Beyond Fire - Rumeysa Soydas - E-Book

Beyond Fire E-Book

Rumeysa Soydas

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Beschreibung

Ein Junge wacht auf einem Felsen auf, mitten im Meer. Er hat keine Erinnerungen und weiß weder seinen Namen noch, wie er dort gelandet ist. Auf der Insel entdeckt er das Weiße Lager - eine Institution für Waisen. Jedoch wird ihm mit der Zeit klar, dass etwas anderes dahintersteckt. Wieso lernen diese Waisen auf einer abgeschotteten Insel das Fechten und Schachspielen? Wieso treten sie bei Wettkämpfen gegen das Schwarze Lager an? Doch das sind nicht die einzigen Rätsel, die er lösen muss. Er hat keine Identität, keine Erinnerungen. Und schon schnell verdächtigen die Waisen ihn und glauben er wäre ein Spion...

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Inhaltsverzeichnis

PROLOG

KAPITEL I

KAPITEL II

KAPITEL III

KAPITEL IV

KAPITEL V

KAPITEL VI

KAPITEL VII

KAPITEL VIII

KAPITEL IX

KAPITEL X

KAPITEL XI

KAPITEL XII

KAPITEL XIII

KAPITEL XIV

KAPITEL XV

KAPITEL XVI

KAPITEL XVII

KAPITEL XVIII

KAPITEL XIX

KAPITEL XX

KAPITEL XXI

KAPITEL XXII

KAPITEL XXIII

EPILOG

PROLOG

Es ist, als würde sein Herz stehen bleiben.

»Nein. Nein, nein, nein! Auf keinen Fall! Das dürfen Sie nicht tun!«, schreit Adrian. Sein Gesicht ist ganz heiß und seine Hände zittern.

»Was wir tun, haben nicht Sie zu entscheiden«, entgegnet Dmitrij, der Leiter des Schwarzen Lagers, mit gelassener, aber strenger Stimme.

»Er ist mein Sohn. Ich werde wohl entscheiden dürfen, was Sie mit ihm machen. Und das lasse ich nicht zu. Das werden Sie unterlassen!« Adrians Stimme hat zwar nicht an Lautstärke verloren, doch das Zittern hat er jetzt besser unter Kontrolle.

»Was schlagen Sie denn als Alternative vor?«, fragt Dmitrij mit hochgezogenen Augenbrauen.

Adrian schaut ihn entgeistert an, sein Gesicht ist jetzt nicht mehr knallrot, sondern weiß wie Papier.

Dmitrij hat den Drang, die Schweißtropfen an Adrians Stirn wegzuwischen. Er kann den Anblick nicht ertragen. Doch das wäre unanständig. Trotzdem kann er das aufkommende Ekelgefühl nicht ignorieren. »Es muss doch eine andere Möglichkeit geben«, meint Adrian nach einer Weile, mit deutlich ruhigerer Stimme. Dafür hat aber wieder das Zittern eingesetzt. Es ist ein Hin und Her. Mal ist seine Stimme laut und fest, mal ist sie leise und wackelig.

»Natürlich gibt es eine andere Möglichkeit. Diese würde in seinem Tod bestehen. Aber ich bin mir sicher, Sie würden nicht wollen, dass Ihr Sohn stirbt, habe ich recht?«

»Um Gottes willen, wie können Sie mich überhaupt so etwas fragen? Ich würde alles tun, um das zu verhindern!«

»Das tun Sie gerade aber nicht. Mit Ihrem Protest stimmen Sie seinem Tod zu«, erwidert Dmitrij kalt. Seine Haltung zeigt keine Veränderung. Er steht immer noch wie eine Säule vor Adrian, stabil und unbeweglich. Als Adrian nichts erwidert und die Stille sich immer länger zieht, ergreift Dmitrij wieder das Wort: »Hören Sie, ich weiß, das gefällt Ihnen nicht, und es muss Ihnen auch nicht gefallen. Aber denken Sie doch auch an Sascha. Er befindet sich in einer äußerst gefährlichen Situation. Und diese hatten Sie erlaubt. Doch wenn wir jetzt nichts unternehmen und die Sache dem Schicksal überlassen …«, er legt eine Pause ein, um tief Luft zu holen, »dann werden wir in ganz großen Schwierigkeiten stecken.«

Nach einigen Minuten, in denen Adrian immer blasser wird, fährt er fort: »Sie haben seine Nachricht gehört. Wir müssen etwas tun. Andernfalls wird unsere Tat aufgedeckt, und damit könnten Sie … nein … Sie würden ganz bestimmt Ihren Sohn verlieren.«

Adrian denkt über das Gesagte nach, wägt alle Möglichkeiten ab. Er muss ihn irgendwie umstimmen, ihm eine bessere Alternative bieten.

»Könnten Sie Roman nicht einfach einsperren? Ich werde mit ihm reden. Ich werde alles dransetzen, dass er …«

»Ich glaube, Sie verstehen das Problem nicht«, unterbricht ihn Dmitrij. »Was würde es uns bringen, ihn einzusperren? Oder zu töten? Klar, Letzteres wäre schnell getan. Aber darum geht es nicht. Wir müssen aus dem Verlust auch einen Gewinn erzielen. Und das ist die perfekte Lösung. Es ist fast schon so, als wäre es von Anfang an so bestimmt gewesen. Die Probleme treffen genau in dem gleichen Zeitpunkt ein, und sie könnten sich gegenseitig lösen. Romans Strafe ist die Kehrseite von Saschas Rettung.«

Dmitrij fasst sich an seinen langen schwarzen Bart, wie immer, wenn er glaubt, jemanden endgültig überzeugt zu haben.

Als Adrian jedoch nichts erwidert und sein Blick weiterhin auf dem Boden heftet, sagt er: »Hören Sie, diese Diskussion ist vollkommen entbehrlich. Denn am Ende des Tages werden wir das durchsetzen, wofür wir uns entscheiden. Und Ihre Meinung wird das nicht ändern. Aber wenn Sie sich uns weiterhin widersetzen, werden nicht nur Ihre Söhne den Tod erfahren, sondern Sie ebenso.«

Diese Vorstellung bereitet ihm keine Angst. Er fürchtet sich nicht vor seinem eigenen Tod. Was er fürchtet, ist den Verlust seiner Söhne. Doch er weiß auch, dass diese Diskussion zu nichts führen wird. Sie werden seine Wünsche nicht berücksichtigen. Mit seinem Widerstand wird er seine Söhne womöglich sogar in größere Gefahr bringen.

»Weiß Sascha davon?«, fragt er leise. Alle Willenskraft ist verflogen. Stattdessen hat sich eine Müdigkeit in seinen Ton eingeschlichen. Eine Müdigkeit und eine Leere.

»Nein. Wir müssen zunächst schauen, ob es überhaupt funktioniert. Wenn wir uns ganz sicher sind, werden wir ihm alles erklären«, erläutert Dmitrij.

»Roman …«, flüstert Adrian vor sich hin. Vor seinen Augen erscheint sein Sohn. Er ist zu eigensinnig. Zu impulsiv. Wie wird er das nur bewältigen? Nein, er darf solche Gedanken nicht zulassen. Sascha wird da sein. Er wird Roman beschützen.

»Ich möchte Sie nicht weiterhin kränken, aber wie schon gesagt, Sie werden uns dabei nicht zurückhalten können. Ihre Einwände sind überflüssig. Sorgen Sie nur dafür, dass Sie während dieser Zeit nicht den Verstand verlieren. Wir brauchen Sie immer noch hier.« Bevor Dmitrij gehen kann, hält Adrian ihn am Arm fest. »Ich habe nur einen Wunsch: Meine Jungs werden wieder heil zurückkommen. Sie werden nicht zulassen, dass ihnen etwas passiert. Oder … ich werde Sie töten.«

Dmitrij bringt die Drohung nicht aus der Ruhe. Er hält seinem Blick stand und schafft es zudem, obwohl er einen halben Kopf kleiner ist, auf ihn hinunterzuschauen. »Sie töten mich und Sie sterben ebenfalls.«

»Das wissen Sie nicht. Zu diesem Zeitpunkt wären Sie nämlich schon tot. Und wer weiß, was danach noch alles passieren kann.«

I

Das Wasser stößt gegen den riesigen Felsen mitten im Meer. Es scheint sich ein Unwetter anzubahnen. Ein Unwetter, das nichts Gutes verspricht.

Er liegt auf dem Felsen, das Opfer, der Leidtragende. Und gleichzeitig der Katalysator dieses Unwetters, der Täter, der Schuldige. Er ist nicht bei Bewusstsein, unwissend um die Zustände in seiner Umgebung. Er schläft, tief und fest. Während sein Geist und seine Seele in anderen Welten schweben, droht die Welt um ihn herum zu zerbrechen. Doch bevor ihn dies in Gefahr bringen kann, wacht er auf.

