Bis dann, ich lieb dich - Tatjana Weichel - E-Book

Bis dann, ich lieb dich E-Book

Tatjana Weichel

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Beschreibung

Zehn Jahre Ehe, doch vom gemeinsamen Lebensglück sind nur zerbrochene Träume geblieben. Als Lara ihren Mann bei einer schwerwiegenden Lüge erwischt, trifft sie eine Entscheidung: Für ein halbes Jahr besteht sie auf einer Pause von der Ehe, um herauszufinden, ob sie überhaupt noch zueinander gehören. Doch während Ben ohne seine große Liebe strauchelt und sich selbst kaum erträgt, lebt Lara auf ... und sechs Monate sind eine lange Zeit.

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1. Auflage, 10/21

WRITER’S NOTES 1: Bis dann, ich lieb dich von Tatjana Weichel

ISBN: 978-3-96966-845-0

Tatjana Weichel, Quellenstr. 49, 53913 Swisttal

[email protected]

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Vervielfältigung und Verbreitung (auch in Ausschnitten) ist ausdrücklich untersagt.

Lektorat: Susanne Ertl

Korrektorat: Kristin Schöllkopf

Umschlaggestaltung: Constanze Kramer, www.coverboutique.de

Bildnachweise: ©olindana, jessicahyde – stock.adobe.com, ©Gile68 - depositphotos.com, ©Kindlena - shutterstock.com, ©BiZkettE1 - freepik.com, rawpixel.com

Buchsatz: Kim Leopold, www.ungecovert.de

eBook-Formatierung von Rajkumar Natarajan bei Sky Global Services India (P) Ltd.

Druck: booksfactory.de, Print Group SP. z. o.o., Szczecin, Polen

Vertrieb: Nova MD, Traunstein, Deutschland

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

www.dnb.de abrufbar.

Gedruckt auf 100 % Recyclingpapier.

Trau dich einfach mal was.

Lara

Du bist genau der heiße Typ, den ich jetzt brauche.« Lara tastete nach ihrem Handy auf dem Nachttisch. Sie musste dringend ihre Gedanken notieren.

»Hrrrm. Das höre ich gern, es ist viel zu lange her«, raunte Ben und schob sich näher an sie.

Lara zuckte zusammen. »Wieso schläfst du nicht?«

»Du hast mich geweckt. Nicht schlimm ... ich freu mich.« Er legte seine Hand auf ihren Bauch und streichelte sich langsam tiefer. Sein warmer Atem traf ihren Hals, im nächsten Moment spürte sie, wie er kitzelnd über diese Stelle leckte.

Verdammt. Da hatte er aber gründlich was missverstanden.

»Schatz, bitte ... ich wollte nur was aufschreiben.« Sie hielt seine Hand fest, bevor sie in Regionen tauchen konnte, die gerade nicht dafür empfänglich waren.

Er hielt inne. Mit allem. »Etwas ... aufschreiben?«

Lara rückte von ihm ab, wollte ihren Gedanken nicht verlieren. So lange hatte sie darüber nachgedacht, Bilder recherchiert, in der Stadt Menschen beobachtet.

Sie griff nach ihrem Telefon. »Nur kurz, für meine Geschichte.«

Ben ließ sich zurück auf seine Bettseite fallen. »Das ist jetzt nicht dein Ernst.«

Lara ignorierte ihn und hielt sich das Handy vor ihr Gesicht, Face ID, eine praktische Sache. Sie rief die Notizen-App auf und schrieb ein paar schnelle Stichpunkte hinein. Dann legte sie das Telefon wieder zur Seite. »Schon fertig. Ich wollte dich nicht wecken. Aber ich hatte da einen Gedanken und ...«

»Mit dem heißen Typen war also nicht ich gemeint«, stellte er fest.

