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Fina Ramsays Geschäft läuft dürftig. Ihre kleine, gemütliche Buchhandlung »The Reading Corner« leidet unter der neu eröffneten Filiale der McClary’s-Books-Kette, mit dessen Besitzer Liam McClary sie einen regelrechten E-Mail-Krieg führt. Und dann entert der Snob auch noch ihr Privatleben: Als ihre an Alzheimer erkrankte Großmutter ins Pflegeheim zieht, findet Fina beim Entrümpeln der Wohnung einen Brief. In dem wirren Schriftstück deutet ihre Großmutter an, dass die Ramsays und die McClarys mehr als nur die Liebe zu Büchern teilen. Doch was hat sich 1970 wirklich im unruhigen Nordirland zwischen den beiden Familien abgespielt? Um dieses Geheimnis zu lüften, muss Fina sich zwangsläufig ihrem »Feind« nähern.
Stimmen zum Buch:
»Emotionale und geheimnisvolle und äußerst intelligent aufgebaute Liebes- und Familiengeschichte vor der Kulisse Nordirlands! Ein herrliches Schmökerbuch für Buchliebhaber, das alles hat, was ein wunderbares Buch braucht! Unbedingt lesen - es lohnt sich!« (TinaMueller, Lesejury)
»‚Die Frauen von Ballycastle‘ ist ein zauberhaftes Buch, das alles hat, was man sich als Leser wünscht: Eine spannende Familiengeschichte, die erst nach und nach enträtselt wird, eine gefühlvolle und süße Liebesgeschichte und eine schöne Botschaft, nämlich, dass es sich lohnt, einmal alle seine Vorurteile über Board zu werfen und hinter die Kulissen zu sehen.« (Monina83, Lesejury)
»Sandra Binder hat für meinen Geschmack ein Meisterwerk geschrieben und ich würde mir wünschen, dass gerade solch ein Buch verfilmt werden könnte.« (littlecalimero, Lesejury)
»Ein echter Pageturner, der wunderbare Lesestunden beschert. Absolute Empfehlung für alle, die sowohl Romantik lieben als auch Geheimnissen gern auf die Spur kommen. Hier lohnt es sich!!!« (Dreamworx, Lesejury)
Alle Romane der Familiengeheimnis-Reihe sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden.
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Seitenzahl: 378
Cover
Über dieses Buch
Über die Autorin
Titel
Impressum
Widmung
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Glossar
Danksagung
Fina Ramsay’s Geschäft läuft dürftig. Ihre kleine, gemütliche Buchhandlung The Reading Corner leidet unter der neu eröffneten Filiale der McClary’s-Books-Kette, mit dessen Besitzer Liam McClary sie einen regelrechten E-Mail-Krieg führt. Und dann entert der Snob auch noch ihr Privatleben: Als ihre an Alzheimer erkrankte Großmutter ins Pflegeheim zieht, findet Fina beim Entrümpeln der Wohnung einen Brief. In dem wirren Schriftstück deutet ihre Großmutter an, dass die Ramsays und die McClarys mehr als nur die Liebe zu Büchern teilen. Doch was hat sich 1970 wirklich im unruhigen Nordirland zwischen den beiden Familien abgespielt? Um dieses Geheimnis zu lüften, muss Fina sich zwangsläufig ihrem »Feind« nähern.
Sandra Binder, Jahrgang 1985, entdeckte schon als Kind ihre Leidenschaft für das Geschichtenausdenken. Und was als Tagträumerei begonnen hat, wurde nach und nach zu einem festen Bestandteil ihres Alltags. Heute gehört das Schreiben zu ihrem Leben wie die E-Gitarre zur Rockmusik. Hauptberuflich widmet sich Sandra Binder dem ganz normalen Büro-Wahnsinn des Öffentlichen Dienstes.
Sandra Binder
DIEFRAUENVONBALLYCASTLE
beHEARTBEAT
Originalausgabe
»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment
Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Stefanie Kruschandl
Lektorat/Projektmanagement: Anna-Lena Meyhöfer
Covergestaltung: Nicole Meyer, designrevolte.de unter Verwendung von © shutterstock: Roserunn | stifos | Captblack76
eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-3807-2
www.be-ebooks.de
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Belfast, Mai 1970.
Ein schrilles Geräusch hallte durch das Haus: die Türklingel. Erschrocken sprang Bridget vom Sofa auf. Ihr Herz hämmerte gegen ihre Rippen, und ihre Handflächen wurden feucht.
Es war fast Mitternacht, und Donald war noch nicht von dem Einsatz zurückgekehrt. Durch die nicht enden wollenden Ausschreitungen war er beinahe Tag und Nacht im Dienst. Nach wie vor bekämpften sich Republikaner und Loyalisten auf offener Straße; und die Katholiken griffen nicht nur die Polizei, sondern inzwischen ebenso die britische Armee an, deren Truppen zur Unterstützung in Belfast eingerückt waren. Und Gott weiß, dachte Bridget, was die Radikalen von der Provisional IRA planten. Die Stimmung war explosiv. Und mittendrin in diesem Chaos: ihr Ehemann, der tapfere Polizist.
In den Nächten, in denen er im Dienst war, schlief Bridget nicht. Wie ein Geist wandelte sie durch das dunkle Haus, schob hier und da einen Vorhang beiseite, um die Straße zu überwachen, und betete. Immerzu begleitet von der Sorge, er könnte von einem Einsatz nicht heimkehren. Sie hatte die Angst unterschätzt, als sie einem Polizisten ihr Jawort gegeben hatte.
Ob es heute so weit war? Ob wohl einer seiner Kollegen mit der alles verändernden, niederschmetternden Nachricht vor der Tür stand?
Es klingelte erneut. Und noch einmal. Bridgets Hände zitterten, als sie sich den Rock glatt strich. Sie atmete tief durch, schluckte und ging daraufhin wie ferngesteuert zur Tür. Die Situation fühlte sich unwirklich an, als wäre sie nur eine unbeteiligte Beobachterin, als würde jemand anders in diesem Augenblick zur Tür gehen.
Sie streckte eine zitternde Hand nach der Klinke aus und zuckte zusammen, als die Glocke wieder schrillte. Nach kurzem Zögern machte sie sich bemerkbar, indem sie das Licht im Flur anknipste. Nun gab es kein Zurück mehr. Für einen Moment schloss sie die Augen und betete, dass sie sich irrte. Dann riss sie die Tür auf. Und wurde gleich darauf von einem Schwindel der Erleichterung gepackt.
Auf der Schwelle vor ihrem Haus stand kein Polizist. Doch das erlösende Gefühl, das Bridget verspürte, wich rasch einem erneuten Schrecken, als sie den Mann, der am Türrahmen lehnte, genauer betrachtete.
Er war jung, vielleicht Anfang zwanzig. Mit einer blutverschmierten Hand stützte er sich an der Hauswand ab. Weiteres Blut klebte in seinem zerzausten rotblonden Haar. Sein Atem ging schnell, und die linke Gesichtshälfte war so geschwollen, dass seine Züge kaum erkennbar waren.
»Großer Gott«, hauchte Bridget.
»Helfen Sie mir«, sagte der Mann mit erstickter Stimme.
Bridget musterte ihn schockiert. Tausend Fragen kreisten durch ihren Kopf. Wer war der Fremde? War er ein Radikaler? Was war mit ihm geschehen? Doch der lauteste Gedanke von allen war in Donalds Stimme gekleidet: Lass bloß niemals einen Fremden ins Haus!
