Mein (nicht ganz) perfektes Leben - Sandra Binder - E-Book

Mein (nicht ganz) perfektes Leben E-Book

Sandra Binder

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Beschreibung

Die Liebe ist ein Hirngespinst!

Lila wollte ihren Ex nicht anfahren. Das war ein Unfall. Ehrlich! Obwohl ... verdient hat er es schon. Schließlich zerstört seine kleine Affäre Lilas gesamten Lebensplan. Nun muss sie wieder von vorn anfangen. Und das ein Jahr vor der Deadline - ihrem dreißigsten Geburtstag.

Doch dann trifft Lila auf Fred, ihren neuen Nachbarn. Die beiden könnten kaum unterschiedlicher sein: er der introvertierte Brummbär; sie der Wirbelwind, der sein Leben nach Plan leben will. Trotzdem entwickelt sich zwischen Lila und Fred eine Freundschaft, und es stellt sich heraus, dass sie mehr gemeinsam haben als auf den ersten Blick erkennbar: Die Liebe gleicht bei ihnen immer einem Desaster. Ein Grund, sie hartnäckig zu umgehen.

Doch ausgerechnet bei ihrem neuen Job lernt Lila den perfekten Mann kennen. Der attraktive Unternehmer Marcel ist völlig anders als Fred, so kultiviert und charmant. Moment - wieso denkt sie plötzlich so häufig über ihren Nachbarn nach?

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"Ein leichtes Lesevergnügen mit viel Gefühl und Charme." (TasmanianDevil8, Lesejury)


"Ein absolut lesenswertes Buch. Perfekt für den Strand im Sommer, da es so wunderbar locker und leicht geschrieben ist, obwohl es doch so viel Tiefgang beherbergt." (JennyY93, Lesejury)


"Der Roman ist in einem wunderschönen Ton geschrieben. Er liest sich leicht und flüssig, ist aber nie langweilig, sondern man findet sehr viele amüsante Szenen und tollen Wortwitz." (nosysimi, Lesejury)




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Seitenzahl: 389

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Inhalt

Cover

Weitere Titel der Autorin

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Zitat

Frühling

Kapitel 1 – Alles auf Anfang

Kapitel 2 – Verrückte neue Welt

Kapitel 3 – Wie Plus und Minus und doch gleich

Kapitel 4 – Einsicht macht es auch nicht besser

Kapitel 5 – Wie die Motte im Glas

Sommer

Kapitel 6 – Mädchen, Junge, Mädchen

Kapitel 7 – Dating für Anfänger

Kapitel 8 – Zurück zum Plan

Kapitel 9 – Schweigen ist Silber, Verdrängen ist Gold

Kapitel 10 – Drache gegen Märchenprinz

Herbst

Kapitel 11 – Das immer gleiche Leben?

Kapitel 12 – Neue und alte Türen

Kapitel 13 – Meistens kommt es anders

Kapitel 14 – Die Wahrheit und andere Verrücktheiten

Winter

Kapitel 15 – Frostschutz

Winter

Kapitel 16 – Manches ändert sich nie

Danksagung

Weitere Titel der Autorin

Wenn Funken über Wolken tanzen

Die Frauen von Ballycastle

Über dieses Buch

Lila wollte ihren Ex nicht anfahren. Das war ein Unfall. Ehrlich! Obwohl … verdient hat er es schon. Schließlich zerstört seine kleine Affäre Lilas gesamten Lebensplan. Nun muss sie wieder von vorn anfangen. Und das ein Jahr vor der Deadline – ihrem dreißigsten Geburtstag.

Doch dann trifft Lila auf Fred, ihren neuen Nachbarn. Die beiden könnten kaum unterschiedlicher sein: er der introvertierte Brummbär; sie der Wirbelwind, der sein Leben nach Plan leben will. Trotzdem entwickelt sich zwischen Lila und Fred eine Freundschaft, und es stellt sich heraus, dass sie mehr gemeinsam haben als auf den ersten Blick erkennbar: Die Liebe gleicht bei ihnen immer einem Desaster. Ein Grund, sie hartnäckig zu umgehen.

Doch ausgerechnet bei ihrem neuen Job lernt Lila den perfekten Mann kennen. Der attraktive Unternehmer Marcel ist völlig anders als Fred, so kultiviert und charmant. Moment – wieso denkt sie plötzlich so häufig über ihren Nachbarn nach?

Über die Autorin

Sandra Binder wurde 1985 im Herzen Oberschwabens geboren und ist ihrer Heimat seitdem treu geblieben. Schon als Kind entdeckte sie ihre Leidenschaft für das Theater, stellte allerdings bald fest, dass sie sich lieber selbst Geschichten ausdachte, als »nur« eine Rolle darin zu spielen. Und was als Tagträumereien begonnen hat, wurde nach und nach zu einem festen Bestandteil ihres Alltags. Heute gehört das Schreiben zu ihrem Leben wie die E-Gitarre zur Rockmusik: ohne, fehlt dem Rhythmus die Harmonie.

SANDRA BINDER

Mein(nicht ganz)perfektesLeben

beBEYOND

Originalausgabe

»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Anke Pregler

Lektorat/Projektmanagement: Anna-Lena Meyhöfer

Covergestaltung: Nicole Meyer, designrevolte.de unter Verwendung von Motiven © shutterstock: Laeti-m

eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-4797-5

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Keiner ist so verrückt,dass er nicht noch einen Verrückteren findet,der ihn versteht.

Frühling

Verbleibende Zeit bis zur Deadline:11 Monate, 20 Tage

Kapitel 1 – Alles auf Anfang

»Nun, wie fühlen Sie sich dabei?«

Lila schürzte die Lippen und musterte die gelangweilten Gesichter um sich herum. Die Psychologin stellte ihr hier nicht einfach nur eine Frage – das tat sie nie. Es war ein Test. Was Lila wirklich fühlte, war unerheblich, hier ging es darum, die richtige Antwort zu finden. Sie musste sich also fragen: Wie würde sich ein geistig gesunder Mensch fühlen, wenn er auf einem unbequemen Stuhl mitten im Raum saß, umringt von sieben oder acht geistig nicht ganz so gesunden Menschen?

»Wissen Sie, das ist nicht so leicht zu beantworten.« Lila schlug die Beine übereinander und legte einen Finger an den Mundwinkel. »Zu Anfang haben Sie gesagt: Jeder Mensch nimmt Gefühle anders wahr und stattet sie mit unterschiedlich starken Energien aus. Ich meine, wenn ich Ihnen nun sage, dass es mir gut geht, und Sie nehmen dieses ›gut‹ ganz anders wahr als ich, dann können Sie doch mein Befinden gar nicht richtig beurteilen.«

Frau Kirchner holte tief Luft und presste zwei Finger an ihre Schläfe, während sie mit dem Stift in ihrer anderen Hand auf ihr Klemmbrett klackerte.

»Lassen Sie es uns trotzdem versuchen. Ich kann Ihr persönliches ›gut‹ bestimmt ungefähr einordnen.«

Die betongrauen Augen der Psychologin bohrten sich in Lilas Kopf. Manchmal fragte sie sich, ob die ältere Frau ein Alien war, der mithilfe seines Röntgenblicks jegliche Gedanken durch das menschliche Bewusstsein wabern sehen konnte. Die Frau mit der akkuraten blonden Bobfrisur und der strengen Miene war echt unheimlich.

»Ich fühle mich gut.«

»Und weshalb?« Frau Kirchner hob eine Hand. »Und bitte fassen Sie sich kurz.«

Waren Psychologen für gewöhnlich nicht geduldige Zuhörer? Frau Kirchner mit ihrer eckigen Lesebrille und ihrem genauso eckigen Kinn war jedenfalls beides nicht – weder geduldig noch eine Zuhörerin. Außerdem war sie so kalt, als schliefe sie im Kühlschrank. Oder in einem Sarg?