Lara fühlte verlegen die Hitze an ihrem Hals hochsteigen, genau da, wo Ben sie eben noch liebkost hatte. Doch ihr Körper sprang nicht an, viel zu müde war sie, viel zu sehr in Gedanken ganz woanders. Sie drehte den Kopf zu ihm. »Es war nur was für meine Geschichte. Lass uns schlafen.«

Aber Ben dachte nicht daran. Er machte das Licht auf seinem Nachttisch an, setzte sich auf und sah ihr in die Augen. »Dir ist eben ein Mann eingefallen. Mitten in der Nacht. An wen hast du gedacht, Lara?«

Mitten in der Nacht? Lara stieß die Luft aus. Sie waren eben erst ins Bett gegangen, es war noch nicht einmal Mitternacht. Sie zog die Bettdecke höher und kuschelte sich darin ein. Es war sinnlos, mit Ben darüber zu reden, was da passierte in ihrem Kopf, sie verstand es ja selbst nicht einmal richtig. Die Ideen kamen zu den unmöglichsten und seltsamsten Zeitpunkten. Was ja nun wieder einmal bewiesen wäre.

»Ich hatte nur ein Bild im Kopf«, versuchte sie zu erklären, »einen Mann, der zu meiner Protagonistin passen würde. Es ist niemand, den ich kenne, er ist nur ein abstraktes Bild, aber bisher passte das alles nicht, und nun-«

»Wie sieht er aus?«, unterbrach er sie erneut.

Lara runzelte die Stirn. Für wirkliches Interesse war seine Stimme einen Hauch zu scharf und sein Unterton ein wenig zu zickig. »Bist du eifersüchtig? Du spinnst doch.«

»Wie sieht er aus, Lara?« Seine Stimme wurde gefährlich leise. Sie kannte diesen Tonfall, sie hatte den noch nie an ihrem Mann gemocht.

Für einen Wimpernschlag schloss sie die Augen. »Groß, um die vierzig, dunkle Haare, blaue Augen, grauer Haaransatz, Bart.« Sie blickte wieder hoch zu Ben. Er war einunddreißig, dunkelblond, mit braunen Augen und meistens glattrasiert.

Und bevor sie wegschauen konnte, hatte er ihre Gedanken gelesen: Er war nicht das Vorbild für ihre Geschichte, nicht der Mann, den sie sich nachts vorstellte. Und sei es nur für eine Geschichte.

Er verzog kurz das Gesicht, dann drehte er sich um und machte das Licht aus.

Lara biss sich auf die Unterlippe. Sacht legte sie die Hand an seinen Rücken. »Ben ...«

»Lass uns schlafen.«

»So war das nicht gemeint.«

Er antwortete nicht mehr, und Lara, die ihren Mann ihr ganzes Leben lang kannte, wusste, dass sie jetzt nichts mehr aus ihm herausbringen würde. Ben konnte sehr gut schweigen.

»Wir haben gewonnen, Lara. Gewonnen! Das ist so krass. Niemeyer war völlig von den Socken.« Ben setzte sich an den Esstisch, zog den Stuhl heran und schöpfte ihnen beiden vom Essen auf. »Schatz, das könnte eine Gehaltserhöhung bedeuten, das ist ein riesiger Auftrag. Und es ist meine Bewerbung!«

Er sprudelte förmlich vor Begeisterung, seit er von der Arbeit gekommen war, das Schweigen schien vergessen, und so ein bisschen steckte sie das an. Lara lächelte, während sie Wasser in ihre Gläser goss und Ben aufmerksam zuhörte.

»Das klingt echt gut. Herzlichen Glückwunsch! Und wie geht es nun weiter?« Lara wusste, wie wichtig Ben sein Job war. Nach dem Konkurs hatte sie gedacht, er würde nie wieder auf die Füße kommen, doch diese neue Firma hatte ihn gerettet – und ihre Ehe vermutlich auch.

»Niemeyer hat uns für Freitag ins Blue eingeladen. Ihm ist nach feiern, sagte er.«

»Freitag? Diesen Freitag?« Lara ließ ihr Besteck sinken und sah ihren Mann an. Seine Haare waren akkurat nach hinten frisiert, die Krawatte gelockert. Auf dem grauen Hemd prangte ein roter Spritzer.