Durch die gewaltigen Wellen, die an den Felsen stoßen und Tropfen auf seinen Augenlidern hinterlassen, gleitet er in die Realität zurück. Seine Augen öffnen sich ganz langsam, behutsam. Als müssten sie sich auf das Bevorstehende vorbereiten, als ahnten seine Instinkte bereits die Gefahr, die ihn mit dem Erwachen erwartet. Er erkennt seine Umwelt, aber nimmt das ganze Ausmaß erst wahr, als seine Seele und sein Geist sich von der Schläfrigkeit befreien, von der Schwerelosigkeit lösen und sich endlich wieder orientieren. Doch es ist schwierig, die Orientierung zu finden, wenn man nicht einmal die Orientierung in sich selbst gefunden hat.

Sein Blick wandert durch die unbekannte Umgebung, der salzige Geruch durchdringt seine Nase und die massiven Wellen dröhnen gegen seine Ohren. Er hat einen seltsamen metallischen Geschmack im Mund. Die Sinneswahrnehmungen überwältigen ihn.

Und plötzlich, als hätte ihn eine unbekannte, gewaltige Macht in Besitz genommen, steht er auf und betrachtet die Gegend in vollkommener Fassungslosigkeit – mit Verwirrung und Furcht. Und dann ist da noch ein Gefühl. Er fühlt sich … fremd. Nein, er fühlt sich nicht nur fremd. Er ist sich fremd.

Die Gedanken überschlagen sich. Wer bin ich? Wo bin ich? Was ist das für ein Ort? Wie bin ich hier gelandet? Was zur Hölle mache ich hier? Was ist passiert?

Über all diese Fragen zerbricht er sich den Kopf, sie lassen ihn in eine unheimliche Tiefe stürzen. Obwohl er sicher auf dem Felsen steht, fühlt er sich, als würde er ertrinken, als würden ihn die Wassermassen in den dunklen Abgrund des Meeres reißen.

Seine Gedanken fühlen sich an wie einzelne Wellen, die seinen Körper zu überschwemmen drohen. Wie komme ich hier weg? Wo soll ich überhaupt hin? Was soll ich machen? Was ist nur los? Wer bin ich? Wer bin ich nur?

Seine Atemzüge sind kurz und fieberhaft. Der Himmel ist dunkelgrau, eine beunruhigende, bedrohliche Farbe. Die Wolken ziehen vorbei, und dann ertönt etwas Lautes, Mächtiges, Unheilvolles.

Donner.

Ich muss hier weg. Aber wohin?

Weit weg erkennt er einen Strand und dahinter befindet sich eine massive Felswand. Er hat nicht mehr viel Zeit. Er muss ins Wasser. Doch sein Körper widersetzt sich ihm. Egal, wie oft er versucht, dieses Gefühl zu überwinden und zu springen, es funktioniert nicht. Es ist, als würde sein Körper gegen ihn arbeiten, seine Knochen fühlen sich steif an. Er kann nicht. Bei dem Gedanken, ins Meer springen zu müssen, fangen seine Hände an zu zittern. Sein Herz schlägt schneller und härter gegen seine Brust. Er muss! Er hat keine andere Wahl.

Nachdem wieder ein Donner ertönt ist und dann der Blitz einschlägt, überwindet er die Starre, holt tief Luft, schließt die Augen und springt. Das kalte Wasser versetzt seinen Körper zunächst in einen Schockzustand, sodass er sich an den Felsen klammern muss, um nicht die Kontrolle zu verlieren. Sein Herz schlägt ihm bis zur Kehle. Die eiskalten Wellen donnern gegen seinen Körper, salziges Wasser dringt in seine Ohren, löst in seinen Augen ein Jucken aus. Er versucht, seine Atmung zu regulieren. Es vergehen gefühlt Stunden, bis er sich wieder einigermaßen im Griff hat.

Als er sich an die Kälte gewöhnt hat, schwimmt er an den Strand. Die Wellen erschweren ihm den Weg, lenken ihn in verschiedene Richtungen und verhindern seine Sicht. Doch nach einer halben Ewigkeit schafft er es bis zum Strand und legt sich atemlos auf den feuchten Sand. Sein ganzer Körper zittert.

Eine Weile ruht er sich aus, versucht, seine Atemzüge zu regulieren und sein Zittern zu stoppen. Als er wieder einigermaßen bei Kräften ist, steht er langsam auf und entdeckt eine Öffnung an der Felswand.

Eine Höhle. Dort bin ich vor dem Gewitter sicher.

Er geht darauf zu, obwohl sie ihm unheimlich erscheint und ihm nicht wirklich ein Gefühl von Sicherheit gibt, sondern vielmehr Unbehagen in ihm auslöst. Doch er hat keine andere Wahl. Gedankenverloren tritt er ein. Trotz der Flammenträger an der Wand kann er nicht viel erkennen. Doch als er seinen langen, schmalen Schatten auf dem steinigen Boden sieht, erschrickt er.

Das bin nur ich. Doch was bedeutet das? Ich weiß nicht einmal, wer ich bin.

Er schaut sich weiter um, nimmt zur Sicherheit einen Flammenträger mit und versucht, so leise wie möglich zu laufen. Er wagt nicht einmal, laut zu atmen, aus Angst, irgendetwas oder irgendjemand könnte ihn hören.

Wer weiß, was das für ein Ort ist. Vielleicht ist es das Versteck eines Kannibalen. Dieser Gedanke lässt ihn schaudern.

Nein, ein Kannibale ernährt sich von Menschen. Und wie es scheint, ist hier kein einziger Mensch.

Dann schluckt er schwer. Doch, ich.

Der Weg scheint nicht zu enden und langsam fühlt er sich unwohl und bereut seine Entscheidung, in die Höhle gegangen zu sein. Doch als der Donner ertönt und er Regen prasseln hört, fühlt er sich etwas zuversichtlicher. Er nimmt sich vor, in der Höhle zu warten, bis der Regen aufhört. Doch ein Gedanke bringt ihn zum Innehalten.

Und was dann? Wohin soll ich dann? Wo bin ich überhaupt? Im Nirgendwo? Wer bin ich überhaupt? Ein Niemand? Ein Niemand im Nirgendwo?

Es regnet jetzt in Strömen. Eine weitere Möglichkeit kommt ihm in den Sinn. Er könnte die Höhle verlassen und draußen auf ein Lebenszeichen warten. Schließlich bringt es kaum etwas, sich Schutz zu suchen, wenn man sowieso keinen Lebenssinn hat. Wenn man nicht einmal weiß, wer man selbst ist. Wenn man keine Identität hat. Doch … er kann nicht. Er traut sich nicht. Und eine Stimme in ihm sagt, dass er durchhalten soll. Dass er etwas finden wird. Vielleicht nicht sich selbst, aber etwas, was ihn zu sich selbst führt. Vielleicht gibt es hier etwas, das in ihm eine Erinnerung erwecken könnte. Oder jemand. Vielleicht … ist das alles auch nur ein Traum! Ja, natürlich! Warum ist er nicht früher darauf gekommen? Aber, wenn es nur ein Traum ist, dann könnte er sich auch aufwecken. Also kneift er sich in den Arm und wartet darauf, dass alles vor seinen Augen verschwimmt. Doch es passiert nichts. Seine Sicht ist so klar wie noch nie.

Er schluckt schwer, seine Augen fixieren die Wand. Erst nach ein paar Sekunden erkennt er das Wort an der Wand, und sein Körper fängt an zu vibrieren.

Renn!

Dort steht Renn! – groß und rot. Sein Herz schlägt immer schneller. Doch er fühlt sich wie paralysiert. Was bedeutet das? Was lauert hinter dieser Höhle? Das Unheimliche ist nicht, was an der Wand steht, sondern vielmehr, wie es geschrieben ist. Hektisch und karmesinrot. Es hat fast schon die Farbe von … Blut!

Er keucht laut. Er nähert sich der Schrift und riecht daran. Metallisch. Als er über das Wort streicht, ist er sich sicher. Es handelt sich um getrocknetes Blut. Plötzlich wird ihm schwindelig und er muss seine Hand an die Wand stützen, um nicht umzukippen.

Wenn es Blut ist, heißt das, ich bin nicht allein. Sein Herz fängt an, schneller zu schlagen, als könnte es jede Sekunde aus seinem Brustkorb herausspringen.

