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Beziehungen professionell gestalten E-Book

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Beschreibung

Beziehungen zwischen Menschen bestimmen das ganze Leben. Wir entwickeln uns, lernen und arbeiten in Beziehungen mit anderen. Befindlichkeit und Lebenszufriedenheit hängt wesentlich mit sozialer Einbindung und der Qualität von Beziehungen zusammen. Die Bereitschaft, mit seinem Gegenüber in Beziehung zu treten und sich auf die Begegnung mit ihm einzulassen, ist unabdingbarer Teil professionellen Handelns im sozialen Bereich - ob in der Arbeit mit Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen oder mit alten Menschen. Der Band dokumentiert die intensive Auseinandersetzung mit der Entwicklung und Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen in unterschiedlichsten Facetten von Förderung, Therapie, Pädagogik und Pflege.

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Inhalt

Vorwort

Hans-Jürgen Luderer

Die personzentrierte Haltung als Grundlage der professionellen Begegnung

Ulrike Luxen

„Ich brauche dich doch“ – Herausforderndes Verhalten entwicklungsfreundlich beantworten

Adelheid Schulz

Motivorientierte Beziehungsgestaltung mit Menschen mit geistiger Behinderung

Ellen Vahl-Seyfarth

Für immer Geschwister – Unsere Rolle in der Familie prägt unser Leben

Mone Welsche

Beziehung erlebt und gestaltet – die Bedeutung von (bewegter) Beziehungserfahrung für die kindliche Entwicklung

Martin Feuling

„Systemsprenger“: Sprengen oder Gesprengtwerden – Wie und warum werden Beziehungen explosiv?

Gerd Hölter

„Psychohygiene“ als professionelle Unterstützung im Umgang mit herausforderndem Verhalten – zur Aktualität von Fritz Redl

Silvia Bender-Joans

„Das WIE bestimmt das WAS“ – gelingende Kommunikation mit kleinen Prinzen (und Prinzessinnen)

Daniela Bauer & Nina Deuschle

Die Einschätzung des emotionalen Entwicklungsstandes durch den SEO

Friedgard Blob

Das Nein in der Präsenz – Grenzen setzen durch ganzkörperliche Anwesenheit

Laura Bossong

Die Bedeutung von Kultur in der Zusammenarbeit mit Eltern

Claudia Rückert

Ergebnisse aus dem Forschungsprojekt: Selbstwirksamkeit in der beruflichen Rehabilitation – Der Einfluss der Bindungsrepräsentation auf die Entwicklung der beruflichen Handlungskompetenz

Mone Welsche

Ringen und Raufen für Kinder und Jugendliche mit kognitiven und körperlichen Beeinträchtigungen

Mone Welsche & Ralf Werthmann

Beziehungsorientierte Bewegungspädagogik nach Veronica Sherborne – Sherborne Bewegungspädagogik

Gottfried Maria Barth

Nur noch online? Wie verändern neue Medien unsere privaten und professionellen Beziehungen: Welche Möglichkeiten und Gefahren bringen sie?

Autorinnen und Autoren

Vorwort

Beziehungen zwischen Menschen bestimmen das ganze Leben. Wir entwickeln uns, lernen und arbeiten in Beziehungen mit anderen. Befindlichkeit und Lebenszufriedenheit hängt wesentlich mit sozialer Einbindung und der Qualität von Beziehungen zusammen. Die Bereitschaft, mit seinem Gegenüber in Beziehung zu treten und sich auf die Begegnung mit ihm einzulassen, ist unabdingbarer Teil professionellen Handelns im sozialen Bereich – ob in der Arbeit mit Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen oder mit alten Menschen.

Im Rahmen der 12. Fachtagung befasste sich die KBF mit der Entwicklung und Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen im professionellen Kontext:

Was zeichnet eine gute, hilfreiche Beziehung aus? Welche Bedeutung hat die Eltern-Kind-Bindung für die weitere Entwicklung? Wie lassen sich Beziehungen und wie lässt sich Beziehungsfähigkeit aufbauen? Welche gelingenden Beziehungsformen gibt es zu Menschen mit Schwermehrfachbehinderung, mit seelischer oder demenzieller Erkrankung? Was tun, wenn sich Menschen gegen eine Beziehungsaufnahme wehren oder die Beziehung abbrechen? Wie wirkt sich herausforderndes Verhalten auf Beziehungen aus? Was macht gute Arbeitsbeziehungen aus? Wie gelingt die professionelle Balance zwischen Nähe und Abgrenzung? Und wie tiefgreifend verändern digitale Medien unsere vertrauten Beziehungsformen? Der vorliegende Band fasst die Beiträge und Ergebnisse der Fachtagung zusammen und zeigt die hohe praktische Relevanz des Themas für die Förderung, Betreuung, Therapie und Pflege von Menschen mit Behinderungen und alten Menschen.

Im Einführungsbeitrag beleuchtet Hans-Jürgen Luderer „Die personenzentrierte Haltung als Grundlage der professionellen Begegnung“. Er zeigt, von welcher Aktualität der personenzentrierte Ansatz insbesondere in der Arbeit mit Menschen mit besonderen Bedürfnissen ist.

