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Die Interdependenzen der biblischen Bild- und Sprachwelt bei der Textproduktion und -rezeption werden in den Beiträgen dieses Heftes auf vier Ebenen betrachtet: a.Bezug von sprachlichen Motiven zur materiellen Kultur, b.Ausformung von Sprachbildern unter dem Gebot der Bilderlosigkeit, c.Entstehung mentaler Bilder im Prozess der Rezeption von Texten, d.Entdecken biblischer Texte und ihrer Deutungen in der Betrachtung der Zeugnisse der bildenden Kunst. Diese Aspekte werden in Beiträgen von Christina Hoegen-Rohls, Peter Wick sowie einem gemeinsamen Artikel von Florian Lippke, Stefan Fischer und Thomas Wagner aufgenommen und ausgeführt. Die hochschuldidaktische Umsetzung erfolgt in zwei Lehr-Lern-Beispielen. Rezensionen in hochschuldidaktischer Perspektive sowie ein Interview mit Michaela Bauks von der Universität Koblenz-Landau beschließen dieses Heft.
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Seitenzahl: 176
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Stefan Fischer / Thomas Wagner
Forum Exegese und Hochschuldidaktik – Verstehen von Anfang an
Jg.2 – 2017 | Heft 1in Zusammenarbeit mit Melanie Köhlmoos
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
© 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.francke.de • [email protected]
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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen
ePub-ISBN 978-3-7720-0010-2
Forum Exegese und Hochschuldidaktik Verstehen von Anfang an (VvAa)
Jahrgang 2 – 2017, Heft 1
Stefan Fischer und Thomas Wagner
Die dritte Ausgabe dieser Zeitschrift behandelt das Thema Bild und Text. Bilder nehmen in der Gestaltung von Lehrveranstaltungen weiten Raum ein. Moderne Techniken ermöglichen einen schnellen Zugriff auf Bilder und deren Darstellung. Dies bietet Chancen für den Unterricht. Dabei lauern aber auch Gefahren: Visualisierungen können zu einer Überladung mit Bildern, auch mit Textbildern, führen, ohne dass es zu einer Reflektion über die einzelnen Bilder kommt. Die vorliegenden Beiträge stellen sich der Bilddidaktik auf einer grundsätzlichen Ebene, wie es dem Anliegen der Zeitschrift Verstehen von Anfang an entspricht. Sie gehen auf die Tagung Bild und Exegese: Die Interdependenz der biblischen Bild- und Sprachwelt als Aufgabe für die Exegese zurück, die vom 26.–29. September 2016 an der TU Dresden stattfand. Die Vorträge, Workshops und intensiven Diskussionen zeigten insbesondere Bezüge zwischen materialer Kultur und sprachlichen Motiven auf und fragten, wie das Bilderverbot sich auf die Sprachbilder von Gott auswirkt. Des Weiteren kam die Entstehung von mentalen Bildern bei der Lektüre biblischer Texte unter dem Einfluss der im Rezeptionsprozess entstandenen Zeugnisse in den Blick.
Der erste Hauptbeitrag, der von seiner Länge her ein Doppelbeitrag ist, stellt das Ergebnis einer Kooperation da. Florian Lippke, Fribourg, sowie wir Herausgeber legen den Versuch vor, materiale, textliche und metaphorische Zugänge zur Bildwelt der Bibel methodisch miteinander zu verschränken. In ihm wird die Bandbreite exegetischer Arbeit mit Bild und Text sichtbar. Die daraus folgenden hochschuldidaktischen Konsequenzen werden in den weiteren beiden Hauptbeiträgen sowie in den Lehr-/Lern-Beispielen gezogen.