Der Gedanke, jemand könnte hier sein, löst Angst in ihm aus. Und Hoffnung. Verzweiflung. Erleichterung. Verwirrung. Und Erlösung. Es macht keinen Unterschied, was sich hier verbirgt. Es wird ihn entweder retten oder töten. Und beide Optionen haben die gleiche Bedeutung für ihn. Freiheit. Endlich ein Weg, der ihn aus diesem Labyrinth führt. Ein Weg, der ihn in die Erlösung führt. Sei sie Licht oder Dunkelheit. Leben oder Tod. Es macht keinen Unterschied. Sein einziger Wunsch ist, dass dieses Warten ein Ende nimmt. Denn sonst wird er sich immer mehr verlieren. Sonst wird er sein Leben in diesem feuchten, kalten, dunklen Ort verbringen, bis er sich selbst das Leben nimmt. Vielleicht würde er dann wirklich aufwachen. Und er weiß jetzt schon: Wenn er aufwacht, wird er diesen Albtraum niemals vergessen.

Nach einer halben Ewigkeit, in der er in die Leere starrt, geht er tiefer in die Höhle, die nur in eine Richtung läuft.

Plötzlich knarrt etwas. Bevor sein Gehirn reagieren kann, sind seine Füße schon am Rennen. Erst nachdem er bereits die Orientierung verloren hat, fällt ihm ein, dass das Geräusch aus den Tiefen der Höhle kam, nicht von draußen, was bedeutet … Verdammt! Ich laufe direkt auf das Geräusch zu! Ich hätte die Höhle verlassen müssen!

Wütend schlägt er sich mit der Hand auf den Kopf. Idiot, Idiot, Idiot!

Doch jetzt kann er nicht mehr zurück, er ist zu weit gelaufen und irgendwo abgebogen. Also geht er den Weg weiter, und plötzlich sieht er ein Licht. Am Ende der Höhle. Es ist klein, aber es ist da. Und nicht zu übersehen in der tiefen Dunkelheit.

Vielleicht ist dort jemand. Vielleicht ist es keine verlassene Insel.

Er geht auf das winzige Licht zu. Immer weiter und weiter. Seine Füße werden immer schneller. Sein Herz rast. Er könnte es schaffen. Er könnte etwas finden. Sein Herz pocht wie wild bei dem Gedanken, dass dieses Labyrinth ein Ende nehmen könnte. Es ist nicht mehr weit. Das Licht wird immer größer und größer und fasst seine komplette Sicht ein. Einmal stolpert er und fällt auf die Knie. Langsam färbt sich der Stoff tiefrot. Es bleibt ein großer Fleck. Doch er lässt sich davon nicht abhalten. Er hat das Gefühl, wenn er nicht sofort das Licht erreicht, wird es erlöschen und ihn in der unheimlichen Dunkelheit zurücklassen. Als er endlich am Ende angelangt ist und die Höhle im wahrsten Sinne des Wortes hinter sich lässt, traut er seinen Augen nicht.

Er steht vor einem riesigen Gebäude, das von einem hohen Zaun umgeben ist. Das Gebäude ist aus weißem Beton und von mittlerer Größe. Der dunkelgraue steinige Boden steht in starkem Kontrast zur hellen, glatten Oberfläche des Gebäudes. Trotz der Schlichtheit, fast schon Nüchternheit des Bauwerks hat es etwas Imposantes, Mächtiges und Einschüchterndes.

Plötzlich hat er das Bedürfnis, zurück in die dunkle Höhle zu flüchten, seine Augen geblendet von dem Gebäude, dessen Helligkeit sich vom tiefblauen Nachthimmel abhebt. Sein Herz schnürt sich bei dem Anblick zusammen. Irgendetwas in ihm schreit, er solle zurück in die Höhle, am besten sogar auf den Felsen, um so weit wie möglich weg von diesem Gebäude zu sein. Doch es würde keinen Sinn machen. Was würde er allein ohne Essen und Trinken, ohne besonderen Schutz tun? In dem Gebäude sind sehr wahrscheinlich Menschen, die ihm helfen können, die ihn versorgen können. Nicht ein einziges Mal hinterfragt er, warum ein einziges Gebäude auf einer einsamen Insel errichtet wurde. Absurd findet er es. Und seltsam. Aber Hinterfragen, nein, das nicht. Er hört auf seinen Verstand, ignoriert sein unangenehmes Gefühl und geht auf das Gebäude zu.

Vor dem Tor erkennt er schon zwei Menschen, womöglich sind es Wächter. Als er vor ihnen steht, tauschen die zwei Männer einen kurzen Blick aus und sehen ihn misstrauisch an.

»Wer sind Sie?«, fragt der rechte Mann. Seine Stimme ist tief und monoton.

Er zögert kurz. Es ist eine einfache, klare Frage, die eine einfache, klare Antwort erwartet. Doch er kann sie nicht beantworten. Was soll er bloß tun? Wenn er ihnen die Wahrheit sagt, werden sie ihn für verrückt halten. Ein Geistesgestörter, der sich verirrt hat und irgendwie auf einer verlassenen Insel gelandet ist. Doch werden sie ihm überhaupt glauben? Wenn nicht, wäre das sogar noch schlimmer. Warum sollten sie jemanden aufnehmen, der sie schon bei der ersten Frage anlügt? Oder aber, er lügt wirklich. Ironischerweise würden sie ihm eine Lüge wohl eher abkaufen als die Wahrheit. Doch er entscheidet sich dagegen. Er wird ihnen die Wahrheit sagen.

»Ich weiß es nicht«, haucht er schließlich.

Eine Weile antworten die Männer nicht, und nachdem sie wieder einen Blick ausgetauscht haben, hebt der rechte Mann die Augenbrauen und sagt auf kühle und klinische Weise: »Wir werden Sie nicht reinlassen, wenn Sie uns keine persönlichen Informationen geben.«

Seine Vermutung hat sich bestätigt. Sie glauben ihm nicht. Er bereut es, nicht gelogen und keine Identität erfunden zu haben. Aber Ehrlichkeit ist immer der richtige Weg. Auch in Notsituationen. Das ist zumindest seine Moral.

»Hören Sie, ich weiß, es hört sich unglaubwürdig an, ja sogar komplett verrückt und absurd, aber ich weiß wirklich nicht, wer ich bin. Ich bin auf diesem Felsen aufgewacht, mitten im Meer, ohne jegliche Erinnerung … und … ich brauche Ihre Hilfe«, sagt er und versucht, so aufrichtig wie möglich zu klingen, was eigentlich kein Problem ist, wenn man die Wahrheit sagt. Aber er scheint die Wahrheit ja selbst nicht zu kennen, weshalb er dadurch versucht, sich selbst von seinen Aussagen zu überzeugen.

Der linke Mann seufzt laut. Seine Stimme ist tief und heiser, als hätte er seit langer Zeit nicht gesprochen. Was er möglicherweise auch nicht getan hat. »Wir werden uns nicht auf dein kleines Spielchen einlassen, Junge. Also entweder, du sagst uns, wer du bist, wie du hierhergekommen bist und was du hier suchst, oder du kannst die Nacht draußen verbringen und dir ein anderes Versteck suchen.«

Warum ist er so schroff zu ihm, während der Rechte doch höflich geblieben war? Er fühlt sich gedemütigt, doch er gibt nicht auf.

»Bitte, ich habe überhaupt keine Erinnerungen, und ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich weiß nicht einmal, wie ich heiße. Oder in welchem Land ich mich befinde. Auf welchem Kontinent. Bin ich überhaupt auf der Erde?« Er muss kurz lachen, doch die Männer bleiben weiterhin ernst. Der Ausdruck des linken Mannes verfinstert sich sogar ein wenig mehr.

Er ist in die falsche Richtung gegangen. Er hätte keinen Witz reißen sollen. Dadurch hat er die Lage ins Lächerliche gezogen und sich womöglich noch nervöser und unehrlicher erscheinen lassen.

»Bitte, verlassen Sie diesen Ort«, sagt der rechte Mann.

»Ich kann nicht. Ich weiß nicht, wo ich bin. Ich weiß nicht, wohin ich gehen soll. Vielleicht könnte ich bei Ihnen telefonieren oder … wenigstens für eine Nacht bleiben.« Das ist es. Das muss sie überzeugt haben, denkt er. Doch sie bleiben stur.

»Verlassen Sie diesen Ort«, wiederholt der rechte Mann.

»Aber …«

»Verlassen Sie diesen Ort. Ich werde mich nicht noch einmal wiederholen.« Er sieht ihn weiter an, doch der Rechte blickt immer noch stur geradeaus.

Warum lassen sie ihn nicht rein? Auch wenn sie ihn für einen Verbrecher halten würden, sie könnten ihn sofort umbringen, ohne dass jemand etwas mitbekommt. Schließlich befinden sie sich auf einer Insel, abgeschottet von der restlichen Welt. Er traut sich nicht, mehr zu sagen, aus Angst, der Mann könnte ihn erschießen. Es würde ihn nicht wundern, zumal dieses Haus sehr einem Gefängnis gleicht und der Mann so viel Gefühl und Empathie wie ein Stein zu haben scheint. Der Linke hat durch seine grobe Wortwahl immerhin bewiesen, impulsiver und somit auch emotionaler zu sein. Doch das sagt nichts aus. Er könnte ihn aus Impulsivität oder Wut töten.