Ulrike Luxen legt in Ihrem Beitrag das Augenmerk auf Menschen mit sehr besonderen Bedürfnissen: Sie befasst sich mit der Frage, wie Beziehungen mit schwer behinderten Menschen entwicklungsfördernd gestaltet werden können. Sie entfaltet das Konzept der entwicklungsfreundlichen Beziehung und knüpft ebenfalls an der personenzentrierten Grundhaltung von Carl Rogers an. Auch Adelheid Schulz befasst sich in ihrem Beitrag zur motivorientierten Beziehungsgestaltung mit Menschen mit sogenanntem herausforderndem Verhalten. Sie weist darauf hin, dass dieses Verhalten nicht selten mit Frustrationserfahrungen in nicht gelingenden Beziehungen zusammenhängt. Gute Beziehungen zu Menschen mit geistiger Behinderung orientieren sich an den Motiven der betreuten Menschen und sie ermöglichen eine Reduktion problematischen Verhaltens.

Im Beitrag von Ellen Vahl-Seyfarth geht es um Beziehungen zwischen Geschwistern. Sie ist die in der Regel die am längsten währende, unaufkündbare menschliche Beziehung. Mit engem Bezug zu den Lebenserfahrungen vieler Menschen schildert die Autorin die Bedeutung von Geschwisterkonstellationen für die individuelle Entwicklung und widmet sich der Frage, welche Auswirkungen Behinderungen von Kindern auf die Beziehungen zwischen den Geschwistern haben können.

Mone Welsche beschreibt die Bedeutung von bewegter Beziehungserfahrung für die kindliche Entwicklung und betont besonders die Bedeutung der Aspekte Kindgemäßheit, leiblich-affektive Abstimmung und leiblicher Dialog für das Gelingen von Beziehungserfahrungen.

Was für Menschen mit geistigen Behinderungen gilt – Frustrationserlebnisse in förderlichen Beziehungen reduzieren und bearbeitbar machen, das gilt auch für die „Systemsprenger“ im Aufsatz von Martin Feuling. Er schildert nach einer Einführung in die Theorie der gesprengten Institution in einem Fallbeispiel wie und warum Beziehungen explosiv werden können.

Gerd Hölter weist darauf hin, dass sogenannte. „unspezifische“ Faktoren, und hier an prominenter Stelle die Beziehungsgestaltung, stärker über Erfolg und Misserfolg von Interventionen in der pädagogischen Arbeit entscheiden als sogenannte „spezifische“ Faktoren. Beispielhaft skizziert Hölter drei Interventionstechniken im Umgang mit verhaltensschwierigen Kindern und Jugendlichen. Die professionelle Beziehungsgestaltung zu den betreuten Kindern und Jugendlichen ist dabei ein entscheidender Faktor in der Anwendung dieser Techniken.

Silvia Bender-Joans stellt in ihrem Beitrag vor, wie mit der Marte Meo-Methode gelingende kommunikative Situationen zur Entwicklungsförderung von Kindern gestaltet und deren Entwicklungsbotschaften verstanden und begleitet werden können.

Daniela Bauer und Nina Deuschle zeigen in ihrem Beitrag auf, wie wichtig psychosoziale Entwicklung des Individuums und für den Beziehungsaufbau zu Menschen mit Behinderungen das Erkennen und Berücksichtigen der charakteristischen emotionalen Bedürfnisse ist. Eine angemessene, passende Reaktion der Umwelt auf die basalen emotionalen Bedürfnisse ist Voraussetzung für eine gesunde psychische Entwicklung einer Person. Es geht vor allem um Verstehen, Anerkennen und Berücksichtigen, also um eine verstehende Haltung. Ausschlaggebend ist dabei die Haltung, mit der der betreffenden Person begegnet wird.

Friedgard Blob beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit einem besonderen Aspekt von Beziehungen: der Abgrenzung. Abgrenzung ist eine der wichtigen Verhaltensweisen für Professionelle zur Vorbeugung beruflicher Erschöpfung. Aber auch in der Beziehung zu betreuten Personen ist das Nein wertvoll: Es ist ein Zeichen von Präsenz, die beschrieben wird als eine vertiefte Form von unbedingter positiver Wertschätzung. Friedgard Blob erläutert welche Bedeutung hierfür vor allem auch die körperliche Präsenz hat.

Die Art und Weise, wie Menschen zueinander Beziehungen aufbauen und Beziehungen zueinander pflegen ist in starkem Maße abhängig vom kulturellen Hintergrund der beteiligten Personen. Laura Bossong macht deutlich, was die Hintergründe für unterschiedliche Wert- und Erziehungsvorstellungen von Menschen aus unterschiedlichen Kulturen sind, was für den Aufbau guter Beziehungen beachtet werden muss und wie Kommunikation in solchen Konstellationen gelingen kann.

Claudia Rückert stellt Ergebnisse aus einem Forschungsprojekt vor: Sie untersucht wie sich Bindungsverhalten bei Jugendlichen auf deren beruflichen Perspektiven auswirkt.

Mone Welsche beschreibt in einem zweiten Beitrag gemeinsam mit Ralph Wertmann die Beziehungsorientierte Bewegungspädagogik nach Veronica Sherborne. In den typischen Bewegungsaktivitäten wird weitestgehend auf Material verzichtet und sowohl Beziehungserfahrung zur eigenen Person als auch zu anderen Menschen vermittelt.

In einem weiteren Beitrag zeigt Mone Welsche das pädagogische Potential zur Erweiterung emotional-sozialer Kompetenzen auf, das im Konzept des Ringen und Raufens auch für Kinder und Jugendliche mit kognitiven Beeinträchtigungen steckt.