»Setzen Sie sich auf die Stufen«, befahl Bridget. »Ich versuche, einen Arzt aufzutreiben.«
Als sie sich umdrehen wollte, griff der Mann nach ihrem Unterarm. Sie musterte seine rauen Arbeiterfinger und die blutigen Abdrücke, die diese auf ihrer weißen Bluse hinterließen.
»Keinen Arzt«, raunte er. »Verstecken Sie mich … bitte.«
Bridget sah in das geschundene Gesicht. Das eine Auge, das nicht zugeschwollen war, blickte sie flehentlich an. Es hatte die Farbe einer irischen Wiese kurz nach dem Regen.
Plötzlich sank der Mann auf die Knie, und Bridget versuchte, den schweren Körper aufzufangen. Reflexartig bemühte sie sich, ihn ins Haus zu bugsieren, wobei sich der Mann kraftlos auf sie stützte und stöhnte, als sie ihn wie ein Möbelstück gegen die Wand lehnte. Mit zitternden Fingern schloss sie die Tür hinter ihnen beiden.
Bridget verdrängte die warnenden Gedanken daran, dass er ein Fremder war und was Donald dazu sagen würde. Das hier war ein Mensch in Not. Und sie spürte, dass sie ihm helfen musste.
»Ja, Mum, ich weiß …« Fina verdrehte die Augen und war froh, dass Colleen sie durchs Telefon nicht sehen konnte. Sonst hätte ihre übersensible Mutter wieder tagelang geschmollt.
Ungeduldig trat sie von einem Bein auf das andere und musterte den hässlichen rotbraunen Wohnblock auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Das Backsteinhaus konnte dringend eine Renovierung vertragen. Vor allem neue Fenster. Dann würden die billigen Vorhänge dahinter vielleicht nicht so schäbig aussehen. Allerdings würde das Haus damit nicht mehr in die Gegend passen.
»Aber kannst du dir das denn leisten, Schätzchen? So ein Pflegeheim ist ja sehr kostspielig, oder?«, flötete Colleens Stimme aus dem Handy.
Fina konnte sich ein erneutes Augenverdrehen nicht verkneifen. Natürlich wusste sie, wie teuer ein Pflegeheim war. Schließlich bezahlte sie es.
»Ich habe alles exakt berechnet. Außerdem kann ich Granny wohl kaum sich selbst überlassen. Kürzlich hat sie mich Susy genannt und gefragt, ob ich ihre Enkelin Fina kenne. Sie war der festen Überzeugung, ich wäre erst fünf Jahre alt …«
»Witzig, Susan war mal ihre engste Freundin. Ich glaube, das war in den Siebzigern.«
Fina schüttelte den Kopf, während sie dem heiseren Lachen ihrer Mutter lauschte. Colleen hätte die ganze Sache wohl kaum so spaßig gefunden, wenn sie hier gewesen wäre und sich selbst um ihre Mutter hätte kümmern müssen. Doch wie immer, wenn es wirklich zählte, befand sie sich auf »Tournee«. So nannte sie es.
Colleen hatte von jeher ihrer Tochter die Schuld daran gegeben, dass aus ihrer Tänzerinnen-Karriere nichts geworden war. Ihrer Ansicht nach lag dieses Scheitern keinesfalls an mangelndem Talent oder an der Tatsache, dass sie sich mit zweiundzwanzig Jahren von einem verheirateten Anwalt hatte schwängern lassen. Ein Anwalt, der noch dazu alt genug gewesen war, um Colleens Vater zu sein.
Während Finas gesamter Kindheit hatte Colleen sie, so oft es ging, zur Großmutter abgeschoben, um weiter ihrem Traum nachzujagen. Mit wenig Erfolg. Heute gab Colleen Tanzkurse für Senioren auf einem Kreuzfahrtschiff.
»Also, hör zu, Mum, ich bin da.« Fina blickte erneut zu dem heruntergekommenen Gebäude auf, in dem ihre Familie jahrzehntelang gewohnt hatte. »Ich muss Schluss machen.«
»Wie du das alles regelst, mein Schatz. Besser, als ich es je könnte. Na ja, du warst eben immer die Verlässlichere von uns beiden.«
Das stimmte allerdings. »Schon okay, Mum. Hab dich lieb.«
»Mach’s gut, meine Süße.«
Ein letztes Augenrollen zum Abschied, dann legte Fina auf.
Sie eilte über die Straße, machte dabei einen weiten Bogen um ein paar alte Frauen, die vor dem Haus tratschten, und stieß die Tür zum Treppenhaus auf. Der vertraute Geruch nach halb verdorbenen Essensresten und nassem Hund stieg ihr in die Nase. Sie nahm immer zwei Stufen auf einmal zum ersten Stock hinauf und kramte währenddessen den Wohnungsschlüssel aus ihrer Jackentasche. Da kündigte ihr Handy eine neue E-Mail an.
Fina warf einen Blick auf das Display, auf dem die Vorschau der Mail den Absender verriet.
»Der nicht auch noch …«, murmelte sie.
Ein weiterer Grund, um die Augen zu verdrehen. Kurz überlegte sie, die Nachricht zu ignorieren, aber ihre Neugier siegte. Sie lehnte sich neben der Wohnungstür an die Wand und las:
Liebe Miss Ramsay,
egal, wie viele fantasievolle Namen Sie sich für meine Filiale einfallen lassen, es ändert nichts an der Tatsache, dass wir in dieser Stadt koexistieren müssen. Ich bin zwar nicht Ihr Berater, dennoch gebe ich Ihnen einen geschäftlichen Tipp: Bieten Sie etwas Außergewöhnliches an, um Ihren Laden für die Kunden attraktiv zu halten. Sie sind doch eine clevere Geschäftsfrau mit fantasievollen Einfällen. Ich bin sicher, Sie schaffen das.
So long,
Liam McClary
McClary’s Books, Belfast
»Mann, dieser arrogante A…«
Fina wirbelte herum, als sich die gegenüberliegende Wohnungstür mit einem Knarren öffnete.
»Hi, Miss Murphy«, schrie sie die schwerhörige Nachbarin an, die lediglich den faltigen Kopf aus der Tür streckte. »Wie geht es Ihnen heute?«
»Drück dich nicht wie eine Dirne im Hausflur herum, Kind«, krächzte die alte Frau, und ihre kleinen braunen Augen blickten sie scharf an. »Geh rein oder raus.«
»Höflich wie immer«, murmelte Fina. »Keine Sorge, wir müssen uns bald schon nicht mehr begegnen.«
Sie steckte den Wohnungsschlüssel in das Schloss und ließ sich mit der Schulter gegen die Tür fallen – anders ging das verzogene Ding nicht auf.
»Schönen Tag, Miss Murphy«, rief sie, bevor sie in die Wohnung huschte und die Tür hinter sich zuschlug.
Als Kind hatte sie eine Heidenangst vor dem alten Drachen gehabt, und auch heute lief es ihr eiskalt den Rücken hinab, wenn sie ihren giftigen Blick und die verkniffenen Lippen sah.
Sie lehnte sich von innen gegen die Tür und las Liam McClarys Mail noch einmal.
Seit sich dieser Londoner Lackaffe mit seinem protzigen Laden gegenüber ihrer kleinen Buchhandlung breitgemacht hatte, versuchte sie, ihn mit gepfefferten E-Mails aus der Stadt zu vertreiben. Sie hatte nicht wirklich erwartet, damit Erfolg zu haben, doch sie wollte ihm wenigstens das Leben schwer machen. Allerdings blieb er cool – und das brachte Fina wiederum zur Weißglut.
