Biker Tales: Das dunkle Herz - Sandra Binder - E-Book

Biker Tales: Das dunkle Herz E-Book

Sandra Binder

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Beschreibung

Der mitreißende Auftakt der »Biker Tales«-Reihe! Nach einem dramatischen Beziehungsende muss Bea wieder einmal neu anfangen. Da sie noch dazu in finanziellen Schwierigkeiten steckt, hat sie keine andere Wahl, als zunächst von New York in das Provinzkaff Wolfville, Nevada, sprich, zu ihrer gleichgültigen, alkoholkranken Mutter zurückzukehren. Dort will sie nur so lange bleiben, bis sie einigermaßen auf die Beine gekommen ist, doch dann trifft sie auf einen alten Schulschwarm. Charlie erinnert noch immer an den Jungen von damals, ist aber inzwischen Vizepräsident des hiesigen Motorradclubs und Ärger steht ihm förmlich auf die Stirn geschrieben. Bea versucht, sich von dem Outlaw fernzuhalten und ihren Plan, Wolfville zu verlassen und ein besseres Leben zu führen, schnellstmöglich durchzuziehen. Sie scheitert jedoch kläglich an Charlies Anziehungskraft und den wieder aufkeimenden Gefühlen aus Schultagen. Schließlich lässt sie sich entgegen aller Vernunft auf ihn und den Club ein – mit schwerwiegenden Folgen ... Wie immer bei dieser Reihe gilt: Jeweils zwei Bände bilden eine Geschichte.

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Kurzbeschreibung:

Der mitreißende Auftakt der »Biker Tales«-Reihe!

Nach einem dramatischen Beziehungsende muss Bea wieder einmal neu anfangen. Da sie noch dazu in finanziellen Schwierigkeiten steckt, hat sie keine andere Wahl, als zunächst von New York in das Provinzkaff Wolfville, Nevada, sprich, zu ihrer gleichgültigen, alkoholkranken Mutter zurückzukehren. Dort will sie nur so lange bleiben, bis sie einigermaßen auf die Beine gekommen ist, doch dann trifft sie auf einen alten Schulschwarm. Charlie erinnert noch immer an den Jungen von damals, ist aber inzwischen Vizepräsident des hiesigen Motorradclubs und Ärger steht ihm förmlich auf die Stirn geschrieben. Bea versucht, sich von dem Outlaw fernzuhalten und ihren Plan, Wolfville zu verlassen und ein besseres Leben zu führen, schnellstmöglich durchzuziehen. Sie scheitert jedoch kläglich an Charlies Anziehungskraft und den wieder aufkeimenden Gefühlen aus Schultagen. Schließlich lässt sie sich entgegen aller Vernunft auf ihn und den Club ein – mit schwerwiegenden Folgen ...

Sandra Binder

Biker Tales 1

Das dunkle Herz

Roman

Edel Elements

Edel Elements

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2019 Edel Germany GmbHNeumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 2019 by Sandra Binder

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur Ashera.

Lektorat: Tatjana Weichel

Covergestaltung: Marie Wölk, Wolkenart

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-96215-283-3

www.facebook.com/EdelElements/

www.edelelements.de/

Inhaltsverzeichnis

Prologue – Bea

Chapter One – Back To Hell

Chapter Two – The Dark Knight

Chapter Three – Dead Memorys

Interlude – I knew She Was Trouble

Chapter Four – Irrational

Chapter Five – I Want You So Bad

Chapter Six – Only Half

Interlude – Club Business

Chapter Seven – One Big Family

Chapter Eight – A Heart’s Dark Crossroads

Chapter Nine – Lost

Prologue – Bea

Manche Situationen lösen Lawinen an Ereignissen aus und beeinflussen durch eine Kleinigkeit das gesamte restliche Leben. Das Gemeine daran ist, dass man es nicht weiß, wenn man sich gerade mitten in einem solchen Schlüsselmoment befindet. Alles wäre so viel leichter, wenn wir vorausahnen könnten, in welche Bahnen unser Leben steuert. Aber leider erkennen wir das erst im Nachhinein.

Wieso ich das Leben führe, das ich heute führe, verdanke ich nicht einer dieser Situationen. Es waren vielmehr dutzende, die mich immer wieder in diese Richtung gedrängt haben, fast, als hätte mich eine höhere Macht regelmäßig mit ihrem riesigen Zeigefinger dorthin geschubst. Jede gescheiterte Beziehung und jeder verlorene Job gehörten genauso dazu wie all die Ausreden und Lügen. Aber es war eine lachhaft banale Sache, die letztendlich die entscheidende Kehrtwende ausgelöst hatte. Wer konnte schon ahnen, dass sich alles verändern würde, bloß weil ich von einer schmerzhaften Blase am Fuß zu früh nach Hause getrieben worden war?

Dabei hatte dieser alles verändernde Tag absolut unspektakulär begonnen. Er war erst einmal wie jeder andere, es war ein Donnerstag, wenn ich mich recht erinnere. Ich war auf der Suche nach einem neuen Job, weil ich meinen vorherigen kurz vorher gekündigt hatte. Wieder einmal.

Nachdem ich rüde bei einer Beförderung übergangen worden war, dachte ich, meinen Chef und seine alberne Firma nicht nötig zu haben. Ohnehin war ich für die Sachbearbeiter-Stelle in der Buchhaltung überqualifiziert gewesen. Wie es aussah, hatten die New Yorker Firmen aber nicht gerade auf mich und mein abgebrochenes Betriebswirtschaft-Studium gewartet.