Gottfried-Maria Barth blickt als Kinder-und Jugendpsychiater auf die Frage, wie neue Medien Beziehungen verändern, welche Möglichkeiten und Gefahren diese mit sich bringen. Barth rät zur Gelassenheit und zur differenzierten Betrachtung der Thematik.

Die 12. Fachtagung der KBF hatte das Ziel, den Teilnehmerinnen und Teilnehmern mit einem breit gefächerten Programm Impulse und Anregungen zur Reflektion von Beziehungen aber auch zur Verbesserung von Beziehungen in der pädagogisch-therapeutischen Arbeit zu geben.

Die Beiträge dieses Buches widmen sich folgenden wichtigen Fragen: Was zeichnet eine gute, hilfreiche Beziehung aus? Welche Bedeutung hat die Eltern-Kind-Bindung für die weitere Entwicklung? Wie lassen sich Beziehungen und wie lässt sich Beziehungsfähigkeit aufbauen? Welche gelingenden Beziehungsformen gibt es zu Menschen mit Schwermehrfachbehinderung, mit seelischer oder demenzieller Erkrankung? Was tun, wenn sich Menschen gegen eine Beziehungsaufnahme wehren oder die Beziehung abbrechen?

Wie wirkt sich herausforderndes Verhalten auf Beziehungen aus? Was macht gute Arbeitsbeziehungen aus? Wie gelingt die professionelle Balance zwischen Nähe und Abgrenzung? Und wie tiefgreifend verändern digitale Medien unsere vertrauten Beziehungsformen?

Wir freuen uns, mit diesem Buch, das eine Vielzahl der Tagungsbeiträge dokumentiert, die Reihe der KBF-Publikationen um einen Band erweitern zu können.

Mössingen 2018

Die HerausgeberInnen

Hans - Jürgen Luderer:

Die personzentrierte Haltung als Grundlage der professionellen Begegnung

Was hat uns Carl Rogers heute noch zu sagen?

Einführung

In den 1930er, 1940er und 1950er Jahren entwickelte der amerikanische Psychologe Carl Ransom Rogers eines der damals innovativsten Modelle der Beratung und Psychotherapie. Er formulierte Prinzipien der professionellen Beziehungsgestaltung zu Klienten, Angehörigen, Kollegen und Schülern, deren Charakteristika – Wertschätzung, Empathie und Echtheit – inzwischen zum Allgemeingut geworden sind.

Im folgenden Beitrag soll auf die Entstehung und die Bedeutung dieser Prinzipien für den Kontakt zu Personen mit psychischen Problemen allgemein und für die Beziehungsgestaltung zu Menschen mit Behinderungen und unterstützungsbedürftigen alten Menschen eingegangen werden.

Entstehung der Prinzipien professioneller Beziehungsgestaltung: das Lebenswerk des amerikanischen Psychologen Carl Ransom Rogers

Viele psychotherapeutische Ansätze stehen in engem Zusammenhang mit bestimmten Personen. Die Psychoanalyse wäre ohne Sigmund Freud (1856-1939) kaum denkbar. Weitere tiefenpsychologische Schulen gehen auf Schüler Sigmund Freuds wie Carl Gustav Jung (1875-1961), Alfred Adler (1870-1937), Karl Abraham (1877-1925), Sandor Ferenczi (1873-1933) und andere zurück. Die Gestalttherapie wurde von Fritz Perls (1893-1970) geprägt, das Psychodrama von Iakov Levi Moreno (1889-1974), die Dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) von Marsha M. Linehan (*1943), das Motivational Interviewing von William R. Miller (*1947) und Stephen Rollnick (*1952), und die Schematherapie von Jeffrey E. Young (*1950).

Carl Rogers (1902-1987) entwickelte Grundzüge des personzentrierten Ansatzes ab den 1930er Jahren. Nach Abschluss des Psychologiestudiums arbeitete er von 1928-1940 an einer Beratungsstelle für Eltern sozial auffälliger Kinder in Rochester (New York). Es waren entscheidende Jahre für die Entwicklung eines eigenen Beratungs- und Psychotherapiekonzepts, denn er stellte dort fest, wie wenig er mit dem anfangen konnte, was er bisher gelernt hatte. Eine seiner eindrücklichsten Erfahrungen war sein Scheitern, wenn er glaubte, die Ursache des auffälligen Verhaltens eines Kindes erkannt zu haben. Versuche, diese Erkenntnis dem Kind oder den Eltern zu erklären, misslangen regelmäßig. Das ließ eine zentrale Kenntnis in ihm reifen: nicht die beratende Person, sondern die ratsuchende muss die Lösung für ihr Problem finden.

Unter dem Einfluss der Schriften des Psychoanalytikers Otto Rank kam er zudem zur Überzeugung, dass sich Berater und Psychotherapeuten weniger mit der Vergangenheit und mehr mit dem aktuellen Erleben der Betroffenen beschäftigen.

Im Jahr 1939 veröffentlichte Carl Rogers sein erstes Buch, „The Clinical Treatment of the Problem Child.“ Hierin fasste er die Erfahrungen von über 10 Jahren Arbeit mit Kindern und deren Familien zusammen. Er legte dar, wie wichtig es für Berater und Therapeuten ist, die Eltern der Kinder als Personen zu akzeptieren. Nur dadurch könnten die Eltern lernen, ihre Kinder zu akzeptieren.