Zudem war es ihnen beiden wichtig, das letzte Wort zu behalten, was die Sache in die Länge zog. Vermutlich würden sie diesen E-Mail-Krieg führen, bis sie in Rente waren. Vorausgesetzt, Fina musste nicht schon vorher ihre Buchhandlung schließen.
McClary’s Books war eine erfolgreiche englische Kette, die mehr Auswahl, niedrigere Preise und eine schwindelerregende Menge an allerlei Schnickschnack jenseits der Bücher bieten konnte. Wieso sollten die Leute denn da noch in Finas Reading Corner kommen? Ach ja, der Service – Fina bot ihren Kunden einen persönlichen und fachkundigen Service. Anders als die ahnungslosen Angestellten einer Buchhandelskette, die nicht mal Ernest Hemingway von William Butler Yeats unterscheiden konnten. Wahrscheinlich. Hoffentlich.
Seufzend ließ sie das Handy zurück in die Jackentasche gleiten. Darum würde sie sich morgen kümmern. Heute zählte einzig und allein das spärliche Hab und Gut ihrer Großmutter. Was brauchte sie im Heim und was durfte weg; was war gut genug zum Verkaufen, was konnte verschenkt, und was entsorgt werden?
Fina hatte sich den Tag freigenommen, um die Wohnung zu entrümpeln. Als sie durch den Flur ins Wohnzimmer schlenderte, berechnete sie die Zeit allerdings neu.
»Oh, Granny …«, murmelte sie und beäugte das Chaos in dem Zimmerchen.
Von der verschlissenen Couch war kaum etwas zu erkennen. Überall lagen alte Zeitungen und Zeitschriften, Berge von Kleidung und Strickutensilien. Auf dem Couchtisch stand ein halb angeknabbertes Käsebrot mit pelzig grünem Belag. Und der merkwürdige Geruch, der aus der Küche kam, weckte in ihr wenig Lust, diesen Raum zu betreten.
Wofür hatte sie überhaupt eine Haushaltshilfe angestellt? So wie es hier aussah, war Mrs Fitz seit Wochen nicht mehr hier gewesen.
Sofort packte Fina ein schlechtes Gewissen. Durch den Ärger mit McClary’s Books und den Versuch, ihre kleine Buchhandlung zu retten, sowie den Hochzeitsvorbereitungen mit Sean, der ständig geschäftlich im Ausland war und ihr die gesamte Planung aufs Auge drückte, hatte sie sich viel zu wenig um ihre Großmutter gekümmert.
Nun, wenigstens hatte das Heim zwei Vorteile: Es war immer jemand da, der nach ihr sah. Und es war sauber.
Fina blies die Backen auf und ließ die Luft langsam daraus entweichen, während sie sich in der Wohnung umsah. Am liebsten hätte sie auf dem Absatz kehrtgemacht. Da sie jedoch – abgesehen von ihrer Mutter, die gerne durch Abwesenheit glänzte – die einzige lebende Verwandte von Bridget Ramsay war, fiel der Schwarze Peter wohl mal wieder ihr zu.
Sie friemelte den Haargummi von ihrem Handgelenk, band ihr Haar zurück, krempelte die Ärmel hoch und zerrte eine Rolle Müllbeutel aus ihrer Jackentasche.
»Dann mal ran an die Arbeit«, motivierte sie sich selbst.
*
»Hallo? Erde an Liam! Hörst du mir zu?«
Liam legte sein Handy beiseite und widmete sich seinem Finanzchef. Rory trug wie immer ein scheußliches kariertes Hemd, das sich mit seiner Haarfarbe biss. Was allerdings nicht zwingend am Hemd lag. Er hatte eine so seltsam rostrote Wolle auf dem Kopf, dass nichts, was er anzog, jemals dazu passte. Jedes Mal, wenn er Rory ansah, war Liam froh über seine unkomplizierten schwarzen Haare.
»Ich bin es nicht, der dich mit so lapidaren Angelegenheiten wie den Verkaufszahlen langweilen will. Du hast dieses Meeting anberaumt.« Rory wedelte mit einem Stapel Papier und bedachte Liam mit einem prüfenden Blick. »Und wieso grinst du überhaupt so dümmlich?«
Liam verschränkte die Hände auf dem Tisch und versuchte sich an einer strengen Miene, die Rory prompt zum Lachen brachte. Die beiden kannten sich von Kindesbeinen an, und sein bester Freund wusste, dass Liam das klassische Chefgehabe nicht lange durchhalten konnte.
»Darf man da, wo du herkommst, so mit seinem Boss reden?«, fragte er grinsend.
»Du bist jetzt wieder in Belfast. Schluss mit den Londoner Feinheiten, Sasanach.«
Seit Liam einmal von einer aufgebrachten Irin auf Gälisch als Sasanach – Engländer – beschimpft worden war, gehörte die Bezeichnung zu Rorys Lieblingswörtern. Er grinste breit.
»Gib mal her!« Liam deutete auf den Papierstapel, und Rory übergab ihm die Aufstellung mit einer feierlichen Verbeugung. Liam warf einen kurzen Blick auf die Zahlen, bevor er die Papiere zusammenrollte, ausholte und Rory einen spielerischen Schlag auf den Hinterkopf verpasste.
»Hey, das ist Gewalt gegen Angestellte!«, beschwerte sich der und lachte. »Du hast mir übrigens nicht geantwortet. Wem schreibst du da ständig?«
»Ach, es ist nur …« Liam deutete mit dem Daumen in Richtung Fenster, vor dem der Regen heute schon zum dritten Mal schräg und in langen Schnüren vom Himmel fiel. »Fina Ramsay.«
»Die Zicke von gegenüber?«
Liam griff nach seinem Handy und scrollte durch die letzte E-Mail der Buchhändlerin.
»Sie schreibt, dass der ›grässlich überdekorierte‹ Eingang von McClary’s Books von ihrem Fenster aus so wirkt wie die Pforte zur Hölle. ›Wo die Seelen kleiner Kinder beim Kauf eines Buchs mit kostenlosen Lutschern eingefangen werden‹.« Schmunzelnd schüttelte er den Kopf. »Ach ja, außerdem sind wir der Starbucks unter den Buchläden. Anscheinend machen wir die Leute mit einer übertriebenen Auswahl an Firlefanz schwindlig, sodass sie aus lauter Verzweiflung einfach das Teuerste kaufen, was neben der Kasse liegt.«
Rory pfiff durch die Zähne und riss die Augen auf. Mit seinen wiesengrünen Augen, den hellen Sommersprossen und seinem rostroten Haar entsprach der Kerl einfach sämtlichen Klischees über Nordiren. Vor allem, wenn er auch noch Dinge sagte, wie »Ist sie katholisch?«.
»Hör auf mit dem Blödsinn, Rory!«
»Ich meine ja nur.« Er zuckte betont unbekümmert mit den Schultern. »Du warst lange weg, aber mit den Republikanern muss man nach wie vor vorsichtig …«
»Sie will doch nur ihr Revier markieren.«
»Ah, du meinst, sie will dir doch nur ans Bein pinkeln. Na, wenn das so ist …«
Liam konnte sich das Lachen nicht verkneifen. Das war typisch Rory – reden war ihm von jeher lieber gewesen als zuzuhören. Oder vorher darüber nachzudenken, was er von sich geben würde.
Als sie Teenager gewesen waren, hatte er seine halbgare Meinung grundsätzlich durch den gesamten Pub posaunt, bis er einen Ungleichgesinnten fand, mit dem er sich stundenlang über Dinge stritt, von denen er absolut keine Ahnung hatte. Und wenn ihm irgendwann nichts mehr einfiel, rief er einfach: »Nieder mit dem Papst!« Damit waren ihm Prügel sicher.