»Genau, das wird cool. Er will mit uns besprechen, wie die weitere Planung aussieht und wer was machen darf.« Ben strahlte sie an.

Doch Lara war nicht zum Strahlen zumute.

»Am Freitag ist meine Feier. Ich ... du hast es vergessen?« Ihre Stimme zitterte gefährlich. Verdammt, das konnte er doch nicht ernst meinen. Lara fühlte die Wut hochsteigen, doch zuerst kamen wie immer diese verräterischen Tränen.

Ben wurde blass. »Ach, Mist.« Er legte seine Hand auf ihre. »Schatz, es tut mir leid, ich mach’s wieder gut, ja?«

Lara schluckte all die aufkommenden Gefühle runter und konzentrierte sich zwei, drei tiefe Atemzüge lang. Dann blickte sie ihm in die Augen.

»Wie meinst du das, du machst es wieder gut? Du sagst das doch ab, oder?« Sie entzog ihm ihre Hand, richtete sich auf. Er sollte bloß nicht meinen, dass sie einknicken würde. Sie konnte nicht fassen, dass er wirklich die Party zu ihrem 30. Geburtstag vergessen hatte. Wegen seines Jobs. Mal wieder.

Ben kniff die Lippen zusammen. »Du verstehst das nicht. Ich kann das nicht absagen. Wir sind auch explizit mit Frauen eingeladen. Können wir deine Feier nicht auf Samstag verschieben?« Er nahm einen Schluck aus seinem Glas, und nur an seiner betont lässigen Miene sah Lara, dass er angespannt war.

Doch sie würde nicht darauf eingehen. Diesmal nicht.

»Wir wollten reinfeiern, und ich kann doch nicht vierzig Leuten sagen: Ach, kommt doch einen Tag später.«

Ben seufzte. »Niemeyer reist extra aus Hamburg dafür an. Ich ... was soll ich denn machen?«

Lara sank in ihrem Stuhl zurück und betrachtete ihn. Er schien das wirklich ernst zu meinen, und sie wusste nicht, wie sie damit nun umgehen sollte.

Ben arbeitete seit wenigen Jahren als Angestellter in einem Architektenbüro und hatte dort rasant Karriere gemacht. Vor einiger Zeit hatte sein Chef Werner Niemeyer ihm den Entwurf für einen Wettbewerb anvertraut, ein großes Projekt an der Nordsee. Das und der Job an sich brachten mit sich, dass Bens Geschäftstermine manchmal so ungünstig und kurzfristig organisiert waren, dass schon das eine oder andere Mal ihr Privatleben darunter gelitten hatte. Der Preis für diesen guten Job, für die Chance, die sich damals aufgetan hatte. Doch jetzt sollte das Opfer ihr Geburtstag sein, und das ging dann doch zu weit.

»Dann musst du ohne mich hingehen, und ich muss ohne dich feiern.« Sie fühlte erneut Tränen aufsteigen, zwang sich jedoch, Bens Blick standzuhalten.

Ben sah sie bittend an, er beugte sich über den Tisch und griff noch einmal nach ihrer Hand. »Dein letztes Wort? Bitte, Lara, wir könnten doch wenigstens rumfragen, ob die Leute auch am Samstag Zeit haben, es ist immens wichtig für mich, ich ...«

Sie zog ihre Hand erneut weg, enttäuscht, dass er den Termin nicht absagte, es nicht einmal versuchen wollte. »Mein letztes Wort. Du könntest ja auch deinen Chef fragen, ob es wann anders geht.«

Er sah ebenso enttäuscht aus, als er sie für einen Moment schweigend ansah, fast schien es, als wollte er noch etwas erwidern, doch dann rückte er den Stuhl zurück, stand auf und ging aus der Küche. Kurz danach hörte sie die Haustür zufallen.

Lara schob ihren Teller zur Seite, die Tränen schossen ihr nun ungehemmt in die Augen.

