9,99 €
Für Leserinnen von ›Gone Girl‹ und ›Solange wir lügen‹ New York, Upper East Side: Kate O'Brien, eine Meisterin im Lügen und Manipulieren, hat ihre glänzende Zukunft genau geplant: ein Studium in Yale! Die mittellose Stipendiatin einer Eliteschule sucht sich berechnend die superreiche und leicht beeinflussbare Olivia Sumner als Freundin. Obwohl Kate bald bei Olivia einzieht, verschweigt sie ihre dunkle Vergangenheit, auch Olivia verliert kein Wort darüber, warum sie ein Jahr lang wie vom Erdboden verschwunden war. Als der gutaussehende und charmante Mark Redkin auftaucht, spürt Kate instinktiv, dass Mark nicht nur ihre Pläne durchkreuzen kann, sondern gefährlich ist. Dennoch muss sie hilflos zusehen, wie ihre Freundin ihm verfällt. Zwischen Kate, Olivia und Mark entspinnt sich ein abgründiges Katz-und-Maus-Spiel ... Atemlos, spannend, mit unerwarteten Wendungen bis zum überraschenden Ende.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 377
Teresa Toten
Beware That Girl
Sie weiß alles über dich
FISCHER E-Books
Für Ken, immer und immer wieder
»Kommst du mit in meinen Salon?«, sagte die Spinne zur Fliege.
– Mary Howitt
Keines der beiden Mädchen rührte sich. Die Blonde auf dem Bett rührte sich nicht, weil sie nicht konnte. Und die Blonde auf dem Stuhl nicht, weil sie, nun ja, es offenbar auch nicht konnte.
Zwei Ärzte, eine Schwester und ein Krankenpfleger platzten herein und zerstörten die Stille. Mit Hilfe eines Lakens hoben sie den Körper im Bett hoch, wechselten das Bettzeug, überprüften Puls und Herzfrequenz, punktierten, tasteten, leuchteten in blicklose Augen. Schließlich entfernten sie den langen zylindrischen Schlauch, der am Mund des Mädchens festgeklebt war. Kein schöner Anblick.
Der Körper zuckte, bäumte sich auf und verkrampfte dann.
Als sie gingen, nahm das Mädchen auf dem Stuhl wieder seine Wache auf, benommen von dem Gestank nach Ammoniak und Latex. Die Ärzte sagten ihr nie irgendwas, darum stellte sie inzwischen keine Fragen mehr. Das Mädchen im Bett war an einen verknäulten Wirrwarr von Schläuchen und Kabeln angeschlossen. Sie führten von ihrem zerschundenen Körper zu mehreren Monitoren und einer Stange, die sich verzweigte wie ein stählerner Baum, an dem Beutel mit Infusionsflüssigkeit blühten. Überall piepte und summte es, aber die Mädchen hörten es nicht. In den achtundvierzig Stunden seit ihrer Ankunft unterbrach das Mädchen auf dem Stuhl nur selten ihre Wache, um sich zu strecken oder auf die Toilette zu gehen. Ihr normalerweise schönes blondes Haar klebte ihr am Kopf und wirkte dunkler durch den Schweiß und das getrocknete Blut.
Sie saß da, fasziniert von den Monitoren, den ständig wechselnden bunten Punkten, den unentzifferbaren Diagrammen und der grünen welligen Linie. Die grüne Linie war wichtig. In all den Stunden saß sie still da, und erst als Detective Akimoto sich in der Tür räusperte, drehte sie sich schwerfällig um und sah ihn an.
»Tut mir leid, aber ich muss Sie bitten, einen Augenblick herauszukommen.«
Das Mädchen wandte sich ihrer Freundin zu, deren Mund an der Stelle, wo man das Pflaster abgerissen hatte, rot und wund war.
Der Detective blätterte in einem kleinen schwarzen Notizblock, dann klickte er mehrmals mit seinem Stift.
»Also, bitte.«
Draußen im Flur schlenderten ein paar Männer umher. Polizisten.
»Wir haben ein paar Fragen zu Ihrer Freundin und außerdem zu einem gewissen … Mr Marcus Redkin.«
Mark.
Mit einiger Mühe stand sie auf. Das Zimmer geriet ins Schwanken. »Ja, Sir.« Verstohlen blickte sie noch einmal zu der grünen welligen Linie.
Das Mädchen im Bett bewegte sich ein wenig. Aber niemand sah es. Aus ihrem Mund perlten Worte, die stumm vom Bett auf den Boden fielen.
Niemand hörte sie.
Ich bin keine krankhafte Lügnerin, ich lüge nicht zum Spaß. Ich lüge nur, weil ich es muss. Die Sache ist die, ich habe immer gelogen, weil ich es immer musste. Ich kann gut leben mit meinen Lügen. Kein Problem. Mehr gibt’s dazu nicht zu sagen. Außer vielleicht, dass ich ein besseres Leben will. Halt, das ist eine Lüge. Ich will ein reiches Leben.
Und noch was – Hunde und kleine Kinder mögen mich, ist also nichts dran an dem lahmen alten Spruch. Auch verrückte reiche Mädchen mögen mich. Ich bin die Wahnsinnsfreundin, die Wie-konnte-ich-ohne-dich-leben-Freundin. Die Es-macht-so-viel-Spaß-mit-dir-Freundin. Die Freundin mit den Schultern zum Ausweinen. Ich bin die rettende Freundin, und Rettung hat ihren Preis. Aber ich schweife ab. Ein tolles Wort, abschweifen. Es ist rotzig und schwerer unterzubringen, als man denkt.
Ich hatte sie seit Tagen beobachtet.
Zuerst ging es nur um die Jagd, darum, keine Fehler zu machen. Es war die altbekannte irre Hölle: Wo muss ich hin? Wer ist wer? Blamier dich nicht in der neuen Schule, etc., etc. Aber ich kann mich konzentrieren wie kein anderer. Ein paar Mädchen wurden unter die Lupe genommen und verworfen. Zu ordentlich, zu normal, zu selbstbewusst oder (der Todeskuss) nicht wirklich reich, auch wenn sie scheinbar das nötige Drumherum hatten. Ich kenne den Unterschied. Schließlich verbrachte ich den größten Teil der Highschoolzeit in den allerbesten Privatschulen für Mädchen. Ich war immer die Stipendiatin, die Interne. Das Mädchen, für das man seine Eltern überredet, sie am Wochenende und in den Ferien mit nach Hause bringen zu dürfen.
Ich weiß, wie fertig diese Mädchen hinter ihrem Panzer aus SUV und Louboutins sind. Irgendeine musste es geben. Meine Gönnerin war irgendwo in dieser letzten Highschoolklasse.
Und dann, am Anfang der zweiten Woche, war sie plötzlich da – blond und reich und gerade kaputt genug. Schön, keine Freundinnen, und sie roch nach Psychopillen. Egal, das traf auf die halbe Schule zu. Aber dieses Mädchen war ein Geschenk. Sie hatte was. Olivia Michelle Sumner: Wenn das nicht nach Geld riecht, weiß ich auch nicht. Sie war von Kopf bis Fuß Barneys und Bloomies, teuerste Privatschulklamotten. Der Rest der Mädchen machte einen weiten Bogen um sie und quiekte ihr gleichzeitig zu: »Willkommen zurück, Olivia!«, »Du bist wieder da!«, »Schön, dich zu sehen! Hey! Wow!«. Aber das waren nicht ihre Leute. So viel stand fest. Olivia schwebte durch die Gänge wie ferngesteuert. Dahinter verbarg sich eine Geschichte. Super. Olivia Sumner und ich waren nur in einem Kurs zusammen, Englisch auf College-Niveau, aber mehr braucht es auch nicht.