Jetzt schaut er den linken Mann an. Vielleicht stecken hinter seiner Impulsivität auch weiche Gefühle? Mitleid. Empathie. Verständnis. Ein Gewissen? Doch sein Gesicht ist rot vor Wut. Wut ist schlecht. Wut führt zu unüberlegten Handlungen.

Er will gerade etwas sagen, dann fällt es ihm ein: Renn! Groß und rot. Eine Warnung. Vielleicht hatte die Person, die es geschrieben hat, diesen Ort gemeint. Vielleicht ist die Person vor diesem Ort geflohen. Aber … warum? Der Gedanke schreckt ihn ab, gleichzeitig verstärkt sich sein Drang, das Gebäude zu betreten und dessen Geheimnis zu lüften.

»Hören Sie, warum sollte ich Sie anlügen? Ich meine, was hätte ich davon? Ich möchte einfach nur ein Dach über dem Kopf, etwas zu essen und zu trinken. Ich werde Ihnen keine Probleme bereiten.«

Der Linke scheint die Geduld verloren zu haben. Er betastet sein Ohr und drückt auf einen Knopf, sodass das Gerät in seinem Ohr rot aufleuchtet. Er fängt an zu sprechen.

»Sir, hier ist ein Junge um die zwanzig, der behauptet, keine Erinnerungen zu haben. Er weiß nicht, wie er heißt und wie er hier gelandet ist. Er bittet uns, ihn aufzunehmen.«

Die Antwort bekommt er nicht mit, doch ein Rascheln aus dem Gerät ist zu hören.

»Nein, Sir. Er hat keinerlei Information. Auskunft haben wir ihm nicht gegeben, Sir. Nein, Sir.«

Nach einer langen Pause, der Gesichtsausdruck des Mannes wird immer finsterer, redet er weiter. »Entschuldigung, Sir? Ich soll … aber Sir … ja, Sir.«

Der Mann drückt wieder auf den Knopf und das rote Licht verschwindet. Er schaut ihn nicht an, stattdessen nimmt er einen Schlüssel aus seiner Hosentasche und schließt das Tor auf.

»Was tust du?«, fragt der Rechte entsetzt.

»Wonach sieht es aus?«, erwidert der Linke sarkastisch, doch seine Stimme bebt vor Wut.

Hat der Mann im Gerät seine Aufnahme etwa zugelassen? Es sieht ganz danach aus. Plötzlich schaudert er, ein komisches Gefühl durchströmt ihn, als würde ihm eiskaltes Wasser über den Körper fließen und seine Glieder erhärten.

»Worauf wartest du, Junge? Geh schon rein«, sagt der linke Wächter genervt. Wahrscheinlich hat er erwartet, dass sein Gegenüber seine Entscheidung unterstützt.

Er kann sein zufriedenes Grinsen nicht unterdrücken. Das Tor wird abgeschlossen, und der rechte Wächter begleitet ihn in das Gebäude. Der linke bleibt am Tor, womöglich um den Eingang nicht unbewacht zu lassen. Innen sind die Wände hellgrau, einzelne Lampen an den Wänden gehen an. Sie illuminieren den Raum mit kaltem, unglaublich grellem Licht, das ihn an ein Krankenhaus erinnert. Gegenüber von ihnen befindet sich ein silberner Aufzug, auf der linken sowie rechten Seite sind jeweils zwei Türen. An den Wänden rechts und links von ihnen jeweils vier.

Doch sie betreten keine der Räume hinter diesen Türen und benutzen auch nicht den Aufzug. Stattdessen kniet sich der Wächter hin und betätigt etwas am Boden. Er schiebt etwas weg, und auf dem Boden erscheint ein Bildschirm, der eine Tastatur zeigt. Er tippt auf Zahlen und Buchstaben, und als die Ränder des Bildschirms grün aufleuchten, öffnet sich eine kleine Fläche in der Mitte auf dem Boden. Der Mann gibt ihm ein Zeichen, dass er zuerst gehen soll. Unsicher läuft er die Treppe runter und schaut hinter sich. Der Wächter folgt ihm und die Öffnung schließt sich. Plötzlich überkommt ihn ein schreckliches Gefühl. Vielleicht sperrt er ihn ein? Oder er … tötet ihn.

Er bleibt auf der vorletzten Stufe stehen, sodass der Wächter an ihn stößt.

»Voran«, sagt er nur in seiner monotonen Stimme. Doch er kann nicht. Er hat Angst. Er schaut hinter sich. »Was machen Sie mit mir?«, fragt er verzweifelt. Er versucht, seine Stimme zu kontrollieren, doch vergeblich. Sein Körper sowie seine Stimme zittern wie verrückt.

»Ich bringe dich zum Imperator«, antwortet er.

»Imperator? Was meinen Sie?«

»Der Leiter dieses Lagers. Und jetzt geh weiter«, sagt er, und zum ersten Mal hört er sich ungeduldig an.

Er hat keine andere Wahl. Also folgt er dem Befehl und geht voran. Die Treppe führt zu einem schmalen, dunklen Gang, der von einzelnen Lampen an den Wänden beleuchtet wird. Das gleiche kalte, befremdliche Licht.

Was ist das für ein Ort? Ein Gefängnis? Eine Psychiatrie?

Der schmale Gang führt zu einer Abzweigung, doch sie wechseln weder auf die rechte noch auf die linke Seite, sondern gehen auf die Tür direkt gegenüber von ihnen zu. Der Wächter betätigt einen ähnlichen Bildschirm an der Wand neben der Tür, der jedoch im Gegensatz zum anderen sichtbar ist und nicht hinter der Wand versteckt wird. Doch diesmal gibt er keinen Code ein, sondern drückt auf einen Knopf und sagt: »Ich habe den Jungen gebracht, Sir. Ich warte auf Ihre Empfängnis, Sir.«

Die Tür öffnet sich von selbst, indem sie nach links geschoben wird.

Sie betreten einen kleinen Raum. Die Wände sind auf allen Seiten in Hochglanzweiß gefliest. Die spiegelnde Oberfläche, in der das Licht reflektiert wird, erzeugt eine unfassbare Helligkeit. In der Mitte ist ein Schreibtisch aus weißem Marmor platziert, wohinter ein Mann sitzt. Hinter dem Mann befindet sich eine sehr hohe und breite Vitrine, worin Bücher mit hauptsächlich schwarzem Lederumschlag liegen – und ein paar Dekorationsgegenstände.

Der Mann lächelt, als sie den Raum betreten, doch er schaut nicht die Wächter an, sondern ihn. Sein Lächeln erreicht seine Augen nicht und wirkt so starr und unnahbar wie die Lichter an den Wänden.

Ihm läuft es kalt den Rücken hinunter. Dieser Ort, die Wächter, die ganze Situation, alles erscheint ihm wie in einem Traum. Es fühlt sich unheimlich fremd und seltsam an. Er weiß nicht, wer er ist, wacht auf einem Felsen auf, findet einen Ort, der einem Gefängnis gleicht, und jetzt sieht er einen Mann vor sich, der alles andere als normal und vertrauenerweckend wirkt.

Was zum Teufel passiert hier?

Als der Mann am Schreibtisch spricht, ist seine Stimme kalt und stechend. »Willkommen im Weißen Lager.«

II

»Setzen Sie sich«, sagt er, seine Stimme nun etwas wärmer und zugänglicher.

Er tut, was ihm gesagt wird. Er kann seine Augen nicht von dem Mann hinter dem Schreibtisch abwenden. Sein Gesicht fasziniert ihn und schreckt ihn gleichzeitig ab. Er wirkt androgyn, mit unglaublich hohen, hervorstechenden Wangenknochen, dicken Lippen und einem kantigen Kiefer. Aufgrund seiner tiefen Falten schätzt er ihn auf Mitte sechzig. Doch was ihn am meisten abschreckt, ist der Kontrast zwischen seinen platinblonden Haaren und den pechschwarzen Augen. Und dann ist da noch diese unnatürliche karamellfarbene Hautfarbe, die sich ebenfalls von den Augen abhebt. Je länger er den Mann anschaut, desto mehr wird er von seinem Gesicht hypnotisiert, von seinem Lächeln, seinen Augen …

»Also, ich sehe, Sie sind noch jung. Kann ich Sie auf informelle Art ansprechen?«

Es dauert eine Weile, bis er antworten kann, da er immer noch wie hypnotisiert von seinem Anblick ist. Er schüttelt kurz seinen Kopf, um sich zu konzentrieren und ablenkende Gedanken auszusortieren. Als er spricht, kommt ihm seine eigene Stimme fremd vor. »Ja, das ist in Ordnung, Sir.«

»Gut. Mein Name ist Nathanael. Ich bin der Imperator dieses Lagers. Die Wächter haben mir schon erzählt, dass du keine Erinnerungen mehr hast. Deinen Namen weißt du, nehme ich an?«

Bildet er es sich ein oder hat der Mann bisher nicht ein einziges Mal geblinzelt?

