der sie nicht mehr ganz so stark runterzog wie der erste.

»Woher wissen Sie so viel über diesen Ort?«, fragte sie.

»Ich habe früher eine Zeit lang hier gelebt, vor vielen Jahren.« Charles hielt einen Moment inne, um seine Pfeife wieder anzuzünden. »Und nach meinem Eintritt in den Ruhestand bin ich hierher zurückgekehrt. Tief in mir habe ich immer gewusst, dass ich das tun würde.«

Seine Worte klangen irgendwie fatalistisch, ähnlich wie die von Mick.

»Haben Sie die Insel vermisst?«

»Sie hat mich eher zurückgerufen. Ganz einfach. Ich habe mich umgesehen und bin auf die Idee gekommen, dass die Leute einen Buchladen gut gebrauchen könnten.« Er paffte mit einem wehmütigen Lächeln seine Pfeife. »Leider teilen nicht viele meine Meinung, wenn ich von meinem Kontostand ausgehe.«

»Unsinn«, warf Edward ein. »Die Leute lieben den Laden. Ihre Gewinnspanne wäre weitaus höher, wenn Sie nicht ständig Bücher verschenken würden.«

»Na ja, genau das ist ja das Problem, wissen Sie.« Charles beugte sich vor, zeigte mit der Pfeife in der Hand auf Zoe. »Jedes Mal, wenn jemand hereinkommt, glaube ich genau zu wissen, was er oder sie lesen sollte. Aber die Leute haben sehr eingefahrene Vorstellungen – ist Ihnen das mal aufgefallen? Manchmal muss ich sie regelrecht zwingen, dass sie ein bestimmtes Buch nehmen, und dann kann ich ihnen kaum etwas dafür berechnen. Mit meinem Rat wiederum liege ich so gut wie nie falsch – Edward wird es Ihnen bestätigen. Außerdem«, er unterbrach sich und stieß eine wohlriechende Rauchwolke aus, »hasse ich es zu sehen, wie Bücher ungeliebt in einem Regal herumstehen. Mir ist es weitaus lieber, wenn sie ein Zuhause finden.«

»Nicht die klügste Art, ein Geschäft zu führen«, warf Edward liebevoll ein.

Charles neigte den Kopf. »Stimmt. Nur ein Idiot würde ein Antiquariat eröffnen, um reich zu werden.«

»Haben Sie als Kind hier gelebt?«, erkundigte Zoe sich.

Charles betrachtete sie, die weißen Augenbrauen gefurcht, als ob die Frage eine sorgfältige Abwägung erforderte.

»Hier stecken Sie also!« Die Tür knallte gegen die Wand, und Kaye stand auf der Schwelle, ein Glas mit Wasser in einer Hand, und richtete mit gespieltem Tadel einen Finger auf Zoe. »Ich dachte bereits, wir hätten Sie verloren.« Als ihr Blick auf Charles fiel, veränderte sich ihre Miene. »Hat er Ihnen Unsinn in den Kopf gesetzt?«, fragte sie mit einem Nicken zu ihm hin.

Zwar bemühte sie sich um einen leichten Ton, doch die unterschwellige Schärfe in ihren Worten war nicht zu überhören und die Besorgnis in ihren Augen nicht zu übersehen.

»Nein, dort befindet sich allein der Unsinn, der früher schon da war«, erwiderte sie lächelnd.

»Er ist ein großartiger Geschichtenerzähler, unser Professor«, fuhr Kaye im Plauderton fort, der nicht ganz ehrlich klang. »Unterhält uns alle am Feuer, wenn die Abende länger werden. Ed, kommst du? Bernie will in fünf Minuten anfangen. Und lass mich schnell mal ziehen.« Sie nahm Edward seine halb gerauchte Zigarette aus der Hand, nicht ohne einen schuldbewussten Blick zu den oberen Fenstern des Gebäudes zu werfen. »Wenn meine Mädchen jetzt rausschauen, kriege ich Ärger.«

Ein letzter tiefer Lungenzug, dann drückte sie die Zigarette in einem Eimer mit Sand neben der Tür aus. Edward vergrub die Hände in seinen Jeanstaschen und neigte den Kopf in Zoes Richtung.

»Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen. Hoffe, wir sehen Sie hier bald wieder«, sagte er und sah linkisch zur Seite.

Flirtete er etwa mit ihr, fragte sie sich konsterniert und musste sich bemühen, einen neutralen Ton anzuschlagen. Die Vorstellung war schließlich völlig absurd.