Was dann geschah, klingt heute unglaublich. Im Jahr der Publikation wurde ein praktisch in der Beratung tätiger Psychologe mit bisher gerade einmal neun Veröffentlichungen in Fachzeitschriften und einem Buch (Schmid 1999) als Professor an die Ohio State University berufen.

Dort begann er als erster Psychotherapeut, Tonaufnahmen von Beratungsgesprächen anzufertigen. Dadurch konnte er das, was in diesen Gesprächen tatsächlich geschah, einer kritischen Betrachtung unterziehen und untersuchen. Gleichzeitig arbeitete er an der weiteren Entwicklung seiner Idee von Beratung und Psychotherapie. 1940 legte er in einem Vortrag an der University of Minnesota mit dem Titel ”New Concepts of Psychotherapy” dar, dass das wesentliche Ziel der Psychotherapie, wie er sie verstehe, nicht die Beseitigung einzelner Probleme, sondern die Unterstützung der Persönlichkeitsentwicklung sei. Emotionale Aspekte seien wichtiger als kognitive, die Gegenwart sei wichtiger als die Vergangenheit.

Sein zweites Buch ”Counseling and Psychotherapy” (1942) ist allein schon wegen seines englischen Titels bemerkenswert. „Counseling“ bedeutet „Beratung“, aber in einem engeren Sinn als im Deutschen.

Unter dem deutschen Wort „Beratung“ versteht man unter anderem auch Kaufberatung, Anlageberatung, technische Beratung oder EDV-Beratung, und das heißt im Englischen „consulting“ oder „advice“. Mit „Counseling“ ist ausschließlich psychosoziale Beratung gemeint, z. B. Lebensberatung, Eheberatung oder Suchtberatung.

In dem Buch betont er die Gemeinsamkeiten von psychosozialer Beratung und Psychotherapie und führt weiter aus, Berater sollten keine Lenkung des Gesprächs durch Fragen, Ratschläge und Anweisungen vornehmen, sondern vor allem ein Klima von Wärme und Akzeptanz schaffen.

Als einige therapeutische Technik nannte er die Empathie.

Empathie verstand Rogers von Anfang an als Fähigkeit, nicht nur das Erleben einer anderen Person nachzuempfinden, sondern auch das Verstandene in Worte zu fassen. Zur Unterscheidung dieser beiden Aspekte wird heute die Haltung häufig als Empathie und die Intervention als empathische Reaktion („empathic response“) bezeichnet (Behr et al 2017, S. 41).

1945 folgte er einem Ruf an die Universität Chicago. Dort veröffentlichte er 1951 sein drittes Buch, „Client-Centered Therapy”. In diesem präzisierte er die akzeptierende Grundhaltung als Basis der Begegnung und das Reflektieren der Gefühle betroffener Personen als Basis des Handelns in Beratung und Psychotherapie.

1957 wechselte er an die Universität von Wisconsin und blieb dort bis 1968. Danach setzte er sich mit der Ausweitung des personzentrierten Ansatzes in andere Lebensbereiche ein. Er vertrat die Auffassung, Beratung und Psychotherapie seien lediglich Sonderformen zwischenmenschlichen Umgangs. Die grundsätzliche Interventions- und Interaktionsregeln seien jedoch für alle sozialen Kontakte gültig, und die Bedingungen der konstruktiven Persönlichkeitsänderung durch Beratung und Psychotherapie seien bei jeder Form der Weiterentwicklung einer Persönlichkeit gleich.

1987 wurde er für den Friedensnobelpreis nominiert, starb jedoch kurz darauf an den Folgen einer Oberschenkelhalsfraktur.

Zwei seiner wichtigsten Arbeiten seien an dieser Stelle erwähnt: die Publikationen über die Entwicklung der Persönlichkeit und die Entstehung psychischer Probleme (Rogers 1959) und über die notwendigen und hinreichenden Bedingungen einer Persönlichkeitsänderung durch Psychotherapie (Rogers 1957).

Rogers 1959: die Entwicklung der Persönlichkeit und die Entstehung psychischer Probleme

1959 fasste Rogers seine Gedanken zur Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit ausführlich zusammen. Er postulierte dazu ein einziges Grundmotiv menschlichen Handelns, die „aktualisierende Tendenz“. Hierunter verstand er die generelle Tendenz des Organismus, sich so zu verhalten, dass er existieren und wachsen kann. Die aktualisierende Tendenz treibt den Menschen dazu, seine grundlegenden körperlichen Bedürfnisse wie Essen, Trinken und Sexualität zu befriedigen, unangenehme Spannungen zu reduzieren, aber auch Spannungen zu suchen. Wenn der Mensch lernt, seine eigene Person und ihre Beziehungen zu anderen Menschen oder Dingen bewusst wahrzunehmen, beginnt die aktualisierende Tendenz auch, die eigene Persönlichkeit, das Selbst, einzubeziehen.

Die selbstaktualisierende Tendenz ist somit die Kraft, die den Menschen zur Weiterentwicklung seiner Person anregt. Damit entsteht auch das Bedürfnis nach unbedingter, d. h. nicht an bestimmte Bedingungen geknüpfter positiver Wertschätzung durch wichtige Bezugspersonen. Wenn er diese positive Wertschätzung erfährt, wird er lernen, sich selbst als Person uneingeschränkt anzunehmen und sein Erleben und Verhalten auf der Grundlage seiner aktualisierenden Tendenz zu bewerten. Rogers spricht in diesem Zusammenhang vom organismischen Bewertungsprozess. Selbst und Erfahrung stimmen überein.