Und jetzt aufgepasst.
Alle herschauen.
Überleben des Stärkeren, Baby.
Olivia hielt den Hörer am Ohr und schüttelte den Kopf. »Nein, Dad, es war gut. Mehr als gut, ehrlich. Genau wie du gesagt hast.« Sie ging in dem riesigen tiefer gelegenen Wohnzimmer auf und ab. Als das nicht mehr beruhigend war, stieg sie die Stufen ins Esszimmer hoch und umkreiste den Edelstahltisch, bog dann in die Bibliothek ab und durchschritt schließlich nacheinander alle vier Schlafzimmer. Die Küche ließ sie aus. Anka klapperte mit Töpfen herum und verfluchte die Küchenmaschine. »Die ganze Woche ist nicht viel passiert, genau wie wir dachten. Es war die richtige Entscheidung, nicht die Schule zu wechseln.«
Sie war wieder im Wohnzimmer. »Nein, die Lehrer haben sich zurückgehalten und mir nur in allerbester Waverly-Manier zu verstehen gegeben, dass sie für mich da sind.« Olivia schwebte mehr über der Chaiselongue, als dass sie darauf saß, ehe sie wieder aufstand und unruhig herumlief.
»Also, wie ich schon dachte, Englisch wird anstrengend, ich bin wieder bei Ms Hornbeck. Zum Glück hab ich schon das Albee-Stück und den Cormac McCarthy gelesen. Könnte aber sein, dass ich Nachhilfe brauche, damit ich weiter zu den Besten gehöre.« Wo war eigentlich dieses Cormac McCarthy-Buch? Sie huschte in ihr Zimmer, vergaß, warum sie dort war, huschte wieder heraus.
»Nein, Mathe und Physik schaff ich mit links, das weißt du.« Sie war jetzt im Schlafzimmer ihres Vaters. Die eleganten Eichenmöbel und die Stoffe in verschiedenen Grau- und Taupetönen hatten etwas Einladendes. Olivia liebte diesen Raum. LED-Leuchten tauchten die Zeichnungen von Modigliani und Caravaggio in ein weiches, goldgelbes Licht, und die anthrazitfarbene Wandbespannung verlieh dem Raum so viel Wärme, dass sie sich darin so geborgen fühlte wie bei ihrem Vater. »Nein, nirgendwohin. Ich ertrinke in Arbeit und brauche das ganze Wochenende, um alles zu schaffen. Ja.« Sie nickte. »Bin ein bisschen aus der Übung.«
Im Rest des Penthouse befand sich undurchschaubare brasilianische Kunst neben antiken chinesischen Skulpturen. Mit Sachverstand ausgesucht, was natürlich auch der Fall war. Ehefrau Nummer zwei. Aber dieses Zimmer, sein Zufluchtsort, zeigte den klassischen Einrichtungsstil, der ihrem Vater eher entsprach.
»Nein, jetzt nur noch jeden zweiten Mittwoch. Hab ich dir schon gestern erzählt.« Sie unterdrückte ein Stöhnen. »Ja, immer noch Viertel nach fünf. Hör zu, es war Dr. Tamblyns Vorschlag. Er ist sehr zuversichtlich.« Olivia sah sich kurz im Spiegel und drehte sich weg. »Natürlich. Du kannst dich jederzeit mit Dr. Tamblyn kurzschließen. Ich setze die Medikamente nicht mehr ab. Lektion gelernt, und wie.« Sie umklammerte den Hörer so fest, dass er eine Delle in ihrem Handteller hinterließ. »Versprochen, nie wieder. Können wir damit aufhören? Es geht mir gut, uns geht es gut. Außerdem ist Anka da und passt auf wie ein Adler. Hey, bring du mal deine großen Deals unter Dach und Fach, damit hier die Lichter nicht ausgehen.« Olivia lächelte, aber sie spürte das Gewicht seiner Sorgen auf sich lasten.
»Ach, weißt du« – sie setzte sich auf das ordentlich gemachte Bett und stand wieder auf –, »sie waren nett.« Wie spät war es eigentlich? Ihr Magen fing an zu blubbern. Der Modigliani und der ganze graue Flanell wirkten nicht mehr beruhigend, Olivia war wieder auf dem Sprung. Ging zurück ins Wohnzimmer, zu den deckenhohen Fenstern, die sich entlang des Penthouse erstreckten, und blickte wie hypnotisiert auf das Kunstwerk vor den Fenstern, den großen Central Park und die lockenden Lichter aus dem Dakota. Das New York zu ihren Füßen tat ihrer Seele gut.
»Eigentlich kenn ich die Mädchen gar nicht, Dad. Du weißt doch, im vergangenen Jahr waren sie in der vorletzten Klasse, ein Jahr jünger, und letztes Jahr, nun ja, war letztes Jahr. Aber sie waren nett.« Waren sie das? Es wurde bestimmt geklatscht. Aber egal. »Komm schon, Dad, ich bin an der Waverly. Alle, die was von sich halten, haben ihren Therapeuten im Kurzwahlspeicher.« Das seidige Violett am Himmel war einem tiefen Schwarz gewichen. »Ich finde bestimmt eine Freundin. Und wenn nicht, ist es nur ein Jahr, okay?«
Den tintenschwarzen Himmel mochte sie am liebsten, schon immer. Er war heilsam. »Nein, so hab ich das nicht gemeint. Natürlich finde ich Freundinnen. Hey, fliegst du von Chicago aus nach Singapur oder kommst du vorher nach Hause?« Sie musste konzentriert bleiben. »Am Sonntag? Das ist toll, Dad! Weiß Anka Bescheid? Okay, ich sag es ihr. Nein, ich würde lieber in unser Bistro gehen. Ich bestell uns einen Tisch.«
Olivia ging zu der Chaiselongue zurück. »Ist halb acht okay?« Der Schaum in ihrem Magen blubberte. Irgendwann hatte sie ihn mal als rosafarbene Masse beschrieben, eine Mischung aus warmem Blut und Spucke. »Ja. Nein, das wäre toll, Dad. Freu mich schon.« Dr. Tamblyn zufolge würden die Medikamente auch das mit der Zeit regeln. Sie müsste nur die Einnahmezeiten streng einhalten.
»Klar. Hör auf – du weißt, ich komm zurecht. Hab dich auch lieb.« Olivia legte den Hörer auf. Jetzt saß sie mit ihrem vollen Gewicht auf der Chaiselongue.
Und wartete.
»Olivia? Du fertig telefoniert mit Mr Sumner?« Anka eilte herein und wischte sich die Hände an der Schürze ab. »Ist nicht Zeit für deine Medikamente? Ist halb sieben. Sollte nicht sechs sein? Brauchst du Wasser? Olivia?«
Sie musste mit Anka reden, damit sie sich zurückhielt. Olivia kannte den Zeitplan.
Stattdessen nickte sie, seufzte und wartete auf eine Regung, dass sie etwas spürte. Irgendetwas.
Ich lebe praktisch in der Gosse.