Aber zurück zur Frage. Oder besser: zum Test. Die Wahrheit war: Lila fühlte sich großartig. Und auch das ›weshalb‹ ließ sich leicht beantworten: Heute war ihre letzte Gruppensitzung beim Anti-Aggressivitäts-Training. Allerdings konnte sie wohl kaum verkünden, dass sie froh war, all die Nasen um sich herum nie mehr wiedersehen zu müssen. Wenn sie ehrlich war, gruselte es sie regelrecht vor manchen dieser Gestalten.

Da war zum Beispiel Jeannette, die Kochlöffelakrobatin. Sie hatte ihren Mann mit einem Kochlöffel krankenhausreif geschlagen, nachdem sie ihn dabei erwischt hatte, wie er sich mit einer Arbeitskollegin in der Mittagspause einen Frischkäse-Bagel geteilt hatte. Es mochte zwar beeindruckend sein, dass jemand ein Plastikkochutensil so treffsicher zu schwingen vermochte, dass es ein Nasenbein brach, ohne selbst zu zerbrechen, aber diese Kunst war dennoch zutiefst beängstigend. Das war allerdings noch nichts gegen Ginger, die bissige Stangentänzerin. Die konnte es nämlich überhaupt nicht leiden, »angetatscht« zu werden, und brachte das des Öfteren durch Einsatz ihrer Zähne unmissverständlich zum Ausdruck. Doch Lilas absolute Nummer eins in den Grusel-Charts war Mareike mit dem Killerblick. Niemand starrte so gehässig und bedrohlich wie die übergewichtige Frau in dem quietschpinken Kunstlederoberteil. Sie gab gern »Schlampen aufs Maul«. Um welche ›Schlampen‹ es sich dabei handelte, war irrelevant. Jede Frau im Umkreis von einhundert Metern schien für sie in diese Kategorie zu fallen.

Ach ja, es war eine herzallerliebste Truppe, die sich da jeden Dienstag und Donnerstag im vierten Stock eines grauen Wohnklotzes in Berlin-Friedrichshain traf. Und alle waren sie wütend – auf die Welt im Allgemeinen, auf das System und auf die Kerle im Besonderen. Ginge es nach den sieben Frauen – und der Psychologin –, dann waren die Männer ohnehin für den Untergang der zivilisierten Welt verantwortlich. Diese Sitzungen konnten einen regelrecht aggressiv machen. Ironischerweise.

Lila gehörte hier nicht her. Sie war kein wütender oder gewalttätiger Mensch. Dass sie an dem Anti-Aggressivitäts-Training teilnahm, hatte sie ihrem Exfreund Flo und seinem überbezahlten Anwalt zu verdanken. Versuchten Totschlag hatten sie ihr vorgeworfen und von ihr verlangt, dieses Training zu absolvieren, wenn sie einer Strafanzeige entgehen wollte. Dabei wollte sie Flo gar nicht anfahren. Ehrlich! Doch wenn man seinen Freund mit der Sekretärin seines Vaters rumknutschen sah, konnte man schon mal Gas und Bremse verwechseln. Außerdem war gar nichts passiert. Folgen hatte die Aktion nur für den Hydranten und Flos Auto gehabt.

So lächerlich der Vorschlag auch gewesen war – und das war er, denn selbst Flos Anwalt musste darüber lachen –, um des lieben Friedens willen absolvierte Lila das Training. Das Ganze hatte sie jedoch eine Menge Nerven gekostet und am Ende auch ihren Job bei der Nachmittagsbetreuung für Grundschulkinder am Prenzlauer Berg – denn wer wollte sein Kind schon jemandem überlassen, der ein Aggressionsproblem hatte? Aber jetzt hatte sie es endlich geschafft.

Sie lächelte die Psychologin siegessicher an.

»Ich bin rehabilitiert.« Sie versuchte, so aufrichtig wie möglich auszusehen. »Wissen Sie, dass morgen Frühlingsanfang ist? Der perfekte Tag, um neu anzufangen. Ich habe schon gepackt und ziehe morgen früh bei meiner Mutter aus.«

Frau Kirchner hob die Brauen und schielte über den Rand ihrer Brille. »Glauben Sie denn, Sie sind bereit, um in die Welt hinauszugehen?«

»Na, ich bin doch schon die ganze Zeit über frei herumgelaufen …«

Die Psychologin rümpfte die Nase und notierte etwas auf ihrem Klemmbrett.

»Von jetzt an werde ich nur noch U-Bahn fahren, versprochen«, scherzte Lila, was zur Folge hatte, dass die Frau noch mehr auf ihr Papier kritzelte.

»Mit diesem Training haben Sie lediglich den ersten Schritt getan«, meinte Frau Kirchner. »Nun möchte ich, dass Sie im Alltag umsetzen, was Sie hier gelernt haben. Bevor Sie handeln, versetzen Sie sich in die Gefühlslage Ihres Gegenübers, Lila. Ein sinniger nächster Schritt wäre die Aussprache mit Ihrem Exfreund. Nehmen Sie ihm die Angst vor Ihnen.«

Wem? Flo? Der hatte ganz bestimmt keine Angst. Im Gegenteil, der lachte sich doch jetzt ins Fäustchen.

Als Mitglied einer der reichsten und angesehensten Familien Berlins konnte sich Saubermann Flo keinen Skandal leisten. Blöd nur, dass seine Freundin Lila so viele schmutzige Dinge über ihn wusste. Als er sie schließlich satthatte, musste er sich deshalb etwas ausdenken, wie er sie mundtot machen konnte. Und was war da wirkungsvoller, als die Ex als geisteskranke Irre darzustellen, die ihn umbringen wollte?

»Ich bin sicher, Flo kommt zurecht.« Lila unterdrückte eine Grimasse. »Ich habe gehört, er will demnächst heiraten. Irgendwo in den Bergen – mit Kirche und Torte und Tauben und dem ganzen Chichi.«

Natürlich würde er das. Lila hatte ihn zwei Jahre lang bearbeitet, um ihn so weit zu bekommen. Letztendlich war ihr Plan aufgegangen. Nur, dass er jetzt eben die Sekretärin seines Vaters heiratete statt Lila. Aber das machte nichts. Im Gegenteil. Sie war froh, dass sie seinen wahren Charakter noch rechtzeitig erkannt hatte.

Frau Kirchner hob einmal mehr die Brauen und setzte ihren glänzend silbernen Kugelschreiber auf dem Papier an. »Bevor wir uns von Ihnen verabschieden, verraten Sie uns doch Ihre Pläne für die Zukunft.«

In näherer Zukunft würde Lila den Schnapsschrank ihrer Mutter plündern, in der Hoffnung, die letzten sechs Monate aus ihrem Gedächtnis auslöschen zu können. Aber das war wahrscheinlich nicht unbedingt das, was die Psychologin hören wollte.

»Ich habe einen Vier-Stufen-Plan.« Lila straffte die Schultern, und ein Lächeln legte sich wie von selbst auf ihre Lippen. »Den habe ich mir als Kind bereits ausgedacht. Wissen Sie, ich wollte immer eine Prinzessin sein. Da ich aber nicht gerade aus königlichem Hause stamme, muss ich mir – und das ist Stufe eins – einen Prinzen suchen.«

Frau Kirchner blinzelte sie mit großen Augen an, und einige der Frauen um sie herum lachten kaum verhalten.

»Es gibt nicht viele Prinzen in Deutschland«, entgegnete die Psychologin trocken.