Aus dieser Theorie der Persönlichkeitsentwicklung leitete Rogers eine Theorie zur Entstehung psychischer Probleme ab. Die Erfahrung mangelnder Akzeptanz durch andere führt zur Selbstakzeptanz mit Vorbedingungen („Ich bin nur in Ordnung, wenn…). Vor diesen Aspekten der eigenen Person wird eine Person dann ihre Augen verschließen. Dadurch können bestimmte Erfahrungen nicht in das Bewusstsein gelangen und in das Selbst integriert werden. Selbst und Erfahrung sind dann nicht mehr in Übereinstimmung. Diese mangelnde Übereinstimmung bezeichnete Rogers als Inkongruenz. Sie wird zunächst nicht bewusst wahrgenommen, jedoch als diffuse Bedrohung erlebt.

Wenn eine Person die mangelnde Übereinstimmung zwischen Selbst und Erfahrung wahrnimmt, mit einem anderen Menschen in Kontakt tritt und dann die Erfahrung unbedingter positiver Wertschätzung macht, wird sie unabhängiger von Wertbedingungen. Erfahrungen, die vorher abgewehrt wurden, können ins Bewusstsein gelangen und werden nicht durch Wertbedingungen, sondern durch den organismischen Bewertungsprozess beurteilt.

Kritik am Modell der Entstehung psychischer Probleme

Dieses Modell zeigt zum einen das ungeheuer optimistische Menschenbild, das dem personzentrierten Ansatz zugrunde liegt. Es bildet die Basis eines positiven, zugewandten Umgangs mit anderen Menschen, vor allem mit denjenigen, die auf psychosoziale Unterstützung angewiesen sind. Auf der anderen Seite können bestimmte Thesen heute nicht mehr aufrechterhalten werden.

Zum einen handelt es sich bei dem von Rogers (1959) vorgelegten Modell um eine rein psychologische Theorie der Entstehung psychischer Probleme, in dem biologische oder soziale Faktoren nicht vorkommen. Man weiß aber inzwischen, dass bei allen psychischen Problemen und Störungen biologische, soziale und psychische Faktoren Entstehung und Verlauf bestimmen. Nicht alle psychischen Probleme entstehen als Folge fehlender Akzeptanz durch die Herkunftsfamilie oder andere Bezugspersonen („Wertbedingungen“).

Mangelnde Übereinstimmung zwischen Selbst und Erfahrung kann zudem nicht nur die Ursache, sondern auch die Folge psychischer Störungen oder körperlicher Krankheiten und Behinderungen sein. Die Einschränkungen des Lebens durch angeborene oder erworbene Körperbehinderungen, geistige Behinderungen, Demenzen oder Schizophrenien bringen Probleme mit sich, die nicht als Folge mangelnder Akzeptanz durch frühere oder aktuelle Bezugspersonen erklärt werden können.

Das klassische Inkongruenzmodell psychischer Probleme und Störungen (Rogers 1959) ist insofern zu eng.

Rogers 1957: Das personzentrierte Modell von Beratung und Psychotherapie

Rogers geht in seinem kurzen, nur neunseitigen Beitrag über die notwendigen und hinreichenden Bedingungen durch Psychotherapie davon aus, dass zunächst ein Kontakt zwischen zwei Personen zustande kommen muss.

Die hilfesuchende Person ist mit sich selbst uneins („Inkongruenz“). Die andere, eine psychotherapeutisch tätige Person, ist in der Lage, sich ihr gesamtes Erleben zu vergegenwärtigen ("Kongruenz“). Sie ist der hilfesuchenden Person ohne Vorbedingungen positiv zugewandt ("nicht an Bedingungen geknüpfte Wertschätzung“), in der Lage, sich in die hilfesuchende Person einzufühlen, sie zu verstehen und ihr das Verstandene mitzuteilen ("Empathie"). Kongruenz, nicht an Bedingungen geknüpfte positive Wertschätzung und einfühlendes Verstehen wurden von Rogers als "notwendige und hinreichende Bedingungen für eine Veränderung der Persönlichkeit durch Psychotherapie" von Seiten der helfenden Person gesehen. Sie bilden auch heute noch die Grundlage des personzentrierten Vorgehens.

Von Seiten der hilfesuchenden Person müssen nach Rogers (1957) ebenfalls drei Bedingungen erfüllt sein: das Entstehen eines Kontakts, die mangelnde Übereinstimmung von Erleben und Selbstbild bei der betroffenen Person und die Wahrnehmung des Beziehungsangebots durch die betroffene Person.

Personzentrierter Ansatz: Empathie

Empathie bezeichnet, wie oben mehrfach dargelegt, die Fähigkeit, sich in die persönliche Wahrnehmungs- und Erlebenswelt einer anderen Person kognitiv und emotional einzufühlen, sie zu verstehen und der Person das Verstandene mitzuteilen. Die Mitteilung des Verstandenen wird als empathisches Reagieren („empathic response“) bezeichnet (Behr et al. 2017; S. 41). Empathie bezeichnet die Haltung, empathisches Reagieren die Intervention.