»Na klar«, gab sie gleichmütig zurück.

Er nickte, winkte Charles kurz zu und verschwand im Pub, während Kaye demonstrativ darauf wartete, dass Zoe sie ebenfalls nach drinnen begleitete. Inzwischen vollends erschöpft und müde, tat sie ihr den Gefallen. Die Zigarette schmeckte ihr ohnehin nicht mehr. An der Tür wandte sie sich noch einmal zu Charles um.

»Ich werde nach Ihrem Laden Ausschau halten, Mr Joseph«, verabschiedete sie sich – ihn Professor zu nennen, schien ihr zu vertraulich.

»Bitte tun Sie das.« Er streckte eine Hand nach unten aus, um den Hund zwischen den Ohren zu kraulen. »Horace und ich sind jeden Tag dort und plaudern mit jedem, der vorbeischaut, über Gott und die Welt. Wir würden uns sehr freuen, Sie wiederzusehen. Ich verspreche Ihnen, eine interessante Lektüre für Sie herauszusuchen.«

»Benehmen Sie sich anständig«, mahnte Kaye, über deren Gesicht erneut ein Schatten huschte. »Miss Adams ist unser Gast.«

Wieder dieser scherzhafte Ton mit dieser unterschwelligen Warnung. Seltsam, dachte Zoe. Obwohl Kaye den Professor mochte, schien sie bestrebt, ihn von ihr fernzuhalten. Warum? Befürchtete sie etwa, er könnte ihr irgendein Gruselmärchen erzählen, vor dem sie sich so sehr erschreckte, dass sie auf der Stelle Reißaus nahm und via TripAdvisor zudem von einer Reise auf die Insel abriet?

Der Gedanke, man könnte sie für so einfältig halten, entlockte ihr ein Lächeln. Die Leute hatten ja keine Ahnung! Nichts konnte schlimmer sein als die Geschichte, die sie mit sich herumtrug. Außerdem hatte sie die halbe Miete für das Haus im Voraus bezahlt, da würde sie den Teufel tun und kneifen.

Nach der kühlen Nachtluft im Hof machten ihr die Hitze des Kaminfeuers und das Gedränge in dem engen Schankraum zu schaffen. Der Whisky auf leeren Magen rumorte in ihrem Bauch, vom Nikotin war ihr schwindlig, was wiederum ihr Sehvermögen trübte. Sie lehnte sich an eine Wand, schloss für einen Moment die Augen und holte tief Luft, um die aufsteigende Übelkeit zu vertreiben. Wenngleich sie kein Interesse hatte, hier Freundschaften zu schließen, wollte sie nicht als die Frau in die Dorfhistorie eingehen, die sich binnen einer Stunde nach ihrer Ankunft im Pub übergeben hatte.

»Geht es Ihnen gut?« Kaye legte ihre üppig beringten Finger auf Zoes Schulter und tätschelte sie, als hätte sie ein Kind vor sich.

Zoe nickte. »Die Toilette?«

»An der Bar vorbei, auf der rechten Seite.«

In dem winzigen Kabuff war es noch stickiger, was am Dauerbetrieb der Händetrockner lag, denn bei so vielen Gästen gab man sich hier die Klinke in die Hand. Zoe zog ihre Fliegerjacke aus und klemmte sie sich zwischen die Knie, spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und trocknete es mit dem Ärmel ihres Jeanshemds ab. Als sie sich aufrichtete, starrte ihr aus dem Spiegel schemenhaft ihr bleiches, erschöpftes Gesicht entgegen. Die Ringe unter ihren Augen waren so dunkel, dass sie blutunterlaufen aussahen. Sie hatte sich vor dem Flug abgeschminkt und sich vor der Landung nicht die Mühe gemacht, ein neues Make-up aufzutragen. Jetzt bedauerte sie das.

Es war eine lange, umständliche Reise gewesen. Erst der Transatlantikflug von Hartford/Connecticut ins irische Dublin und von dort über die Irische See ins schottische Glasgow, dann fünf Stunden Zugfahrt nach Norden zur Fähre und eine zweistündige Überfahrt. Bei der Planung zu Hause war es ihr als Superidee erschienen, die ganze Anreise in einem Rutsch hinter sich zu bringen, ohne Zwischenstopps, ohne Unterbrechungen zum Sightseeing. Schließlich war sie nicht wegen der Touristenattraktionen auf die Britischen Inseln gekommen. Ihr Ziel war einzig und allein dieses weitläufige alte Haus an dieser abgeschiedenen Küste, das sie mit seiner Einsamkeit geradezu magisch angezogen hatte.