Christina Hoegen-Rohls, Münster, wählt die Erzählung von David und Batseba aus 2Sam 11,1–27, und zeigt eine korrelative Bild-Textwahrnehmung auf. Die Segmentierung des Textes, die nach dem Satzzeichenprinzip, dem rhythmisch-intonatorischen Prinzip und dem Prinzip des finiten Verbs erfolgt, stellt bereits eine Visualisierung des Textes dar, welche das Leseverhalten beeinflusst. Sie verbindet diese Erzählung von David und Batseba mit deren Rezeption in Bildern von Franciabigio, Rubens und Rembrandt und weist nach, wie Visualisierungen unterschiedliche Pointierungen der Rezeption des Textes fördern. In diesen Wahrnehmungsprozess zieht sie Studierende, so dass diese den Text neu und facettenreich entdecken können.
Peter Wick, Bochum, überlegt aus exegetischer Sicht, wie traditionelle Vorstellungen die Lektüre biblischer Texte beeinflussen. Er stellt an verschiedenen Beispielen dar, wie das Verständnis eines Textes durch mentale Bilder geprägt ist, die anderweitig erworben wurden. So wird etwa bei Martin Luther eine bildgesteuerte Exegese sogar zum hermeneutischen Prinzip, denn seine hermeneutische Formel ‚Was Christum treibet‘ führt zu einem bestimmten Bild von Christus als Erlöser, welches wiederum die Lektüre des Textes beeinflusst. Ausführlich setzt er sich mit Sprachbildern des Paulus auseinander und zeigt auf, wie diese sich überlagern. Mit Beispielen aus der Gegenwart verdeutlicht er, wie mentale Bilder unser Wirklichkeitsverständnis prägen und unsere Text- und Weltwahrnehmung beeinflussen. Er setzt dieses wiederum mit biblischen Texten in Verbindung und zeigt auf, wie diese etwa ein ganz bestimmtes Verhältnis von Einheit und Vielheit konstruieren.
Zwei Lehr-/Lern-Beispiele führen die hochschuldidaktischen Umsetzungsmöglichkeiten weiter aus: Norbert Brieden, Wuppertal, wählt das Thema des kreativen Visualisierens als didaktisch-hermeneutischen Weg und zeigt dieses am Beispiel der Erzählung vom Goldenen Kalb (Ex 32) aus. Er stellt fünf Funktionen vor, welche eine Visualisierung besitzen kann.
Alexander Schneider, Wuppertal, führt aus rezeptionsdidaktischer Perspektive einen exemplarischen Vermittlungsansatz zur Bildrezeption aus und wählt dazu John Everett Millais’ Ophelia (1851–52). Dabei legt er die Ikonik als methodische bzw. interpretatorische Klammer zugrunde.
Die beiden Rezensionen nehmen zu unterschiedlichen Themen bibelwissenschaftlicher Hochschuldidaktik Stellung. Zum einen wird der Sammelband Iconographic Exegesis of the Hebrew Bible / Old Testament. An Introduction to Its Method and Practice, den Izaak J. de Hulster u.a. herausgeben, kritisch gewürdigt. Die zweite Rezension beschäftigt sich mit Annett Giercke-Ungermann/Sandra Huebenthal (Hg.): Orks in der Gelehrtenwerkstatt? Bibelwissenschaftliche Lehrformate und Lernumgebungen neu modelliert.
Ein Interview mit Michael Bauks, einer der Begründerinnen des Internetportals wibilex.de, schliesst dieses Heft ab. Mit ihm blicken wir auf das folgende Heft voraus, das sich mit dem Thema Digital Humanities befassen wird.
Die nächste Tagung wird vom 04.–07. September 2017 in Frankfurt zum Thema Spracherwerb stattfinden.
Wien | Wuppertal Stefan Fischer und Thomas Wagner
Forum Exegese und Hochschuldidaktik Verstehen von Anfang an (VvAa)
Jahrgang 2 – 2017, Heft 1
Stefan Fischer, Florian Lippke und Thomas Wagner
Abstract | The importance of the visual world for the development and understanding of mental images is reflected in various stages within this article. Starting with a closer look to the characteristics of Egyptian and Ancient Near Eastern art the authors reflect on methodological aspects of how to interpret the images in their original environment. The meaning of aspective rendering for visual art, the relevance of a form-critical investigation of images, and the transformation of visual images in mental images are described firstly methodologically, and secondly in their reference to specific objects and in their relation to biblical texts.