Das, was empathisch verstanden werden soll, die persönliche Wahrnehmungs- und Erlebenswelt ist bei verschiedenen Menschen unterschiedlich. Sie hängt vom Lebensalter, von der sozialen Situation, von den bestehenden psychosozialen Problemen und von Beeinträchtigungen der körperlichen, geistigen und psychischen Gesundheit ab. Zentrale Aufgabe professioneller Gesprächspartner ist es, diese Faktoren und ihre Bedeutung für die betroffene Person zu erkennen, verstehend nachzuvollziehen und eine angemessene Art der Mitteilung des Verstandenen zu finden.

Zur Erläuterung soll an dieser Stelle ein Beispiel dienen, das nicht die Zielgruppe der Menschen mit Behinderungen und alten Menschen betrifft. Stellen Sie sich vor: eine 42-jährige Lehrerin kommt zu Ihnen, möchte sich von Ihrem Mann trennen und fragt: „Wie soll ich ihm das beibringen?“

Als Reaktion auf diese Frage sind prinzipiell zwei Vorgehensweisen denkbar:

Sie fragen nach der ehelichen Situation und ihren Gründen für die Trennung, und dann suchen Sie gemeinsam nach Möglichkeiten, was sie ihrem Mann sagen könnte. Damit geben Sie die Richtung vor, in die sich das Gespräch entwickelt.

Sie versuchen, zunächst die Gedanken und Gefühle zu erahnen, mit denen sie sich bei ihrer Frage auseinandersetzt. Dazu stellen Sie sich zu erst die Frage, wie sicher sie wohl in ihrem Entschluss sein mag und geben diese Frage an sie weiter:

„Wenn Sie diese Frage so stellen, heißt es dann, Sie sind sicher, dass Sie sich trennen möchten?“ Diese Frage kann sie mit „ja“ oder mit „Viel leicht bin ich doch nicht so ganz sicher“ beantworten. Je nach der Antwort kann sich das Gespräch in zwei völlig unterschiedliche Richtungen entwickeln.

Wenn sie Frage mit „Ja“ beantwortet, könnte die nächste Intervention lauten:

„Diese Entscheidung haben Sie sich sicher nicht leicht gemacht.“ Sie wird dann von sich aus auf ihre Gründe für die Trennung zu sprechen kommen und sich dann mit der Frage auseinandersetzen, was es ihr so schwer macht, das mit ihrem Mann zu besprechen.

Wenn sie die Frage mit „Vielleicht bin ich doch nicht so ganz sicher“ beantwortet, wird das Thema des Gesprächs zunächst ihre Unsicherheit sein. Dieses Thema können Sie mit den Worten einleiten: „Zeitweise wissen Sie ganz genau, was Sie wollen, aber dann wieder kommen Ihnen Zweifel?“

In diesem Beispiel wird deutlich, wie sehr das, was in einem Gespräch geschieht, von der beratenden Person abhängt. Bei der ersten Vorgehensweise bestimmt die beratende Person, was geschieht. Sie stellt zunächst die Fragen, die ratsuchende Person gibt die Antworten. Bei der zweiten, der personzentrierten Vorgehensweise, kann sich das Gespräch in mehrere Richtungen entwickeln, und die ratsuchende Person hat eine wesentlich aktivere Rolle.

Personzentrierter Ansatz: unbedingte positive Wertschätzung

Im personzentrierten Ansatz wird eine positive Wertschätzung angestrebt, die nicht an Bedingungen geknüpft ist. Diese soll in erste Linie der betroffenen Person und ihrem Erleben entgegengebracht werden, nicht unbedingt ihrem gesamten Verhalten. Das Verhalten selbst soll beim Gespräch zunächst kein zentrales Thema sein, sondern Frage, wie die betroffene Person selbst zu sich und ihrem Verhalten steht.

Jeder Mensch hat bestimmte Grenzen der Fähigkeit und Bereitschaft, Erleben und Verhalten einer anderen Person zu akzeptieren. Psychosoziale Fachkräfte müssen jedoch besser als Angehörige anderer Berufe in der Lage sein, Akzeptanzprobleme in Form versteckter negativer Gefühle bei sich zu erkennen.

Akzeptanzprobleme gefährden die Beziehung zwischen psychosozialer Fachkraft und betroffener Person. Ein offenes Ansprechen der Akzeptanzprobleme bedeutet jedoch eine Überforderung der betroffenen Person.

Deshalb sollen Akzeptanzprobleme in Teambesprechungen und Supervisionen und nicht im Kontakt mit betroffenen Personen zur Sprache kommen. Ein wichtiges Ziel der Weiterentwicklung psychosozialer Fachkräfte ist es dabei, die Grenzen der Akzeptanzfähigkeit zu erweitern.

Personzentrierter Ansatz: Kongruenz (Andere Bezeichnungen: Echtheit, Authentizität)

Kongruenz bedeutet: eine Person ist in der Lage, sich ihr gesamtes Erleben zu vergegenwärtigen und prinzipiell bereit, dieses gegenüber betroffenen Personen zu kommunizieren. Das bedeutet allerdings nicht, dass es grundsätzlich sinnvoll ist, dies auch zu tun. Die Grenzen der offenen Kommunikation werden durch Empathie und Akzeptanz bestimmt.

Echtheit ohne Empathie und Akzeptanz ist rücksichtslos, Empathie und Akzeptanz ohne Kongruenz sind verlogen. Alle psychosozialen Fachkräfte müssen ihren Weg der Verwirklichung aller Merkmale hilfreicher Kontakte mit den ihnen anvertrauten Personen finden.