»Ich weiß meinen Namen nicht, Sir.«

Der Mann hebt seine Augenbrauen; er ist sichtlich überrascht und skeptisch zugleich, denn gleich danach zieht er die Augenbrauen zusammen.

»Und weißt du, wie du hier gelandet bist?«, fragt er. »Ich weiß nur, dass ich auf einem Felsen aufgewacht bin, mitten im Meer. Dann bin ich in eine Höhle geflüchtet, um mich vor dem Gewitter zu schützen. Und von dort aus habe ich dieses Gebäude gefunden.«

Nathanael nickt langsam, er streicht nachdenklich mit der Hand an seinem Kinn entlang, seine Augen sind auf den Schreibtisch gerichtet. Er nutzt diesen Moment, um den Kloß in seinem Hals hinunterzuschlucken.

»Du hast also überhaupt keine Erinnerungen?«, fragt er, und seine Augen heften sich wieder auf ihn.

»Nein, Sir. Ich kann mich an gar nichts erinnern.«

Nathanael atmet tief ein und wieder aus.

Erst jetzt fallen ihm seine langen, dürren Finger auf und die langen Fingernägel. Seine linke Hand umfasst die rechte und sein Daumen streicht über seine umfasste Hand. Aus irgendeinem Grund beruhigt ihn diese Geste. Als würde Nathanael über seine eigene Hand streichen, und er fühlt, wie er sich nach menschlicher Nähe sehnt.

Was ist nur los mit mir?

Erst als er seinen Blick von den Händen des Mannes abwendet, sieht er, wie er ihn wieder anlächelt. Doch diesmal wirkt sein Lächeln nicht kalt. Da steckt etwas anderes dahinter. Er kann es nicht deuten, nur kommt es ihm so vor, als hätte der Mann … seine Gedanken gelesen.

Hastig sieht er irgendwo anders hin. An die Wand, den Schreibtisch, seine Füße, nur nicht in seine Augen, diese schwarzen Augen, so tief wie das Meer, das ihn fast ertränkt hat …

»Möchtest du etwas trinken? Du musst doch Durst haben.«

Er hat eben an das Meer gedacht … und jetzt redet der Mann von Durst.

Und er merkt, dass sein Mund wirklich trocken ist. Er hat Durst. Aber woher wusste er das? Hat er es daran gemerkt, dass er ständig geschluckt hat? Hat er überhaupt ständig geschluckt? Er weiß es nicht. Er war zu sehr damit beschäftigt, dieses merkwürdige Gefühl loszuwerden.

Vor ihm steht bereits ein Glas Wasser.

Zu viel Wasser. Er sieht zu viel Wasser. Das Meer, seine schweißnassen Hände und jetzt das Glas Wasser. So rein. So perfekt. Unantastbar. Er spürt, wie seine Hand nach dem Glas greift, und als er es hebt, ist er überrascht von der Schwere des Glases.

Als das Wasser seine Kehle hinunterfließt, fühlt er sich wie benebelt. Seine Sicht ist jetzt nicht mehr so klar, als würde er durch einen Wasserstrahl schauen, auch die Farben werden kühler, blasser. Das Wasser ist kalt und frisch. Trotzdem fühlt er sich seltsam, so schwerelos, als würden seine Seele und sein Geist emporsteigen und von der Realität hinweggleiten …

»Also, fangen wir noch mal von vorn an. Wie heißt du?«

Ein komischer Fleck tanzt vor seinen Augen, wie ein Lichtstrahl blendet er ihn. Wie heißt er? »Ich weiß es nicht.«

Das Glas fällt auf den Boden, einmal, dann hebt er es auf und es fällt ihm wieder aus der Hand. Warum kann er das verdammte Glas nicht festhalten? Die Scherben auf dem Boden sind verschwunden, doch seinen Händen entrinnt Blut. Er wischt sich seine Hände an seiner Hose ab, welche sich blau färbt. Blau, die Farbe des Wassers.

»Dann einigen wir uns auf einen Namen, damit du wenigstens einen Teil einer Identität hast. Ich schlage Darren vor, der Name passt zu dir. Also, Darren. Wie bist du hierhergekommen? Wer hat dich gebracht?« Plötzlich ist er wieder auf dem Felsen, umgeben von Wasser und Wasser und Wasser …

»Ich weiß es nicht.«

Als er seine Hände betrachtet, ist das Blut verschwunden, dafür sind seine Hände nass, als hätte er sie soeben gewaschen, ohne sie zu trocknen. Aber egal wie oft und fest er seine Hände an seiner Hose abtrocknet, das komische wässrige Gefühl verschwindet nicht.

»Hat dich das Schwarze Lager geschickt?«

Er ist wieder in der dunklen Höhle und sieht seinen Schatten. Seinen dunklen, schmalen Schatten. Er keucht laut. Alles um ihn herum ist schwarz und finster.

Renn!

Plötzlich färbt sich der Boden rot. Karmesinrot. Wie ist das passiert? Dann merkt er, dass diese rote Farbe von seiner Hose tropft. Blut. Sein Blut. Verzweifelt versucht er, das rote Wasser wegzuwischen, doch damit färbt er nur seine Hände rot.

»Ich weiß nicht, was das ist.«

Er spürt, wie er immer schwächer wird. Das verdammte Blut hört nicht auf zu fließen. Die tiefrote Farbe bildet einen schmerzlichen Kontrast zur hellblauen kalten Umgebung. Rot und blau. Blut und Wasser.

»Weißt du, wo du bist?«

Die monotone Stimme des Wächters schneidet seine Adern auf. Er schreit laut auf. Doch er fühlt keinen Schmerz, er ist wie betäubt. Jetzt stirbt er. Er ist sich sicher. Kein Schmerz, nur Stille.

»Nein.«

Er stirbt. Er weiß es. Er spürt es. Wie die Welt von ihm gleitet, oder gleitet er von der Welt? Dunkelheit umgibt ihn. Ganz langsam schleicht sie in seine Umwelt, eine einzelne dunkle Wolke, die in seine Füße dringt und in seinem Körper hochwandert, bis sie seine Kehle erreicht und schließlich aus seinem Mund entflieht und seine Sicht mit schwarzem Nebel verschleiert …

Als er aufwacht, dringt Sonnenlicht aus dem Fenster. Erschrocken richtet er sich auf. Wo bin ich? Er schaut um sich herum. Er liegt auf einem Bett, sein Körper ist von einer grauen Bettdecke bedeckt. Neben ihm liegt ein Mädchen auf einem identischen Bett mit grauen Bettlaken. Ihr Gesicht ist hell und trägt feine Züge. Es passt nicht in diese monotone, leblose graue Gegend, findet er. Es ist so frisch wie ein Regentropfen, so zart wie eine Blume.

Plötzlich, als hätte sie seinen Blick gespürt, öffnet sie ihre Augen. Sie haben eine wunderschöne apfelgrüne Farbe. Sie verzieht das Gesicht, und er schaut verlegen weg.

»Wer bist du?«, fragt sie. Ihre Stimme ist scharf und stechend, ganz im Gegensatz zu ihrem weichen Antlitz. Jedoch liegt kein Vorwurf in ihrer Stimme, nur pure Neugier. Warum stellt ihm jeder diese Frage?

»Ich … ich bin Darren.« Darren. Wie ist er nur auf diesen Namen gekommen?

Das Mädchen hebt die Augenbrauen. »Darren. Bist du neu hier?«

»Ja, ich bin neu.« Neu, wo auch immer. Hoffentlich erkennt sie meine Unbeholfenheit nicht.

»Komisch, eigentlich kommen die Novizen immer im Juli. Und wir haben schon bald Oktober.«

Dann ist also Herbst. Endlich eine Information, womit er etwas anfangen kann. Das genaue Datum zeigt die Uhr auf dem Nachttisch: 23. September.

Was hat sie noch gesagt? Irgendetwas mit Novizen. Sie schaut ihn erwartungsvoll an, anscheinend fordert sie eine Antwort.

»Äh … ja. Ich … bin … später dazugestoßen«, erwidert Darren. Wenn sie zuvor noch verwirrt war, ist sie jetzt komplett durcheinander.