Jeder, der sich mit der Interpretation biblischer Schriften beschäftigt, kommt um einige Grundlagen nicht herum: Die Kenntnis der ‚Parameter‘ der biblischen Welt ist von besonderer Wichtigkeit.1 Sowohl für die professionelle exegetische Arbeit, als auch für den privaten Bibelleser gilt: Wer die Bibel besser verstehen will, muss zuerst die Welt der Bibel kennen und verstehen. Dies gilt in historischer, kultureller, sozialer und realienkundlicher Hinsicht.2 Erst die Kenntnis der antiken Tier- und Pflanzenwelt (z.B. spezifisches Wissen über Löwe, Bär, Schlange, Mandelbaum und Getreidesorten) ermöglicht ein Verständnis vieler prophetischer Bildworte (insbesondere bei Amos, Ezechiel oder Jeremia).3 Im gleichen Sinn hilft auch eine solide landeskundliche Orientierung, viele Erzählungen im Pentateuch oder in den Evangelien besser zu ver„ort“en. Wer einmal den Weg von Jerusalem nach Jericho abwandern durfte, weiß: Die Gluthitze im Wadi Quelt4 (zwischen Jerusalem und Jericho), der Weg durch die trockene Wüstenlandschaft und die Verlassenheit von aller Zivilisation sind prägend für diese Gegend. Und so wird ein Wanderer, der die judäische Wüste gut kennt, den folgenden Gleichnisbeginn mit anderen Augen lesen als der europäische Großstadtbewohner: „Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho hinab. Unterwegs überfielen ihn Räuber. Sie nahmen ihm alles weg, schlugen ihn zusammen und ließen ihn halb tot liegen“ (Lk 10,30). Ein Verständnis der Verlassenheit und der Todesnähe steht dem Leser deutlich vor Augen, der mit den lokalen Gegebenheiten vertraut ist.
Theologisch gewendet – und bei manchen Auslegern mit einer gewissen Prise Frömmigkeit angereichert – kann das Land, der (imaginäre aber auch der mit der Wirklichkeit in Bezug stehende) Raum, als ‚fünftes‘ Evangelium, als Schlüssel für die biblischen Texte verstanden werden.5
Heilige Schriften kreieren immer eine Welt, die durch den Text präsent ist. In diesem Sinne etablierte sich der Begriff der Textwelt6 gut. Jedoch kann an diesem Punkt beim Verstehensversuch nicht pausiert werden. Der Text weist immer auch eine Referenz auf. Diese Referenz gilt der antiken Welt, in der er produziert wurde. Archäologische, epigraphische, kulturgeschichtliche, ethnographische aber in besonderem Maße auch ikonographische Befunde spielen für diese Textreferenz eine große Rolle.7 Wesentlich ist für ein solches antikes Verständnis der Text- und Realwelten das Modell der verbundenen Kultursphären.
Die antiken Hochkulturen (Ägypten, Mesopotamien, Anatolien) sowie die kenntnisreichen Vermittler zwischen ihnen (Phönizier, Philister, Aramäer, ostjordanische Gruppen, Israel und Juda in Palästina/Israel) haben an diesem kulturellen Kontaktnetz einen großen Anteil.8 Wenn Assyrer/Babylonier mit Ägyptern in Kontakt traten, so zogen sie stets durch den Bereich der sogenannten ‚Levante‘.9 Wirtschaftliche Interessen bildeten meist die Grundlage. Mit ihnen wurden aber auch die jeweiligen sozialen, religiösen und kulturellen Aspekte im Land präsent. Auf diese Weise kann man von Palästina/Israel als einem Reservoir der antiken Konzepte sprechen: Unterschiedliche Weltvorstellungen, Menschenbilder und theologische Grundlagen liegen zur Rezeption bereit. In dieser Hinsicht steht die Kultur Altisraels auf hohen zivilisatorischen Schultern. Texte und Bilder geben von dieser Tatsache Auskunft und liefern ein beredtes Zeugnis für Transformationsprozesse und aktualisierende Tendenzen. Antike theologische Positionen sind somit in einem ganz entscheidenden Maße abhängig von den natürlichen, materiell-zivilisatorischen und kulturellen Rahmenbedingungen – und können bei Vernachlässigung dieser Aspekte nicht umfänglicher verstanden werden. Die genannten Mechanismen bewirken, dass die Hebräische Bibel ihrem Charakter nach ein orientalisch-ägyptisches Buch ist, das durch viele Übersetzungsprozesse hindurch immer noch die alten Vorstellungen bewahrte.