Sie konnte nicht mehr zählen, wie oft Ben ihre Pläne durcheinandergebracht hatte mit seinen spontanen, so unfassbar wichtigen Geschäftsterminen. Niemeyer hier, Scholz da. Doch das Wochenende, ihr Geburtstag – dass er den vergessen hatte, zog ihr regelrecht den Boden unter den Füßen weg. Wann war ihm seine Arbeit so viel wichtiger geworden? Wann sie so unwichtig?

Und sie verstand nicht? Verstand er denn noch?

Ben war die Liebe ihres Lebens. Dessen war sie sich so lange so sicher gewesen. Immer hatten sie Seite an Seite gestanden, hatten gekämpft um ein gutes Leben, nächtelang geträumt von der Zeit, in der sie genug Geld haben würden, das Leben zu leben, das sie sich wünschten. Doch das schien lange her. Derzeit kämpften sie auch, aber jeder für sich, und ihre Träume träumten sie wohl auch nicht mehr gemeinsam. Sie redeten ja nicht einmal mehr.

Sie schwiegen, als Ben nach Hause kam.

Sie schwiegen, als sie nacheinander das Bad benutzten, um ins Bett zu gehen.

Sie schwiegen beim Einschlafen, beim Aufwachen, beim Kaffeekochen und beim Aus-dem-Haus-Gehen.

»Wir reden einfach nicht mehr miteinander. Also, nicht nur jetzt, wegen der Party. So generell. Keine Ahnung, wann das aufgehört hat.« Lara stocherte in ihren Pommes herum, schob den Teller zur Seite.

Marleen, beste Freundin seit der Verschwesterung im Kindergarten, schnappte ihn sich sofort und zog ihn zu sich. Fragend blickte sie Lara an, die abwinkte und zusah, wie Marleen die Pommes jeweils erst in ihre Eiscreme tunkte und dann aß.

Sie erschauderte und wandte sich ab. Sie würde sich nie an Marleens Essgewohnheiten gewöhnen.

»Sein Job ist ihm halt wichtig.«

»Ich sollte wichtiger sein, findest du nicht? Ausnahmsweise mal?« Lara musterte ihre Freundin, die frisch vom Friseur kam und sich auf ein spontanes Mittagessen in einem Fast-Food-Restaurant mit ihr getroffen hatte.

»Klar.« Marleen sah sie eindringlich an, und Lara fühlte sich durch den Blick provoziert: Verlass ihn doch, los, such dir wen anderen. Sie schüttelte den Gedanken ab. So dachte Marleen bestimmt nicht.

»Feier ich halt ohne ihn. Ich werde es nicht absagen.« Lara war sich nicht sicher, ob das wirklich die richtige Entscheidung war. Sie freute sich auf den Abend. Zumindest hatte sie das, bis jetzt. Aber ohne Ben ...

»Du bist ihm wichtig. Das weißt du, oder?« Marleen hielt inne, obwohl sie sich gerade ein Pommes in den Mund stecken wollte. Karamellcreme lief an dem Kartoffelstick herunter.

»Wie kannst du so was essen?« Lara deutete mit dem Kopf auf Marleens Hand.

»Lenk nicht ab.« Marleen biss demonstrativ ab. »Du weißt es, oder? Das mit dem Job. Er tut das für euch. Für dich, euer Haus, eure Kinder. Eure Zukunft.«

Lara schnaubte. »Welches Haus und welche Kinder?« Sie hatten keine, und derzeit versuchten sie es auch nicht einmal mehr. Ein Haus auf dem Land hatten sie auch gewollt. Wünsche hatte es viele gegeben, jetzt gab nur noch die Realität.

»Lara, jetzt ist doch mal gut. Deine Enttäuschung in allen Ehren, aber Selbstmitleid ist echt nicht angebracht. Du wirst dreißig, nicht vierzehn. Du wirst es doch wohl hinbekommen, deinen Geburtstag ohne deinen Kerl zu feiern. Es ist blöd, ja, verstehe ich, aber es ist auch kein Weltuntergang. Ich wünschte, ich hätte noch einen Mann, über den ich mich mal ärgern könnte.« Marleen sah sie ernst an, jedwede Belustigung war aus ihrem Gesicht verschwunden.