»Was meinst du? Die Eignungsprüfungen finden alle zur gleichen Zeit statt.«

»Eignungsprüfung?«

Sie hebt die Augenbrauen. »Wir müssen alle eine Prüfung bestehen, um vom Weißen Lager aufgenommen zu werden.«

Er muss das Thema wechseln. Sofort. Sonst wird seine Lüge sehr schnell auffliegen.

»Stimmt. Aber hey, genug über mich geredet. Du hast mir deinen Namen noch nicht verraten.«

Er versucht, so ungeniert wie möglich zu klingen, um die wahre Intention hinter seiner Frage zu verbergen.

»Ich bin Gemma.«

Gemma. Der Name hat einen schönen Klang, findet Darren. Gemma. Ja, der Name gefällt ihm und die Trägerin auch. Wie es sich wohl anfühlt, einen Namen zu haben? Er will seine Gedanken schon fast mit ihr teilen, als ihm einfällt, dass er bereits einen Namen hat. Oder besser gesagt einen erfundenen Namen, um nicht wie ein Geistesgestörter dazustehen.

Bevor sie das Gespräch wieder auf ihn lenken kann, ergreift er das Wort. »Und, gehörst du zu den Novizen, Gemma?«

»Natürlich. Sonst würde ich wohl nicht hier schlafen.«

Okay, das bedeutet, alle Personen, die in diesem Raum schlafen, sind Novizen. Und er auch, was auch immer das für ihn bedeuten mag.

Dann fällt ihm etwas ein, was er zu ihrem Namen sagen könnte, um sie weiter abzulenken. »Wusstest du, dass dein Name Edelstein bedeutet?«

»Ach echt? Du hast wohl Namenologie studiert?«, fragt sie lächelnd.

»Was?«, sagt Darren, zugegeben etwas dümmlich.

»Das war nur Spaß. Ich fand es nur witzig, dass du sofort wusstest, was mein Name bedeutet«, erklärt sie ihm.

Darren lacht daraufhin. »Verstehe. Ich wusste auch gar nicht, was dein Name bedeutet. Ich habe es von dem Wort Gem abgeleitet«, erläutert Darren. Dann fügt er noch hinzu: »Ähm … dein Name, also ich finde, der passt wirklich perfekt zu dir. Also ich meine, deine Eltern haben dir diesen Namen bestimmt wegen deiner Augen gegeben.«

Jetzt sieht sie noch irritierter aus. »Ja, nur schade, dass ich niemals erfahren werde, ob deine Vermutung wirklich stimmt.«

»Wieso nicht?«, fragt er.

Sie schaut ihn an, als wäre er ein Idiot.

Ich habe mich wieder verraten. Ich habe irgendetwas Dummes gesagt, denkt er und schlägt sich in Gedanken mit der Hand auf die Stirn.

»Na … wir sind hier alle Waisen. Du etwa nicht?«

Ich weiß nicht, ob ich eine Waise bin. Ich weiß nicht einmal, wer ich bin. Und was ich hier tue. Und was mit mir los ist …

»Darren?«

Es fühlt sich komisch an, seinen fingierten Namen aus dem Mund einer anderen Person zu hören. Aber gleichzeitig auch wundervoll. Es wäre wohl besser, wenn er sagt, dass er eine Waise ist, da es hier eine Normalität zu sein scheint. Nein, keine Normalität. Eine Voraussetzung.

»Ja, ich bin eine Waise«, sagt er. Lügt er. Sagt er. Wenn man keine Erinnerungen hat, gibt es zumindest einen Vorteil: Man kann nicht lügen. Gemma scheint ihn jetzt als etwas weniger merkwürdig zu empfinden, denn sie nickt und lächelt sogar.

Irgendjemand im Raum stöhnt laut auf. Ein Junge, der gegenüber von Darren schläft. Er richtet sich halb auf und schüttelt seinen Kopf.

»Wie viel Uhr haben wir?«, murmelt er verschlafen. Seine blonden Haare fallen ihm über die Stirn, die hellblauen Augen noch halb verschlossen von der Müdigkeit.

»Kurz nach neun«, antwortet Gemma. Ihre Hände liegen immer noch aufeinander unter ihrem Kopf. Der Junge scheint jetzt erst Darren bemerkt zu haben, denn er fragt auf einmal mit fester Stimme, als wäre seine Müdigkeit verflogen: »Wer bist du denn?«

Gut, dass er sich dazu entschieden hatte zu lügen. Diese Frage wird er heute wahrscheinlich noch hundertmal gestellt bekommen. Wenn er die Wahrheit gesagt hätte, würden die Gespräche möglicherweise zehnmal länger dauern. »Ich bin Darren. Ich bin neu hier. Und auch eine Waise.«

Er würde sich gern eine Ohrfeige geben. Der letzte Satz war nicht nur unnötig, er hat damit auch die Glaubwürdigkeit seiner Aussagen infrage gestellt.

Der Junge scheint das Gleiche zu denken wie Darren. »Okay. Das hätte ich tatsächlich nicht gedacht, dass du eine Waise bist.«

Gemma und der Junge fangen an zu lachen. Aber sie lachen ihn nicht aus, jedenfalls scheint es nicht so. Also lacht Darren mit, und zum ersten Mal fühlt er sich wirklich leicht. Und sorglos. Als würde er mit seinen besten Freunden herumalbern. Nur, dass sie nicht seine besten Freunde sind. Und dass er sehr viele Sorgen hat. Eine davon ist, herauszufinden, wer er ist und was zur Hölle er hier macht. Doch in diesem Moment, vergisst er all das und genießt diesen kurzen Augenblick.

»Das ist echt komisch. Wann bist du gekommen? Und wer hat dich gebracht?«, fragt der Junge.

Ach, wenn du nur wüsstest, denkt Darren.

»Also, ich bin gestern angekommen. Gestern Abend.« Darren hofft verzweifelt, dass der Junge den letzten Teil seiner Frage vergisst. Doch das tut er nicht.

»Und wer hat dich gebracht?«, wiederholt er, und Darren hört die subtile Dringlichkeit in seiner Stimme. Was soll er bloß sagen? Wer könnte ihn gebracht haben? Der merkwürdige Mann mit den platinblonden Haaren und den schwarzen Augen? Die Wächter? Sonst kennt er hier keinen.

»Ich weiß ihre Namen nicht. Es waren zwei Männer«, sagt er schließlich. Der Junge scheint nicht wirklich überzeugt zu sein, doch bevor er eine weitere Frage stellen kann, fragt Darren: »Wie heißt du eigentlich?«

»Ich heiße Luke.« Neben Luke schläft eine weitere Person. Tief und fest. Darren zeigt mit seinem Kopf auf ihn. »Wer ist das?«

»Oh, das ist John. Der schläft immer wie ein Stein«, antwortet Luke mit einem schiefen Grinsen. Darren sieht nur einen braunen Schopf, da John auf dem Bauch schläft, die Arme ausgebreitet.

»Sollten wir ihn wecken?«, fragt Darren.

»Nicht nötig. Heute haben wir frei«, antwortet Gemma. Sie ist bereits aufgestanden und streckt sich. Sie ist mittelgroß und hat einen zierlichen Körperbau, einen langen Nacken, der in schmale Schultern übergeht.

»Wollt ihr nicht frühstücken?«, fragt sie in die Runde.

Luke zuckt mit den Schultern. »Das Büfett hat doch bis zehn Uhr auf.«

»Und wir haben schon fast halb zehn«, erwidert sie.

»Na und? Ich brauche fünf Minuten, um mich fertig zu machen. Höchstens.«

»Wirst du nicht duschen?«

»Nein, wieso sollte ich?«

»Ach, deshalb stinkst du immer.« Luke und Gemma lachen los, woraufhin John stöhnt.

»O nein, wir haben den Stein aufgeweckt«, wispert Gemma grinsend.

»Ist das euer Ernst? Ich will hier schlafen und ihr macht solchen Lärm«, beklagt sich John.

Das bringt Gemma und Luke noch mehr zum Lachen. »Junge, wir haben schon fast zehn. Du hast wohl die Energie eines Greises«, sagt Luke.

»Aber, Luke. John ist doch eine alte Seele, gefangen in einem jungen Körper«, entgegnet Gemma.

Luke schaut Gemma mit leuchtenden Augen an. »Das erklärt, warum er immer so lange braucht, um etwas zu begreifen.«

John gibt einen seltsamen, gequälten Laut von sich und drückt sich das Kissen gegen seine Ohren.

Gemma geht mit einem Schnauben ins Bad.