Liam war das exakte Gegenteil. Er ignorierte die meisten Leute, um Ärger zu vermeiden. Oberflächlich betrachtet war er vielleicht der Vernünftigere von beiden, jedoch hatte er überhaupt nichts dagegen, kräftig auszuteilen, um Rory aus der Patsche zu helfen.
Schon verrückt, dachte Liam, dass zwei prügelnde Chaoten einmal ordentliche Studienabschlüsse vorweisen konnten, in einem schicken Büro sitzen und über Verkaufszahlen diskutieren würden. Das hätte damals keiner gedacht.
Liam überlegte, ob sie mit ihren neunundzwanzig Jahren inzwischen schlicht reifer geworden waren – wahrscheinlich nicht. Doch zumindest hatte Rory länger keine Prügel bezogen. Was allerdings auch daran liegen konnte, dass sein Geschwätz bereits in jedem Pub Belfasts bekannt war und er einige davon gar nicht mehr betreten durfte.
»Was ist das überhaupt für ein Name? Fina …« Rory kratzte sich am Kinn. »Das klingt, als hätte sie drei Katzen und würde sich nie die Beine rasieren.«
»Rory …«
»Ernsthaft. Hat es nicht für einen vollständigen Namen gereicht? So was wie Josefina? Oder Fin…ella? Ich finde, die Bösewichte sollten schon am Namen erkennbar sein.«
Schmunzelnd scrollte sich Liam durch Fina Ramsays Mail. Sie war eine Frau, die sich leidenschaftlich für das einsetzte, was sie liebte. Das war eine Eigenschaft, die er respektieren konnte – auch wenn sie sich in diesem Fall gegen ihn richtete. Außerdem war sie wirklich witzig, wenn sie sich ärgerte.
»Wir kennen die Frau doch gar nicht«, meinte er schließlich.
Rory blinzelte ihn überrascht an. »Du magst das.« Ein breites Grinsen formte sich auf seinen Lippen. »Klar, du lässt dich gern anzicken. Das ist es. Damit ist das Rätsel gelöst, weshalb du Caitlin geheiratet hast.«
Liam winkte entnervt ab.
»Was treibt unsere Eisprinzessin denn so?«, bohrte Rory nach.
Die Richtung, die das Gespräch nun einnahm, gefiel Liam überhaupt nicht. Er schnaubte. »Sie residiert in London und verschleudert das Geld ihres Vaters.«
»Na, solange es nicht dein Geld ist …«
Ungeduldig tippte Liam auf den Stapel Papiere mit den Verkaufszahlen. »Also, was ist hiermit? Wie laufen die Geschäfte?«
*
Fina zog den Schuhkarton aus dem Schrank und setzte sich damit an den wackligen Esstisch. Als sie vorhin den Deckel angehoben und die verblichenen Fotos und Briefe gesehen hatte, war es ihr vorgekommen, als hätte sie einen Schatz entdeckt.
Inzwischen war die gröbste Unordnung in der Wohnung beseitigt, die restlichen Habseligkeiten für das Heim gepackt und die Schränke geleert.
Ja, dachte Fina. Sie hatte sich eine Verschnaufpause wahrhaft verdient.
Vorsichtig nahm sie das gerahmte Foto in die Hand, das ganz oben auf dem Stapel im Schuhkarton lag. Es war das Hochzeitsfoto ihrer Großeltern. Damals mussten sie ungefähr in Finas Alter, also Mitte zwanzig, gewesen sein.
Bridget Ramsay trug ein hochgeschlossenes, langärmliges Brautkleid mit Spitze und einen zarten Schleier. Zu dieser Zeit war sie eine anmutige Frau mit großen Augen und einem einnehmenden Lächeln gewesen. Kaum zu glauben, dass sie einmal so strahlend schön und jung ausgesehen hatte. Donald Ramsay war ebenfalls ein attraktiver Kerl. Aufrecht und entschlossen, wie der Polizist, der er war, blickte er in die Kamera.
Leider hatte Fina nie die Gelegenheit gehabt, ihren Großvater kennenzulernen. Er war noch vor Colleens Geburt gestorben. Und ihre Großmutter sprach sehr ungern über ihn. Sie sprach allgemein ungern. Den Tod ihres Mannes hatte sie nie verkraftet.
Als Fina klein gewesen war, hatte sie Bridget nachts oft weinen gehört, und es hatte Tage gegeben, da hatte die alte Frau stundenlang aus dem Fenster gestarrt, ohne einen Ton von sich zu geben. Als Kind hatte sich Fina oft gefragt, warum ihre Granny so traurig war. Merkwürdigerweise hatte ihre Stimmung begonnen, sich zeitweise zu verbessern, seit Bridget an Alzheimer erkrankt war. Fast so, als würde sie ihren Schmerz kurzzeitig vergessen können, bevor er mit voller Wucht zurückkehrte, jedes Mal, wenn sie einen klaren Moment hatte.
Fina beschloss, das Bild neu rahmen zu lassen und es ihrer Großmutter ins Heim zu bringen. Erinnerungen, die etwas schmerzten, waren immerhin besser als gar keine. Und sicherlich wollte Bridget ihren geliebten Ehemann nicht einfach vergessen. Vorsichtig legte Fina die Aufnahme beiseite, zog das nächste Foto aus der Schachtel und prustete los.
»Oh Gott, Mum! Was für eine bescheuerte Frisur.«
Auf dem Bild posierte Colleen mit Minirock und hohen Stiefeln. Ihre dauergewellten Haare standen wie eine Löwenmähne von ihrem Kopf ab, trotzdem war zu erkennen, wie hübsch sie bereits als Teenager gewesen war. Fina beneidete ihre Mum um ihr rotes Haar, das alle Blicke auf sich zog. Sie selbst musste sich mit einem leichten Rotstich abfinden. Und den bemerkte man nur, wenn die Sonne im richtigen Winkel auf ihr langweiliges schokobraunes Haar traf – was so gut wie nie vorkam.
Sie kramte sich weiter durch Fotos und Erinnerungen, lachte über Frisuren und Mode und las begierig die Postkarten von Bridgets Freundin Susy, die in ihrem leider viel zu kurzen Leben durch die halbe Welt gereist war. Als Fina am Boden des Schuhkartons anlangte, tauchte ein Brief auf, frankiert und adressiert an Susy, jedoch niemals abgeschickt. Neugierig zog sie das Papier aus dem Umschlag.
Die Handschrift ihrer Großmutter wirkte zittrig. Viele Worte waren so energisch durchgestrichen, dass der Füller dicke Kleckse hinterlassen und das Papier eingeritzt hatte.
Meine liebe Susy, so lange habe ich geschwiegen – so lange, dass mir mein Gedächtnis allmählich Streiche spielt. Ich spüre es, Susy, ich fange an zu vergessen. Es macht mich wütend, weil ich es verdient habe, alles zu wissen. Tag für Tag, Jahr um Jahr, spiele ich diese glückliche, XXXX, beschämende, niederschmetternde, XXXX Erinnerung in meinem Kopf ab. Den Schmerz, der bei den Gedanken daran in mir aufkommt, habe ich verdient. XXXX. Ich bin für so viel Unglück verantwortlich. Das Unglück zweier Familien. Es ist nur gerecht, dass ich leide.