Personzentrierter Ansatz: Diagnosen

Viele Vertreter des personzentrierten Ansatzes lehnen eine Klassifikation psychischer Probleme und Auffälligkeiten ab. Carl Rogers nahm zu diesen Fragen in dem Buch „Client-Centered Therapy (Rogers 1951, p. 219-231, deutsch 1972, S. 205-215) Stellung. Unter anderem stellt er fest, die „Diagnose der psychologischen Dynamik“ sei unnötig und nachteilig (S. 223, deutsch S. 209). Bei der Begründung dieser Auffassung ging er zunächst auf die Grundprinzipien des Diagnostizierens in der somatischen Medizin ein, gegen die er nichts einzuwenden hatte. Bei psychologischen Diagnosen sah er die Gefahr der sozialen Bewertung und Manipulation (Rogers 1951, S. 224). Die Diagnose einer Nierenentzündung beinhalte kein soziales Urteil.

Wenn aber ein psychologischer Experte die beruflichen Ziele, die Gestaltung der Ehe oder die religiöse Haltung eines Klienten als unreif beurteile, gebe er damit ein negatives soziales Urteil ab. Eine Änderung der Werte einer hilfesuchenden Person im Sinne einer Expertenmeinung sei eine fremdgesteuerte und damit manipulative Einflussnahme.

Es ist offensichtlich, dass diese Kritik nicht die heute üblichen beschreibenden Diagnosen und heutige diagnostische Systeme wie IDC-10 (1992) oder DSM-5 (2013) betrifft, sondern soziale Bewertung und Intransparenz beim Umgang mit Diagnosen.

Ziel eines personzentrierten Umgangs mit Diagnosen ist es, Erleben und Verhalten der betroffenen Personen nachzuvollziehen, zu beschreiben und einzuordnen. Dabei können spontane Äußerungen der betroffenen Person, Antworten auf gezielte Fragen, Schilderungen von anderen Personen und weitere Informationsquellen herangezogen werden. Bei allen diagnostischen Handlungen ist größtmögliche Transparenz anzustreben.

Eine soziale Bewertung des Erlebens und Verhaltens ist abzulehnen.

Experten stehen bei alledem in der Verantwortung, den Betroffenen zu helfen, ihre Situation zu verstehen und Autonomie zurückzugewinnen (Behr et al. 2018).

Carl Rogers und das Menschenbild der KBF

Die Stiftung KBF GmbH ist Träger eines Netzes von derzeit 75 Fördereinrichtungen an 23 Standorten für Menschen mit Behinderungen und alte Menschen im Raum Tübingen-Reutlingen. Es handelt sich um ambulante Einrichtungen der Frühförderung, Integrative Kindertageseinrichtungen mit Schulkindergärten, Kindertagesstätten, um stationäre Einrichtungen für erwachsene Menschen mit Behinderung und für Senioren sowie um mobile soziale und pflegerische Dienste. Grundlage der Arbeit mit den Betroffenen ist ein humanistisches Menschenbild (https://de.wikipedia.org/wiki/Stiftung_KBF).

Dieses wurde 1998 erstmals in Form einer Broschüre unter dem Titel „Unser Verständnis vom Menschen“ veröffentlicht und 2004 überarbeitet. 2011 wurde eine inhaltlich unveränderte Neuauflage gedruckt. Im Folgenden werden wir das in der Broschüre skizzierte Menschenbild zusammenfassen und seine personzentrierten Wurzeln aufzeigen.

Grundlage jeder Begegnung und Förderung in der KBF ist nach dieser Broschüre die Achtung der Würde, der Einzigartigkeit, der Ganzheitlichkeit und der Identität der Bewohner der stationären bzw. der Nutzer der ambulanten Einrichtungen.

Achtung der Würde bedeutet, die betroffenen Personen in ihrer Eigenheit zu respektieren, sie nicht an anderen zu messen sowie ihre Gefühle und Lebensvorstellungen zu achten. Ziele sind der partnerschaftliche Umgang mit Menschen mit Behinderung und mit alten Menschen.

Die Verantwortlichen betonen dabei die Gleichwertigkeit von Menschen mit und ohne Behinderung.

Die KBF-Leitlinie „Achtung der Würde“ ist somit eine zielgruppenspezifische Formulierung des personzentrierten Prinzips der Akzeptanz.

Ein wichtiger Aspekt der Akzeptanz ist die strikte Ablehnung einer sozialen Bewertung Betroffener.

Achtung der Einzigartigkeit bedeutet, die Verschiedenheit genetischer Voraussetzungen und psychosozialer Entwicklungsbedingungen zu akzeptieren, keinen Druck zur Anpassung des Schwächeren an die Wertvorstellungen des Stärkeren auszuüben und sich in die Andersartigkeit des Schwächeren einzufühlen.

Respektieren der Einzigartigkeit subjektiv empfundener Gefühlszustände behält im Blick, dass Menschen mit gleichen oder ähnlichen Behinderungen unterschiedliche Menschen sind und bleiben. Der Blick auf die Behinderung darf nicht den Blick auf den einzelnen Menschen verstellen.

Dies gilt auch für alte Menschen. Nicht jede altersbedingte Veränderung wirkt sich auf betroffene Personen gleich aus. Jeder Einzelne bedarf deshalb einer individuellen Begegnung, Förderung, Behandlung und Betreuung.