Darren weiß nicht, was er von der ganzen Situation halten soll. Seine Zimmergenossen wirken alle normal, sie verhalten sich wie gewöhnliche Jugendliche. Doch der Ort, die Wächter, der ältere Mann von gestern haben einen sehr merkwürdigen, verstörenden Eindruck gemacht. Dann fällt ihm wieder das Gespräch ein, das er mit dem seltsamen Mann geführt hat. Wie hieß er noch gleich? Nathanael. Er kann sich nur noch daran erinnern, wie er etwas getrunken hat, doch was danach passiert ist, weiß er nicht. Ist er etwa eingeschlafen, und die Wächter haben ihn in diesen Raum gebracht? Er wünschte, er könnte die Zeit zurückspulen, um das Gespräch noch mal zu erleben, denn er hat ein komisches Gefühl. Als wäre alles nur eine Traumsequenz gewesen; es kommt ihm surreal vor. Seine Erinnerungen enden auch abrupt, es gibt keinen Übergang. Er schüttelt den Kopf, um klarer denken zu können. Die ganze Situation überfordert ihn. Und seine ursprünglichen Fragen finden wieder zu seinen Gedanken zurück.

Ich weiß immer noch nicht, wer ich bin und wie ich hier gelandet bin. Ich kann niemals auf diesem Felsen mitten im Nirgendwo geboren sein, ausgereift, sowohl physisch als auch mental. Das ergibt alles keinen Sinn.

Darren massiert seine Schläfen, die Fragen überrollen ihn. Als er aufschaut, sieht er, wie Luke ihn beobachtet und es auch anscheinend nicht zu verstecken versucht, denn er schaut ihm jetzt sogar direkt in die Augen, sein Blick undurchdringlich, aber er erkennt einen Anflug von Misstrauen. Darren wünschte, er könnte ihm alles erzählen, ohne dass er ihn für verrückt hält. Doch das tut er wahrscheinlich jetzt schon.

Als Gemma vom Bad zurückkommt, ist Darren erleichtert, denn jetzt kann er sich von Lukes skeptischen Blicken befreien. Er geht ins Bad, das noch etwas dampfig ist, da Gemma zuvor geduscht hat. Das Bad ist klein, mit einer Dusche und zwei Toiletten, einer Jungen- und einer Mädchentoilette.

Darren zieht sich aus und steigt in die Dusche. Als das kühle Wasser ihn durchströmt, fühlt er sich wach und lebendig.

Er betastet seinen Körper, der ihm trotz seiner fehlenden Identität vertraut ist. Schlank und muskulös, mit adrigen Armen und langen Fingern. Es ist ein intimer Moment, der ganz allein ihm gehört, und es macht ihn glücklich, etwas zu haben, das ihm wenigstens einen Teil seiner Identität zurückgibt.

Darren steigt aus der Dusche, trocknet sich ab und betrachtet sich schließlich im Spiegel. Er betastet sein Gesicht. Die hohen Wangenknochen, die schmalen Lippen, den breiten markanten Kiefer, die leichten Sommersprossen, die helle Haut, die dunklen, welligen Haare, die ihm in die Stirn fallen, und die Narbe an seiner linken Schläfe. Es fühlt sich besonders bizarr an, seine Augen zu sehen. Sie sind hellbraun und spiegeln seine Sorgen, seine Gedanken, seine Seele.

Sie drücken auch Furchtlosigkeit aus. Jedoch können sie seine Verletzlichkeit nicht verstecken. Er fühlt sich seinen Augen am verbundensten, als würden sie alles beinhalten, was ihn ausmacht. Seine dunkelsten Geheimnisse, seine Wünsche, seine Sehnsüchte, seine Ängste, seine Träume, die tiefsten Bereiche seiner Seele. Die Augen sind das Fenster zur Seele. In diesem Moment merkt er, dass es stimmt. Seine Augen verraten mehr über ihn als all seine restlichen Körperteile zusammen. Seine Haare, seine Haut sind nur Teile seines Körpers. Aber seine Augen, seine Augen sind der Schlüssel zu seiner Identität. Wie sie jetzt unter dem kühlen Licht leuchten und ihn unerschrocken anstarren … Er fühlt sich schon fast so, als hätte er ein Ich.

Er legt seine Hände auf die Kante des Waschbeckens und betrachtet sein Gesicht ein letztes Mal, bevor er sich einen Bademantel um den Körper wickelt. Er zögert kurz, dann verlässt er das Bad. Er weiß nicht, wieso, aber er fühlt sich unwohl dabei, in einem Bademantel vor den anderen zu stehen. Es ist lächerlich, schließlich ist er nicht nackt, trotzdem kann er das unangenehme Gefühl nicht ignorieren.

Gemma und Luke mustern ihn von Kopf bis Fuß. Gemmas Blick macht ihm nichts aus, denn sie mustert ihn mit einem interessierten Blick, wie sie ihn auch aus Neugier mit Fragen durchlöchert hat. Lukes Blick dagegen lässt ihn innerlich schaudern. Er beäugt ihn nicht mit neugierigen oder oberflächlichen Blicken. In seinem Blick liegt vielmehr Missbilligung und Misstrauen. Er durchbohrt ihn förmlich mit seinen stechenden blauen Augen. Doch Darren lässt sich von ihm nicht einschüchtern und schaut ihm fest in die Augen, bis Luke schließlich wegschaut. Darren kann nur mit aller Mühe ein triumphierendes Grinsen unterdrücken.

Gemma scheint die nonverbale Konfrontation zwischen ihnen nicht bemerkt zu haben. Sie trägt ein weißes opakes Hemd mit einer Brusttasche, woran ein Metallteil steckt, das mit der Zahl Zwei beschriftet ist. Ihre Hose ist ebenfalls weiß sowie ihre Sportschuhe. An ihrem Arm erkennt Darren ein weißes Armband mit einer digitalen Anzeige der Uhrzeit. Ihre schulterlangen braunen Haare hat sie offen gelassen, wodurch ihre Gesichtszüge noch weicher wirken.

»Deine Anziehsachen liegen hier«, sagt Gemma zu Darren und zeigt auf eine Holzkiste vor seinem Bett, die von der Breite her der Länge seines Bettes entspricht. Seine Kleidung liegt auf der Holzkiste und ist identisch mit den Klamotten, die Gemma trägt. Auch das Armband liegt dort.

Darren bedankt sich bei ihr und zieht sich im Bad an.

Als er das Bad wieder verlassen möchte, hört er Luke und Gemma leise reden. Um besser zu verstehen, worüber sie sich unterhalten, platziert er sein Ohr an der Tür.

»Was zur Hölle macht der hier?«, fragt Luke.

»Ich weiß es nicht. Er hat gemeint, er sei später dazugestoßen.« Eine Weile sagt keiner etwas.

»Ich weiß, ich finde es auch komisch. Außerdem musste er nicht mal einen Eignungstest machen«, sagt Gemma.

»Wirklich? Das ist nicht fair. Warum müssen wir so eine Prüfung bestehen, und er kann aufgenommen werden, ohne sie überhaupt ablegen zu müssen.«

»Genau das habe ich mir auch gedacht. Ich meine, stell dir vor, ich habe mich von meiner besten Freundin trennen müssen, weil sie den Test nicht bestanden hatte.«

Seufzend fügt sie hinzu: »Das ist einfach nur ungerecht.«

Einen Moment später sagt Luke: »Aber jetzt im Ernst, das kann doch nicht sein. Er ist einfach plötzlich aufgetaucht. Vielleicht sagt er auch gar nicht die Wahrheit.«

»Ja, ich dachte mir auch einen kurzen Moment, dass er vielleicht ein Flüchtling oder so ist, aber … Das ist doch unmöglich. Oder? Und ich meine, wieso kommt er hierher?«, fragt Gemma, der Zweifel in ihrer Stimme ist unüberhörbar.

»Ich weiß nicht … Dafür müsste ihm doch der Standort unseres Lagers bekannt sein«, gibt Luke zurück.

»Eben. Das habe ich mir auch gedacht, weshalb ich zum Schluss gekommen bin, dass es nicht sein kann.«

Es vergehen wieder ein paar Sekunden, in denen keiner etwas sagt. Dann ergreift Luke das Wort. »Vielleicht ist er gar kein Novize. Vielleicht hat er sich hier reingeschlichen.«

»Nein, das kann nicht sein. Die Wächter hätten ihn doch aufgehalten.«

»Stimmt auch wieder«, sagt Luke. Dann fügt er hinzu: »Oder sie sind eingeschlafen.«

Das bringt Gemma zum Lachen. Doch diesmal klingt ihr Lachen nicht angenehm, eher bitter. »Auch wenn sie eingeschlafen wären, könnte er wohl unmöglich rein. Das Tor ist doch immer abgeschlossen.«

»Vielleicht hat er den Schlüssel aus der Hosentasche von einem der Wächter genommen und dann das Tor aufgeschlossen.«

»Stimmt, daran habe ich nicht gedacht«, gibt Gemma zu. Eine Weile herrscht erneut Stille. Dann spricht wieder Luke. »Mal schauen, was aus der Sache wird. Ich bezweifle, dass die anderen ihn einfach so akzeptieren werden, geschweige denn integrieren. Schon gar nicht, wenn sie erfahren, dass er ohne Bestehen der Eignungsprüfung aufgenommen wurde.«

Das beunruhigt Darren, obwohl er es sich nicht eingestehen will. Es sollte ihm nichts bedeuten, wieso auch?