Der Sprung von der Gosse nach Yale erschüttert allmählich meine Sicht auf die Dinge, und das will wirklich was heißen.
Ich verdiene Besseres. Viel Besseres.
In diesem Jahr bin ich Stipendiatin an der Waverly School, und dieses Baby geht mit einem ordentlichen Stipendium einher. Um mir ein Taschengeld dazuzuverdienen, arbeite ich außerdem morgens im Büro der Schulverwaltung und reiße mir am Wochenende zweimal zehn Stunden lang den Arsch im Supermarkt auf – und trotzdem reicht es nur für dieses Rattenloch. In den letzten paar Monaten war mein Zuhause ein umgebauter Lagerraum in Chen’s Chinese Market and Apothecary. Ich bin pleite. Die Kosten für Kosmetik sind mörderisch, selbst in Chinatown; Haare, Make-up, Fingernägel – da kommt einiges zusammen. Von Schmuck und sonstigem Kram will ich gar nicht erst reden. Gott sei Dank gibt es Schuluniformen.
An der Waverly weiß natürlich keiner was von Chen’s. Dort glauben sie, dass ich bei einer nicht existierenden Tante wohne. In den anderen Privatschulen war ich Interne, aber Waverly ist kein Internat. Dafür kann Waverly die landesweit höchste Schülerquote vorweisen, die es aufs College der ersten Wahl schafft. Das Dumme war nur, dass ich eine Unterkunft nachweisen musste, bevor ich das ganze Paket bekam. Ich brauchte eine Adresse. Deshalb die Gosse. Wie gesagt, ich lüge nur, wenn ich es muss, und ich muss es ziemlich oft.
Ich habe noch nicht ausgepackt. Tu ich auch nicht. Diese Bleibe ist vorübergehend. Außerdem befürchte ich, dass sich der Glibber an den Wänden mit dem Gestank von verfaulendem Gemüse mischt und meine neuen gebrauchten Schuluniformen infiziert. Ich besitze ein Eisenbett mit einem zerfledderten Spider-Man-Bettbezug, einen kleinen runden Tisch, einen Aluminiumstuhl, einen annehmbaren Spiegel, eine Fernsehkonsole, die ich als Nachttisch verwende, ein mit Rostflecken verunstaltetes Waschbecken und ein Schränkchen, auf dem ein alter Coleman-Ofen steht. Ich kenne Schlimmeres aus den Zeiten zwischen albtraumhaften Pflegefamilien und Internatszimmern, aber inzwischen ist es härter. Ich weiß, was die Welt zu bieten hat, und ich will auch ein Stück vom Kuchen.
Leider mag Mrs Chen mich nicht besonders. Nicht gemocht zu werden gefällt mir nicht. Es macht mich nervös. Gemocht zu werden ist der schärfste Pfeil in meinem Köcher. Der beste Beweis, dass Mrs Chen mich nicht mag, ist die Tatsache, dass sie mich die Pak Choi- und Mangolieferungen hinten in der Gasse ausladen lässt, wo mir doch eigentlich der Vordereingang gebührt. Meine Charmeoffensive ist mit einem dumpfen Schlag vor Mrs Chens winzigen Latschen gelandet, und Mr Chen hat offenbar Angst vor ihr. Darum halte ich mich an ihn und schleppe Kisten, lege das Gemüse aus, versehe es mit Preisschildern und bleibe unsichtbar. Natürlich bin ich nicht die Erste, die bei den Chens als Sklavin wohnt, aber ich bin garantiert ihre erste Waverly-Schülerin und ihr erstes weißes Mädchen – oder gweilo, wie sie mich manchmal nennen. Ich glaube, das heißt »Geistermädchen« oder »Fremde«. Beides passt perfekt. Die angenehme Seite ist, dass ich wirklich gut esse, wenn auch hauptsächlich Gemüse und Obst. Mittlerweile kann ich mit dem Wok umgehen, und meine Haut war nie besser.
Ich würde alles für ein Steak tun.
Verglichen damit ist die Arbeit im Waverly-Büro ein Wellnesserlebnis. Die Klassenzimmer und Hörsäle sind drahtlos und mit den neuesten Smartboards und Apps ausgestattet, nur das Archiviersystem ist tiefstes Mittelalter. Im vergangenen Jahr haben sie einen Fachberater hinzugezogen, und ich helfe beim Übertragen sämtlicher Papierarchive auf cloud-unterstützte Server. Sie brauchen mich.
Und ich brauche Zugang zu diesem System.
Ich bin immer als Erste da, morgens um 6.55 Uhr. Mr Jefferson, Manager der technischen Gebäudeausrüstung, sprich Chefhausmeister, schließt mir auf. Selbst Ms Draper, die Archivarin und Workoholic olympischer Prägung, kommt erst um 7.05 Uhr. Bei ihr geht mein Sympathiequotient durch die Decke. Das gilt auch für alle anderen in der Verwaltung, einschließlich der Direktorin, Ms Goodlace; Mr Rolph, Leiter der Oberstufe; Ms Kelly, Leiterin der Unterstufe; Dr. Kruger, Vertrauenslehrerin/Schulpsychologin; und am wichtigsten, die Sekretärinnen Ms Shwepper und Mrs Colson. Jede Schule hat eine Ms Shwepper oder eine Mrs Colson. Die beiden sind älter als Gott und halten die Schlüssel zur Macht in der Hand, weil sie alle Leichen im Keller kennen. Geschichten über Schüler und Lehrer – unter ihren überperfekten Dauerwellen ist alles wohlsortiert und gespeichert.
Die gesamte Belegschaft wartet sehnlichst auf die Ankunft eines IT-kundigen Spendeneintreibers, der als Direktor für Förderung und Modernisierung tätig werden soll. Aber Mr Rolph wird noch ein wenig länger allein im Östrogenpool von Waverley schwimmen, denn Mr Mark Redkin musste sofort an einer Konferenz über die Zukunft unabhängiger Stiftungsgelder teilnehmen.
Als Draper heute hereingestürmt kam, kehrte sie zu mir zurück. »Ihr Engagement ist bewundernswert, Kate. Sie sind jeden Tag früher da als ich.« Sie saß auf der Kante von Shweppers Schreibtisch, die mir eigentlich als Ablage für die Akten diente. Draper ist extrem dünn, was sie irgendwie hart aussehen lässt. Die alte Weisheit »nach vierzig heißt es Gesicht oder Figur« ist an ihr offenbar vorbeigegangen. Ich analysierte ihren Duft. Ein Hauch von Jo Malones Orange Blossom. Die ganze Schule stand auf Jo Malone. Man hätte das Parfüm ebenso gut mit den auberginefarbenen Jacketts und grauen Faltenröcken verteilen können. Unter dem Orange Blossom war eine Spur teuren Shampoos, wie man es in den Friseursalons von Vidal Sassoon kaufen kann. Strenger geometrischer Haarschnitt, der zu ihren strengen akkuraten Kostümen passt. An der Frau konnte man sich schneiden. Unter den Düften steckte auch ein Hauch von schwarzem Kaffee, Pfefferminzbonbon und der unverkennbare Gestank von Camels. Mein alter Herr rauchte Camel.
Unsere Archivarin war eine heimliche Raucherin.
Draper schien auf eine Antwort zu warten. Ich hatte ihr Kompliment nicht gewürdigt. Wie nachlässig.