Schriftgeschichtlich lässt sich dieser Prozess von den komplexen Schriften der Hochkulturen (in Keilschrift und Hieroglyphen) hin zum genial vereinfachten System der Konsonantenschriften nachzeichnen.10 Bildlich zeigen die Rezeptionen von pharaonisch-ägyptischer und assyrisch-babylonischer Kultur das Zusammenkommen und die Überlappungen der imperialen Mächte in der biblischen Welt an.11 Und auch inhaltlich lässt sich dieses Modell bestätigen: Wenn im Buch Deuteronomium Phrasen verwendet werden, die im Wortlaut an die assyrischen Vasallenverträge anknüpfen, dann birgt dies eine Einsicht über die theologisch-ideologischen Einflüsse auf die biblische Welt in sich.12 Solche Verträge wurden in den Stadtzentren ausgestellt und die Schriftkundigen wurden damit konfrontiert. Eine Umformulierung des assyrischen Inhalts auf das Verhältnis zwischen Israel und seinem Gott stellt eine solche religiöse theologische Transformationsleistung dar. Den beschriebenen Facetten kommt man allerdings nur bei konsequenter Berücksichtigung aller zur Verfügung stehenden historischen Quellen auf die Spur.13 Neben Texten gehören darum auch Bilder, archäologische Erkenntnisse und kulturwissenschaftliche Einsichten zum Interpretationsprozess hinzu.
Wenn das Verhältnis zwischen Texten und Bildern erforscht wird, so ist eine grundlegende Aussage immer häufiger als Ausgangspunkt in der Diskussion präsent: „Die Stärke des Textes ist die (historische) Präzision – die Stärke des Bildes ist die Konstellation.“1 Dies ist an einem einfachen Beispiel nachvollziehbar: Ein Text kann in beliebigem Maße historisch präzisieren. Datumsangaben und umfangreiche Details zur genauen Bestimmung sind ohne größeren Aufwand schriftlich integrierbar. Diese Präzision kann sehr weitreichend umgesetzt werden: In einem Roman wäre es möglich, jedem einzelnen Kopfhaar eine Bezeichnung zuzuordnen, zum Beispiel durch Namensgebung. Gleiches ist bei einem Bild nur sehr viel schwieriger durchführbar. Ein Bild besitzt immer auch Detailgrenzen, die nicht beliebig über- oder unterschritten werden können. Demgegenüber hat das Wort einen entscheidenden Mangel, wenn es um die Abbildungen von Verhältnissen zueinander geht. Eine Abbildung kann sehr gut verdeutlichen, wie zwei dargestellte Elemente zueinander im Verhältnis stehen. Dieses Verhältnis wird als Konstellation bezeichnet. Ein weiteres Beispiel kann dies verdeutlichen: Die extremste Form eines komplexen Konstellationsbildes ist ein Stadtplan.2 Hier werden auf jedem Zentimeter zahlreiche Verhältnisse unterschiedlicher Objekte zueinander festgehalten. Das Verhältnis einzelner Häuserblöcke, die Winkel, in denen Straßen aufeinandertreffen, Distanzen zwischen geographischen Punkten und Raumordnungen ganzer Quartiere – all dies begegnet in extrem verdichtetem Maß. Wenn man die Straßenkarte einer Großstadt komplett verbalisieren (verschriftlichen) wollte, müssten mehrere Buchbände mit Detailbeschreibungen gefüllt werden. Die Komplexität der Verhältnisse wird durch einen einzigen großen Stadtplan viel effizienter und nachvollziehbarer umgesetzt. In dieser Hinsicht wird die Stärke des Bildes, die in der Konstellation liegt, voll genutzt. Ein Text ist wiederum bei historischen Situationsbeschreibungen, die im Detail festgehalten werden sollen, im Vorteil.3
Wenn also die Stärke des Bildes in der Konstellation liegt, dann ist es notwendig, genau auf die Umsetzung solcher Konstellationen zu achten. Es stellen sich folgende Fragen:
Auf welche Art werden Konstellationen künstlerisch ausgeführt?