Lara schämte sich sofort. Es war nicht richtig, sich Marleen gegenüber über Ben zu beschweren. Marleen hatte ihren Mann viel zu früh verloren und nicht einmal Zeit gehabt, Ärger über ihn zu entwickeln. Vielleicht war es überhaupt nicht richtig, sich zu beschweren. Es ging ja auch nicht wirklich um den Geburtstag, sondern darum, wie egal sie geworden war, ihre Beziehung, ihre Zukunft. Hatten sie eine? Sie seufzte.

»Du hast mich doch letztens gefragt, was ich mir zum Geburtstag wünsche. Also, falls du noch nichts hast: Schenke mir ein Wochenende Zeit mit dir. Nur wir zwei, irgendwo schön ausgehen, Wellness, schwimmen. Das würde mir gefallen.« Sie zog Marleen den Teller wieder weg, um das letzte Pommes selbst zu essen.

Die Worte ihrer Freundin begleiteten sie den ganzen Nachmittag über. Sie sorgten dafür, dass Lara sich mehrfach dabei ertappte, wie sie gedankenverloren auf den Monitor starrte, ohne die Arbeit wahrzunehmen, die sie eigentlich erledigen musste. Es war ein ruhiger Nachmittag. Mittlerweile wussten die Kunden, dass Tom Seidler, Geschäftsführer und ihr Chef, dienstags nur vormittags arbeitete. Die Anrufe ließen ab der Mittagspause rapide nach. Für gewöhnlich nutzte Lara diese Zeit, um die Woche zu organisieren. Zu ihren Aufgaben als Office Managerin gehörte es unter anderem, Einladungen zu verschicken, anzunehmen oder abzusagen, die Termine ihres Chefs mit ihren eigenen zu synchronisieren und Restaurants oder Events für diese Meetings zu buchen. Heute war sie zu unkonzentriert dafür, und nachdem sie Tom für einen Abend an zwei verschiedenen Stellen der Stadt zu Verabredungen verplant hatte und eine davon wieder absagen musste, gab sie es auf.

Er tut das für euch. Für dich, euer Haus, eure Kinder. Eure Zukunft. Tja, das mochte ja durchaus sein, dennoch hatten sie nichts davon. Weder Haus noch Kinder. Für beides hatte es noch nicht gereicht. Beim Haus fehlte das Geld, bei den Kindern – wenn man das mal wüsste.

Es war nicht so, als hätten sie es nicht versucht. Das hatten sie. Oft sogar. Reichlich. Geplant und ungeplant. Doch in den ersten Jahren ihrer Ehe war Lara nicht schwanger geworden, in den Jahren danach sorgte sie dafür, dass sie es nicht wurde. Der Konkurs vor einigen Jahren hatte alles an Zukunftsträumen zunichtegemacht. Und nun war es halt so.

All das nagte an ihr. Anfangs nur so ein bisschen, doch dann spürte sie den Druck in Form ihres Kinderwunsches immer mehr, immer deutlicher, immer schmerzhafter. Es war ihr Lebenstraum gewesen, jung Mutter zu werden, mit Ben und Kindern und Tieren auf dem Land zu leben, die Freiheit im Nacken, Augen und Sinne weit geöffnet. Doch Ben stand ihr im Weg, so sehr sie ihn auch liebte, so klar sie ihn als Vater ihrer Kinder sah, und nur ihn, ohne jeden Zweifel.

Mit dem Konkurs hatten sie verpasst, ihre Träume wieder anzugleichen. Sie waren gestolpert, ach was, nicht nur gestolpert. Ben war böse gestürzt und hatte sie mit in den Abgrund gezogen, denn so war das, wenn man einander ein Versprechen gab. In guten wie in schlechten Zeiten, doch wenn es mehr gute Zeiten gegeben hätte, vielleicht hätte es die schlechten besser aufgefangen. Jetzt blieb die Frage, ob es noch gemeinsame Träume gab. Neben den Sorgen, die eigentlich kaum noch welche waren und mittlerweile Alltag hießen.