»Ich will mich nur unentbehrlich machen, Ma’am.«
»Das ist Ihnen in Rekordzeit gelungen, meine Liebe. Mit Ihrer Hilfe wird diese Abteilung trotz aller Widerstände in die moderne Welt Einzug halten. Und wenn Mr Redkin hier ist …« Sie verstummte gedankenverloren. »Nun ja, Sie sollen einfach wissen, dass wir sehr zufrieden sind.«
Ich bemühte mich zu erröten. Meistens funktionierte es.
»Vielen Dank, Ma’am.«
Draper nickte und eilte in ihr Büro, in dem der äußerst wichtige Archiv-Computer stand. An den wollte ich morgen ran. Ich müsste um 6.30 Uhr hier sein. Alles, was ich wissen wollte, war in diesem Computer. Irgendeine Schülerin brauchte mit Sicherheit eine Freundin, um ihre existentielle Leere zu füllen. Und dieser Jemand war hoffentlich Olivia Sumner. Ich hatte es sofort erkannt. Das gute Leben. Ein sicherer Schritt zum Preis.
Mir stellt sich nichts in den Weg.
6.34 Uhr
Der nahezu komatöse Computer brauchte ewig, um stotternd zum Leben zu erwachen. Ms Shwepper und Mrs Colson liebten ihre museumsreifen Geräte und warteten geduldig auf das Ende des digitalen Wahns, aber was machte Draper mit diesem antiken Ungetüm? Die gesamte Büroausstattung erinnerte an einen Werbespot für Microsoft aus den Neunzigern.
Okay, okay, komm zu Mama. Mach schon. Na also! Schülerakten … Endlich! Der Text rollte träge Absatz für Absatz nach unten, aber immerhin, er rollte. Die Namen der Schülerinnen waren alphabetisch nach Abschlussjahrgängen geordnet. Was wohl in meiner Akte stand? Keine Zeit. Okay, okay. Aus Angst, Mr Jefferson könnte hereinkommen und nach dem Rechten sehen, hatte ich kein Licht angeschaltet. Bei jedem Knarren der alten Eichendielen durchfuhr es mich heiß. Ich tippte »Olivia Michelle Sumner« ein und hielt die Luft an, während der Bildschirm die üblichen drei bis fünf Jahre zum Hochladen brauchte. Wer arbeitet heute noch so? Mit solchen alten Kisten? Laden, laden …
Endlich!
Die Akte enthielt die üblichen kurzen Angaben, aber es war auch ein einseitiger Bericht angehängt.
SchülerprofilSozialarbeiterbericht
NAME DER SCHÜLERIN: Olivia Michelle Sumner
NUMMER DER SCHÜLERIN: 624501
GEBURTSDATUM: 2. September 1997
GESCHLECHT: weiblich
SCHULE: Waverly School
VATER: Mr Geoffrey Sumner
MUTTER: Mrs Elizabeth Sumner (geb. Whitaker) – verstorben
ANWESEND: Dr. Virginia Kruger, Dr. Russell Tamblyn, Mr Geoffrey Sumner
HINTERGRUND: Die Schülerin war zehn Wochen stationär und sechs ambulant zur Behandlung im Houston Medical.
EINSCHÄTZUNG DES AKTUELLEN ZUSTANDS: Die psychischen Symptome, mit denen sich die Patientin vorstellte, sind gemäß den Krankenhausrichtlinien für eine Wiederaufnahme und den Berichten der untersuchenden Ärzte des Houston Medical, die von Dr. Tamblyn vorgelegt wurden, vollständig behoben.
ZIELSETZUNG/INTERVENTION: nicht erforderlich.
ZUSAMMENFASSUNG UND EMPFEHLUNGEN: Dr. Tamblyn und Mr Sumner baten darum, die Wiederaufnahme- und Einschätzungsdokumente unter Verschluss zu halten. Sämtliche Anträge auf die Herausgabe vertraulicher Informationen werden ab diesem Datum abgelehnt. Dr. Armstrong versicherte Mr Sumner, dass auch Ms Goodlace, Schuldirektorin, ihr Einverständnis erklärte.
Dr. Armstrong 4. September
Unter Verschluss? Was war unter Verschluss? Das war bestimmt ergiebig. Hmm, Mutter verstorben … an diesem Punkt kam ich ins Grübeln, bis ich feststellte, dass es 6.46 Uhr war und ich mit dem umständlichen Ausloggen anfangen musste. Okay, ich hatte also gutes Material, auch wenn ich noch keine Einzelheiten kannte. Olivia war im Krankenhaus gewesen? Warum? Ich meine, das an sich war nicht bemerkenswert. Magersucht und Drogenmissbrauch waren die häufigsten Probleme an Privatschulen, aber Angststörungen und Depression holten schnell auf. War es eins davon? Oder was anderes?
Ich schleppte schon wieder Kartons mit Aktenordern aus dem Zimmer, als ich Ms Goodlaces unverkennbare Schritte hörte. Ich musste mich gar nicht umdrehen. Die Direktorin hatte einen festen, bestimmten Schritt, der ihrer Persönlichkeit entsprach. Tagein, tagaus trug sie teure Pumps mit fünf Zentimeter hohen Absätzen, die vermutlich älter waren als ich. Allerdings jeden Tag ein anderes Paar. Solche Sachen fallen mir auf. Goodlace hatte sich vermutlich an die hundert Paare zugelegt, als sie vor fünfzig Jahren in Mode waren, und trug sie seitdem in wechselndem Turnus. Sie war früh dran. Draper war noch gar nicht da.
»Guten Morgen, Kate. Meine Güte, Sie sind früh hier.«
»Das gilt auch für Sie, Ma’am.«
»Gut gekontert.« Sie lächelte fast, war aber zu zerstreut, um das Lächeln zu vollenden. »Unser vielgepriesener Direktor für Förderung und Modernisierung kommt endlich, und ich wollte vor der Sitzung um neun noch rasch einen Blick auf meine Notizen werfen. Unser Vorstand und das gesamte Büro« – sie räusperte sich – »kann seine Ankunft kaum erwarten.«
»Na ja, für eine Schule wie Waverly ist Fundraising unverzichtbar. Das weiß ich von den anderen Schulen, an denen ich war.«
»Wirklich? Ja, stimmt.« Sie verstummte. »Und ich bin sicher, Mr Redkin ist eine große Bereicherung. Jetzt wissen Sie also, warum ich hier bin. Aber warum sind Sie so früh hier?«
»Es gibt viel zu tun, selbst beim Vorsortieren. Die Aktenordner sind ziemlich durcheinander. Um ehrlich zu sein, sie sind unglaublich.« Ich bedachte die Schachteln mit einem bösen Blick, um meine Bemerkung zu unterstreichen.
»Kate, Sie sind unsere Stipendiatin, nicht unsere Sklavin.« Sie schaute die Schachteln ebenfalls böse an. »Ich kann nicht dulden, dass andere sich Sorgen um Sie machen. Das will ich nicht.«
»Ich glaube, wir wissen beide, dass niemand sich allzu große Sorgen macht, Ma’am.«
»Das stimmt nicht, Kate, wirklich nicht«, sagte sie im Weggehen. »Ich würde mir Sorgen machen.«
Goodlace war so anständig, wie solche Leute nun mal sind, wer weiß, vielleicht sorgte sie sich wirklich. Aber das reichte nicht, so viel stand fest. Ich brauchte weit mehr, um das Jahr zu überstehen und dorthin zu kommen, wo ich wollte. Ich brauchte eine Olivia, um die ich mich kümmern konnte. »Ja, Ma’am. Vielen Dank, Ma’am«, sagte ich zu ihrem Rücken.