Die Hoffnung hatte ich jedoch noch nicht ganz aufgegeben, weshalb ich in meine schicken neuen Pumps schlüpfte und mir die Hacken auf der Suche nach einer passenden Stelle wund lief. Nach der dritten Abfuhr des immer gleichen Typs von arrogantem Personaler schwamm das Blut in meinem linken Schuh, und ich war derart frustriert, dass ich mein letztes Vorstellungsgespräch absagte und mit dem Taxi nach Hause fuhr. In Jacobs Wohnung, um genau zu sein. Aber wir waren verlobt, und somit wäre es bald auch offiziell mein Zuhause. So war zumindest der Plan.

Der Privataufzug brachte mich hinauf ins Penthouse, wo ich zuallererst meinen Fuß verarztete. Danach warf ich mich erschöpft auf die Couch und wäre vermutlich sofort eingeschlafen, wenn ich in diesem Moment nicht ein merkwürdiges Geräusch gehört hätte. Es war ein Quietschen, das aus den Tiefen des Appartements kam.

Alarmiert schoss ich hoch und schlich langsam nach hinten in Richtung Schlafzimmer. Ich überlegte, den Baseballschläger mitzunehmen, der in Jacobs Arbeitszimmer an der Wand lehnte, doch noch bevor ich das in die Tat umsetzen konnte, erkannte ich, dass es nicht nötig war, mich zu verteidigen. Denn je näher ich der Schlafzimmertür kam, desto eindeutiger und unverkennbarer wurden die Geräusche. Ich kannte das verzückte Quietschen genauso wie das dampflockartige Schnaufen.

»Oh Gott, Jacob!«, stöhnte eine Frau.

Merkwürdigerweise fühlte ich nichts, als ich meine Hand ans Holz legte und die Tür aufdrückte. Weder klopfte mein Herz schneller noch zitterten meine Finger; ich war völlig ruhig. Und nicht einmal überrascht. Natürlich war es nicht angenehm, meinen Verlobten in unserem gemeinsamen Bett hinter einer Latina knien und sie mit vollem Elan bearbeiten zu sehen, während die üppige Schwarzhaarige in mein Kopfkissen biss. Auch die verschwitzten und lustvoll verzerrten Gesichter waren ein Anblick, auf den ich gern verzichtet hätte. Aber es kam mir trotzdem so vor, als hätte unsere Beziehung die gesamte Zeit über insgeheim auf dieses Bild zugesteuert. Die Situation fühlte sich längst nicht so verletzend und demütigend an, wie sie sollte.

Ich schnaubte abfällig, und endlich wurde das Paar auf mich aufmerksam. Jacobs Gesichtsausdruck wechselte in Rekordtempo von verwirrt über schockiert bis hin zu verzweifelt. Während er aufsprang und sich die Bettdecke um die schlanken Hüften wickelte, verschränkte ich die Arme vor der Brust und fixierte ihn. Eine Weile lang starrten wir uns lediglich an.

»Bea«, hauchte er schließlich. »Es ist nicht …«

»Wie es aussieht?«, unterbrach ich ihn und lachte auf. »Ernsthaft? Du bist eines von diesen bemitleidenswerten Arschlöchern, die einen so lahmen Satz von sich geben, wenn sie mit einer anderen im Bett erwischt werden? Als Anwalt müsste dir aber eine kreativere Ausrede einfallen.«

Zumindest hatte er den Anstand, verlegen dreinzuschauen. Sein Betthäschen, das in der Zwischenzeit ihre Klamotten zusammengesucht hatte und vor ihren Körper presste, versuchte, an mir vorbei zu schlüpfen, doch ich fuhr herum, presste sie mit dem Unterarm an ihrer Kehle gegen die Wand und funkelte sie zornig an. Sie japste, und ich drückte fester zu; es war ein Instinkt. Ich wusste nicht, wieso er immer wieder durchbrach. Als ich ihren panischen Blick registrierte, zwang ich mich, von ihr abzulassen. Ich durfte die Kontrolle nicht verlieren. Nicht nachdem ich es geschafft hatte, diesen Teil von mir so lange zu unterdrücken. Einmal mehr fragte ich mich, wann ich es lange genug getan hätte, um den Zorn in mir endlich auszulöschen.

»Raus«, zischte ich sie an, und sie kam meiner Aufforderung sofort nach.

Ich blickte zu Jacob auf, sah ihm direkt in die weit aufgerissenen Augen und grinste. Seinem verstörten Gesichtsausdruck nach zu urteilen, musste ich dabei ziemlich irre aussehen. Aber mir ging in diesem Moment schließlich auch auf, wie sehr ich mich getäuscht hatte: Jacob hatte es, wie so viele vor ihm, nicht geschafft, mich zu dem Menschen zu machen, der ich sein wollte. Und nun würde er eine Bea kennenlernen, die er in mir nie vermutet hätte.

Ich spürte Scham und Erleichterung zugleich. Okay, dieses eine Mal würde ich noch nachgeben. Er hatte es verdient, redete ich mir ein.

»Und jetzt zu dir«, sagte ich.

Chapter One – Back to Hell

Wolfville, Nevada. Ein Provinzkaff mitten in der Pampa, irgendwo vergessen zwischen Bergen und Wüste. Hier lag sozusagen der Wolf begraben: der eine kümmerliche Streuner, der vor der Stadtgründung einmal in der Gegend gesichtet worden war und dem das Städtchen seinen Namen verdankte. Vermutlich war es auch nur ein Kojote gewesen.

Um es auf weniger hinterwäldlerische Weise auszudrücken: Die Zivilisation lag ungefähr einen Tagesmarsch entfernt.

Peinlicherweise war Bea hier aufgewachsen.

Glücklicherweise sollte ihr jetziger Aufenthalt hier nicht lange andauern. Es war schon schlimm genug, mit Mitte Zwanzig wieder zu Hause einziehen zu müssen, das wollte sie bestimmt nicht unnötig in die Länge ziehen. Und das war garantiert auch im Sinne ihrer Mutter.