Das hatte sie nun davon, sich eine solch hirnrissige Mammuttour zuzumuten. Sie kam sich vor wie in einem zeitlosen Vakuum, vermochte sich kaum zu erinnern, wann sie das letzte Mal geduscht oder etwas gegessen hatte.

Entschlossen erwiderte sie den vorwurfsvollen Blick ihres Spiegelbilds. Sie schienen beide enttäuscht voneinander zu sein. Fast dreiundvierzig, und man sah ihr jeden einzelnen Tag davon an. Hatte sie wirklich eine Sekunde geglaubt, dieser ernste, gut aussehende junge Lehrer hätte mit ihr geflirtet? Selbst wenn der Jetlag vorbei war und sie sich einigermaßen erholt hatte, würde sie ihr Alter nicht verleugnen können. All die Turbulenzen des vergangenen Jahres hatten sich unauslöschlich in ihre Haut gegraben.

Sie musste froh sein, wenn sie in der Einsamkeit dieser Insel wieder zu sich fand.

Dennoch wollte sie wenigstens die größten optischen Schäden zu reparieren versuchen. Sie kramte in ihrer Jackentasche und förderte einen Chanel-Lippenstift und eine Tube Make-up zutage – die hatte sie in letzter Minute eingesteckt für alle Fälle. Was für Fälle, was für Anlässe? Wer würde sich auf einer kleinen Insel vor der Westküste Schottlands schon aufbrezeln? Dazu im Winter, wenn die Einheimischen quasi unter sich waren? Vielleicht war es eine letzte Referenz an ihre Weiblichkeit, ansonsten hatte sie fast ausschließlich zweckmäßige Klamotten im Armylook wie ihre Fliegerjacke oder unförmige Pullover eingepackt.

Zoe trug gerade ein bisschen Farbe auf, als die Tür aufging und ein anderes Gesicht neben ihr im Spiegel auftauchte, das sie unfreundlich musterte. Annag, die junge Bedienung.

»Sie sind die, die das McBride-Haus gemietet hat. Oder?«, erkundigte sie sich. Ihr Akzent war breit und ungeschliffen, verriet eine geringe Schulbildung. »Mutig«, fügte sie in einem schadenfrohen Ton hinzu.

»Ich dachte, das Haus gehört Mick und Kaye«, erwiderte Zoe. »Den Drummonds.«

Warum das Anmieten des Hauses mutig sein sollte, fragte sie nicht. Sie wollte diesem Mädchen, das sichtlich darauf brannte, es ihr zu erzählen, keinen Vorschub leisten.

»Hier in der Gegend wird es immer das McBride-Haus sein«, erklärte Annag mit einem bedeutungsvollen Blick.

»Hat es nicht einen anderen Namen?« Zoes Neugier siegte über ihre Abneigung dem Mädchen gegenüber. »Irgendein komisches Wort, vermutlich gälisch, das ich nicht aussprechen kann.«

Annag gab fremdartige, kehlige Laute von sich.

»So spricht man es aus. Der Name bedeutet Ruhestätte«, erklärte sie.

»Oh. Das ist ja nett.«

»Finden Sie?«, meinte das Mädchen mit einem gehässigen Grinsen.

Ein Schauer durchlief sie, als es ihr dämmerte. Hatten die Leute, die diesen Namen ausgesucht hatten, nicht an die makabre Doppelbedeutung gedacht? Oder, schlimmer noch, hatten sie es bewusst und mit voller Absicht getan?

»Leihen Sie mir mal Ihren Lippenstift?«

Eine pummelige Hand streckte sich ihr entgegen, die abgekauten Fingernägel waren mit einem abblätternden Grün bemalt. Zoe zögerte. Es widerstrebte ihr, einer wenig appetitlichen Fremden ihren Lippenstift zu überlassen, doch ihr fiel kein guter Grund ein, die Bitte abzuschlagen, der nicht kränkend gewesen wäre.

Widerstrebend reichte sie Annag das Gewünschte und beobachtete angeekelt, wie das Mädchen den Mund kreisförmig öffnete und reichlich Farbe auftrug, um sich anschließend sichtlich zufrieden zu betrachten.

»Warum ist das denn mutig von mir?«, kam Zoe auf das Haus zurück. »Ich nehme mal an, dort spukt es oder so, richtig?«

Obwohl sie versuchte, die Sache ins Lächerliche zu ziehen, war ihr ein bisschen mulmig zumute.