Es sah aus, als hätte sich der Inhalt von Olivias Kleiderschrank auf ihrem Bett übergeben. Fünf bordeauxrote Schuljacketts – von extrem enganliegend bis Boyfriend Style und von funkelnagelneu bis charmant abgetragen – kämpften mit elf frisch gebügelten Blusen, die eher von Barneys als aus dem Schuldepot stammten. Unter diesem Haufen lagen vier kurze bis sehr kurze graue Flanellkilts mit den obligatorischen silbernen Kiltnadeln von Tiffany’s sowie ein Rattennest bordeauxrot- und graugestreifter Schulkrawatten. Dann ein kleiner Berg Strumpfhosen in verschiedenen Schattierungen und Stärken, alle ungeöffnet, und dabei würde es auch bleiben. Eine Schülerin der letzten Klasse würde sich nicht mal in einem Schneesturm in Strumpfhosen erwischen lassen, geschweige denn an einem Herbsttag. Sie trugen Kniestrümpfe mit ordentlich ausgeleiertem Elastikbündchen, die ständig hochgezogen werden mussten. Es gab die richtige und die falsche Art, Schuluniformen zu tragen – so war es immer gewesen und würde immer so sein.
Olivia zerknüllte eine gebügelte Bluse und setzte sich drauf, dann zog sie ihre schlabbrigen Kniestrümpfe an. Das vollbracht, steckte sie die frisch zerknautschte Bluse in ihren zweitkürzesten Rock und schnappte sich das engste Jackett. Es war der dritte Durchlauf auf der Suche nach dem richtigen Outfit. Jetzt stimmte alles, es war die perfekte Mischung aus ordentlich und scheißegal.
So lief es jeden Tag ab. Nach fünfunddreißig Minuten unter einer brühendheißen Dusche ging sie zunehmend ungeduldig den Inhalt ihres Kleiderschranks durch, wählte aus und verwarf. War die Entscheidung schließlich gefallen, rannte Olivia ins Bad zurück, schminkte und frisierte sich siebenunddreißig Minuten lang und tauchte dann rosig und frisch auf. Da noch etwas Zeit blieb, stürzte sie ihre morgendliche Medizin mit dem grünen Smoothie hinunter, den Anka auf die Schnelle zubereitet hatte. Nach dem Frühstück schlurfte die Haushälterin in Olivias Zimmer und fing an, die Sachen wieder in den Schrank zu räumen, während Olivia in ihre eine Nummer zu kleinen, genau richtig abgewetzten Doc Martens schlüpfte und ihren schwarzen Prada-Rucksack schulterte. Sie war »perfekt«. Nicht, dass es wichtig wäre. Aber so war es nun mal.
Bevor Olivia ging, rief sie immer: »Okay, ich geh los. Bis später, Anka! Schönen Tag!« Und Anka, tief im begehbaren Kleiderschrank vergraben, rief zurück: »Viel Glück, Ms Olivia. Gott segne Sie ganzen Tag.« Obwohl beide nicht hörten, was die andere sagte, waren sich beide sicher, dass ihnen ein Tag voller Wunder gewünscht worden war.
Waverly war ein ansehnliches altes Herrenhaus, ein Stück weiter oben an der Fifth Avenue. Meistens nutzte Olivia den Fußweg, um sich vorzubereiten. In diesem Jahr betete sie sogar mehrmals. Das war neu. Beten war kein Bestandteil der Verhaltenstherapie, die man im Houston Medical im vergangenen Jahr angeboten hatte, aber ihre Zimmergenossin Jackie hielt viel davon. Jackie, die wegen einer schweren Zwangsstörung in der Klinik war, behauptete, Beten helfe den »Fallen« in ihrem Kopf, und außerdem, was konnte es schaden? Olivia fand die Logik einleuchtend und fing an, hin und wieder mäßig begeistert zu beten.
Sie huschte durch die mit üppigen Schnitzereien versehenen Schultüren, vorbei an ihrem Spind und direkt zu Ms Hornbecks Englischkurs. Sie nickte, lächelte und warf den angesagten Mädchen lockere »Heys« zu. Sie täuschte sogar Interesse vor, als Madison Benner hysterisch von dem traumhaften neuen Direktor für Fördergelder schwärmte. »Warte, bis du ihn siehst! O mein Gott! Ich schwöre. Durch diese Hallen ist in hundert Jahren kein so heißer Typ gegangen!«
»Hab ich auch schon gehört. Kann’s kaum erwarten, ihn zu sehen!« Sie sagte das mit übertriebenem Neid, denn es war mit Sicherheit die passende Reaktion. Ein kleiner Sieg, aber beachtenswert.
Sie wappnete sich für Englisch und Sylvia Plath. Olivia »kapierte« Plath einfach nicht, was sie aber sollte, und das machte ihre abstruse Dichtung nur noch ärgerlicher. Heute würden sie »Lady Lazarus« zerpflücken. Analytisch konnte sie sich dazu äußern, aber das reichte Hornbeck nicht; sie wollte, dass ihre Schülerinnen sich den Stoff auf einem zutiefst emotionalen Niveau aneigneten.
Olivia brauchte Hilfe, und zwar schnell.
»Vorsicht, gleich gibt es wieder einen mentalen Autounfall.«
Es war die Stipendiatin, die Neue von irgendwo draußen im Westen. Olivia war schon aufgefallen, wie die anderen sie taxierten, einschätzten und um sie buhlten. Das Mädchen fing an, in seiner Tasche herumzukramen – Chloé vom letzten Jahr, aber immerhin Chloé. Sie galt als Wunderkind, das selbst an einer Schule auffiel, die voll davon war.
»Meinst du? Wenn das stimmt, bin ich heillos überfordert«, sagte Olivia. »Plath und ich sind ein epischer Reinfall.«
Die Stipendiatin hatte tolles Haar. Bergdorf-Blond, wie die meisten in der Schule, aber locker gestylt – ein bisschen durcheinander, ein bisschen steif. Großartig. Olivia ärgerte sich wieder über Plath.
Die Stipendiatin verdrehte mitfühlend die Augen. Sogar beim Augenverdrehen war sie hübsch.
»Ich hab keine Probleme mit Plath. Vielleicht muss man verrückt sein, um sie zu verstehen.«
Ihr Blazer war ebenfalls toll. Secondhand vielleicht, aber Boyfriend Style.
»Ich bin Olivia.«
»Weiß ich.« Die Stipendiatin lächelte. »Aus unserer ersten Stunde. Du bist mir aufgefallen.« Sie drehte sich Olivia zu. »Ich bin Kate.«
»Also, Kate … Lyrik – Plath, du kapierst sie wirklich?«
»Klar.« Kate zuckte die Schultern. »Ich hab meinen Bewerbungsaufsatz über Plath geschrieben, und anscheinend war er so gut, dass ich hier gelandet bin. Bei mir ist Physik das große Problem.«
Im selben Moment beschloss Olivia, die seit ihrer Rückkehr an die Schule keine spontane Entscheidung getroffen hatte, dass es Zeit war, genau das zu tun. Sie überlegte nicht, welche Folgen es nach sich ziehen könnte, dachte nicht über Auswirkungen und Konsequenzen nach. »Physik?«, sagte sie. »Kinderspiel. Ich hab das Gefühl, wir finden eine Lösung.«
Olivia setzte sich und klopfte auf den Platz neben sich.