Was, wenn sie einfach nicht mehr das Gleiche träumten?

Das Telefon riss Lara aus ihren Überlegungen, sie meldete sich und zuckte zusammen, als sie die Stimme ihres Chefs vernahm. Sogleich setzte sie sich aufrecht hin, die rechte Hand suchte instinktiv nach einem Kugelschreiber, denn Tom rief nicht einfach so an – irgendwas gab es zu tun.

»Lara, sei so gut, und schau mal, ob du für Freitag noch einen Tisch für sechs im Landgasthof reservieren kannst. Ich habe Whitman endlich erreicht und noch einen Termin bekommen.«

»Wow, das ist prima, ich rufe da direkt an. Warte, hast du Freitag gesagt?«

»Hab ich. Spreche ich neuerdings undeutlich? Was ist denn? Ich muss zurück in das Meeting, ich bin offiziell nur auf dem Klo.« Er klang ungeduldig, und Lara biss sich auf die Unterlippe. Sie hasste es, wenn er diesen Ton anschlug, denn Tom war nicht nur ihr Chef, sondern auch ihr bester Freund. Sie hatte ihn mehr als einmal beim Pinkeln gesehen, da sollte er jetzt mal nicht so tun.

»Ich kann Freitag nicht, kann dich Jenny begleiten?« Ihre Stimme klang belegt, sie wusste, dass es nicht an Tom lag, der musste nun wirklich nicht ihren Geburtstag im Kopf haben. Aber direkt nach gestern fiel es ihr schwer, das Thema unbeschwert anzuschneiden. Jenny war seine Freundin, sie ging zwar nie auf seine Veranstaltungen mit, aber vielleicht ...

Lara wartete auf Toms Reaktion, während sie ihren gemeinsamen Kalender aufrief. Auf den hatte Tom natürlich auch Zugriff, er bevorzugte es aber trotzdem, sie für Termine anzurufen. An guten Tagen kam sie sich deshalb unglaublich unersetzbar vor.

»Jenny? Nein, sorry. Es geht ihr nicht so gut, ich brauche dich dabei. Außerdem bringt Whitman seine Frau mit, du weißt schon, die Bestsellerautorin. Du hättest guten Gesprächsstoff mit ihr, das würde Whitmans Laune deutlich heben.«

»Tom, du hast am Freitagabend eigentlich keine Zeit. Ich hab ... ich feiere doch meinen Geburtstag.« Sie brauchte all ihren Mut, diesen Einwand auszusprechen, deshalb zitterte ihre Stimme deutlich. Sie hörte selbst, wie weinerlich sie klang. Lara presste die Finger der freien Hand auf ihre Augen und hoffte, sie würde jetzt nicht komplett die Fassung verlieren.

Das ging so nicht, sie musste dringend mit Ben sprechen. Es nahm sie viel zu viel mit, dieses Thema. Dabei war es doch bloß so ein blöder runder Geburtstag.

»Scheiße, daran hab ich nicht gedacht. Ich meld mich wieder.«

Irritiert starrte Lara auf das Display. Tom hatte einfach aufgelegt.

Was hatte das denn nun zu bedeuten? Sie legte das Telefon zur Seite und rieb sich über das Gesicht. Warum war sie bei diesem Thema so empfindlich? Niemand wollte ihr was, niemand wollte ihr weh tun, und doch fühlte es sich so an.

Einige Minuten später klingelte das Telefon erneut, wieder war es Tom. »Ich habs verschieben können, direkt am Montag dann. Sag den Club mit den Brüdern ab, das mit Whitman ist wichtiger. Und sorry noch mal.«

Lara konnte nichts dagegen tun, aber diese Worte lösten alle Dämme in ihr.

Ihr bester Freund – ihr Chef – hatte seinen Termin verschoben. Wegen ihres Geburtstages.