»Es geht nicht um den Titel. Betrachten Sie es doch mal aus der Sicht eines Kindes. Wer ist ein typischer Märchenprinz? Ein gutaussehender Mann mit gütigem Herzen und reicher Familie. Das ist meine Definition eines Prinzen.«

»Sie wollen also einen gutaussehenden Mann mit dickem Bankkonto.« Sie schob die Brille auf ihrer Nase zurecht und fixierte Lila wieder mit ihren betongrauen Augen. »Hallo, Einzelfall.« Nun wurde sie aber ein klein wenig sarkastisch, oder nicht? »Und am besten soll es auch noch Liebe auf den ersten Blick sein.«

»Bloß nicht«, widersprach Lila und schüttelte heftig den Kopf. »Ich bitte Sie, wer liebt denn heute noch? Heutzutage und in unserer Gesellschaft steht die Liebe ja nun wirklich nicht auf Platz eins der Must-haves.«

Mit diesen Worten schaffte es Lila endlich, der kaltschnäuzigen Psychologin eine Reaktion zu entlocken. Ihr klappte der Kiefer herunter.

»Sie sind Ärztin, Psychologin. Sie wissen, was in den Köpfen der Menschen vorgeht. Das Verliebtsein ist nichts weiter als ein geschickt gemixter Hormoncocktail, mit dem die Natur das Überleben der Spezies Mensch sichern möchte. Alles nur Illusion. Deshalb verfliegt diese ganze Schmetterlinge-im-Bauch-Nummer so fix. Und bevor Sie es sich versehen, haben Sie einen armen Schlucker geheiratet, der sich selbst hasst und weder sich noch Sie oder den gemeinsamen Nachwuchs versorgen kann.« Lila hüpfte vom Stuhl auf und gestikulierte wie ein Motivationstrainer. »Also sagen Sie mir, ist es da nicht die bessere Methode, die ›Liebe‹ außen vor zu lassen und mir von vornherein jemanden zu suchen, der zu mir passt, mit dem ich eine gute Partnerschaft aufbauen kann, der imstande ist, mich zu versorgen, und den ich aller Voraussicht nach noch ein paar Jahre lang anschauen kann, ohne mich zu gruseln? Ich meine, warum soll ich nicht gleich nach einer vorteilhaften Ehe schauen, wenn das Verliebtheitsgefühl sowieso verschwindet? Weil ich im besten Fall drei Jahre lang Schmetterlinge im Bauch haben könnte, bevor ich vierzig Jahre lang unglücklich bin? Nein danke, da nehme ich lieber gleich den reichen, gutaussehenden Prinzen.«

Verlieben … pah! Wer wollte das denn? Das war ja, als bettle man um Ärger. Und wenn Lila nur oft genug darüber sprach, würde sie auch nicht vergessen, wie die Wirklichkeit aussah, und niemals in die Falle tappen. Den Gedanken, dass sie eine Lüge leben könnte, schob sie sofort in den hintersten Teil ihres Bewusstseins – auch wenn er sich immer wieder in den Vordergrund schleichen wollte.

Es war merkwürdig still geworden im Raum. Nur das Kritzeln des Kugelschreibers war zu hören. Lila gab der Psychologin ein wenig Zeit, um sich alles aufzuschreiben. Denn im Gegensatz zu all dem Kram, den sie sich sonst in den Sitzungen notierte, war das wirklich wichtig. Schließlich war es das Rezept, um ohne Dramen durchs Leben zu kommen. Lilas Plan war perfekt. Allerdings sollte sie sich mit dem nächsten Kandidaten beeilen. Schließlich wurde sie in einem Jahr dreißig – was auf dem Datingmarkt gleichbedeutend mit einem Börsencrash war. So merkwürdig es klang, aber dreißig war wie eine magische Grenze, die die Männer irgendwie erschnüffelten. Vielleicht lag diese Fähigkeit auf dem Y-Chromosom.

»Die Scheidungsstatistiken geben mir recht«, fuhr Lila fort, als ihr die Stille zu unangenehm wurde. »Niemand liebt ewig. Und die Paare, die nach der ersten Euphorie noch verheiratet sind, sind das bloß aus Gewohnheit. Wer liebt, geht mit Erwartungen durchs Leben, die kein anderer auch nur annähernd erfüllen könnte. Die Enttäuschung ist vorprogrammiert. Sie wissen, wovon ich rede, Frau Kirchner.«

Die Psychologin sah irritiert von ihrem Klemmbrett auf. »Wie bitte?«

»Na, der helle Abdruck.« Lila deutete auf den Ringfinger der älteren Frau. »Sie haben anscheinend über Jahre hinweg einen Ring getragen und jetzt nicht mehr. Sie sind geschieden.«

Frau Kirchner wedelte in Richtung Lila. »Setzen Sie sich wieder hin. Hier geht es nicht um mich.«

Lila trat auf die Psychologin zu und legte ihr eine Hand auf die Schulter, zog sie allerdings sofort wieder zurück, als Frau Kirchner sie mit ihrem Blick erdolchte. »Aber warum soll es denn nicht einmal um Sie gehen? Sie hören sich seit Monaten Geschichten über mich an. Reicht es Ihnen nicht langsam?«

»Oh doch.« Die Psychologin klatschte in die Hände und verwies Lila mit einem Fingerzeig auf ihren Stuhl. »Wir haben unsere Zeit längst überschritten. Nun, meine Damen, bevor wir für heute Schluss machen, entlassen wir Lila aus unserem Kreis. Reihum – was wünschen wir ihr für die Zukunft?«

Oh, was für eine nette Idee.

»Mareike, möchten Sie beginnen?«

Wobei …

»Soll ick? Ja, also …« Mareike richtete ihren Killerblick auf Lila. »Der Lila wünsch ick, dasse klarkommt und ihren Plan durchzieht. Echt. Machse fertig, die verdammten Kerle.« Ach ja, keine Sitzung ohne eine Erwähnung der ›verdammten Kerle‹ … »Und en kleener Tipp: Vielleicht hilft’s, wenn de ’n bisschen wenijer quatschst. Du hast verdammt viel den Mund offen. Und die verdammte jute Laune … Dit is schon übel, Lila.« Ehrlich? Gut gelaunt zu sein war etwas Schlechtes? »Aber sonst passt’s schon, ne? Kommste hoffentlich nich wieder. Allet Jute und so, ne?«

Lila schielte zu Frau Kirchner hinüber. Die Psychologin hatte sich zurückgelehnt und schmunzelte ungewöhnlich selig vor sich hin, während sich Lila sechs weitere von Herzen kommende Wünsche anhören durfte.

Allerdings konnte sie sich kaum auf die netten Worte konzentrieren. Sie war zu aufgeregt. Endlich durfte sie aufhören, die öde Rolle der wütenden Ex zu spielen, die ohnehin nicht zu ihr gepasst hatte. Höchste Zeit für eine neue Rolle. Und einen neuen Märchenprinzen. Und dieses Mal würde sie nicht wieder die gleichen Fehler begehen. Nein, noch vor ihrem dreißigsten Geburtstag würde an ihrem Finger ein Verlobungsring stecken.

Fred schlich die Stufen hinauf und kramte in seiner Umhängetasche nach den Wohnungsschlüsseln. Im Haus war es wunderbar still, wie meistens am Nachmittag. Der kleinere Teil der Bewohner malochte noch, und die erschreckende Überzahl an Rentnern hielt Mittagsschlaf. Perfekt. So hatte er seine Ruhe.

Als er keuchend den dritten Stock erreichte, hielt er sich am Treppengeländer fest, um zu verschnaufen. Er war nicht in Form. Überhaupt nicht. Verdammt, er sollte dringend ein paar Runden joggen gehen. Wenn ihm dafür nur nicht die Zeit fehlen würde …

Okay, das war Unsinn. Im Grunde war er einfach zu faul, und das wusste er. Aber was soll’s, das Alter ließ sich eben nicht aufhalten. Das verriet ihm nicht nur sein Bauchansatz, sondern auch das langsam lichter werdende Haar am Hinterkopf. Da würde kein Sport helfen. Mit Mitte dreißig war das halbe Leben nun einmal vorbei, und irgendwie musste sich diese Tatsache schließlich bemerkbar machen.