Schon bei dem Telefonat, in dem Bea sie darum bat, eine Weile lang bei ihr wohnen zu dürfen, weil sie nirgendwo anders hinkonnte, hatte sie mehr gebrummt als gesprochen. Und bei Beas Ankunft hatte sie dann nur gemeint: »Du weißt, wo dein Zimmer ist. Kauf dir dein Zeug selbst und bau nicht wieder irgendwelche Scheiße, klar?«

Nun ja, wenigstens war sie nüchtern gewesen.

Tief seufzend schlug Bea die Haustür hinter sich zu und schaute sich draußen um. Ihr Elternhaus stand inmitten eines gepflegten Wohngebiets, in dem vorwiegend junge Familien mit Kindern wohnten. Vor den Häuschen reihten sich liebevoll angelegte Blumen- und Kräuterbeete aneinander, und an den blütenweißen Gartenzäunen lehnten kleine, bunte Kinderfahrräder. Sehr idyllisch. Bea drehte sich dabei der Magen um.

Nicht, dass sie etwas gegen glückliche Familien mit hübschen Häusern hätte – im Gegenteil. Aber die Umgebung machte ihr nur jedes Mal schmerzlich bewusst, dass das Haus der Kramers, ihr Elternhaus, von jeher ein Schandfleck gewesen war. Mit der krummen Tür, dem halb ausgehängten Fliegengitter, der wild wuchernden Wiese ums Haus und dem Müll, der hier überall herum lag, spiegelte es das Chaos, das in der Familie herrschte, nach außen wider. Doch erst am Nachmittag wurde das Bild in seiner Hässlichkeit abgerundet. Dann, wenn Beas Mutter auf der vergammelten Veranda auf ihrem lädierten orangefarbenen Plastikstuhl saß, ein Bier nach dem anderen kippte und die Kinder anbrüllte, die auf der Straße spielten.

Rosemary Kramer war nie eine dieser Vorzeigemütter gewesen. Es schien jedoch noch schlimmer geworden zu sein, seit Bea fortgegangen war. Sie wunderte sich ernsthaft, warum ihre Mutter hier noch geduldet wurde. Sie wunderte sich ebenso, wie die chronisch abgebrannte Alkoholikerin das Haus halten konnte. Seit Bea wieder hier war, hörte sie eigentlich gar nicht mehr auf, sich zu wundern – auch über den Kellnerjob ihrer Mutter in einer zwielichtigen Bar am Ortsende.

Die Arbeit war sehr gut bezahlt, was bereits ein Widerspruch in sich war. Davon abgesehen, konnte sie sich einfach nicht vorstellen, dass Rosemary beim Kellnern zuverlässiger war als in anderen Bereichen ihres Lebens. Was wiederum eben die Frage aufwarf, wieso sie dort noch arbeiten durfte.

Etwas anderes, über das sich Bea nicht weniger wunderte, waren die laut knatternden Geräusche, die ständig durch den Ort hallten. Ungewöhnlich viele Motorräder schienen Wolfville zu passieren.

Bea schüttelte den Kopf. Wieso machte sie sich überhaupt Gedanken über all diesen Kram? Sie blieb ohnehin nicht lange hier. Sobald sie genügend Geld zusammengekratzt hatte, würde sie verschwinden und nur eine Staubwolke zurücklassen. Wie der Roadrunner aus der Zeichentrickserie.

Sie klopfte ihre Hose ab – sie hasste die staubige Luft hier draußen – und begutachtete nochmals ihr Outfit: Schlichte weiße Seidenbluse, schwarze Stoffhose, Lederpumps. Sie war nicht sicher, welche Garderobe für den ersten Arbeitstag im Bürgerbüro des Rathauses angemessen war, aber sie hatte eben nur ihre New Yorker Kleidung. Außerdem verbog sie sich für diese alberne Hiwi-Stelle bestimmt nicht.

Sie unterdrückte ein Schnauben und machte sich bewusst, dass sie pleite war und froh über den Job sein sollte. Sie hatte Glück, in diesem Kaff überhaupt anständige Arbeit gefunden zu haben, wenn auch nur, weil der Bürgermeister ihrem Vater einiges verdankte. Sie hatte all die Jahre nicht mehr daran gedacht, aber nachdem Jacob sie rausgeworfen und sie auf der Straße gestanden hatte, ohne Job, ohne Freunde, aber dafür mit einem Berg Schulden und einer Strafanzeige am Hals, war sie wohl verzweifelt genug gewesen, um sich daran zu erinnern.

Als Leiter der städtischen Baubehörde hatte ihr Vater damals ziemlichen Einfluss, den er unter anderem dafür genutzt hatte, dem heutigen Bürgermeister zu seinem Amt zu verhelfen. Bea hatte Mister Cornwall nicht einmal daran erinnern müssen, sie hatte am Telefon lediglich ihren Namen und ihr Anliegen genannt, da versicherte er ihr bereits, sie bei ihm unterzubringen. Er versprach ihr sogar, eine neue Stelle für sie zu schaffen, was aus bürokratischen Gründen jedoch eine Weile dauern konnte. Die Mühlen der Verwaltung … Da würden vorher noch Jahre ins Land gehen.

Deswegen musste sie sich in der Zeit, in der sie hier war, mit einem beschissenen Aushilfsjob abgeben, der eben gerade frei geworden war. Bei der miesen Bezahlung würde sie nie ihre Schulden abstottern und aus Wolfville rauskommen können, doch für den Anfang musste sie sich damit zufriedengeben. In ihrer Lage durfte sie nicht wählerisch sein.