Achtung der Ganzheitlichkeit versteht Körper, Seele, Geist und soziale Beziehungen als verschiedene Aspekte einer Person, die sich nur bei Kooperation der verschiedenen in der KBF tätigen Berufsgruppen erfassen lassen.

Insofern erweitern die KBF-Leitlinien „Achtung der Einzigartigkeit“ und „Achtung der Ganzheitlichkeit“ das personzentrierte Modell der persönlichen Entwicklung (Rogers 1959) um biologische und soziale Faktoren und letztlich um eine zielgruppenspezifische Formulierung des Prinzips der Empathie und um die Komponente der interdisziplinären Zusammenarbeit.

Eine zentrale Rolle im Menschenbild der KBF nimmt die Achtung der Identität ein. Hier findet sich die Idee der aktualisierenden und selbstaktualisierenden Tendenz (Rogers 1959) wieder: Alle Lebewesen tragen eine Kraft in sich, die ihr Wachstum und ihre Entwicklung vorantreibt und erhält. Diese Kraft strebt in frühen Lebensphasen die stetige Veränderung an und konzentriert sich im Verlauf des Lebens immer mehr auf das Bewahren des Erreichten. So bestimmt sie den Weg zur Entwicklung und Bewahrung der eigenen Identität. Grundlage dieser Leitlinie ist das optimistische personzentrierte Menschenbild, das allerdings modifiziert wird.

So ist in der Broschüre zu lesen, dass die menschliche Sozialisation sich im Spannungsfeld zwischen der eigenen Person und den Erwartungen der Umgebung bewege, und dass von außen herangetragene Normen, Erwartungen, Ansprüche und Werte auf das Selbstideal jeder Person Einfluss nehmen. Wenn reales Selbstbild und reales Verhalten mit dem Selbstideal in Einklang seien, erlebe sich die betroffene Person als frei, selbstbestimmt und eigenverantwortlich.

In Ergänzung des ursprünglichen Konzepts der Wertbedingungen werden hier die Erwartungen der Umgebung nicht nur als Quelle von Wertbedingungen, sondern als durchaus hilfreiche Orientierungshilfen gesehen.

Für Menschen mit Behinderungen ist die Auseinandersetzung mit den Erwartungen der Umgebung und der Vergleich mit Menschen ohne Behinderung unausweichlich. Psychosoziale Fachkräfte können sie unterstützen, indem sie gemeinsam mit ihnen nach Antworten auf die Frage suchen, wie weit eine Erfüllung dieser Erwartungen möglich ist und welche Abstriche die betroffene Person hinnehmen muss. So können sie ihnen beim bisweilen außerordentlich schmerzlichen Prozess des Akzeptierens der eigenen Grenzen und der eigenen Behinderung helfen.

Alte Menschen spüren ihre Grenzen besonders deutlich. Sie orientieren sich oft an den Möglichkeiten in früheren Lebensabschnitten. Psychosoziale Fachkräfte stehen hier vor der Aufgabe, sie sowohl beim Aufrechterhalten früherer Fähigkeiten als auch bei der Wahrnehmung und Akzeptanz unabänderlicher körperlicher und psychischer Einschränkungen zu unterstützen.

Wiederum ist die KBF-Leitlinie „Achtung der Identität“ eine zielgruppenspezifische Formulierung von Empathie und Akzeptanz. Sie bezieht sich auf Menschen mit weniger schweren geistigen Behinderungen und auf das „normale“ Altern, aber nicht auf schwere Behinderungen und Demenzen. Bei schweren geistigen Behinderungen und Demenzen sind die Möglichkeiten der Wahrnehmung und der bewussten Auseinandersetzung mit den eigenen Grenzen eingeschränkt. Diese Einschränkungen nehmen bei fortschreitender Demenz zu.

Das Menschenbild der KBF – Zusammenfassung

Das Menschenbild der KBF beruht auf dem Menschenbild, das Carl Rogers in der 1940er und 1950er Jahren entwickelt hat. Es ist der gelungene Versuch der Anwendung des personzentrierten Konzepts auf das Erleben und Verhalten von Menschen mit Behinderungen und alten Menschen.

Die Autoren der Broschüre „Unser Verständnis vom Menschen“ haben es weitergedacht und damit weiterentwickelt.

Es ist bemerkenswert, dass ein Unternehmen personzentrierte Prinzipien zu seiner Unternehmensphilosophie macht. Was würde Carl Rogers heute dazu sagen? Er wäre beeindruckt.

Literatur

Behr M., Hüsson D., Luderer H.J., Vahrenkamp, S.: Gespräche hilfreich führen, Band 1. Beltz, Weinheim, 2017

Behr, M., Hüsson, D., Luderer, H.J.: Gespräche hilfreich führen, Band 2. Beltz, Weinheim, erscheint 2018

KBF (2011): Unser Verständnis vom Menschen. KBF Neckar-Alb, Mössingen, Eigenverlag

Rogers, C.R. (1939): The Clinical Treatment of the Problem Child. Houghton Mifflin, Boston

Rogers, C.R. (1940): Some newer concepts of psychotherapy. Manuscript 1940 (20 pp.). Lecture given at the University of Minnesota, December 11, 1940.

Rogers, C.R. (1942): Counseling and psychotherapy Houghton Mifflin, Boston (Deutsch: Die nicht-direktive Beratung,. Kindler, München, 1972)

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Ulrike Luxen

„Ich brauche dich doch“ – Herausforderndes Verhalten entwicklungsfreundlich beantworten