Schritt eins, Kontaktaufnahme – voller Erfolg. Schritt zwei, Treffen in der Bibliothek wegen Physik – noch besser. Es war nicht ganz einfach, so zu tun, als könnte ich Olivia nicht folgen. Der Grad zwischen leichter Verwirrung und hoffnungsloser Dummheit ist schmal, beides liegt näher beieinander, als man denken würde. Am Ende der Sitzung gab ich Olivia das Gefühl, sie wäre die geborene Nachhilfelehrerin. Sie lud mich am Sonntagabend zu sich nach Hause ein, damit ich ihr den Gefallen erwiderte und ihr »Lady Lazarus« näherbrachte. Ein großer Sieg auf ganzer Linie. Gutes Mädchen.
Trotzdem.
Am »guten Mädchen« durfte ich mich nicht festhalten. Ich saß im Dunkeln auf dem Spider-Man-Bezug auf meinem Bett und versuchte an andere Dinge zu denken – an Olivia, an den Preis, an, nun ja, alles andere eben. Bis ich weiße Knöchel hatte. Bevorstehende Veränderungen lösen das bei mir aus. Vieles löst das bei mir aus. Es passiert einfach. Ich will nicht zurückgesaugt werden, aber schon geht’s zurück, immer und immer wieder. Ich hörte den Regen auf das Blechdach des Schuppens hinten prasseln. Ich sollte lernen. Ich sollte meinen Nagellack auffrischen. Ich sollte … aber ich konnte nicht. Ich wollte es verdrängen, aber es drängte zurück – der Beweis, die Erinnerung. Es ist nämlich so, ich war schon damals eine Lügnerin, schon als ich zehn war.
An den Holzrahmen der zwei Meter fünfzig hohen Fenster blätterte die Farbe ab. Sie hatten solche alten welligen Glasscheiben, die bei Kälte nutzlos waren, aber den Sonnenschein besonders schön machten. Obwohl der Unterricht noch nicht begonnen hatte, wirbelte bereits Kreidestaub in den langen dünnen Sonnenstrahlen. Solche Sachen hypnotisierten mich. Aber diesmal nicht. Diesmal stand ich stramm vor dem Lehrerpult. In der ersten Schublade links lagen Kreide, Radiergummi, eine Schachtel Bleistifte und Büroklammern. In der zweiten ein einsamer Lederriemen, in der unteren eine Bibel und ein Rosenkranz mit rosa Kristallperlen.
»Aber wissen Sie, die Sache ist die … die Schwestern sind immer am schlimmsten!« Ich trat von einem Fuß auf den anderen. »Nichts für ungut.«
»Kein Problem.« Schwester Rose lächelte. »Und wie meinst du das, Katie?«
»Na ja, Sie wissen doch, sie … ihr macht alle so ein Theater deswegen, vor allem, vor allem am Freitag vor Vatertag. Alle bemitleiden mich und schauen mich so gespielt traurig an.«
An diesem Punkt hätte es Mrs Cotter, meiner früheren Lehrerin in der Vierten an der St. David’s, gereicht. Die Schwester dagegen hob nur eine hübsche Augenbraue.
»Aber Lügen ist eine Sünde, Katie.«
Schwester Rose war hartnäckiger, als sie aussah.
»Aber Schwester, das ist nicht gelogen. Nicht wirklich. Ich will doch nur machen, was ich jedes Jahr mache. Sie haben gesagt, es ist rührend und alles, als ich es Ihnen vor einer Weile erzählt habe. Erinnern Sie sich noch?«
Die Schwester nickte.
»Ich mach ja trotzdem meine Vatertagskarte wie alle anderen. Dann geh ich nach der Schule rüber zum Prospect Park, da ging Dad immer am liebsten hin, und dann, dann vergrabe ich die Karte in dem Blumenbeet in der Ecke. Und dann wünsche ich ihm alles Gute zum Vatertag!« Ich schenkte ihr das Lächeln, das ich seit 6.20 Uhr geübt hatte.
Die Schwester hob wieder ihre Augenbraue.
»Nachdem ich für die Rettung seiner Seele gebetet habe.«
Ich sah auf die Uhr: 8.25 Uhr. Um 8.30 Uhr würde es klingeln.
»Und weil ich neu in der Schule bin, möchte ich doch nur, dass wir ausnahmsweise, nur dieses eine Mal, nicht der ganzen Klasse erzählen, dass der Vater der armen Katie tot ist. Und dass nicht alle aus Dankbarkeit für das, was sie haben, drei Rosenkränze beten müssen. Ich will nicht, dass sie Mitleid mit mir haben, und ich will nicht, dass sie mich wegen der blöden Rosenkränze hassen. Nichts für ungut. Tut mir leid, Schwester.«
»Kein Problem, Katie.« Sie tätschelte meine Hand.
Schwester Rose hatte immer weiche, kühle Hände. Alle Nonnen haben weiche, kühle Hände. Als wäre das was Heiliges.
»Verstehen Sie? Wir würden nicht lügen, nicht wirklich. Auch nicht ›durch Weglassen‹, weil ja niemand fragt. Verstehen Sie? Wir müssen es nur nicht an die große Glocke hängen.«
Schwester Rose blickte auf ihre Hände. Ihre Wimpern überschatteten ihr halbes Gesicht.
»Und, und … ich hab seit Wochen dafür gebetet – wirklich oft – und, na ja, ich wette, Jesus hätte nichts dagegen.«
Die Schwester biss sich auf die Unterlippe und runzelte die Stirn. Das machte sie immer, wenn sie sich das Lachen verkneifen wollte.
»Du bist unmöglich, Katie.«
»Das sagt meine Mom auch immer, Schwester.«
Sie schüttelte den Kopf.
Ich hatte sie.
Es klingelte.
»Okay, Katie«, sagte sie seufzend. »Wir erzählen nicht, dass dein Vater gestorben ist. Keine Rosenkranz-Novenen.« Sie legte wieder ihre weiche, kühle Hand auf meine. »Das bleibt unser kleines Geheimnis, Katie. Keine Lüge, ein Geheimnis.«
Man musste es mir wirklich lassen.
Ich war gut.
Nach Religionslehre bastelten wir an unseren Karten weiter. Mary-Catherine und ich arbeiteten zusammen. Mary-Catherine hatte eine zutiefst künstlerische Ader. Genau wie ich. Darum waren wir seit der ersten Woche an der St. Raymond’s beste Freundinnen. Mary-Catherine wusste über alles Bescheid. Na ja, bis auf das eine, dass ich mir nämlich sehnlichst wünschte, ihr Vater, Mr Sutherland, wäre mein Vater.
Manchmal wünschte ich mir das so sehr, dass mir übel wurde.
Er war so nett.
Mr Sutherland war ein wichtiger Geschäftsmann. Er hatte vier verschiedene Anzüge und eine dunkelbraune Aktentasche mit abgewetzten Griffen. Er arbeitete in einem Büro in einem dieser Hochhaustürme in der Wall Street. Sein Büro war im dreiunddreißigsten Stock! Nach der Schule wollten Mary-Catherine und ich ihn in seinem Büro treffen und dann mit ihm Mittagessen gehen.