Fred stapfte den Flur entlang zu seiner Wohnung und steckte den Schlüssel ins Schloss. Er hörte schlurfende Schritte, war jedoch nicht schnell genug. Die Tür gegenüber schwang auf, bevor er flüchten konnte.

»Guten Tag, Herr Tomkewicz!«, schrie ihn die Nachbarin an.

Die alte Frau war taub wie ein Holzpfosten. Weil ihr einziges Hobby aber das Fernsehen war, hatte ihr Sohn, dieses Superhirn, vor einiger Zeit eine hochmoderne Heimkinoanlage in der winzigen Wohnung von Frau Bronner installiert. Abends hörte Fred die Rosamunde-Pilcher-Streifen bis in sein Wohnzimmer, wo das Gesülze seine eigenen Filme übertönte. Und wenn seine Nachbarin dann richtig Saft auf den Subwoofer gab, konnte man meinen, nebenan wütete ein Erdbeben der Stärke sieben.

Er atmete tief durch, bevor er sich halb zu der verhutzelten Frau umdrehte.

»Hallo«, entgegnete er schlicht.

Eilig schloss er die Tür auf und war bereits mit einem Fuß in der Wohnung, da machte sie wieder den Mund auf. Sie legte es offenbar darauf an, ihm den Tag zu versauen.

»Wir bekommen doch morgen eine neue Nachbarin«, brüllte sie mit ihrer Krächzstimme. »Eine junge Dame soll das sein. Ist das nicht schön?«

Ach je, was für ein Ereignis: eine neue Nachbarin! Die Kunde hatte er zwar vernommen, bisher jedoch erfolgreich ignoriert. Verdammt, und jetzt sollte das auch noch so ein Partygirl sein? Gut, ›jung‹ war vermutlich relativ, wenn man ein so biblisches Alter erreicht hatte wie Frau Bronner, trotzdem war es eine beunruhigende Nachricht.

Die vorherige Mieterin, Frau Möller, war angenehm gewesen. Sie hatte den ganzen Tag lang in ihrem Sessel gehockt, aus dem Fenster gestarrt und war still gewesen. Drei Tage hatte es gedauert, bis jemand gemerkt hatte, dass die gute Frau verstorben war.

Fred brummte automatisch. Er hasste neue Nachbarn. Das Gerumpel im Treppenhaus, das quietschende Möbelrücken, die neugierigen Rentner, die den Neuzugang lautstark auf dem Flur befragten – ein Albtraum.

»Ja, toll, dann können Sie und das Krampfadergeschwader endlich über jemand Neues herfallen«, murmelte er, schlüpfte in seine Wohnung und schlug die Tür hinter sich zu.

»So ein Ekel!«, hörte er Frau Bronner maulen.

Als ob sie das überraschen würde. Fred war keiner dieser Typen, die sich einen Orden für nachbarschaftliches Miteinander verdienen wollten. Tatsächlich wollte er nicht einmal hier wohnen. Fünfhundert Euro Warmmiete waren für ein fünfzig Quadratmeter großes Loch von Wohnung in einem heruntergekommenen Teil von Berlin-Spandau deutlich zu viel. Mal im Ernst, damit zahlte er zehn Euro für jeden einzelnen versifften Quadratmeter. Dabei sollte er wegen der dünnen Wände vielmehr Schmerzensgeld verlangen.

Fred schloss die Tür von innen ab, rüttelte gewohnheitsmäßig am Knauf, hängte die Schultertasche und seine Jacke an ihre Haken an der Garderobe und stellte seine Schuhe ordentlich darunter. Der erste Weg führte ihn wie immer in die Küche zu seiner neuesten Errungenschaft: einem Kaffeevollautomaten.

Fred war ein einfacher Mann. Er brauchte nicht viel. Und genau genommen besaß er auch nur zwei Dinge von Wert: die Kaffeemaschine und seinen Laptop. Hin und wieder ertappte er sich dabei, wie er den glänzenden Vollautomaten anlächelte, als wäre er seine heiße Mitbewohnerin.

Mit einer herrlich duftenden Tasse Kaffee setzte er sich an den Schreibtisch zu seinem zweiten Schatz und schaltete das silberne Notebook ein.

Normalerweise benutzte er das Gerät für seine Illustrationen. Fred war eigentlich Künstler – Maler, um genau zu sein. Davon zeugten die ordentlich gestapelten Kritzeleien und Entwürfe in seinem Regal sowie die Staffelei am Fenster. Auf der Leinwand prangte seit einem halben Jahr ein einzelner blauer Fleck. Ja, er hatte eine Malblockade. Na und?

Seine Bilder interessierten sowieso niemanden. Deshalb lagen sie im Keller. Und deshalb versuchte er es nun mit Mediengestaltung: Flyer, Plakate, Internetseiten, Buchcover. Ohne abgeschlossene Berufsausbildung war es allerdings schwierig, einen Job in der Branche zu finden. So blieb es bei ein paar wenigen Auftragsarbeiten, die er mühsam an Land zog. Und weil er sich damit nicht über Wasser halten konnte, jobbte er nebenher bei einem Caterer. Und weil er dort ebenfalls kaum Geld verdiente und weil die Welt ungerecht und das Leben scheiße war, lebte er in diesem hellhörigen Loch von Wohnung.

Und da wunderte sich die alte Frau Bronner, dass er manchmal ein wenig schlecht gelaunt war? Klar, die Frau war Rentnerin. Sie hatte den ganzen Tag über Zeit, im Flur rumzustehen und zu quasseln. Aber er wohnte hier nicht nur, er arbeitete hier. Er brauchte seine Ruhe. Warum verstand das denn niemand, Herrgott noch mal?

Doch. Ein Mensch verstand ihn: Susanne.

Fred öffnete sein E-Mail-Programm und rief die letzte Nachricht seiner E-Mail-Freundin auf, die er am Montag, also vor vier Tagen, erhalten hatte. Er schrieb nie sofort zurück. Was würde das denn für einen Eindruck auf Susanne machen? Er war doch kein einsamer Stubenhocker, der nur auf ihre Mails wartete. Außerdem hätte er auch gar nicht gewusst, was er jeden Tag schreiben sollte. Das würde auf Dauer bloß anstrengend sein. Nein, die Beziehung mit Susanne war perfekt, so wie sie war.

Zumindest war sie das bis jetzt gewesen. In letzter Zeit hatte Susanne allerdings so komische Anwandlungen und schlug vor, dass man sich auch mal persönlich treffen könnte. Fred umschiffte das Thema hartnäckig. Wieso etwas kaputt machen, das einwandfrei funktionierte?

Er klickte auf Antworten und begann mit seinem Drei-Finger-Daumen-System zu tippen:

Hallo Susanne,

die Woche war recht ereignislos. Es gibt nicht viel Neues – nur das Alte aufgewärmt. Du kennst das …

Die alte Frau von gegenüber hat mich eben daran erinnert, dass morgen die neue Nachbarin einzieht. Direkt nebenan. Mir graut jetzt schon davor. Ich halte dich über die Entwicklungen auf dem Laufenden.

Freds Finger verharrten über der Tastatur, dann überflog er Susannes Mail noch einmal. Er fragte sich immer wieder, wie sie seitenlange Texte verfassen konnte, während ihm nach fünf Sätzen nichts mehr einfiel.