Sie seufzte erneut, dann überwand sie sich schließlich und ging auf den rostigen Pick-up ihrer Mutter zu. Sie wusste nie, ob der Schrotthaufen sie ans Ziel brachte, bevor er auseinanderfiel, aber – sie wiederholte es gedanklich wie ein Mantra – in ihrer Lage durfte sie nicht wählerisch sein.

Bea fuhr aus dem Wohngebiet und auf der Hauptstraße entlang in Richtung Rathaus. Wolfville hatte sich kaum verändert – von wenigen hübschen Wohngebieten abgesehen, war es lediglich eine Ansammlung grauer Betonklötze mit staubigen Dächern. Im Gegensatz zu New York schien die Stadt winzig und die Straßen waren so menschenleer, dass sie erwartete, Strohballen über die Fahrbahn rollen zu sehen. Auf dem Weg kam sie an den denselben kleinen, von Einheimischen geführten Läden vorbei wie früher, und im Hintergrund erhoben sich die vertrauten alten Berge. Ihr fehlte New York mit seinen Hochhäusern, dem Gewimmel auf den Straßen, Taxis, bunte Lichter, schicke Läden und Restaurants … Leider konnte sie sich die Metropole nicht mehr leisten.

Der Auspuff des Pick-ups knallte laut wie ein Pistolenschuss, als Bea auf den Parkplatz vor dem Rathaus abbog. Sie stellte den Wagen ab und stapfte widerwillig auf den Eingang zu. Im Gegensatz zu den anderen winzigen Häusern wirkte das Rathaus mit seinen vier Steinsäulen und dem pompösen Kuppeldach überaus protzig. Selbst die Kirche konnte da nicht mithalten. Bea hatte nie verstanden, wieso das so war.

Sie trat durch die schwere Holztür und meldete sich in Zimmer Dreizehn – bei ihrer neuen Chefin Mrs Sanchez. Es handelte sich um eine dickliche Dame in gehobenem Alter, die allem Anschein nach ein Faible für knallige Farben hatte, ihrer bunten Garderobe und den scharlachrot gefärbten Haaren nach zu urteilen. Dieser fröhliche Look war allerdings ein krasser Gegensatz zu dem strengen und durchdringenden Blick, mit dem sie Bea bedachte.

Mrs Sanchez führte sie in einen langen Flur im Erdgeschoss, wo reihenweise winzige Abteile mit Schreibtischen untergebracht waren, separiert durch dünne Trennwände aus Dämmstoffmaterial. Die Arbeitsplätze erinnerten Bea an Schubladen. Und ihre Schublade schien die kleinste und engste überhaupt zu sein. Als hätte man nicht mit ihr gerechnet und sie nachträglich hinten ins Eck gequetscht.

Mrs Sanchez warf einen Stapel Papier auf Beas Miniatur eines Schreibtisches und deutete auf den Drehstuhl.

»Dies ist Ihr Reich, Miss Kramer«, sagte sie schnippisch. »Ein so schlaues Köpfchen wie Sie wird sich bestimmt allein zurechtfinden. Immerhin haben Sie Betriebswirtschaft studiert, oder nicht?«

Sie zog die Nase kraus und schaute Bea von oben bis unten missfällig an, bevor sie auf dem Absatz kehrtmachte und ohne weitere Erklärung davonrauschte. Was für ein Empfang …

Entweder hielt sie Bea für ein Yuppie-Püppchen und dachte, dass sie ihre Zeit hier lediglich absaß, bis sie einen besserbezahlten Job fand. Oder – die viel schlimmere Variante – sie war schon hier gewesen, als Beas Vater noch im Rathaus gearbeitet hatte. In diesem Fall wäre ihr Verhalten sogar nachvollziehbar. Unbestreitbar kompetent in seinem Job, war ihr Vater in sozialer Hinsicht schlicht unfähig gewesen. Frank Kramer, der frauenverachtende Säufer, war bekannt und berüchtigt für seine Pedanterie, Launenhaftigkeit und seinen Jähzorn. Bestimmt waren einige dieser Leute hier sehr froh über den frühen Tod ihres Kollegen.

Bea schlüpfte in ihre Schublade, ließ sich auf den Stuhl plumpsen und beäugte den Papierstapel.

»Sie sind also die Neue.« Das Grinsen war unüberhörbar.

Sie drehte sich um und musterte den Kerl, der ihr mit seiner Kaffeetasse zuprostete. Von seiner gestylten schwarzen Tolle über den lachsfarbenen Schal bis hin zu der viel zu engen Jeans war ihm deutlich anzusehen, dass er sich offensichtlich für unwiderstehlich hielt. Bea unterdrückte ein Augenrollen.

»Ähm, ja, ich –« Sie erhob sich halb und streckte ihm die Hand entgegen, um sich vorzustellen, aber er drückte ihr nur seine Tasse in die Finger.

»Kommen Sie doch gleich in mein Büro und bringen Sie mir einen frischen Kaffee mit. Ich habe einige aufgelaufene Kopieraufträge, derer Sie sich annehmen müssten.« Er grinste sie derart dreist an, dass es ihr die Sprache verschlug. »Milch und Süßstoff«, fügte er hinzu, dann rauschte er davon.

Wo war sie hier nur gelandet?

Bea umklammerte die Kaffeetasse und schaute dem Mann irritiert hinterher. Nachdem er um die Ecke gebogen war, ließ sie den Blick auf der Suche nach einer Kaffeemaschine durch den Raum schweifen, konnte jedoch nichts entdecken.

Seufzend ließ sie sich auf den Bürostuhl fallen, stellte die Tasse ab, stützte die Ellbogen auf den Tisch und vergrub das Gesicht in den Händen. »Allmählich müsste ich doch den Höhepunkt der Scheiße-Skala erreicht haben«, murmelte sie.

»Nicht, wenn du länger hier arbeitest«, erwiderte da eine Frau und kicherte.