Dem Mädchen offenbar ebenfalls, denn es ruderte mit einem Mal zurück.

»Ich hab bloß gemeint, so ganz allein dort draußen zu wohnen. Mitten im Nirgendwo. Das ist mutig für eine Frau.« Sie griff mit einer Hand in ihr Top und rückte einen verrutschten BH-Träger zurecht. »Ich wollte nicht sagen …« Sie wandte sich zu Zoe um, die sie bislang lediglich im Spiegel betrachtet hatte. »Egal, was die Leute sagen, von mir haben Sie’s nicht gehört, okay? Gott, Mick würde mich umbringen.«

Dann hatte der Wirt sie also gewarnt, irgendwelche Geschichten zu erzählen, die über dieses Haus in Umlauf waren. Waren alle anderen im Ort desgleichen zum Schweigen vergattert worden? Sogar Charles Joseph, der eigentlich nicht so aussah, als würde er sich den Mund verbieten lassen? Was konnte so schrecklich sein, dass Kaye und Mick allen Ernstes befürchteten, es könnte sie vertreiben? Bestimmt war es in Wahrheit nicht mehr als eine Gruselgeschichte, wie sie sie aus Highschoolzeiten von Übernachtungspartys kannte. Zoe erinnerte sich besonders an eine, wo ein Mädchen ein Scheppern auf dem Autodach hörte und dann feststellen musste, dass es sich um den Kopf ihres Freundes handelte. So etwas bekam man eben auch am Arsch der Welt vorgesetzt, sagte sie sich. Schließlich hatten die Leute hier ansonsten nicht viel Unterhaltung.

Trotzdem blieb ein leichtes Unbehagen.

»Ich habe bisher nichts Verdächtiges über das Haus gehört«, begann sie, um das Mädchen aus der Reserve zu locken.

»Na, dann werden Sie hoffentlich tief und fest in Ihrem Bett schlafen.«

Mit diesen Worten, die ganz und gar nicht beruhigend, sondern eher hinterhältig wirkten, verließ Annag den winzigen Toilettenvorraum. Den Lippenstift nahm sie mit.

Zoe beschloss, ihr nicht nachzulaufen und ihn zurückzufordern, wohl aber in Zukunft einen möglichst weiten Bogen um das Mädchen zu machen.

Am besten um jeden hier. Sie warf einen letzten Blick auf ihr erschöpftes Spiegelbild und verzichtete auf weitere Restaurierungsmaßnahmen. Den bereits aufgetragenen Lippenstift wischte sie mit einem Taschentuch ab.

Selbst im Dunkeln sah das Haus imposant aus. Die an der Vorderseite installierten Bewegungsmelder ließen die Außenlampen grell aufleuchten wie Suchscheinwerfer in einem Gefängnishof, als der Landrover in die Einfahrt bog. Mick hob eine Hand, um seine Augen abzuschirmen. Das Licht erhellte ein weitläufiges, dreistöckiges Haus mit hohen gotischen Fenstern im ersten Stock, Rautenglas, verschnörkelten Dachgiebeln, mehreren hohen Schornsteinen und einem sechseckigen Türmchen als Krönung. Warmes Licht schimmerte aus einem der Fenster im Parterre. Als Zoe sich von ihrem Sitz auf den Kies schwang, konnte sie das Donnern der anbrandenden Wellen auf der anderen Seite des Hauses hören.

»Kaye hat Ihnen ein paar Kleinigkeiten dagelassen – Brot und Milch und so«, erläuterte Mick, während er ihr Gepäck aus dem Kofferraum nahm. »Dürfte fürs Frühstück reichen. Außerdem hat sie einen Ordner angelegt, in dem steht, wo Sie was finden, außerdem unsere Nummern und noch ein paar andere, die Sie vielleicht brauchen könnten. Ich dachte, ich schaue morgen vor dem Mittagessen vorbei und zeige Ihnen, wie der Generator funktioniert, wo wir das Holz lagern, so’n Zeug eben. Und dann fahre ich Sie, wenn Sie wollen, zum Supermarkt.«

Zoe murmelte einen Dank, hörte nur mit halbem Ohr zu und starrte stattdessen zum Nachthimmel hoch. Ein frischer Wind jagte Wolkenfetzen vor den Mond, dahinter glitzerte ein riesiges Sternenmeer über den tintenblauen Weiten. Klagende Schreie vereinzelter Seevögel, die offenbar auch nachts jagten, drangen an ihr Ohr.