Sie erzählte viel von der Arbeit, der Familie und Freunden – allesamt Leute, die er nicht kannte und deren Leben nicht sonderlich spannend war. Dennoch mochte er Susannes ruhige und geordnete Art zu erzählen.

Sie machte Absätze und setzte Kommas und Punkte, wo sie hingehörten, vermied es, ihn mit Ausrufezeichen anzubrüllen, und ihre schriftliche Stimme klang angenehm entspannt. Sie schien nett zu sein. Und sie lachte über seine Witze. Die – zugegeben – oftmals gar keine waren. Aber aus irgendeinem Grund hielt sie ihn für witzig. Fred konnte sich das zwar nicht erklären, aber es gefiel ihm.

In ihrer letzten Mail hatte Susanne von ihrem Chef erzählt. Sie arbeitete als Sekretärin in einer öffentlichen Verwaltung, und ihr Chef war einer von der alten Schule. Er nannte sie immer ›Fräulein‹, worüber sie sich unwahrscheinlich aufregte.

Fred würde also ebenfalls eine Chef-Anekdote erzählen. Das hatte er sich so angewöhnt. Denn er hielt es für sehr mitfühlend, wenn er ihr zeigte, dass sie nicht die Einzige war, die es schwer im Leben hatte. Geteiltes Leid …

Ich kann dich verstehen. Mein Chef ist auch ein A … Gestern habe ich den Ausschank für eine Galerie-Eröffnung gemacht. Habe die ganze Nacht feinen Schnöseln ihren Schampus ausgeschenkt. Da kommt tatsächlich so ein Lackaffe zu mir an und beschwert sich, sein Blubberwasser sei zu warm. ›Der Champagner perlt nicht recht am Gaumen‹, sagt der Knilch zu mir. Ich habe ihm daraufhin erst einmal erklärt, wie tuntig sein Gerede klingt und wie wenig mich das interessiert. Da trabt mein Chef an und stellt sich auf die Seite von diesem reichen Pinsel. Ich solle dem Herrn doch gefälligst ein neues, gekühltes Glas ausschenken.

Ist das zu fassen? Unsere Vorgesetzten zeigen keinerlei Loyalität gegenüber ihren Mitarbeitern, keinen Respekt. Sie behandeln uns wie ihre Untertanen und verlangen unbedingten Gehorsam. Wie im Mittelalter. Und wie damals werden wir auch bezahlt.

Aber das eigentliche Problem ist, dass sie keinerlei Courage haben. Es war bezeichnend, was danach passiert ist: Mein Chef hat mir grinsend auf die Schulter geklopft, dieses illoyale Weichei.

Was ist nur los mit unserer Gesellschaft? Wieso kuschen nur alle vor diesen reichen Pinkeln? Ich weigere mich zu glauben, dass ich weniger wert bin als der Knilch mit seiner verdammten Rolex und seinem unverdienten Erbe. Ich würde schon aus Prinzip niemals reich sein wollen. Außerdem müsste ich mich dann ja selbst verabscheuen.

Fred klopfte mit dem Mittelfinger auf die Absatz-Taste und bewunderte seinen Text. Na also. Da gab es eine geistreiche Einleitung, gefolgt von den neuesten Entwicklungen in seinem Leben und einem Schwank aus seiner Arbeitswelt, inklusive der Thematisierung eines aktuellen gesellschaftlichen Problems – damit war die Mail nahezu perfekt. Jetzt noch ein anständiger Schlusssatz, und fertig war die Laube:

Dir noch eine gute Woche. Gruß, Fred.

Lächelnd klickte er auf den kleinen Pfeil und lauschte dem Flugzeuggeräusch, das immer erklang, wenn er eine Nachricht abschickte.

Vor der Tür fing indessen die Bronner Herrn Kowalsky von nebenan ab. Ihre Krächzstimme quasselte schon wieder etwas von der neuen Nachbarin, und der dicke Herr Kowalsky mit seinem durchdringenden Pavarotti-Organ stieg munter darauf ein.

Fred seufzte. Das Leben wäre so schön, wenn sich alle Menschen aufs E-Mail-Schreiben beschränken würden.

Kapitel 2 – Verrückte neue Welt

»Huch!« Lila kicherte, als der altersschwache Aufzug einen Hopser machte.

In der Anlage war gerade einmal Platz für eine Person und drei Kartons, und selbst damit schien sie bereits überfordert. Jedes Mal hielt der Fahrstuhl kurz vor dem dritten Stock an und hüpfte anschließend in seine Endposition, als müsste er sich einen Ruck geben, um seine Arbeit zu vollenden.

Obwohl Lila schon zum siebten Mal mit Umzugskisten nach oben fuhr, erschrak sie noch immer dabei.

Als die Türen schwerfällig aufglitten, schob sie einen Karton auf die Schwelle, sodass sich die Kabinentür nicht wieder schloss. Dann hievte sie die beiden anderen Kisten stöhnend in den Flur und gab den Fahrstuhl schließlich wieder frei. Schwer atmend setzte sie sich auf einen der Umzugskartons und massierte sich den rechten Arm, der vom Tragen bereits krampfte.

Warum hatte sie sich die schwersten Kartons bis zum Schluss aufgehoben? Immer zögerte sie die anstrengendste Arbeit hinaus, und jedes Mal ärgerte sie sich darüber, weil sie von vornherein gewusst hatte, dass sie am Ende keine Lust mehr haben würde.

Aber es half ja nichts – wenn sie sich nicht hier an Ort und Stelle niederlassen wollte, würde sie die Sachen in ihre neue Wohnung schaffen müssen. Und da der Flur menschenleer und das Haus an diesem Nachmittag wie ausgestorben war, musste sie es ohne Hilfe hinbekommen. Aber das war sie ja gewohnt …

Als sie vor fünf Jahren mit ihrer Mutter nach Berlin gekommen war, hatte sie einen Schlussstrich unter ihr bisheriges Leben gezogen, alles andere hinter sich zurückgelassen und bei null angefangen. Während der ersten drei Jahre war sie nie lange an einem Fleck geblieben, was es ziemlich schwer gemacht hatte, neue Freundschaften zu schließen. Serda, die sie vor zwei Jahren über einen Kellnerjob kennengelernt hatte, war die Einzige, die eine Freundin hätte werden können, doch sie war Flo nicht gut genug gewesen. Er vermieste oder sabotierte ihre Treffen so lange, bis sich Serda von Lila abwandte. Leider hatte Lila das zu spät erkannt.

Und da man bei einer Trennung für gewöhnlich auch den Freundeskreis des Ex verlor, stand sie heute wieder allein da. Und das fühlte sich merkwürdigerweise noch schlimmer an, wenn es so beängstigend still war wie in diesem Geisterhaus. Mit einem Mal bekam Lila eine Gänsehaut.

Sie rieb sich über die Arme, stand auf und hob ächzend einen der Kartons an. Was war da nur drin? Backsteine?

Als ihr Handy in der Jackentasche vibrierte, versuchte sie, die Kiste auf den Knien zu balancieren, während sie mit einer Hand nach ihrem Telefon suchte. Das schwere Teil rutschte ihr dabei fast auf die Füße.

»So ein Mist!«, fluchte sie.

Sie hörte Schritte hinter sich und drehte sich, so gut es ging, zur Treppe um.

»Hallo Nachbar!« Sie strahlte den Männerkopf, der über dem Treppengeländer zu sehen war, erleichtert an. »Könntest du mir vielleicht kurz helfen?«

Der Typ blickte argwöhnisch zurück.

»Bitte?« Sie versuchte, den Karton so zu verlagern, dass er ihr nicht weiterhin die Blutzufuhr im linken Arm abklemmte, wobei er ihr schon wieder wegrutschen wollte.

Brummend stapfte der Kerl auf sie zu und nahm ihr den Karton ab, ohne sie dabei anzusehen.