Bea hob den Kopf und sah ein Gesicht, das sich aus der Nachbarschublade über die Trennwand schob. Die Frau musste ungefähr in Beas Alter sein. Ihre dunkle Lockenmähne hatte sie am Hinterkopf festgezurrt; nur eine widerspenstige Strähne fiel ihr vor die großen, grünen Augen, mit denen sie Bea neugierig musterte.

»Beatrice Kramer.«

Bea runzelte die Stirn. »Ja?«

»Maya Prince. Wir waren zusammen auf der High School. Aber du erinnerst dich anscheinend nicht an mich. Na ja, ich war auch ganz schön fett damals und außerdem eine Stufe unter dir.«

Maya Prince? Nie gehört.

»Maya«, erwiderte sie dennoch freudig. »Was für eine Überraschung.«

Die Frau legte den Kopf schief und schmunzelte mit wissendem Blick. »Du erinnerst dich nicht.«

Das Gesicht verschwand hinter der Trennwand und Bea wollte bereits nach Maya rufen, da kam sie lässig in ihre Schublade geschlendert. Sie war eine ausgesprochen kleine Frau. Vielleicht war sie deswegen nicht gerade schlank; ihre Kurven saßen jedoch an den richtigen Stellen, und sie war sehr hübsch, denn sie besaß diese freche Kleinstadtmädchen-Ausstrahlung. Bea fiel auf, dass sie, wie viele andere hier, Jeans und T-Shirt trug, wodurch sie sich einmal mehr total overdressed vorkam.

»Nimm es nicht persönlich. Die Sanchez ist eine frigide alte Schachtel, die niemanden leiden kann und nur noch auf die Rente wartet. Und der Peters ist ein arroganter Sesselfurzer, der daheim nichts zu sagen hat und deshalb hier den Obermacker raushängen lässt.« Maya zuckte mit den Schultern. »Ich erkläre und zeige dir alles. Dann musst du dich nicht mit den Idioten rumschlagen.«

Bea ging sprichwörtlich das Herz auf. Am liebsten hätte sie diese kleine Frau aus Dankbarkeit geküsst.

Als erriet Maya ihre Gedanken, wich sie zurück. »Wieso schaust du mich so irre an?«

»Du bist seit einer Ewigkeit der erste Mensch, der grundlos nett zu mir ist«, gab sie zu.

Maya grinste sie frech an. »Bild dir nichts ein, Bea – das ist nicht grundlos. Wenn du hier versagst, muss ich die Arbeit ganz allein machen.«

Bea erwiderte ihr Lächeln unwillkürlich. Sie liebte diese Frau jetzt schon.

*

»Und da drüben bekommst du alle möglichen Haushaltswaren und Werkzeuge.« Maya deutete auf einen Laden gegenüber. »Vor Kurzem hat Mike sein Angebot durch weitere ›Haushaltsgegenstände‹ erweitert. Ich habe gehört, er bietet jetzt die größte Auswahl an Sexspielzeugen im ganzen County.«

Sie kicherten beide, bevor sie unisono in ihre Burritos bissen. Sie hatten ihren Lunch in Al’s Cake-Town gekauft, und Bea musste zugeben, dass Al für einen Kuchenbäcker verdammt gute Burritos wickelte. Maya meinte, es seien die Besten in ganz Nevada.

Sie hatte darauf bestanden, dass Bea mit ihr und ihrem Kollegen Daniel Mittagessen ging. Die beiden wollten der ›neuen Alten‹ dabei das Städtchen zeigen, denn Maya war der festen Überzeugung, dass sich Bea nach so langer Zeit nicht mehr in Wolfville auskannte. Es hatte sich zwar nichts verändert und man benötigte lediglich vier Schritte, um die Stadt zu erkunden, aber Bea war ihr derart dankbar, dass sie sogar freudig zugestimmt hätte, wenn sie mit ihr in der Wüste auf Kojotenjagd hätte gehen wollen.

Was für ein Glück, dass Mayas Schublade an ihre grenzte. Die quirlige Frau hatte sich den gesamten Morgen Zeit für Bea genommen, ihr alles erklärt und sie herumgeführt. Dabei stellte sie ihr auch ihren Freund Daniel aus der Personalabteilung vor. Sie hatte mehrmals betont, dass der große, schlaksige und schweigsame Kerl – witzigerweise das ultimative Gegenteil von ihr selbst – nur ein Freund war.

Bea warf einen verstohlenen Blick zu Daniel, der hinter ihnen her trabte, durch die Gegend schaute und an seinem Burrito knabberte. So wie er jedoch Maya ansah, war Bea nicht sicher, ob er nur ein Freund sein wollte. Aber sie mischte sich garantiert nicht ein. Immerhin hatte Maya ebenfalls genügend Taktgefühl bewiesen und sie nicht einmal gefragt, warum sie nach Wolfville zurückgekommen war.

Nein, Maya und Daniel hatten sie freundlich aufgenommen, ohne Fragen zu stellen. Es musste ja auch endlich etwas Gutes passieren, schließlich konnte ein einzelnes Leben nicht ständig nur in Scheiße versinken. Oder?

Bea beschloss, zur Abwechslung optimistisch zu denken. Mit ihren zwei neuen unaufdringlichen Freunden versprach die Übergangszeit in Wolfville angenehmer zu werden als erwartet.