Aber jetzt weiß ich oft nicht mehr XXXX. Ich bin manchmal so verwirrt. Deshalb bitte ich dich, Susy, hilf mir, mich zu erinnern. Wenn ich es vergesse, sollst du es für mich wissen. Und es mir erzählen. Es zerreißt mir beinahe das Herz, dir die ganze Wahrheit zu sagen, denn ich weiß, dass du mich danach mit anderen Augen sehen wirst. Denn ich bin schlecht. Donald ist XXXX. Sein Tod, der Tod meines Ehemannes, der mich immer geliebt und beschützt hat, ist meine Schuld. Es gibt nur eines, was noch schlimmer ist als das: Er hat diese Welt in dem Wissen verlassen, dass seine Ehefrau ein schrecklicher und egoistischer Mensch ist.
Alles fing mit AyXX an. Aber es war nicht Aydens Schuld. Und auch nicht Taras. Ich übernehme die volle Verantwortung. Ayden McKee, der Mann, XXXX, ist XXXX. Mein Donald ist fort. Und mein Herz ist nicht nur gebrochen, es ist tot.
Fina versuchte, die durchgestrichenen Worte zu entziffern, doch sie waren auf dem verblichenen Papier so sorgfältig übermalt, dass sie es schlicht nicht erkennen konnte. Nach und nach wurde die Schrift unleserlicher, als hätte das Zittern der Schreiberin zugenommen.
Du sagst am Ende vermutlich, Tara McClary hätte mich anhören sollen. Aber, Susy, habe ich es denn hartnäckig genug versucht? Ich weiß, weshalb sie mit dem kleinen Rian nach Belfast kam. Ich habe das Kind angesehen und wusste es. Er war XXXX. Sie hatte einen guten Grund, Tara. Vielleicht war sie im Recht. Sie hat XXXX, doch schuld bin ich selbst.
Siehst du, Susy, jetzt schreibe ich wieder wirr. Mit meinem lädierten alten Kopf kann ich mich nicht mehr konzentrieren und mich nicht richtig ausdrücken. Ich werde versuchen, am Anfang zu beginnen. Ich werde dir aufschreiben, wie ich AyXX XXXX und wie sich alles zugetragen hat. Und ich werde dir von dem Band erzählen, das zwischen Tara und mir besteht, zwischen unseren Familien. Ich fasse es selbst nicht, dass dieses unzerreißbare Band XXXX und wir XXXX vor unseren Familien XXXX. Tara XXXX. Sie muss es gewusst haben. Wir XXXX
Damit endete der Brief abrupt. Fina las ihn erneut. Und noch einmal. Was sollte das bedeuten? Was wollte Bridget ihrer besten Freundin nur mitteilen? Wer war dieser Ayden McKee? Und handelte es sich bei der Tara McClary aus dem Brief etwa um die Tara McClary? Die Mutter von Rian McClary, dem Gründer von McClarys Books? Die Kombination der beiden Vornamen sprach jedenfalls dafür.
Aber was in aller Welt hatten Tara und Rian McClary in Bridgets Vergangenheit zu suchen? Und was hatten sie ihrer Großmutter angetan?
Fina saß ganz still da, während tausend Theorien durch ihren Kopf kreisten, eine irrsinniger als die andere. Doch sie fand keine brauchbare Erklärung. Bridget hatte nie über die McClarys gesprochen. Selbst als Fina einmal von ihrem Konkurrenten erzählt hatte, hatte sie kaum reagiert. Hatte Bridget inzwischen vergessen, was vorgefallen war?
Plötzlich fiel Fina wieder diese Story ein, die eine Zeitung anlässlich der Eröffnung der neuen Filiale in Belfast gebracht hatte: Rian, der arme Nordire, der mit einer einfachen Buchhandlung in London begonnen und es dann ganz nach oben geschafft hatte. Er hatte sich damals bei seiner Mutter Tara bedankt, die ihn allein großgezogen und immer unterstützt hatte. Außerdem hatte er behauptet, dass die Filiale in Nordirland ein echtes Herzensprojekt sei. Immerhin sei das ihre Heimat. Dieses »Herzensprojekt« führte nun aber nicht Rian, sondern Liam McClary. Und zwar direkt gegenüber von Finas Reading Corner.
Auf dem Foto neben dem Artikel waren Rian und Tara McClary abgebildet gewesen. Die feinen Herrschaften hatten siegessicher in die Kamera gelächelt. Schon zu jener Zeit hatte Fina die Arroganz der McClarys mit einem Schnauben kommentiert. Und nun existierten angeblich irgendwelche Verbindungen zwischen den beiden Familien? Nein. Nein, ihre Großmutter musste da etwas verwechselt haben. Sie hatte doch geschrieben, dass das Gedächtnis ihr allmählich Streiche spielte. Bestimmt hatte Bridget denselben Artikel gelesen, und in ihrem verwirrten Verstand waren die Begebenheiten durcheinandergeraten.
Fina schob das Papier zurück in den Umschlag, legte beides in den Schuhkarton und warf die Fotos und Erinnerungsstücke darauf. Sie würde keine Sekunde länger über dieses Schriftstück nachdenken.
Was verband sie schon mit einem Yuppie wie Liam McClary?
»Schwachsinn«, murmelte sie.
Sie verschloss den Karton und starrte ihn einen Moment lang an. Unruhig trommelte sie mit den Fingern auf dem Deckel, als Bridgets Gesicht vor ihrem inneren Auge erschien.
Wieso ist Granny so traurig?, hörte sie ihre eigene kindliche Stimme in ihrer Erinnerung.
Deine Granny hängt mal wieder in der Vergangenheit fest, erklang Colleens Antwort. Lass sie in Ruhe, Schätzchen!
Schließlich riss Fina den Deckel vom Karton, kramte den Brief von ganz unten hervor und stopfte ihn in ihre hintere Hosentasche. Sie stellte den Schuhkarton zu den Sachen, die sie ihrer Großmutter ins Pflegeheim bringen wollte, bevor sie sich wieder an die Arbeit machte. Und obwohl sie hartnäckig versuchte, nicht mehr daran zu denken, spürte sie das Papier in ihrer Hosentasche überdeutlich.
Als Fina die Wohnung ihrer Großmutter gegen Abend verließ, brummte ihr gewaltig der Kopf. Sie hatte sich alle Mühe gegeben, nicht mehr ständig an den Brief und dessen Bedeutung zu denken. Schließlich hatte sie bereits genug eigene Probleme, um die sie sich kümmern musste. Sobald sie sich dabei erwischt hatte, wie ihre Gedanken in Richtung hinterer Hosentasche abdrifteten, hatte sie sich daher so lautstark abgelenkt, dass die anderen Hausbewohner sie garantiert durch die papierdünnen Wände gehört hatten. Und sie nun höchstwahrscheinlich für übergeschnappt hielten.
Sie hatte laut das Alphabet aufgesagt, die aktuellen Charthits gesungen, auch wenn sie nicht immer textsicher war, und hatte, als das alles nichts geholfen hatte, sogar einem unsichtbaren Publikum die derbsten Witze erzählt, die ihr einfielen. Doch dieser gewaltsame Versuch, ihren Kopf mit banalen Dingen zu beschäftigen, hatte lediglich bewirkt, dass ihr Gehirn heißgelaufen war.
Es war nun einmal ein Naturgesetz, dass man stets an das dachte, an was man auf gar keinen Fall denken wollte. Und so wie sich einem die Schleimhäute zusammenzogen, wenn man sich eine Zitrone vorstellte, so hatte Fina ein Schaudern überlaufen, jedes Mal, wenn das zerfledderte Papier mit den Tintenflecken nach ihrer Aufmerksamkeit verlangt hatte.