»Oh, vielen Dank. Das wäre nicht gut gegangen.« Lila kramte das noch immer vibrierende Handy aus ihrer Tasche und nahm den Anruf entgegen, während sie zu ihrer Wohnungstür schlenderte und dem Nachbar bedeutete, ihr zu folgen. »Hallo Mama. Ich bin gut angekommen und lade gerade aus. Ich rufe dich morgen zurück, okay?«

Sie warf einen Blick über ihre Schulter. Der Typ trottete hinter ihr her und warf den Karton geradezu durch die offene Tür in ihre Wohnung.

»Aber Schätzchen, hast du denn alles, was du brauchst?«, flötete Lilas Mutter aus dem Handy. »Du bist bestimmt total erledigt. Ich komme zu dir und mache dir Abendessen. Was hältst du davon?«

Lila ging zurück zum nächsten Karton und versuchte, das schwere Teil mit den Füßen vor sich herzuschieben. Ohne großen Erfolg. Sie setzte ihren herzerweichendsten Dackelblick auf, schaute zu dem Fremden auf und lächelte ihn schief an.

Er hob zwar eine Braue, schnappte sich dann aber doch den Karton und trug ihn in die Wohnung. Lila folgte ihm.

»Nein, ich brauche nichts, Mama, wirklich! Ich bin doch gerade mal seit fünf Minuten weg. Lass mich erst mal in meinem neuen Heim ankommen.«

Als sie über die Türschwelle trat, machte der Fremde kehrt und ging auf die letzte Kiste zu.

»Wenn du irgendetwas brauchst, meldest du dich sofort, hörst du?«, befahl ihre Mutter.

»Ja, Mama.« Lila beobachtete, wie der Nachbar den Umzugskarton in ihre Wohnung schob und nach der Türklinke griff. Von außen. »Ich muss jetzt Schluss machen. Ich ruf dich morgen an. Tschüss.«

Ehe er die Tür vor ihrer Nase schließen konnte, machte Lila einen Schritt nach draußen und streckte ihm die Hand hin.

»Das war echt lieb von dir. Ich bin Lila.«

Er beäugte ihre Hand kritisch, bevor er sie zögerlich schüttelte. Er hatte einen merkwürdig hohlen Händedruck, als versuchte er, sie nicht zu berühren, während er ihre Hand hielt.

»Ernsthaft?«, fragte er mit einer Stimme, die man eher von einem Holzfäller erwarten würde. »Wieso sollte jemand sein Kind ›Lila‹ nennen?«

Sie lachte auf. »Lila ist die Farbe der Spiritualität. Das kann dir meine Mutter besser erklären.«

Wieder hob er eine Braue. »Na, da freue ich mich aber drauf.«

»Und du bist?«

»Atheist.« Er deutete mit dem Daumen nach links. »Drei C, Fred Tomkewicz.«

»Mein direkter Nachbar also. Freut mich, dass wir uns so schnell kennenlernen.« Sie gab ihm einen freundschaftlichen Klaps auf den Arm, den er mit einem irritierten Blick beantwortete. »Wie wär’s mit einem Bier? Ich gebe eine Runde aus. Als Dankeschön fürs Helfen.«

Er schaute zunächst sie, dann die auf dem Boden hinter ihr verteilten Kartons an. Und Lila stellte fest, dass der Nachbar wirklich hübsche Augen hatte. Ein warmer Braunton mit einem Grünstich, je nach Lichteinfall, und dazu lange, dichte und dunkle Wimpern. Sein Blick wirkte seltsam weich im Vergleich zu dem unrasierten, kantigen Rest seines Gesichts und der rauen Stimme.

»Das heißt … du bist fertig?«, fragte er. »Das ist alles?«

»Ja, wieso?«

»Wo sind die Möbel?«

Lila legte den Kopf schief und verzog die Lippen. »Ich habe noch nie welche besessen, wenn ich genau darüber nachdenke.«

Fred musterte sie eine Weile lang mit zusammengezogenen Brauen. »Das heißt, dein ganzer Krempel liegt jetzt einfach so auf dem Fußboden rum?« Er machte eine allumfassende Handbewegung in Richtung ihrer Kisten. »Generationen von Menschen schnitzen in mühsamer Handarbeit aufwändig verzierte Truhen und entwickeln diese bis zur Ikea-Schrankwand weiter, und das geht einfach so an dir vorbei?«

Lila antwortete mit einer Mischung aus Nicken und Schulterzucken.

»Selbst die Steinzeitmenschen haben Löcher in Höhlenwände geschlagen, um ihr Hab und Gut darin zu verstauen. Ist das irgend so eine neue Esoterik-Masche?«, wollte er wissen.

»Ich habe keine generelle Abneigung gegen Möbel, ich habe bisher nur keine gebraucht. Die Leute, bei denen ich gewohnt habe, hatten immer welche.« Lila deutete mit dem Daumen über ihre Schulter. »Ich werde auch keine brauchen, denn ich bin nicht lange allein. Das hier ist nur vorübergehend.«

Fred schaute so verdattert drein, als wäre ihm eben eine unbekannte Spezies begegnet, die auf dem Kopf ging und mit den Füßen sprach. Es war zu komisch, wie er so vor ihrer Tür stand, in einer Jeans, die tatsächlich used war und nicht nur so gekauft, die Frisur – wenn man den Wuschelkopf so nennen konnte – herausgewachsen, sodass sich die dunkelbraunen Strähnen über seinen Ohren kringelten. Mit beiden Händen umklammerte er fest den Griff seiner Umhängetasche, als hätte er Angst, jemand könnte sie ihm wegnehmen, während er Lila finster musterte. Diese wusste selbst nicht genau, weshalb, aber sie musste bei seinem Anblick einfach kichern. Wahrscheinlich, weil sie noch nie einem Menschen wie Fred begegnet war.

Er gab sich desinteressiert und verschlossen und schielte immer wieder zu seiner Tür, als überlegte er zu fliehen. Und dennoch war ihm anzumerken, dass er am liebsten noch einmal wegen dieser Möbelsache nachhaken würde. Außerdem lag da ein merkwürdiger Ausdruck in seinen warmen Augen, den Lila einfach nicht deuten konnte.

Fred war ein Mann der Gegensätze, und das machte Lila sofort neugierig.

»Wie auch immer«, murmelte er schließlich, schob seine Tasche auf der Schulter zurecht und machte einen Schritt rückwärts. »Ist ja deine Wohnung.«

»Also? Was ist mit dem Bier?«

Lila bedeutete ihm mit einem Handzeichen zu warten, dann huschte sie zum Kühlschrank und begutachtete den Inhalt: eine halbe Packung Käseaufschnitt, zwei Becher Joghurt, ein Glas Marmelade und sechs Bierdosen. Sie nahm zwei Dosen heraus und schlenderte damit zurück zu Fred.

Als sie ihm eine davon hinhielt, hob er wieder bloß eine Braue.

»Ich weiß, dass das nicht gerade Klasse hat und Sekt zum Feiern angemessener wäre …« Lila zögerte, bevor sie flüsternd fortfuhr: »… aber ich mag dieses saure, blubbernde Gesöff einfach nicht.«

»Nein.« Als er Lilas Enttäuschung bemerkte, fügte er hinzu: »Danke.«

Sie ließ die Bierdose sinken. »Wirklich nicht? Du könntest mir ein bisschen über das Haus erzählen. Nachbartratsch. Ich kenne hier doch niemanden …«

»Ich auch nicht.«

Lila stutzte. »Ach, bist du auch gerade erst eingezogen?«

»Nein.«

Lila musterte ihn stirnrunzelnd. Sein Blick huschte von den Bierdosen zu den Umzugskartons auf dem Fußboden und wieder hinaus in den Flur. Er schien nicht gern mit anderen Menschen zusammen zu sein, was in Lila sofort den Drang weckte, den Grund dafür herauszufinden.