»Ich zeige dir, wo ich zum Frisör gehe. Ich fürchte, deiner schicken New Yorker Trendfrisur musst du bald auf Wiedersehen sagen«, meinte Maya, fuhr mit den Fingern über Beas schulterlanges, gewelltes Haar und nickte anerkennend. »Das ist sowas von weich, meine Güte. Hast du Strähnchen drin?«

»Nein, das ist Natur«, antwortete sie und klemmte sich automatisch eine Strähne hinters Ohr. »Ich glaube, meine Haare können sich zwischen blond und braun nicht entscheiden.«

»Gut. Ich denke, Tara wird auch ohne Farbe bereits überfordert sein.«

»Sie ist schon mit meinem Schnitt überfordert.« Daniel fuhr sich mit den Fingern durch seinen Topfhaarschnitt aus den 90ern und brachte Maya und Bea damit zum Lachen.

»Es ist gleich hier.«

Maya führte sie um die Ecke, wo sie sich urplötzlich einem gigantischen Tumult gegenüber sahen. Bea wunderte sich, dass sie nicht eher gehört hatte, was sie erwartete. Sie, Maya und Daniel blieben gleichzeitig stehen und starrten auf die andere Straßenseite.

Ein Mann, der einem tobenden Grizzly Konkurrenz machte, brüllte wie am Spieß. Bea verstand nicht mehr als Schimpfwörter und zwischendurch das Wort ›Schwester‹. Er wurde von hinten von zwei Männern, die fast ebenso massig waren wie er selbst und auf ihn einredeten, an den Armen festgehalten. Vor dem wilden Kerl lag jemand am Boden und bewegte sich nicht. Ein anderer kniete neben ihm und beugte sich über den Bewusstlosen, sodass man nichts weiter erkennen konnte. Zu beiden Seiten standen jeweils eine Reihe Männer, die die Szene grimmig beobachteten.

Und ganz hinten vor der Ladentür des Frisörs, derart unscheinbar, dass Bea sie fast übersehen hätte, befanden sich zwei weitere Männer. Einer davon trug Polizeiuniform. Er wirkte nervös, umklammerte den Griff seiner Waffe und fuchtelte mit der anderen Hand vor dem Gesicht seines Gegenübers herum. Der andere Mann schien die Ruhe selbst zu sein. Er machte besänftigende Gesten, als spreche er mit einem verstörten Tier, und er schmunzelte sogar leicht. Es war verrückt. Dieser gelassene Mann inmitten all des Chaos’ faszinierte Bea so sehr, dass sie nur noch ihn ansehen konnte.

Als hätte er ihr Starren gespürt, drehte er auf einmal den Kopf in ihre Richtung, und in dem Moment, da sich ihre Blicke trafen, setzte Beas Herz einen Schlag aus. Sie hatte vergessen zu blinzeln. Tränen, verursacht von der staubigen Luft, füllten ihre Augen und für einen kurzen Moment sah sie alles nur noch verschwommen. Trotzdem wusste sie, dass die kurzen Haare des ruhigen Mannes blond waren. Sie wusste, dass seine Augen mandelförmig und seine Iris silbergrau waren. Sie wusste sogar, dass er ein rundes Muttermal hinten am Kiefer, direkt unter dem linken Ohr hatte.

Bea räusperte sich, zwang sich, zu blinzeln, konnte den Blick jedoch nach wie vor nicht von ihm losreißen.

»Ist das … Charlie?«, fragte sie heiser.

»Nein«, antwortete Maya leise. »Das ist nicht mehr Charlie. Er nennt sich Blaze und ist der Vizepräsident des Clubs.«

Bea runzelte verwirrt die Stirn. Erst jetzt fielen ihr die Motorräder auf, allesamt schwarze Harleys, die ordentlich in einer Reihe am Straßenrand parkten. Und sie bemerkte nun ebenfalls die Lederkutten, die einige der Männer trugen. Sie erkannte das Color auf dem Rücken nicht, aber die Buchstaben: Satan’s Advocates, MC, Nevada.

Charlie war ein krimineller Rocker geworden? Sein Anblick erinnerte Bea schlagartig daran, wieso sie aus diesem verdammten Kaff abgehauen war.

Er schien seine Verhandlungen abgeschlossen zu haben, klopfte dem Officer übertrieben freundlich auf die Schulter und schlenderte daraufhin zu dem tobenden Kerl, der sich zwar nicht mehr wehrte, aber nach wie vor laustark wütete. Charlie packte seinen Kumpel am Arm, fixierte ihn eisern und sagte ein paar Worte – dann herrschte Stille.

Die Biker marschierten zu ihren Maschinen, schwangen sich auf die Sitze und setzten die Helme auf. Charlie schaute erneut zu Bea herüber, bevor er sein Motorrad startete, und ihr Herz stolperte einmal mehr.

Der Mann war logischerweise größer, breiter und auch kantiger. Aber er hatte denselben Ausdruck in den Augen, dasselbe Schmunzeln auf den Lippen und dieselben Grübchen in den Wangen wie damals.

Wie aus weiter Ferne drang das Motorengeräusch der Bikes zu Bea durch. Charlie wandte nach einer gefühlten Ewigkeit den Blick von ihr ab und fuhr als Erster los. Als sie ihm nachschaute, fragte sie sich unwillkürlich, ob in diesem Mann, diesem Outlaw, noch etwas von dem Jungen steckte, in den sie während ihrer gesamten Schulzeit verliebt gewesen war.

Chapter Two – The Dark Knight

Als Bea am Abend das Rathaus verließ, schwirrte ihr der Kopf. Sie war nicht mehr fähig gewesen, sich auf die Arbeit zu konzentrieren, und hatte Maya stattdessen über Charlie und seine Biker-Gang ausgequetscht. Sie konnte nicht fassen, dass er ein Outlaw geworden war. Damit war er das exakte Gegenteil von ihr; das Gegenteil von dem, was sie befürchtet hatte, zu werden, wenn sie in Wolfville geblieben wäre. Einmal mehr war sie froh, rechtzeitig den Absprung geschafft zu haben.