»Warum nennen die Leute es das McBride-Haus?«

Mick hielt inne mit Ausladen, zögerte eine Weile, bevor er ungewohnt zurückhaltend antwortete.

»McBride war der Bursche, der es gebaut hat, 1860.«

»War er ein Verwandter?«

»Er hat meine Ururgroßtante geheiratet. Dann fiel es an ihren Bruder, meinen Ururgroßvater. Seitdem befindet es sich im Besitz meiner Familie. Trotzdem ist der Name hängen geblieben. Und jetzt«, wechselte er in einem krampfhaft fröhlichen Ton das Thema, »schaffen wir das ganze Zeug hinein, und dann können Sie sich einrichten.«

Er trug ihr Gepäck in eine geräumige Diele, stellte es am Fuß der Treppe ab und schaltete alle Lichter ein. Es roch nach frischer Farbe, Möbelpolitur und dem schweren Duft eines Lilienstraußes, der auf einer Kommode gegenüber der Eingangstür stand.

»Schöne Blumen«, sagte Zoe, um das Schweigen zu durchbrechen.

»O ja, hat Kaye besorgt«, erwiderte Mick stolz, doch seine Augen huschten herum, als würde er erwarten, dass irgendwer aus einer der Türen zum Vorschein kam.

»Ganz lieb von ihr – richten Sie ihr bitte meinen Dank aus?«

Inzwischen war es nach elf, wie die Standuhr anzeigte. Zoe wollte nichts anderes, als endlich zu schlafen, und betete, Mick möge endlich gehen.

»Na dann. Hier sind Ihre Schlüssel. Das sind die für die Haustür. Die für die Hintertür hängen an einem Haken in der Küche.«

Mick drückte ihr einen schweren Schlüsselring in die Hand, vergrub seine Hände in den Taschen seiner Lederjacke und schaute unschlüssig zur Haustür. Offenbar hatte er etwas auf dem Herzen, schien aber nicht zu wissen, wie er seinen Besuch noch länger ausdehnen könnte. Einen verlegenen Moment lang fragte sich Zoe, ob er auf ein Trinkgeld aus war, was sie allerdings für mehr als unwahrscheinlich hielt.

»Soll ich Ihnen die hochtragen?«, fragte er schließlich mit einem Blick auf die Koffer.

»O nein, das schaffe ich schon«, protestierte sie vergeblich, denn er war bereits auf halbem Weg die Treppe hoch und versicherte, das mache gar keine Umstände.

»Na dann«, meinte er, als er wieder herunterkam. »Ich nehme an, ich sollte Sie jetzt besser allein lassen. Das Wasser aus dem Hahn können Sie übrigens unbesorgt trinken. Leider, das wissen Sie ja, gibt es hier kein Internet.«

Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Das ist okay. Es wird mir guttun, eine Weile offline zu sein.«

»Auf dieser Seite der Insel haben sie noch keine Kabel verlegt«, entschuldigte Mick sich, als läge der Fehler bei ihm. »Nächstes Jahr soll es so weit sein. Sie können gern zum Pub kommen und bei uns E-Mails und so verschicken.« Er zögerte erneut, fuhr sich mit einer Hand durch sein schütteres Haar. »Wie gesagt, unsere Nummer finden Sie in dem Ordner dort. Rufen Sie uns an, wenn Sie irgendwas brauchen, jederzeit. Sind bloß fünf Meilen, ich kann im Handumdrehen hier sein, wenn es irgendein Problem gibt.«

»Ich werde versuchen, Sie nicht zu stören, soweit ich es vermeiden kann. Außerdem bin ich ziemlich eigenständig.«

Sie war sich nicht sicher, ob das wirklich stimmte. Immerhin war es lange her, seit sie die Probe aufs Exempel gemacht hatte. Egal. Hauptsache, Mick glaubte es.

»Aha, das ist gut. Wie auch immer, wir sind da, falls Sie uns brauchen. Im Ernst, jederzeit. Tag oder Nacht.« Sein Ton war eindringlich, und sein Blick huschte unsicher zum oberen Ende der Treppe. »Dann bis morgen Mittag. Ich hoffe, Sie haben eine angenehme Nachtruhe.«

»Die werde ich bestimmt haben«, erklärte sie mit fester Stimme und ging voraus zur Tür, sodass ihm nichts anderes übrig blieb, als zu gehen.