»Hör mal, selbst wenn ich wollte …« Fred räusperte sich. Anscheinend ging ihm auf, dass er dabei war, einen ziemlich unfreundlichen Satz zu beenden. »Ich muss zur Arbeit.«

Lila lächelte ihm aufmunternd zu. »Okay. Dann ein andermal, ja?«

Fred nickte lediglich. Er warf ihr noch einen argwöhnischen Blick zu, bevor er sich umdrehte und zu seiner Wohnung marschierte.

Nachdem Lila die Tür geschlossen hatte, hörte sie, wie auch die Nachbartür ins Schloss fiel, der Schlüssel herumgedreht und von innen am Knauf gerüttelt wurde. Der Kerl schien wirklich Angst zu haben, dass ihm jemand zu nahe kam …

Seufzend schlenderte Lila vom winzigen Eingangsbereich ins winzige Wohnzimmer ihrer winzigen Zweizimmerwohnung und sah sich um. Die Tapete war schon leicht vergilbt, und das Laminat hatte mehr Dellen und Kratzer als ein Crashtest-Auto. Die Kochnische war zwergenhaft, und im angrenzenden Schlafzimmer gab es gerade einmal genug Platz für ihre Matratze und zwei Kartons mit Klamotten.

Automatisch dachte sie an Flos Zuhause. Lila hatte bis zu dem Vorfall auf der Straße in seinem umgebauten, mit deckenhohen Fenstern ausgestatteten Loft gewohnt, das auf zwei gegenüberliegenden Seiten je eine Galerie hatte und in das ihr jetziges Apartment ungefähr acht Mal hineinpassen würde. Sie musste zugeben, dass sie ihn vermisste. Den Komfort, nicht den Kerl.

Lila hatte Flo zweieinhalb Jahre zuvor auf einer Vernissage kennengelernt, bei der sie als Garderobiere gearbeitet hatte. Die beiden hatten sich auf Anhieb verstanden, und Lila war sicher gewesen, dass dieser gutaussehende, freundliche und absolut humorresistente Mann genau der war, nach dem sie immer gesucht hatte – eine sichere Partie, bei der sie niemals Gefahr lief, sich zu verlieben.

Leider zeigte sich nach fast zwei Jahren oscarreifer Schauspielleistung seinerseits zunehmend Flos wahrer Charakter. Er beleidigte so gut wie jeden Kellner aufgrund seines Berufstandes, steckte den Leuten in den unmöglichsten Situationen Geld zu, damit sie etwas, oft völlig Unsinniges, für ihn erledigten, und kommandierte sogar seine Freunde herum. Lila eingeschlossen. Er erwies sich als egoistischer, verzogener Kotzbrocken. Deshalb war sie fast froh gewesen, als er sie betrogen und ihr damit die Entscheidung, ihn aus eigenem Antrieb zu verlassen, abgenommen hatte. Manchmal fragte sie sich sogar, ob es für die Welt als Ganzes nicht besser gewesen wäre, sie hätte Flo, und nicht nur den Hydranten, mit dem Auto erwischt.

Auch wenn Lila sich weigerte, sich zu verlieben, da sie der festen Überzeugung war, dass Liebe nur ein Synonym für Unglück war, wollte sie ihr restliches Leben auch nicht mit einem Scheusal verbringen. Hätte sie ihn nur vorher durchschaut; Zeichen hatte es genug gegeben. Dann hätte dieser Schmierenkomödiant mit seinen Spielchen nicht ihre gesamte Lebensplanung zerstören können.

Lila ging zu ihrer Handtasche, die sie auf die kleine Esstheke bei der Kochnische gestellt hatte, und kramte ein Blatt Papier hervor, auf dem in Kinderschrift fein säuberlich geschrieben stand:

1. Einen wohlhabenden Mann heiraten.

2. In einem schönen Haus leben.

3. Nur noch tun, was mich glücklich macht.

4. Einen großen Hund kaufen.

Lila hatte diesen Lebensplan erstellt, als sie zehn gewesen war. Ein schreckliches Jahr, das sie alles über Liebe, Schmerz und Unglück gelehrt hatte, was sie fürs Leben wissen musste. Wie von selbst erschien das Bild ihrer Mutter vor ihrem inneren Auge, die weinte und zutiefst verzweifelt am Esstisch saß, während sie Mahnungen und Vollstreckungsankündigungen vor sich ausbreitete. Lilas Vater Harald war die große Liebe der Mutter gewesen, und sein Tod brachte sie nicht nur in finanzielle Schwierigkeiten, sie fiel auch emotional in ein tiefes Loch, aus dem sie es kaum wieder herausgeschafft hatte. Sie hatte immer versucht, ihren Schmerz vor Lila zu verstecken – doch ohne Erfolg. Lila hatte sich so unendlich ohnmächtig gefühlt, weil sie einfach nicht wusste, wie sie ihrer Mutter helfen konnte, und ihr der Verlust des Vaters doch selbst das Herz zerriss … Nun schüttelte sie heftig den Kopf, um die Erinnerungen an damals zu verscheuchen, ehe sie sie überwältigen konnten.

»Verliebt zu sein ist nichts weiter als ein geschickt gemixter Hormoncocktail, mit dem die Natur das Überleben der Spezies Mensch sichern möchte«, murmelte sie ihr Mantra. »Alles nur eine Illusion.«

So mancher hatte ihr bereits Herzlosigkeit vorgeworfen, wenn sie von ihrer Sichtweise der Dinge erzählte, dabei sprach sie nur die Wahrheit aus. Schließlich hatte sie alles genauestens recherchiert: Wissenschaftlich betrachtet existierte die Liebe gar nicht. Seit Jahrhunderten investierten die Menschen viel Zeit darin, ein Trugbild zu entschlüsseln und zu zelebrieren, dabei wurden sie lediglich von der Natur aufs Kreuz gelegt.

Daran glaubte Lila. Oder zumindest wollte und musste sie daran glauben. Denn was geschehen würde, wenn sie sich doch ernsthaft verliebte, wollte sie nicht noch einmal erleben, das hatte sie sich geschworen.

Einmal war mehr als genug gewesen. Mit siebzehn hatte sie – entgegen ihres Planes – Gefühle zugelassen, und natürlich hatte diese Beziehung in einem Desaster geendet. Sie hatte Alex ihr furchtsames Herz und ihr so zerbrechliches Vertrauen geschenkt und war bereit gewesen, ihre Meinung über die Liebe zu revidieren. Doch dann entschied ihre erste und einzige Liebe, nach zwei glücklichen Jahren wegzuziehen, sie zu verlassen. Einfach so. Die Entscheidung war ihm so leichtgefallen, als hätte ihm Lila und ihre Verbindung nie etwas bedeutet. Als hätte die Liebe zwischen ihnen schlichtweg nicht existiert …

Alex hatte ihr damals das Herz gebrochen, aus der Brust herausgerissen und war dann darauf herumgetrampelt. Er hatte ihr damit äußerst anschaulich bewiesen, dass Liebe tatsächlich nur Unglück bedeutete. Dieser Schmerz sollte sich kein weiteres Mal wiederholen. Und deshalb wollte sie Beziehungen nur noch mit dem Verstand eingehen, statt mit dem Herzen. Damit schonte sie beide Parteien, da war sie sicher.

Ihre Methode war simpel, durchdacht, dramafrei und damit schlicht perfekt.

Allerdings gab es da diese Deadline.

Bereits mit sechzehn begriff Lila, dass sie ihr Ziel bis zu ihrem dreißigsten Geburtstag erreichen musste. Denn wie sie aus Büchern und Fernsehen wusste, war das die magische Grenze für eine Frau – danach zeigten die Männer kaum noch Interesse.