Er wird sicherlich bald seine Erinnerungen zurückbekommen und kann diesen Ort dann verlassen. Freunde wird er hier also nicht finden müssen.

»Also, wir sollten ihn aber auch nicht ausschließen. Das wäre falsch. Außerdem würde es einen schlechten Eindruck machen«, sagt Gemma.

Darren weiß nicht, was er von ihrem Einwurf denken soll. Es sollte ihn aufheitern, doch das tut es nicht. Er findet, dass es sich weniger nach Empathie, sondern mehr nach kühler Objektivität angehört hat.

»Ich fände es genauso falsch, einen Lügner zu integrieren und gute Miene zum bösen Spiel zu machen«, erwidert Luke, und seine Stimme klingt gleichgültig.

Hat er ihn nicht vor ein paar Minuten, als Darren selbst noch dabei war, wie einen guten Freund behandelt? Das widerspricht sich doch mit seiner jetzigen Äußerung. Als eine lange Zeit keiner etwas sagt, beschließt Darren, das Bad zu verlassen. Er hat schon genug gehört. Außerdem braucht kein Mensch so lange, um sich anzuziehen.

Als er ihnen gegenübertritt, hebt Luke die Augenbrauen und sagt in einem verächtlichen Ton: »Mann, du brauchst sogar länger als Gemma. Hast du dich etwa noch schön gemacht?« Er stößt ein bitteres Schnauben aus. Er scheint seine Freundlichkeit endgültig abgelegt zu haben, was Darren lieber ist. Er glaubt, dass Luke den wahren Grund hinter seinem langen Aufenthalt im Bad kennt, denn er scheint sich keine Mühe zu geben, den sarkastischen Unterton in seiner Stimme zu verstecken. Gemma dagegen schaut ihn nicht an, sondern starrt gedankenverloren auf den Boden. Doch er bezweifelt, dass sie wirklich in Gedanken verloren ist, es scheint vielmehr, als würde sie seinen Blick meiden wollen. Sollte sie auch. Sie soll sich schlecht fühlen, dass sie hinter seinem Rücken geredet hat. Obwohl er ungern mit ihnen sprechen will, muss er es wohl doch tun, denn sie sind die Einzigen, die ihm den Weg zum Speisesaal zeigen könnten. Und sein Magen knurrt wie verrückt. Also überwindet er seinen Stolz oder besser gesagt, sein Hunger setzt sich durch, und fragt nach dem Weg.

»Ich gehe jetzt sowieso, dann kannst du einfach mitkommen«, sagt Gemma und schaut ihn an, meidet aber seine Augen.

»Gut. Dann können wir ja los«, sagt Darren in einer neutralen Stimmlage.

Gemma steht auf, und Darren folgt ihr. Sie steigen in den Aufzug ein, den Darren schon gestern gesehen hat, und fahren ein Stockwerk nach oben. Dort ist der Speisesaal, der nach seinem Empfinden überbeleuchtet ist. In der Mitte befinden sich drei lange Tische. Sie umgehen sie und laufen auf das Büfett zu, das sich im hinteren Bereich des Raumes befindet. Das Essen liegt in kleinen, eckigen Metallschalen. Es gibt alles Mögliche: Oliven, Käse, Tomaten, Salami, Marmelade und so weiter. Darren nimmt sich zwei Brotscheiben, Marmelade, Butter und Orangensaft. Sie setzen sich an einen Tisch und fangen an zu essen. Während des Essens reden sie nicht. Er will auch nicht reden. Er will ihre falsche Freundlichkeit nicht hören. Eigentlich würde er sich auch gern woanders hinsetzen, aber da er sonst niemanden kennt, hat er keine andere Wahl. Allein würde er auf keinen Fall sitzen wollen. Es würde zu sehr auffallen.

Als er mit dem Frühstück fertig ist, kommt eine Frau auf ihn zu. Sie ist groß, mit kinnlangen schwarzen Haaren, einem gleichmäßig geschnittenen schwarzen Pony, welcher ihr bis unter die Augenbrauen reicht. Ihr Gesicht hat asiatische Züge; ihre Miene ist streng.

»Guten Morgen, Darren. Wenn du mit deinem Essen fertig bist, folge mir bitte«, sagt sie. Sie hat eine tiefe, monotone Stimme, die ihn an den Wächter von gestern erinnert.

»In Ordnung. Ich bin eigentlich schon fertig«, sagt Darren, obwohl es nicht ganz der Wahrheit entspricht. Er will nur weg von Gemma.

»Gut. Dann bringe ich dich zum Imperator«, sagt sie.

Darren steht daraufhin auf und folgt der Frau. Sie betreten den dunklen Gang, den Darren mit den Wächtern eingeschlagen hatte. Als die Frau in den Bildschirm an der Wand spricht, öffnet sich wieder die Tür automatisch.

Hinter dem Schreibtisch sitzt der Mann mit den platinblonden Haaren und den pechschwarzen Augen. Der Imperator. Er trägt einen weißen Anzug, der in einem komischen Kontrast zu seinen Haaren steht, die dadurch etwas gelblich erscheinen.

»Guten Morgen, Darren. Setz dich«, sagt er in seiner kühlen, freundlichen Stimme. Darren tut, was er sagt.

»Ich nehme an, du hast viele Fragen. Und ich werde sie dir, so gut es geht, beantworten.«

Ja, Darren hat Fragen. Nicht nur über diesen Ort, sondern auch über sich selbst, aber die kann Nathanael schlecht beantworten.

»Also, was genau ist das für ein Ort? Ich weiß nur, dass er das Weiße Lager heißt.« Nathanael nickt und holt tief Luft, bevor er anfängt zu sprechen. »Das Weiße Lager ist eine Art Internat für besondere Jugendliche. Wir schenken Waisen eine sichere, erfolgreiche Zukunft. Diese Art von Internat gibt es nicht nur hier in den Vereinigten Staaten. Andere Länder verfügen auch über Schulen für Waisenkinder.«

Die Vereinigten Staaten. Eine weitere Information über seinen Standort.

»Und wie genau sichert ihr den Waisenkindern eine erfolgreiche Zukunft?«, fragt Darren irritiert.

»Wir ermöglichen ihnen, sich wichtige, bemerkenswerte Qualitäten anzueignen. Sie werden in verschiedenen Bereichen ausgebildet. Sie eignen sich zum Beispiel kognitive, mentale sowie physische Fähigkeiten an. Es finden auch Wettbewerbe statt, zwischen unserem Lager und dem der anderen.«

Darren klärt das Gespräch nicht auf, sondern es verwirrt ihn noch mehr. Was hat das alles für einen Sinn? »Warum Waisenkinder?«, fragt er.

»Wie du weißt, haben Waisenkinder nicht wirklich ein Zuhause, und auch an Bezugspersonen fehlt es ihnen. Wir wissen, wie elternlose Kinder in Waisenhäusern behandelt werden, und wir möchten ihnen helfen. Denn eine schwierige Kindheit verspricht keine einfache Zukunft. Und das verstößt gegen unsere Werte. Jeder sollte die Möglichkeit haben, sich frei entfalten zu können. Doch Waisenkindern wird dies vorenthalten. Verstehst du, sie werden unterdrückt, und daraus resultiert, dass sie sich in ihrem Leben nicht behaupten, geschweige denn etwas erreichen können. Und das wollen wir verhindern.«

Darren nickt langsam, doch es kommt ihm trotzdem merkwürdig vor. »Also ist das ein gemeinnütziges Projekt?«, fragt er.

Nathanael lächelt und schüttelt den Kopf. »Es ist nicht nur ein Projekt. Sieh, es ist unsere Berufung. Das ist unsere Art, der Gesellschaft etwas zurückzugeben. Denn wir sind alle dazu verpflichtet, zum Gelingen unserer Welt etwas beizutragen.«

Jetzt ergibt es mehr Sinn, allerdings ist Darren immer noch nicht vollkommen überzeugt.

»Und warum ist es so abgelegen? Ich meine, warum habt ihr euch eine abgeschottete Insel ausgesucht?«

Nathanael lächelt wieder. »Das werde ich dir erklären, wenn du so weit bist.«

Darren hätte gern weiter nachgebohrt, doch Nathanaels Lächeln ist fest und undurchdringlich.