Sagte er.
Mr Sutherland nannte mich »Schläger«, weil ich bei den Christie Pirates Softball spielte. Ich war ziemlich kunstbegabt und sportlich. Eine seltene Kombination, sagte Mr Sutherland. Manchmal, wenn er früher nach Hause kam, holte er uns große Gläser mit Cola und viel Eis, und dann fragte er uns nach der Schule, unseren Freunden oder irgendwelche Sachen. Mich fragte er auch, nicht nur Mary-Catherine.
Ich hasste Cola.
Aber ich trank sie trotzdem und sagte immer: »Danke, Mr Sutherland!« Worauf er mir zuzwinkerte und sagte: »Keine Ursache, Schläger.«
Jedenfalls machten Mary-Catherine und ich mit links die schönsten Karten in der Klasse. Pater Bob sagte, dass Gott im Detail liegt. Unsere Sachen strotzten immer vor Gott. Auf der Vorderseite meiner Karte stand »Du bist mein Held« und innen, über einer gestreiften Pop-up-Krawatte, »Alles Gute zum Vatertag für den besten Dad der Welt«.
Nach der Schule ging ich sofort in den Park.
Ich setzte einen traurigen Blick auf.
Man weiß ja nie. Schließlich konnte Schwester Rose jederzeit im Schulvan vorbeifahren.
Hinter den hellroten Rosen und direkt vor den gelben Büschen war eine kahle Stelle. Ich grub ein Loch mit meinem Lineal, faltete die Karte zusammen und grub sie ein. Dann machte ich das Kreuzzeichen. Kein schludriges, schnelles vor der Brust, sondern ein großes – nur für den Fall.
Ich betete.
Aber nicht für meinen Vater, sondern für Mary-Catherines.
Ich betete, dass Gott in seiner unendlichen Weisheit einen Weg fand, wie Mr Sutherland mein Vater werden könnte. Und zwar ohne Mrs Sutherland zu verletzen, die sehr nett war, oder Mary-Catherine, die meine beste Freundin war, oder meine Mutter, die in ihrem Leben schon schwer verletzt wurde. Vielen Dank. Amen.
Ich betete oft, als ich zehn war. Seitdem allerdings nicht mehr.
Auf der Party wäre nur die A-Liste vertreten, was Olivia früher wichtig gewesen wäre. Jetzt nicht mehr. Suze Sheardown und Emily Wong gaben eine Geburtstagsfete für Alejandra Morena, deren Eltern in Kolumbien waren. Nur die Creme der Waverly und der Rigby, die Partnerschule von Waverly, würde da sein. Alejandra war harmlos und niedlich auf diese »Wer ist das noch mal«-Weise. Die totale Schnarchnase, mit anderen Worten. Doch das war nicht der Grund, warum Olivias Antwort Nein lautete.
Sie kannte das alles, hatte selber solche Partys gegeben. Olivia seufzte, schluckte eine Pille und wanderte wieder durch das Penthouse. Sie hatte sich sehr dafür eingesetzt, die zwölfte Klasse an der Waverly zu wiederholen und nicht an einer anderen Schule. Und wie so oft, hatte ihr Vater ihr den Weg geebnet, die Wiederaufnahme war kein Problem gewesen. Aber warum war sie so fixiert auf Waverly? Sie konnte sich nicht mehr erinnern. Egal. Olivia wahrte Distanz, aber wenn sie musste, konnte sie in der richtigen Tonhöhe kichern oder in gespieltem Schock aufkreischen, konnte sie die Wütende oder Mitfühlende geben – alles Kennzeichen einer guten Privatschule für Mädchen. Ganz einfach.
Verwirrend fand Olivia nur, dass sie sich so viel älter fühlte als die anderen Mädchen. Sicher, einige waren schon achtzehn, aber wenn sie durch die Flure von Waverly schwebte, kam sie sich vor wie vierzig. Auch das dämpfte jeden Wunsch, den Partyzirkus mitzumachen. Was ihn aber vollends killte war, dass ihr eine Clique fehlte. Olivia hatte kein Team mehr. Ihre besten Freundinnen Anita, Gwen und Jessica gingen mittlerweile aufs College. Klar, sie schickten ihr Blumen zu den richtigen Anlässen und manchmal noch eine SMS oder eine Nachricht, aber auf Facebook, und das … geschenkt. Auf einer Party konnte sie ja wohl kaum allein aufschlagen. Olivia brauchte mindestens eine Freundin. In der zwölften brauchte man keine Phalanx – die brauchte man in der zehnten. Eine würde genügen, ein tolles Mädchen, und Olivia war ziemlich sicher, dass sie es in Kate gefunden hatte. Zusammen würden sie bei ein paar ausgesuchten Partys die richtigen Auftritte hinlegen.
Sie schaute auf ihre Rolex, die eigentlich ihrem Vater gehörte. Das Tragen von Männeruhren war in diesem Jahr offenbar immer noch das große Ding. Olivia hatte den Trend im vergangenen Herbst eingeführt. Ihr Vater besaß eine umfangreiche Sammlung, benutzte aber nur die Cartier, die Olivias Mutter ihm geschenkt hatte. Kate trug nie eine Uhr. Abgesehen davon war sie voll im Trend oder ihm voraus. Ein gutes Zeichen. Und dass sie so war und nach außen hin keinen großen Wert darauf zu legen schien, war ein noch besseres.
Einen Monat nach Schulbeginn hatte Kate sich noch keiner Clique angeschlossen, obwohl die meisten sich klar um sie bemühten. Mit ihrer Cleverness, Belesenheit und Schönheit hatte sie gute Karten, aber Armut und Rätselhaftigkeit waren für die inzüchtigen Schülerinnen der Waverly geradezu unwiderstehlich. Kate besuchte ihre Kurse, war immer höflich, manchmal lustig und scheinbar blind für die vielen Angebote. Aber zu ihr kam sie in einer Stunde, und das freute Olivia. Vielleicht, weil sie spürte, dass auch Kate für ihr Alter »zu alt« war. Das hatten sie gemeinsam.
Es lief gut.
Trotzdem ging sie, um doppelt sicherzugehen, um 18.50 Uhr in ihr Zimmer zu ihrem provisorischen Altar. Sie zündete eine Kerze mit Lavendelduft an und stellte das goldene Kruzifix auf, das Anka ihr geschenkt hatte. Olivias Wissen über Gott und die Bibel stammte fast ausnahmslos von den zusammenhanglosen Fetzen ihrer Zimmergenossin in Houston, Anka und der Christian Television Station (»CTS, Fernsehen, an das Sie glauben können!«). Folglich vermischte sich Presbyterianisches und Baptistisches zusammen mit Katholischem zu einer bunten Suppe. Beten war nicht unbedingt Olivias Sache, aber den Teil mit dem Kerzen anzünden mochte sie.
Es klingelte. Anka ging an die Tür. Olivia blies die Kerze aus, überprüfte ihr Lächeln im Spiegel und ging ihre neue beste Freundin begrüßen.