Die leise Stimme, die ihr zuflüsterte, dass sie abermals hier – und pleite war, weil sie in New York mit dem Gesetz in Konflikt geraten war, ignorierte sie geflissentlich. Diese Episode war nur ein winziger Stolperstein auf ihrem Weg zu dem perfekten Leben, das sie sich ausgemalt und geplant hatte. Bald hätte sie diesen Rückschlag überwunden, könnte von hier verschwinden und ein anständiges Leben führen.

Anders als Charlie. Er hatte den entgegengesetzten Weg gewählt; den, der offensichtlich nach unten führte …

Maya konnte Bea leider nicht erklären, wie es zu seiner Entscheidung gekommen war. Es musste jedenfalls in Vegas begonnen haben, wo Charlie und sein bester Freund Chris ein paar Jahre nach der High School Arbeit gefunden hatten. Bea erinnerte sich gut an Chris, den Frauenschwarm mit den abstehenden Ohren. Chris war furchtbar schlecht in der Schule gewesen, aber weil er immer schon groß und stark gewesen war, war er der geborene Sportlertyp. Bea war sicher, er hätte sehr viel mehr aus sich machen, ja sogar ein Sportstipendium erhalten können, wenn er sich nicht immer mit Charlie und ihr abgegeben hätte.

Bei den affigen Footballspielern und den arroganten Cheerleadern, mit denen vor allem Bea nicht ausgekommen war, machte er sich jedenfalls nicht durch seine Freundschaft zu ihnen beliebt, was sich wiederum auf das Verhalten seiner Teamkollegen in den Spielen auswirkte. Und dass er bei jedem Mist mitgemacht hatte, den sie anstellten, verärgerte nicht nur seinen Coach, sondern auch den Direktor – beide hielten Charlie und Bea für einen schlechten Umgang und pures Gift für das ach so große Potential ihres Supersportlers. Doch Chris war das immer egal gewesen. Es überraschte Bea daher nicht im Geringsten, dass die beiden Jungs zusammen in den Abgrund gerutscht waren.

Laut Maya war das mit den Bikern erst lange nachdem Bea die Stadt verlassen hatte, passiert. Anscheinend hatte man zwei Jahre lang nichts von Charlie und Chris gehört, bis sie urplötzlich mit Kutten, Bikes und einigen zwielichtigen Gestalten im Schlepptau nach Wolfville zurückgekehrt waren, ein altes Farmhaus an der Stadtgrenze gekauft und dort ein Chapter des landesweiten Motorradclubs Satan’s Advocates gegründet hatten. Zack – einfach so. So schien es zumindest.

Kurz darauf kursierten auch schon haufenweise Gerüchte in der Stadt. Drogen-, Waffen- und Frauenhandel klangen recht glaubhaft, und Bea stellten sich die Nackenhaare auf, als Maya von Auftragsmorden und Partnerschaften mit mexikanischen Kartellen und der Russenmafia erzählte. Sie hoffte, dass wie bei den meisten Gerüchten nur ein Bruchteil davon wahr war.

Offiziell besaßen die Advocates in der Gegend ›nur‹ einige Bordelle, Stripclubs und Spielhallen, was im Staate Nevada zwar nicht illegal war, Bea aber dennoch anekelte – wenn auch nicht annähernd so sehr wie die Gerüchte, dass Polizei und County Sheriffs bei den Outlaws gerne mal ein Auge zudrückten, weil sie dafür Jahreskarten im Puff ihrer Wahl bekamen. Das fiel Bea ausnehmend leicht zu glauben. Denn Wolfville war für sie schlichtweg verkommen und hatte immer schon etwas Höllenartiges an sich gehabt. Aus diesem Grund hatte Bea so verzweifelt hier weg gewollt und sich deshalb im letzten High School Jahr einen Freund mit Footballstipendium gesucht, mit dem sie wenig später nach LA fliehen konnte. Leider hatte sich Jared recht schnell als fatale Enttäuschung entpuppt – und war damit der Erste einer Reihe von frustrierenden Liebschaften gewesen …

Ein knatterndes Motorengeräusch riss Bea aus ihren Gedanken, als sie gerade in den Pick-up stieg. Wie automatisch schaute sie zur Straße hinüber. Ein dicker Kerl mit schulterlangen Locken, der selbstzufrieden wie ein Pascha auf seiner Harley saß, fuhr gemächlich an ihr vorbei. Diese Typen schienen zu glauben, ihnen gehörte diese Stadt.

Kopfschüttelnd lehnte sich Bea in den Sitz zurück und schaute in den wolkenlosen Himmel, sah dabei allerdings nur Charlies Gesicht vor sich.

In der ersten Zeit, nachdem sie fortgegangen war, hatte sie oft an ihn gedacht. Bis sie es endlich geschafft hatte, die Erinnerungen in den hintersten Winkel ihres Bewusstseins zu schieben – direkt neben die Gefühle. Nun hatte sich all das wieder befreit, und sie sah den dünnen Jungen mit dem gequälten silbergrauen Blick glasklar vor sich.

Es zerriss ihr das Herz, zu erfahren, wie falsch sie gelegen hatte. Die Gedanken an Charlie zu verdrängen war ihr nur gelungen, weil sie sich immer vorgestellt hatte, dass er ebenfalls aus Wolfville abgehauen war. Indem sie sich einredete, er hätte es rausgeschafft, bevor seine beschissene Vergangenheit ihn auffressen oder sein Adoptivvater ihn brechen konnte. Aber das war nicht geschehen. Im Gegenteil. Charlie war jetzt ein Outlaw. Und sein Adoptivvater, Rektor Brown, war vor einiger Zeit auf mysteriöse Weise verschwunden, wie man hörte. Bea wehrte sich gegen die Vermutung, die sich ihr in diesem Zusammenhang zwangsläufig aufdrängte. Ohnehin wollte sie nicht über Charlie nachdenken.