Da hatte es auch nicht geholfen, den Brief dreimal in einen Müllbeutel zu werfen und wieder herauszufischen. Geschweige denn, sich einzureden, dass es nur das bedeutungsleere Gekrakel einer verwirrten alten Frau war. Irgendetwas war geschehen, so viel war klar. Und es musste etwas Furchtbares, etwas von großer Tragweite gewesen sein. Das entnahm Fina nicht so sehr Bridgets unverständlichen Worten als vielmehr der tiefen Verzweiflung, die ihr die zittrigen Linien und Kleckse entgegenbrüllten. Ihre Großmutter hatte sich eine solch schwere Schuld auf ihre knochigen Schultern geladen, dass Fina bei dem Gedanken daran regelrecht das Herz blutete.
Sie weigerte sich, zu glauben, dass Bridget ein schlechter Mensch war. Ihre Großmutter war zu keiner so schrecklichen Tat fähig, dass sie Jahrzehnte später noch leiden müsste. Bridget war nicht perfekt, das mochte sein, aber sie gehörte bestimmt nicht zu den Bösen.
Fina rief sich das Bild ihrer Großmutter ins Gedächtnis. Sie sah sie in ihrer typischen Pose: im Sessel sitzend, aus dem Fenster starrend, die Mundwinkel nach unten gezogen und den Blick in längst vergessene Zeiten gerichtet. Ob sie deshalb immer so traurig war? Konnte dieses Geheimnis der Grund sein, weshalb Bridget keine Freude mehr in ihrem Leben empfand?
Als Fina auf der Shankill Road in Richtung Zentrum marschierte und der Brief in ihrer Hosentasche drückte, als hätte sie ein Stück Stacheldraht am Hintern, traf sie eine Entscheidung: Sie würde herausfinden, was damals geschehen war. Insgeheim fürchtete sie sich zwar ein wenig davor, was sie dabei aufdecken würde, aber sie war davon überzeugt, dass Bridget nichts Schlimmes getan hatte. Zumal die McClarys in die Sache verwickelt waren. Wenn diese Familie auftauchte, hatte das zumeist nichts Gutes zu bedeuten – das jedenfalls war Finas bisherige Erfahrung.
Ihr fiel wieder dieser Zeitungsartikel über Rian und diese Belfaster Filiale von McClary’s Books ein. Darin wurde erwähnt, dass Tara Nordirland verlassen hatte, als ihr Sohn noch klein gewesen war. Angeblich war sie gegangen, weil sie ein friedlicheres Leben in London führen wollte. Aber war Tara in Wahrheit vielleicht aus ihrer Heimat geflohen, weil sie sich etwas vorzuwerfen hatte? Wohingegen Bridget hiergeblieben war. Das bewies es doch. Bridget hatte nichts Schlimmes getan!
Fina nickte sich im Geiste feierlich zu. Sie würde die Geschichte aufklären, in Erfahrung bringen, was die McClarys ihrer Großmutter angetan hatten und wieso diese die Schuld auf sich nahm. Sie würde diese alte, sinnlose Last von Bridgets Schultern nehmen.
Sie überlegte, ob sie ihre Mutter anrufen sollte, verwarf den Gedanken jedoch gleich wieder. Seit Colleen einen Psychiater gefunden hatte, der seine Sitzungen auch telefonisch abhielt, hatte sie sich ziemlich gut im Griff. Da war es vielleicht keine kluge Idee, sie aus ihrer selbst gebastelten Seifenblasenwelt zu reißen und mit der unangenehmen Realität zu konfrontieren. Davon abgesehen war es ohnehin sehr unwahrscheinlich, dass Colleen über die Vergangenheit ihrer Mutter Bescheid wusste.
Solange Fina denken konnte, hatte sich ihre Mutter nur herzlich wenig für die Familie interessiert. Die meiste Zeit über hatte niemand gewusst, wo Colleen sich herumtrieb, und wenn sie mal zu Hause gewesen war, dann hatte sie nur davon gesprochen, Belfast zu verlassen. Ihre Heimatstadt hatte sie immerzu als trostloses Loch voller Hass und Gewalt bezeichnet.
Fina schüttelte den Kopf. Sie blieb an der Kreuzung stehen und sah sich in dem »trostlosen Loch« um, in dem sie aufgewachsen war. Die Backsteingebäude waren alt, die Vorgärten – wenn man sie so nennen konnte – ungepflegt, hier und da lagen Müllansammlungen auf ungenutzten Grundstücken, und an den Wänden prangte das eine oder andere Statement als krummes Graffiti. Shankill war nicht unbedingt das, was man gemeinhin als lauschige Gegend bezeichnete. Ironischerweise zog es genau deshalb die Touristen an. Sie wollten seine Hässlichkeit sehen, die tragischen Geschichten hören und vor der berühmten Friedensmauer stehen. Schließlich war das der von den Troubles gebeutelte wilde Westen der Stadt.
Colleen war in diese düsterste aller Zeiten hineingeboren worden. Vermutlich war es nicht leicht gewesen, damals aufzuwachsen, dachte Fina. Ihre Mutter hatte ihr einmal erzählt, dass sie damals das Geräusch der Hubschrauber über dem Haus als beruhigend empfunden hatte. Und immer, wenn sie eine Explosion gehört hatte, hatte sie automatisch versucht abzuschätzen, wie weit sie entfernt war. Aber diese Zeiten waren inzwischen vorbei. Leider beharrte Colleen trotzdem darauf, nur diese eine, grausame Seite ihrer Heimat zu sehen. Und damit war sie nicht allein.
Wenn Sean von seinen Reisen nach Hause kam, erzählte er Fina oft davon, wie die Leute im Ausland auf seine Herkunft reagierten. Offenbar hatte die Welt weiterhin einen Kriegsschauplatz vor Augen, wenn sie an Nordirland dachte. Und das wunderte Fina nicht. Schließlich wurden im Fernsehen selten sonnige Tage im Park gezeigt. Dort beschränkte man sich auf die interessanten Sachen: Straßenschlachten und Bombenanschläge, radikale Paramilitärs und Polizeigewalt. Man gab dem Grauen medienwirksame Namen wie »Bloody Sunday«, und das ferne Hollywood drehte kitschige Filme über die IRA. Die Welt sah das wilde Ulster von damals. Die Welt sah kleine Totenköpfe unter den Ortsnamen, wenn sie einen Blick auf die nordirische Karte warf. Und die Welt hielt sich für ganz schön gut informiert über Nordirland und das böse Belfast. Vor allem, wenn man bedachte, dass es nur die unterbevölkerte Hauptstadt einer winzigen Provinz war. Doch Fina war der Meinung, dass die Welt dem kleinen Belfast damit unrecht tat. Es hatte sich längst weiterentwickelt, war nicht mehr der Ort, in dem Colleen ein Kind gewesen war.
Als Fina nach vorne sah, erkannte sie bereits die moderneren Gebäude des Zentrums. Die tapfere Stadt erholte sich allmählich. Sie war zwar keine schicke Metropole mit Hochhäusern – die höheren Gebäude in der Stadtmitte konnte man höchstens als Zwergenwolkenkratzer bezeichnen –, aber sie hatte Charme. Und gerade diese Ungezwungenheit, diese Lässigkeit machte Belfast zu einem so netten Städtchen. Sobald man an einem erhöhten Punkt stand, überschaute man weite Teile des Orts, bis der Blick an irgendeinem Berg oder Hügel hängen blieb. Belfast kuschelte sich zwischen grüne Berge und den Meeresarm Belfast Lough, und das hügelige Gebiet erweckte den Anschein, als würden die Häuser auf Wellen getragen.