Er hob grüßend die Hand, während er den Landrover zurücksetzte, doch im weißen Lichtkegel der Außenleuchten sah sie seine besorgte Miene, genau wie zuvor in der Diele.

Als das Geräusch des Motors verklungen war, schloss Zoe die Tür, ließ sich auf den Boden sinken und lehnte sich gegen das Türblatt.

Er war als Vermieter unerfahren, sagte sie sich, und entsprechend nervös, übertrieb dabei ein bisschen mit seiner Sorge um ihr Wohlbefinden. Was sich vermutlich legen würde, sobald sich alles eingespielt hatte. Hoffte sie zumindest, denn sie wollte als ganz normale Mieterin behandelt werden und nicht etwa als Gast, was Mick und Kaye immer betonten. Das klang irgendwie nach Familienanschluss, viele Leute begriffen einfach nicht, dass jemand sich nach Einsamkeit sehnte.

Auf einem Konsolentisch in der Diele stand ein Telefon. Sie überlegte kurz, zu Hause anzurufen, verwarf den Gedanken aber sogleich wieder. Sie war zu müde, zu benebelt vom Whisky. Außerdem hatte sie Dan vom Flughafen aus eine SMS geschickt, dass sie gut angekommen sei, das musste fürs Erste reichen. Sie rappelte sich hoch, schaltete die Lampen aus und stieg die Treppe hinauf in den ersten Stock. Dort standen ihre Koffer vor der Tür zu einem Zimmer, in dem Licht brannte, einem großen Schlafzimmer in den Farben Weiß, Schiefergrau und Enteneiblau mit einem kleinen En-suite-Bad wie in einem Hotel. Sie warf ihre Jacke über einen Stuhl, zog ihre Stiefel aus und trank ein paar Schluck kaltes Wasser. Dann löschte sie die Lampen, ließ sich aufs Bett fallen und schlief vollständig angezogen ein. Das McBride-Haus versank in tiefer Dunkelheit.

2

In jener Nacht träumte Zoe. Sie lag nackt auf einer niedrigen Couch in der Galerie mit den hohen Fenstern, die auf der ganzen Westseite des Hauses mit Blick aufs Meer verlief. Beide Arme waren über ihren Kopf nach hinten gestreckt und gefesselt, sodass sie sich nicht bewegen konnte. Um sie herum tiefe Schatten, nur ein fahler Streifen Mondlicht fiel herein und tauchte den polierten Dielenboden in einen silbrigen Schimmer.

Obwohl sie niemanden sehen konnte, spürte sie, dass jemand in der Nähe war und sich auf sie zubewegte.

Dann begannen zwei Hände, die sich aus dem Dunkeln nach ihr ausstreckten, Muster auf ihre Haut zu zeichnen. Heißer Atem strich über Hals und Schultern. Ihre Muskeln spannten sich an, ihre Brustwarzen richteten sich auf, und ihre Hüften hoben sich – am ganzen Körper spürte sie, wie ihre Erregung anstieg und sie sich öffnete. Trotz dieser ausgelieferten Position hatte sie keine Angst, verspürte sogar ungewohnte Freude und Stolz über ihren Körper – ein Gefühl, das sie veranlasste, sich ihm entgegenzustrecken, sich ihm darzubieten.

Irgendwie schien er sie zu kennen, dieser unbekannte Liebhaber. Er wusste genau, wie sie berührt werden wollte, was sie brauchte, und sie vertraute ihm, seinen geübten Händen, seinem Mund und seiner intuitiven Art, auf ihr Verlangen und ihre Bedürfnisse einzugehen. Sie lieferte sich ihm aus, wartete, was er tat, und akzeptierte es. Alles. Seine Lippen hauchzart auf ihren Brüsten, die Hände besitzergreifend um ihre Taille gelegt. Seine Zunge, die ihre Brustwarze umkreiste und eine Schockwelle in ihr auslöste, die ihren ganzen Körper erfasste, durch ihre Lenden schoss und sie erzittern ließ, als hätte ein Stromstoß sie getroffen. Sie wollte schreien vor Lust, doch wie immer in Träumen brachte sie keinen Laut heraus. Nicht einmal, als sein Mund sich über ihrer Brust schloss und an ihr saugte, erst sanft, dann immer fester und unterstützt durch kleine Bisse. Ungeduldig reckte sie ihm jetzt die Hüften entgegen, öffnete die Beine, damit er eine Hand dazwischenschieben konnte, während sein Mund über die Weichheit ihres Bauches glitt.

Gut, flüsterte er in ihrem Kopf.