Die alten Schuldgefühle konnte sie momentan genauso wenig brauchen wie die längst vergrabenen Emotionen einer ersten Liebe. Sie waren heute andere Menschen, sie beide. Sie hatten sich in unterschiedliche Richtungen entwickelt, sich für verschiedene Leben entschieden. Nichts verband sie mehr. Selbstredend tat es ihr leid für den Jungen von damals, für den es offenbar zu spät war, aber mehr als ein leises Bedauern durfte sich Bea nicht erlauben. Denn für sie war der Weg noch nicht zu Ende. Und wenn sie sich auf ihren Plan konzentrierte, wäre sie bald wieder in der richtigen Spur.

Zunächst musste sie dringend ihre Schulden bei Jacob abbezahlen und ein weiteres Mal reumütig um Verzeihung bitten. Dann wäre er eventuell so nachsichtig, die Anzeige wegen Körperverletzung zurückzuziehen. Ihr Ex war zurecht sauer auf sie, denn als sie ihn in flagranti mit dieser Latina erwischt hatte, war die alte Bea in ihr durchgebrochen. Es war falsch gewesen, ihn zu schlagen, das war ihr vollkommen klar. Es tat ihr zwar nicht besonders leid, aber es war nicht richtig, zudem hatte sie sich fest vorgenommen, so etwas nie mehr zu tun. Diesen wütenden Teil von sich konnte sie zwischenzeitlich immer besser unterdrücken, und irgendwann wäre sie lediglich ein respektabler Mensch, der ein rechtschaffenes Leben führte. Das war alles, was sie immer gewollt hatte. Und nach der Begegnung mit Charlie war sie noch entschlossener.

Wolfville formte die bösesten Kreaturen, da war sie sicher. Deshalb musste sie so schnell wie möglich hier weg und durfte nicht zurückblicken.

Bea beschloss, die Rocker links liegen zu lassen und zu akzeptieren, dass der Junge, den sie einmal gekannt hatte, nicht mehr existierte. Der Mann, zu dem er geworden war, versprach nur Ärger, und Ärger wollte sie unter allen Umständen aus dem Weg gehen. Charlie erschien ihr wie das sprichwörtliche Fenster, das der Teufel öffnete, wenn Gott eine Tür schloss – die Versuchung, die sie auf den falschen Weg führen sollte.

Also wieso sich weiterhin damit auseinandersetzen? Wahrscheinlich hatte er sie nicht einmal erkannt. Feierlich nickte sie sich im Rückspiegel zu, dann startete sie den Motor und fuhr in Richtung ihres Elternhauses durch den Ort.

Es war derselbe Weg, den sie heute Morgen genommen hatte, und doch schien er sich total verändert zu haben. Mit einem Mal war er voll von Erinnerungen: Hier waren sie oft zusammen entlanggegangen, da vorne in Fred’s Laden hatten sie sich immer mit Schnaps eingedeckt, und im Diner auf der anderen Seite waren sie stundenlang gesessen und hatten das eine Bier, das sie sich leisten konnten, so lange hin und hergeschoben, bis es warm geworden war. Hauptsache, sie waren zusammen …

Bea schüttelte den Kopf und richtete den Blick stur auf die Fahrbahn. Es gab nicht nur gute, sondern ebenso unzählige böse Erinnerungen, und auf die sollte sie sich konzentrieren. Denn sie würde sich nicht von einem irrationalen Anflug aus Sentimentalität und Schwäche von ihrem Weg abbringen lassen. Dafür hatte sie zu hart an sich und für ihr Leben gearbeitet. An all die Streits sollte sie denken, an all die Besäufnisse und die Schlägereien, all das Chaos und den Zorn. Sie sollte sich daran erinnern, warum sie diesem staubigen Höllenloch für immer den Rücken kehren wollte. Doch als sie an ihrem Elternhaus ankam und sich eine der bösen Erinnerungen mit der Gegenwart vermischte, fiel es ihr mit einem Mal gar nicht mehr schwer, sich an all das Schlechte zu erinnern …

Bea stieg aus dem Wagen, ging auf die Haustür zu und kramte dabei in ihrer Handtasche nach den Schlüsseln. Mist. Sie musste sie im Büro liegengelassen haben. Seufzend rüttelte sie an der Klinke, aber die Tür war verschlossen. Aus Gewohnheit hatte sie abgeschlossen, als sie heute Morgen zur Arbeit gegangen war, ohne daran zu denken, dass noch jemand in diesem Haus lebte: ihre Mutter, die heute anscheinend den ganzen Tag nicht draußen gewesen war.

Bea schaute durch das Fenster ins Wohnzimmer und sah das Licht des Fernsehers, das ins Rauminnere strahlte und stetig die Farbe veränderte, wodurch es wirkte, als blitzte es im Inneren. Durch den gelblich-grauen Vorhang nahm sie die liegende Gestalt auf dem Sofa nur verschwommen war, erkannte aber genug, um zu wissen, dass sich Rosemary mal wieder ins Whiskykoma versetzt hatte.

Der Anblick war alles andere als neu. Und die Situation, vor verschlossenen Türen zu stehen, war Bea ebenfalls nicht fremd. In ihrer Jugendzeit hatte ihre Mutter sie des Öfteren an die Luft gesetzt.

Fluchend marschierte sie ums Haus zur Küche. Glücklicherweise lag auf der Fensterbank noch immer das kleine Metallblättchen, das sie früher schon zum Aufhebeln des Fensters benutzt hatte. Zwar sah es verwitterter und rostiger aus, aber es war nach all den Jahren noch hier – als wäre die Zeit einfach stehen geblieben, während sie fort gewesen war.