Fina setzte ihren Weg durch ihre Heimatstadt fort. Denn das war Belfast für sie: Heimat. Sie konnte sich nicht vorstellen, woanders zu leben. Wieso sollte sie überhaupt woanders wohnen wollen? Andere Städte waren auch nur im Urlaub schön. Irgendwann merkte man jedoch, dass es ebenfalls nur Orte waren, an denen Menschen lebten und liebten, scheiterten und fielen und vielleicht, mit viel Glück, wieder aufstanden. Die schwersten Zeiten waren vorbei. Heute war es im Grunde überall gleich. Und Fina mochte es, durch Straßen zu spazieren, wo an jeder Ecke eine Erinnerung klebte. Zugegeben, nicht immer eine gute. Doch welcher Mensch auf der Welt hatte denn nur angenehme Erinnerungen? Und formten nicht gerade die Härtetests einen Menschen?
Fina schlenderte die Royal Avenue entlang, ohne die erleuchteten Schaufenster der Einkaufsstraße, die Passanten oder auch nur den Nieselregen zu beachten. Sie war viel zu sehr in ihre Gedanken vertieft. Erst als sie schließlich den Kopf hob und direkt auf die helle Portland-Stein-Fassade des Rathauses mit seinen vielen Säulen und der grünen Kuppel schauen konnte, bemerkte sie, dass sie an ihrem Ziel vorbeigegangen war. Sie drehte brummend um und bog wenig später in die Paper Street ein, wo sich ihre Buchhandlung befand.
Nicht nur der Name machte das Sträßchen zum perfekten Ort für ihren Laden, sondern auch die einzigartige Atmosphäre. Die Backsteingebäude in der Gasse waren höchstens dreistöckig, und im Erdgeschoss beherbergte jedes von ihnen einen kleinen Laden; allesamt Fachhändler mit einem hochwertigen Sortiment – von Gewürzen über Whiskey bis hin zu Schreibwaren. Die Schaufenster waren liebevoll dekoriert, die Eingangsbereiche in dunklem Holz gehalten und überall hingen altmodische Schilder mit verschlungenen Schriften. Jedes Mal, wenn Fina das schiefe Kopfsteinpflaster betrat und die Straße entlangblickte, hatte sie das Gefühl, zwei Jahrhunderte in die Vergangenheit zu reisen. Manchmal erwartete sie beinahe, dass eine Kutsche durch die idyllische Gasse holperte. Zumindest war es idyllisch gewesen, bis sich McClary’s Books hier eingenistet hatte.
Bereits von Weitem war die moderne Glasfront zu sehen. Sie wirkte geradezu arrogant, als wollte sie besser und hipper sein als der Rest der Straße.
Fina rümpfte die Nase. Sie blieb vor der dunkelroten Eingangstür ihrer Buchhandlung stehen und musterte das Haus gegenüber. Die Schaufenster waren so bunt und übertrieben dekoriert, dass man kaum ein Thema darin erkennen konnte, und das enorme gelbe Schild mit der Aufschrift McClary’s Books hob sich allein schon durch die graffitiähnliche Schriftart von allen anderen Ladenschildern ab. Der Eingang wirkte aufdringlich. Er schrie die Leute auf der Straße geradezu an.
Fina schüttelte den Kopf und wollte eben in ihren Laden gehen, als ihr etwas an McClarys gläserner Schiebetür auffiel. Sie schnaubte.
Nun hatte dieser Kerl doch tatsächlich eine wild blinkende Anzeigetafel angebracht, die den Kunden verkündete, dass die Buchhandlung geöffnet war. Ging es noch stilloser? Die Tafel beantwortete Finas Frage eine Sekunde später, indem sie die Farbe wechselte.
Fina zerrte ihr Handy aus der Jackentasche und tippte eine E-Mail.
Sehr geehrter Mister McClary,
sehe mir gerade die neueste Abscheulichkeit an Ihrer Ladenfront an. Eines würde mich interessieren: Fallen Ihnen solche Dinge ganz alleine ein, oder haben Sie ein Team von überbezahlten Geschmacksverirrten, die alle in der Abteilung für vulgäre Werbung und augenschädliche Dekoration arbeiten? Ich muss zugeben, ich bin beeindruckt. Dass Sie Ihre quietschbunte Schaufensterauslage noch toppen können, hätte ich nicht gedacht. Doch nun belehren Sie mich eines Besseren, indem Sie mir mit Ihrer blinkenden Neonschrift in den Laden leuchten. Herzlichen Glückwunsch!
Mit freundlichen Grüßen
Fina Ramsay
The Reading Corner, Belfast
Als sie die Nachricht abschickte, erfasste sie ein mulmiges Gefühl. Mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass die Familie McClary nicht nur die Straße verschandelte, sondern auch die Vergangenheit ihrer Großmutter. Aber was war damals passiert? Nachdenklich starrte sie hinüber zu dem protzigen, feindlichen Laden, doch ihr wollte einfach keine Erklärung einfallen.
Schließlich warf sie einen letzten grimmigen Blick auf die inzwischen pinkfarbene Anzeige, bevor sie augenrollend in ihren Laden schlüpfte. Nachdem die kleine Klingel über der Tür ihre Besitzerin begrüßt hatte, war es mucksmäuschenstill im Raum. Fina atmete tief durch. Sie genoss den Duft von Holz und Papier und betrachtete die dunklen Regale, die ordentlich sortierten Buchrücken und die dezent dekorierten Auslagen. McClary würde nie verstehen, dass Bücher keine Show brauchten. Sie wirkten von allein, da war kein Schnickschnack nötig.
Fina schlenderte zur Theke, wo Saoirse hinter der Kasse saß und ein Buch las. Es hätte schlimmer kommen können. Nicht nur einmal war Fina bei ihrer Rückkehr in ein Streitgespräch zwischen Saoirse und einem Kunden geplatzt, bei dem sie ihm ihre erzrepublikanische Meinung aufgedrängt hatte.
Es war eine Verzweiflungstat gewesen, die Mittdreißigerin vor ein paar Monaten einzustellen. Beiderseits. Allein die Tatsache, dass Saoirse ihr gefühlt zwanzigmal erklärt hatte, dass der Name »Freiheit« bedeutete und »Saoirse« geschrieben, aber »Sirscha« gesprochen wurde, hatte sie damals abgeschreckt. Doch Fina brauchte dringend Hilfe, und Saoirse brauchte das Geld.
Doch obwohl sie in jeder Hinsicht verschiedener Meinung waren, hatten Saoirse und sie sich überraschend schnell aneinander gewöhnt. Und auch wenn es keine von ihnen so recht zugeben wollte, waren sie inzwischen Freundinnen geworden.
»War was los heute?«, fragte Fina und lehnte sich mit dem Unterarm an die Theke.