Nun war es noch knapp ein Jahr bis zu ihrem dreißigsten Geburtstag. Und hier stand sie – in einer Bruchbude, ohne Job und ohne einen Mann in Aussicht.

»Danke, dass du mir zwei Jahre meines Lebens gestohlen hast, Flo«, murmelte sie.

Sie zog den Hammer und eine Schachtel Nägel, die ihre Mutter ihr am Nachmittag zum Bilderaufhängen zugesteckt hatte, aus der Handtasche und nagelte den Vier-Stufen-Plan wie ein Manifest neben dem Kühlschrank an die Wand. So würde sie ihr Ziel nie aus den Augen verlieren. Danach angelte sie eine zweite Liste aus ihrer Tasche und hämmerte sie daneben.

Von nebenan hörte sie ein Brummen und musste unwillkürlich kichern. Dieser Fred war schon eine Nummer. Obwohl er sich so abweisend gab, hatte Lila auf Anhieb ein gutes Gefühl bei ihm. Unter seiner Ruppigkeit strahlte er etwas Ehrliches und Gutmütiges aus. Wenn auch sehr versteckt. Sie fragte sich, warum er so menschenscheu war, glaubte allerdings auch, dass er sich schon an sie gewöhnen würde. Hoffentlich. Sie wollte nämlich nicht mutterseelenallein in diesem Geisterhaus hocken.

Sie nahm den Stift, den sie vorhin in der Besteckschublade gefunden hatte, und strich den ersten Punkt auf der zweiten Liste durch:  Günstige Wohnung. Fehlten nur noch  Job in guter Lage  und  Neuer Kandidat.

Lila zwang sich zu einem Lächeln. Eins nach dem anderen. Sie hatte ein Drittel von ihrer B-Liste erledigt, das war doch ein Grund zu feiern. Schade, dass der Nachbar so eigensinnig war, was das anging.

Sie schlenderte zu einem der schweren Umzugskartons hinüber, setzte sich darauf und zog ihr Handy aus der Jackentasche. Seufzend scrollte sie durch die wenigen Kontakte. Mit wem konnte sie den Start in ihr neues Leben feiern? Ob sie zusammen mit Flo wirklich seinen gesamten Freundeskreis verloren hatte?

Sie starrte eine Weile lang auf Henriettas Nummer und tippte schließlich auf Wählen.

Nach dem vierten Klingeln meldete sich eine ungläubige Stimme: »Hallo?«

»Hi Henri, ich bin’s, Lila.«

Lila hörte eine Weile lang nur gedämpfte Gespräche, das Klappern von Geschirr und leise Musik im Hintergrund; anscheinend saß Henrietta gerade in einem Café.

»Ja, das kann ich auf dem Display sehen, aber wieso in aller Welt rufst du mich an? Bist du schon wieder draußen?«

»Draußen?«

»Na, aus dem Knast oder der Klapse, oder wo auch immer du warst.«

Lila runzelte die Stirn. Was hatte Flo seinen Freunden denn nur erzählt? »Ich war in keinem von beiden. Ich bin gerade in meine neue Wohnung gezogen und wollte dich einladen zu …«

Henrietta lachte. Laut. Und lang. »Dir ist schon bewusst, dass ich mit Flo befreundet bin, oder?«, sagte sie schließlich glucksend. »Mein Mann arbeitet in der Firma seines Vaters. Und selbst wenn nicht – nach allem, was passiert ist, kannst du doch nicht ernsthaft glauben, dass einer von uns noch etwas mit dir zu tun haben will. Du musst verrückt sein.«

Lila zog die Beine an und legte ihr Kinn auf die Knie. Von Flos Freunden war Henrietta immer die Netteste gewesen. Sie war es gewesen, die Lila zum Mädelsbrunch auf dem Ku’damm mitgeschleift hatte. Jeden Donnerstag schlugen sich die Ehefrauen in einem hippen Bistro die Bäuche mit Sekt und Trüffelpralinen voll. Doch für Lila war das nun definitiv vorbei.

»Tut mir leid, Henri. Ich dachte, wir sind gut miteinander ausgekommen …«

»Nimm’s nicht persönlich. Aber so ist das eben, wenn man Schluss macht.« Sie sprach plötzlich so leise, dass Lila aufmerksam lauschen musste. »Die Freunde können nur einem gegenüber loyal sein. Sorry. Mach’s gut, ja? Aber ruf nicht mehr an.«

»Okay. Danke.«

Nachdem Henrietta aufgelegt hatte, legte Lila das Telefon neben sich auf den Boden. Dann erhob sie sich, schnappte sich eine der Bierdosen von der Küchentheke und setzte sich damit auf den hässlichen Fußboden in ihrem neuen, winzigen Wohnzimmer. Die Dose zischte beim Öffnen, dann prostete Lila sich selbst zu.

»Auf den Neuanfang, Lila. Same procedure as every time …«

Fred würde zu spät kommen. Nun ja, genau genommen kam er wohl immer noch zwei Minuten zu früh, aber er hasste es, so knapp dran zu sein. Es war nicht seine Art. Außerdem war er das Warten gewohnt. Genauso wie das verärgerte Kribbeln im Bauch, das sich mit einem freudigen Überlegenheitsgefühl mischte, wenn er dem später Kommenden ein schlechtes Gewissen machen konnte. Dieses Verhalten war im Laufe seines Lebens zu einer liebgewonnenen Gewohnheit geworden.

Aber nun, nachdem ihn die neue Nachbarin so rücksichtslos aufgehalten hatte, geriet sein gesamter Tagesplan außer Kontrolle, und Fred musste aus der U-Bahn-Station Nollendorfplatz und durch die Straße hetzen wie ein Irrer, um noch rechtzeitig bei Charlys Sprinter anzukommen, bevor sein Chef ausgestiegen war. Es sah zwar aus wie eine Entfernung von lediglich zweihundert Metern, aber das täuschte. Definitiv.

»Wo bleibst du denn?«, fragte Charly provokant und lachte, als er den schnaufenden Fred musterte, der sich nur an die Brust fasste und eine Grimasse zog. »Bist nicht in Form, was?«

»Nicht in Form? Ich glaube, ich habe einen Herzinfarkt.«

Charly klopfte Fred zwinkernd auf den Rücken. Dieser gertenschlanke Adonis mit seinem V-Kreuz hatte gut lachen. Schließlich hatte er auch genügend Zeit, um jeden Tag ins Fitnessstudio zu rennen und stundenlang Gewichte zu stemmen. Tat ja sonst nichts, außer ein bisschen zu telefonieren und seine Angestellten in der Gegend herumzuscheuchen.

»Na komm, hilf mir beim Ausladen«, befahl der Boss.

Fred stützte sich einen Moment lang am Sprinter ab, um zu verschnaufen, dann riss er sich zusammen und half Charly, die Platten und Sektkartons auszuladen.

Die Party, auf der sie heute den Service übernahmen, fand in einem noblen Penthouse in Schöneberg statt. Es war eine dieser Wohnungen, bei deren Anblick Fred schnaubend den Kopf schütteln musste. War es nicht unfair, dass ein paar wenige Menschen, meist überbezahlte Sesselpupser oder erbende Faultiere, eine Unzahl an Quadratmetern für sich beanspruchten, während hart arbeitende Leute in hellhörigen Wohnsärgen lebten? Aber Moment, sie brauchten diesen ganzen Platz selbstverständlich, um all die quadratischen Designermöbel, arschteuren Porzellanvasen und hässlichen Hundeporträts auszustellen. Und natürlich war auf diesen Ausstellungstücken nirgendwo auch nur ein Flöckchen Staub zu finden.