Welche Besonderheiten sind zu benennen?
An welchen Stellen besteht die Gefahr, einer anachronistischen Fehlinterpretation zu unterliegen?
Um diese Fragen zu ergründen, muss genauer nach der Darstellungsweise antiker Bildnisse gefragt werden. Als Ausgangspunkt kann die ägyptische Reliefdarstellung dienen.1 In deutlicher Weise treten bei diesen bildlich-kulturellen Äußerungen Darstellungskonzepte hervor, die auch in vielen weiteren Zentren des Alten Orients über Jahrhunderte hinweg in Geltung waren.2 Genauer ist damit auf die Darstellungsweise Bezug genommen, die man gewöhnlicher Weise als ‚typisch ägyptisch‘ bezeichnet.
Reliefs, die in Ägypten, aber auch in den großen Museen der Welt1 bestaunt werden können, weisen mehrheitlich eine besondere Körper- und Objektdarstellung auf: Sie wirken auf den ersten Blick seltsam verdreht. Dies gründet in einem Abbildungskonzept, welches nicht mit den ‚perspektivischen‘ Grundsätzen der modernen Bildkultur in Einklang zu bringen ist.2 Folglich wird nicht ein einziger Standpunkt eingenommen, von dem aus ein Objekt betrachtet wird. Vielmehr stellt das Bild eine Addition unterschiedlicher Blickrichtungen dar. Einige Interpretatoren sehen hierin eine Addition der Ansichten, andere legen Wert darauf, dass das Objekt mit seinen Eigenheiten im Zentrum steht. Ein Merkmal dieser Darstellungen kann offensichtlich nicht bestritten werden: Als Fotografie im heutigen Sinne, von einem Standpunkt aus, wären diese Simultanansichten bezüglich des betrachteten Objekts nicht gesamtheitlich wahrnehmbar.3 Die Stärke der ägyptischen Bilder liegt also in einer besonderen Art der Komposition. Einzelne Ansichten werden in Zusammenschau aufeinander bezogen. Entsprechend kann im Bildnis einer Person auch ein mehrfacher Ansichtswechsel erfolgen.
Während die Beine von der Seite, in Schrittstellung, dargestellt sind, erscheint der Oberkörper in Frontalstellung, so dass beide Schultern und auch Details der Brust sichtbar sind. Die Arme setzen wiederum nicht in Frontalansicht am Oberkörper an, in ihrem Verlauf (von der Schulter zur Hand) werden sie eher in Seitenansicht angefügt. Während der Kopf insgesamt von der Seite, also im Profil, realisiert ist, bleibt das Auge aber komplett sichtbar. Bei einer vollkommenen Seitendarstellung würde das Auge nur als Winkel, partiell, erscheinen. Im klassisch-ägyptischen Fall aber tritt neben die Profildarstellung des Gesichts die Frontaldarstellung des Auges. Diese ständigen Wechsel zeigen an, dass es um mehr als nur um eine einfache Ansicht geht. Mehrere Ansichten, in denen die Person bildlich in Szene gesetzt wird, treten zusammen bzw. simultan auf. Damit ist zugleich das Interesse an einer holistischen Gesamtwahrnehmung zum Ausdruck gebracht.
Die ägyptischen Künstler und ihre Auftraggeber hatten offensichtlich kein Problem, unterschiedliche Perspektiven in ein Bild einfließen zu lassen. Das Bildwerk wurde in einem Guss hergestellt und beinhaltet doch zahlreiche Facetten, die für ein rein perspektivisch geschultes Auge nicht ohne Weiteres in Einklang zu bringen sind.