Ich nahm die U-Bahn. Ich hasse die U-Bahn. Öffentliche Verkehrsmittel geben mir das Gefühl, arm zu sein. Wenn ich es mir aussuchen könnte, würde ich zu Fuß zur Schule gehen, aber die Upper East Side ist fast zwei Stunden von Chinatown entfernt. Zwei Stunden und zwei verschiedene Planeten. Manchmal machte ich es auf dem Rückweg. An schlimmen Tagen. Olivia wohnte nur ein paar Blocks von der Schule entfernt. Wie angenehm.
Ein Portier, der aussah, als wäre er einem Cartoon im New Yorker entstiegen, begrüßte mich. »Ich bin Aftab« war im vollen Upper East Side-Ornat gekleidet: Mütze, Goldlitze, Messingknöpfe – besser geht es nicht. »Ms Sumner erwartet Sie, Ms O’Brien.« Aftab raste um seinen Tisch herum zum Aufzug und drückte einen mit PH bedruckten Knopf. Musste ich ihm ein Trinkgeld geben? »Vielen Dank, Sir«, sagte ich zu der sich schließenden Tür.
Mein Körper pulsierte im Takt der Türklingel. Sie wohnte im Penthouse, verdammt nochmal! Eine Frau, vermutlich Mitteleuropäerin, öffnete die Tür. Sie wirkte erleichtert, als sie mich sah. »Guten Abend, hallo! Ich bin Anka.« Ihr oberer linker Schneidezahn blitzte golden auf, als sie lächelte. »Bitte Sie kommen herein.« Anka hatte einen korpulenten puddingartigen Körper, den ein kugelförmiger Kopf krönte. Diese recht extravagante Erscheinung wurde noch durch schlechtgefärbtes pechschwarzes Haar verstärkt, das zu einer Hochfrisur aufgetürmt war. Ihr Haar schwebte wie ein Ausrufezeichen über ihr.
Ich mochte sie sofort.
Olivia erschien aus dem Nichts, und Anka verschwand im Nichts. Ich blieb wie angewurzelt in dem marmornen Vorraum stehen. »Komm rein, komm rein!« Sie hakte sich bei mir unter. »Hast du schon gegessen?«
Hatte ich nicht. Zwischen dem Ende meiner Schicht und dem Umziehen war mir keine Zeit geblieben. »Ja.«
»Tja, ich fürchte, du musst trotzdem Nachsicht mit Anka üben. Sie hat so viele Snacks vorbereitet, dass sie für die polnische Armee reichen würden.« Sie beugte sich zu mir. »Das ist wie ein Lackmustest. Anka hat die Nase von meinen veganen/bulimischen/essgestörten/glutenfreien/laktoseintoleranten Freundinnen gestrichen voll.«
»Kann ich ihr nicht verdenken.«
»Oh, ich auch nicht! Wie langweilig, oder?« Olivia drückte meinen Arm und zog mich durch den Flur in einen Raum, der über dem Central Park zu schweben schien.
»Wow.«
Mein Blick glitt über ein tiefer gelegenes Wohnzimmer mit klobigen eingebauten Sofas, umrahmt von dezentem Stein und schlichtem Holz. Und die Kunst! Als würde man einen Rundgang im MOMA machen. Der Marmorfußboden im Vorraum ging über in Schiefer und eine in weiche Grau- und Karamelltöne gehaltene Wohnlandschaft. Funkelndes Glas und warme gelbe Halogenleuchten spiegelten die stummen Lichter gegenüber im Park.
»Wie ein Gedicht.«
Olivia betrachtete den Raum, als hätte sie ihn noch nie gesehen. »Mein Vater ist garantiert begeistert von dir!«
»Wie groß ist die Wohnung?«
»Keine Ahnung.« Olivia zuckte die Schultern. »Vier Schlafzimmer, Dads Bibliothek, Küche und Vorratskammer, drei … nein, dreieinhalb Bäder.« Sie schien sich in Gedanken den Grundriss vorzustellen. »Und natürlich Ankas Suite. Das war’s.«
Gott, ich könnte einziehen, und keiner würde es merken. »Und ich dachte schon, der Aufzug ist nicht zu übertreffen.«
»Du bist wirklich lustig.«
»Abwehrmechanismus. Kann nicht anders«, sagte ich. »Mit Charme wirst du jedermanns Schwarm. Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«
»Warnung angekommen. Apropos Charme, hast du schon den neuen megaheißen Finanztypen gesehen? Du arbeitest doch im Büro, oder?«
»Den Direktor für Förderung und Modernisierung? Nein. Ich bin da und wieder weg, bevor er kommt. Aber man könnte meinen, ein sexueller Tsunami wäre über das Büro gefegt. Draper hat ein neues Parfüm, und Colson und Shwepper haben in neue Lippenstiftfarben investiert und ziehen sich ständig die Lippen nach.«
»Ha! Das ist gut.« Lächelte sie? Olivia Sumner lächelte nicht oft. »Komm, wir gehen in die Kommandozentrale, alias Ankas Küche.«
Im Gegensatz zum Wohnzimmer war die Küche in schimmerndem Weiß gehalten. Derselbe Carrara-Marmor wie im Vorraum. Wände, Anrichten und Fußboden – alles Marmor. Selbst der Küchentisch hatte eine Marmorplatte. Der Raum hätte klinisch und kalt wirken können, aber er wirkte einladend. Olivias Laptop, Bücher und Notizblock waren am hinteren Tischende, aber in der Mitte stand eine große Platte mit aufgeschnittener Salami, Pastete, Käse und Baguette. Mein Magen knurrte. Mir stand der gebratene Pak Choi und Wildbrokkoli bis oben hin.
»Wie war dein Wochenende?«, fragte ich. »Achtundvierzig-Stunden-Party?«
Olivia stand vor einer verrückten Kaffeemaschine. »Nicht mein Ding«, sagte sie und zuckte die Schultern. »Jedenfalls nicht mehr. Und du?«
»Steht nicht auf meiner Prioritätenliste, um ehrlich zu sein.«
Ich sah, wie sie meine Antwort würdigte.
»Kaffee? Espresso? Cappuccino? Nenn mir dein Gift«, sagte sie.
»Für einen doppelten Espresso würde ich meine Seele verkaufen.« Ich ging zu ihrem Laptop. »Hast du Plath schon geöffnet?« Sie nickte, während sie die kleinen Tassen und Teller holte. »Okay.« Ich klickte es durch. »Ich rede, während du Barista spielst.«
»Deshalb bewirte ich dich doch so fürstlich. Hey, ich steh auch auf doppelten Espresso.«
»Wow.« Natürlich. Ich erkannte den Typus auf fünfzig Meter Entfernung. »Okay, also Lady Lazarus: brutal, autobiographisch, sehr theatralisch. Hör zu …
Sterben
Ist eine Kunst …«
»Oh«, sagte sie. »Ich dachte nicht, dass du damit anfängst.« Olivia häufte Wurst, Käse und Dips auf einen Teller und stellte ihn vor mich hin. »Dass sie selbstmordbesessen war, ist ja bekannt, aber die Stelle mit dem Lampenschirm fand ich cool. Du weißt schon, die merkwürdige Zeile über ihre Haut, ›leuchtend wie ein Nazi-Lampenschirm‹?« Sie scrollte das Gedicht durch.
»Das hat mich interressiert.« Olivia beugte sich zu mir. »Mein großer Fund war, dass Plath bekanntermaßen mindestens einen, vielleicht zwei Selbstmordversuche hinter sich hatte, als sie Lady Lazarus