Saoirse schlug das Buch zu, legte es neben die Kasse und warf ihr einen entnervten Blick zu. »Was glaubst du denn?«
Fina schnaubte. Das war das Ärgerlichste an McClarys schreiendem Eingang: Die Passanten hörten auf ihn. Sie deutete mit dem Daumen auf die andere Straßenseite. »Hast du die hässliche Anzeigetafel gesehen? Jetzt hat er wohl völlig den Verstand verloren.«
Saoirse lachte ihr raues Lachen. Ihre Stimme klang, als würde sie zwei Schachteln Zigaretten am Tag wegdampfen, dabei hatte sie noch nie geraucht. »Das ist doch nur ’n Schild, Kleine.« Sie schüttelte ihr feines mattblondes Haar über die Schulter und musterte Fina mit ihren wässrig-blauen Augen. »Was lässt du dich denn immer wegen solcher Kleinigkeiten auf die Palme bringen?«
Fina strich mit den Fingern über die Kerben im Holz der alten Verkaufstheke. »Das passt einfach nicht hierher. Der Kerl macht das ganze Straßenbild kaputt.«
»Oh dear. Ich hab nie verstanden, wie du so romantische Gefühle für Dinge haben kannst.« Sie schüttelte missbilligend den Kopf. »Alle Häuser müssen gleich aussehen, die Buchrücken müssen farblich sortiert sein, der Kugelschreiber muss exakt zwei Zentimeter neben dem Schreibblock liegen. Bei dir muss immer alles genau zusammenpassen.«
Fina winkte die Übertreibungen mit einem Lachen ab. »Wenn man in einer so chaotischen Familie aufgewachsen ist wie ich, schätzt man eben Ordnung.«
»Kann sein, aber vielleicht solltest du mal weniger auf das Straßenbild schauen und mehr auf dich selber.« Saoirse schob die Ärmel des Baumwollpullovers hoch, der der gertenschlanken Frau ungefähr zwei Nummern zu groß war, und wedelte mit dem Zeigefinger vor Finas Nase herum. »Dein Leben könnte auch Ordnung vertragen. Vor allem dein Liebesleben. Du führst eine leidenschaftlichere Beziehung mit der McClary’schen Hausfassade als mit deinem Verlobten.«
»Ich soll mir ausgerechnet von dir Beziehungstipps geben lassen?«
Die beiden Frauen grinsten sich an. Sie machten sich oft einen Spaß daraus, dass sie die Männer der jeweils anderen nicht ausstehen konnten.
Saoirse hielt Sean für einen überheblichen Dandy, obwohl sie ihn noch nie getroffen, sondern nur mit ihm telefoniert hatte. Finas Verlobter war Pilot, und die meiste Zeit über außer Landes. Deshalb hatte ihn Fina die letzten zwei Jahre zusammengenommen nur ungefähr sechs Monate gesehen. Saoirse hatte daher angemerkt, dass in Finas Beziehung nicht nur die Leidenschaft, sondern auch Zeit fehlen würde. Ihrer Meinung nach konnten sich zwei Menschen auf diese Weise niemals wirklich nahekommen. Aber Fina musste zugeben, dass sie es genoss, trotz einer festen Beziehung so frei zu sein. Sie brauchte es einfach nicht, dass ständig jemand bei ihr war.
Fina ihrerseits hielt Chuck, Saoirses Ehemann, für einen ungehobelten Proleten. Sie hatte den schwabbelbäuchigen Griesgram bisher lediglich in fleckigen Unterhemden und mit einer Flasche Bier in der Hand angetroffen, wenn sie Saoirse besucht hatte. Allerdings fehlte es dem Paar wahrhaftig nicht an Leidenschaft. Die beiden stritten sich ständig und schimpften dabei wie die Kesselflicker.
»Wie lief’s denn bei deiner Oma?«, wechselte Saoirse das Thema, und ihre Miene nahm einen mitfühlenden Ausdruck an. »Bist du fertig?«
Fina lehnte sich über die Theke und drehte die rechte Fußspitze auf dem Boden, wodurch der Brief in ihrer Hosentasche raschelte. Die Worte lagen ihr bereits auf der Zunge, als sie Saoirses Blick erwiderte, doch sie schluckte sie hinunter. Sie wusste selbst nicht, was sie von der Geschichte denken sollte. Am besten, sie behielt das Geheimnis zunächst für sich.
»Das Gröbste ist erledigt«, antwortete sie schließlich vage. »Meinst du, du könntest hier noch eine Weile die Stellung halten? Ich würde gern etwas erledigen.«
Saoirse half für gewöhnlich nur ein paar Stunden wöchentlich in der Buchhandlung aus. Wegen Finas familiären Schwierigkeiten hatte sie sich allerdings bereit erklärt, ihre Dienste auszuweiten.
»Chuck kommt bestimmt noch ein bisschen ohne mich klar«, feixte sie mit wissendem Blick, zog die Autoschlüssel aus ihrer Handtasche und drückte sie Fina in die Hand. »Nimm die alte Wilma! Sie steht vorn an der Ecke.«
»Danke«, antwortete sie und wog die Schlüssel zögerlich in der Hand.
Eigentlich hatte sie heute nicht nach New Lodge fahren wollen. Eigentlich hatte sie heute aber auch keinen alten Brief finden wollen, der eine Menge Fragen aufwarf.
Fina tippte mit dem Autoschlüssel gegen ihre Stirn und nickte Saoirse dankend zu. Daraufhin marschierte sie zum Ausgang, doch die Tür wurde in genau dem Moment aufgerissen, als Fina nach der Klinke greifen wollte. Das Glöckchen über dem Eingang klingelte empört.
»Hallo, ihr beiden«, flötete die Frau, die in den Laden rauschte und sich suchend umsah. »Ich wollte nur mal vorbeischauen, um … Wie geht es euch?«
Nora Headley war die Autorin der Dragonbite-Bücher, einer Fantasy-Reihe, die sich in Großbritannien und Irland immer größerer Beliebtheit erfreute. Fina hatte die Belfaster Schriftstellerin kennengelernt, als sie vor drei Jahren ihr Debüt veröffentlicht und nach einer Lesung in dem damals neu eröffneten Reading Corner gefragt hatte. Heute schimmerte in den braunen Augen der älteren Dame mit der weißgrauen Bobfrisur ein mitfühlender Ausdruck.
»Wie ist die Lage?«, fragte sie.
Fina legte den Kopf schief und verschränkte automatisch die Arme vor der Brust. »Was meinen Sie denn genau?«
Nora deutete mit dem Kinn auf die andere Straßenseite. Als Fina ihrem Blick folgte, spazierten gerade zwei Passanten vor ihrem Fenster vorbei – mit Einkaufstaschen von McClary’s Books. Sie knurrte.
»Es ist alles in bester Ordnung«, behauptete sie trotzdem. »Der Laden ist neu, natürlich stürmt jeder erst einmal dorthin, um ihn sich anzusehen. Aber das legt sich. Wir haben unsere Stammkunden, die uns schätzen …« Mehr fiel ihr im Moment leider nicht ein, weshalb sie Nora lediglich freundlich zulächelte und hoffte, überzeugend geklungen zu haben. »Bis zu Ihrer Lesung im September hat sich garantiert alles eingependelt.«
»Nun ja, das sind noch fast vier Monate«, murmelte sie.
»Und wir sind schon seit Jahren im Geschäft«, erwiderte Saoirse mit einem überlegenen Gesichtsausdruck, den Fina niemals zustande gebracht hätte. »Machen Sie sich keine Sorgen, Nora. Der Engländer kriegt uns nicht klein.«
Nora lächelte ein wenig schief und nickte. »Nun gut. Ich muss dann auch wieder …«
Sie verabschiedete sich knapp, bevor sie aus dem Laden rauschte. Fina sah durchs Fenster, wie sie der Buchhandlung gegenüber verstohlene Blicke zuwarf, während sie ganz langsam daran vorbeiging.
»Dieser Affenarsch«, murmelte Fina. Sie hatte zwar keine Ahnung, wie McClary aussah, aber sie stellte sich gerne einen fettleibigen Anzugträger mit ausgeprägter Akne vor, dem aufgrund seiner Verwandtschaft mit dem Teufel vielleicht sogar Hörner aus der Stirn wuchsen. Jedenfalls hängte sie diesen Kerl gerade gedanklich kopfüber an seiner schicken Glasfassade auf und bewarf ihn mit fauligen Tomaten. »Wenn der jetzt meine Lesungen abgreift, dann …«