Umzeichnung ÄFig 1998.4 (Kalksteinrelief 31,5 x 19 x 5,4 cm), Datierung: Ramses II. (1279–1213a) © Stiftung BIBEL+ORIENT Fribourg
Wandmalerei S. 14354 /15RCGE19072 01/00000986 (131,4 x 211 cm), VII-XI. Dynastie (2118–1980a), © Fondazione Museo delle Antichità Egizie di Torino
An dieser Stelle hat eine methodische Reflexion einzusetzen, die sich am ägyptischen Befund im Rahmen einer Mediengeschichte (zwischen Text und Bild) abarbeiten muss.1 Texte und Bilder sind, wie oben erwähnt, integraler Bestandteil der medialen Äußerungen der antiken Kulturen. Aus diesem Grund können methodische Einsichten der Text- oder der Bildinterpretation gegenseitig mit Ertrag aufeinander bezogen werden.2 Im skizzierten Beispiel (s.o. Abb. 1) wird deutlich: In einer bildlichen Darstellung, die in sich selbst keine substantielle Diachronie aufweist, können unterschiedliche Blickpunkte – so zum Beispiel auch Aufsicht (Vogelperspektive) und Ansicht (von der Seite) miteinander verbunden werden. Das bekannteste Beispiel einer solchen aspektiven Darstellung ist der mit Satteltaschen bepackte Esel (Abb. 2). Hier wird (grob gesprochen) die Seitenansicht des Tierkörpers mit der Vogelperspektive auf die Satteltaschen (von oben) kombiniert. Dreidimensional betrachtet ragen die Taschen nicht über den Rücken hinaus, sondern hängen an der Rückseite herab: Nicht-Sichtbares wird konzeptionell sichtbar gemacht. Dies wird in der Antike keinesfalls als Kohärenzstörung3 empfunden – jedes ägyptische Bildnis und viele orientalische Abbildungen verwenden diese Konvention ganz selbstverständlich. Vollkommen anders stellt sich die Sachlage in der Exegese biblischer Texte im 20. und 21. Jahrhundert dar. Hier werden Veränderungen der Perspektiven, Kombinationen unterschiedlicher Ansichten und Wechsel (von Personen, Standpunkten und Themen) als hochrelevante Kohärenzstörungssignale gedeutet.4 Sie zeigen angeblich an, dass ein diachrones Wachstum vorliegt und eigenständige, separate Teilstücke in einem Redaktionsprozess zusammengefügt würden. Mit welchem Recht wird so verfahren? Grundlage einer solchen Folgerung ist ein anachronistisches Verständnis des Textbegriffes, der mitunter deutlich von den antiken mediengeschichtlichen Grundlagen abweicht. Gerade die Kombination mehrerer Ansichten birgt einen Mehrwert, der planvoll schon auf synchroner Ebene Anwendung findet. Auch im Zweistromland – schon vor 4500 Jahren – war die aspektive Darstellungsweise verbreitet (Abb. 3): Seitendarstellung ist für die Köpfe und Beinpartien erkennbar, Augen und Brust-/Schulterbereich sind frontal dargestellt. Dass diese Einsicht auch für die biblische Literatur in Anschlag zu bringen ist, legt eine genaue Untersuchung der einzelnen Kapitel und Buchfolgen in der Hebräischen Bibel nahe.5 Schon zu Beginn des Kanons wird ein erster Schöpfungsbericht mit einem zweiten weitergeführt. Diese beiden lassen sich in inhaltlicher Hinsicht nicht perspektivisch in Einklang bringen.6 Vielmehr sind die vorgestellten Konzepte auf den ersten Blick zu unterschiedlich, als dass sie ein kohärentes Ganzes ergeben könnten. Wie müsste aber mit diesem Befund umgegangen werden, wenn nach ägyptisch-altorientalischem Vorbild das vorliegende Bauprinzip die Aspektive wäre? Entsprechend könnte eine Version des Schöpfungsberichts als Aufsicht, die andere möglicherweise als Ansicht charakterisiert werden. Mit einem Abgleich im Rahmen der antiken Medienbefunde schwindet die Schärfe des bisherigen Kriteriums zum Nachweis einer Kohärenzstörung. Mit anderen Worten: Es ist nicht zwingend nötig, die Beiträge zur Schöpfungstheologie, die Gen 1 und 2 darstellen, relativ-chronologisch weit auseinanderzuschieben, nur weil die beschriebenen Ansichtsschilderungen voneinander abweichen.7 Näher am Befund von Gen 1f. wäre eine Charakterisierung als ‚aspektive Annäherung‘ an ein Phänomen/Ereignis, das hinreichend komplex betrachtet werden muss, um ihm literarisch-künstlerisch (bzw. medial) gerecht zu werden. Ähnliche Situationen lassen sich für die Fluterzählung der Urgeschichte (Gen 6–8), das mehrfache Aufgreifen des Schilfmeer-Stoffes (Ex 13–15) und der Debora-Erzählung (Ri 4f.) attestieren. Einen neutestamentlichen Ankerpunkt findet die Idee von einer additiv holistischen Annäherung in der Überlieferungssituation der vier Evangelien.8 Mit guten Gründen kann behauptet werden, dass hier unterschiedliche Perspektiven auf ein wesentliches Ereignis im Hintergrund stehen: das Leben, Leiden, Sterben und die Auferstehung Jesu von Nazareth, der sich als der Christus erweist. Gerade um diesem komplexen Gegenstand literarisch Ausdruck zu verleihen, bedurfte es möglicherweise mehrerer Perspektiven, die nicht unmittelbar ineinander überführbar sind (Tatians Diatessaron und die apokryphe Evangelienliteratur liefern eindrückliche Beispiele für das Ringen um eine verlässliche theologische Position). Es ist folglich von großer Bedeutung, neben einer Wahrnehmung diachroner Indizien stets die methodische Rückfrage nach der Darstellungsweise und den zu Grunde liegenden Parametern in Text und Bild zu stellen. Unterbleibt dies, können diachrone Fehlinterpretationen den Blick auf eine facettenreiche künstlerische Kompositionstätigkeit9 verstellen. Der Exeget, der sich in erster Linie als Anwalt des Textes zu verstehen hat, kann solcher Art basale Fundamente der medialen Äußerung nicht einfach außer Acht lassen. Geschieht dies trotzdem, sind methodische Schieflagen vorprogrammiert (Florian Lippke).
Umzeichnung einer Reliefplatte aus Girsu (Tellō, Tell K), H 40; B 47, Paris, Louvre, AO2344, Datierung: FDIII/Ur I-Zeit (≈2500a), © Stiftung BIBEL+ORIENT Fribourg
Die Bildwelt, die der ägyptisch-orientalischen Kultur entspringt, ist aufgrund der unterschiedlichen lokalen Gegebenheiten und Traditionen sehr breit. Mit Bildern vermittelten ihre Produzenten mehr als das, was auf den ersten Blick zu sehen ist. So erfordert eine Deutung von Bildern eine genaue Beschreibung aller Aspekte, die mit der Bildproduktion und seiner Rezeption verbunden sind. Dies geht über die derzeit geläufige „vornehmlich deskriptiv-analytische Erforschung von Bildern und Bildkunst“1, die Gegenstand einer altorientalischen Ikonographie ist, hinaus. In Fortführung der Ikonographie fragt die Ikonologie nach Bildern als Symbolen einer Kultur. Sie untersucht die Bedeutung des einzelnen Bildes in seinem weiteren kulturellen Kontext. Neben einer ikonographischen Analyse setzt eine ikonologische Interpretation daher die „synthetische Intuition (Vertrautheit mit den wesentlichen Tendenzen des menschlichen Geistes)“2 voraus. Der symbolische Wert des Bildes wird als ein häufig unterbewusst in das Werk einfließender Faktor gewertet, der innerhalb der ikonologischen Analyse aufgezeigt und gedeutet wird. Erst durch diesen Prozess wird der eigentliche Gehalt des Bildes erkennbar.3