»Bist du noch dran? Lara? Heulst du?«

Eine Antwort konnte sie ihm nicht geben, und er verlangte auch keine. Für einen kurzen Moment hörte er ihr beim Weinen zu, während sie krampfhaft versuchte, ihre Fassung wiederzuerlangen.

»Geht ... geht schon ...«

Tom seufzte. »Ich bin nur noch von heulenden Frauen umgeben. Irgendwas mach ich falsch in meinem Bemühen, ein cooler Typ zu sein.«

Lara zog die Nase hoch. »Wie meinst du das?«

»Erzähl ich dir später. Mach Feierabend, Süße, wir sehen uns morgen früh. Ich bring Brötchen mit, und dann reden wir. Aber mach das für Montag noch klar, und suche bitte was Gutes aus. Ich muss Whitman beeindrucken. Da lassen wir uns nicht lumpen.«

Sie versprach es ihm. Sie würde ihm jetzt alles versprechen – und wenn sie im Landgasthof dafür bezahlen musste, einen Tisch zu bekommen. Sie war verdammt gut in ihrem Job, sie würde Tom einmal mehr beweisen, wie gut. Und sie würde sich ein neues Kleid für diesen Abend kaufen, damit er keinen Grund hatte, auch nur ansatzweise an ihr zu zweifeln. Bester Freund hin und her, er war immer noch ihr Chef.

Und sie würde mit Ben reden. Er war der wichtigste Mensch in ihrem Leben, er musste verstehen, dass seine Gleichgültigkeit sie verletzte, und jetzt, durch Toms Reaktion, hatte sie auch einen Gesprächsanfang.

Sie machte Feierabend und fuhr nach Hause, arbeitete an ihrer neuen Geschichte, aß zu Abend, überredete sich zu Yoga, telefonierte mit Marleen, danach mit ihrer Mutter, und hatte drei Seiten geschrieben, als die Haustür aufging und Ben nach Hause kam – weit nach zweiundzwanzig Uhr.

Lara klappte den Laptop zu. Sie hatte im Wohnzimmer gesessen statt wie sonst in ihrem Büro, um nicht den Eindruck zu vermitteln, sie würde sich abschotten. Das wollte sie ja nicht, sie hätte gerne mit ihm gesprochen. Doch jetzt war es so spät, dass es auch keinen Sinn mehr machte.

»Hi«, begrüßte er sie überrascht, als sie in den Hausflur kam. Er ließ seine graue Sporttasche auf das Sofa fallen und zog Jacke und Schuhe aus, bevor er sie unschlüssig anschaute. »Ich war noch im Studio«, erklärte er.

»Das sehe ich«, antwortete sie und deutete mit dem Kopf auf seine Tasche.

Ben lächelte, doch das Lächeln war verhalten. »Mhm. Ich ... ich geh duschen und dann ins Bett. War ein langer Tag.« Er nahm die Tasche und drängte sich an ihr vorbei.

Aus einem Reflex heraus hielt Lara ihn am Arm fest.

Er blieb stehen und wandte ihr sein Gesicht zu. Seine dunklen Augen fixierten sie, er wartete, was sie noch wollte, doch ihr fiel nichts ein. Ihr fehlten die Worte. Sie hatte dem Mann, mit dem sie seit so ewigen Zeiten lebte, nichts zu sagen.

»Okay«, flüsterte sie also nur.

Kurz zogen sich seine Augenbrauen zusammen, bevor er endgültig im Schlafzimmer verschwand.

Ben

Er tat so, als würde er schon schlafen, als Lara einige Minuten nach ihm ins Bett kam. So wie sie vorher keine Worte hatte, hatte er jetzt keine. Dabei gab es sicher genug, was gesagt werden musste.

Ben hätte ihr erzählen können, dass er versucht hatte, den Termin zu verlegen. Doch Frau Bauer, Niemeyers Sekretärin, hatte ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass das keine gute Idee sei. Das war ein ärgerliches Dilemma, aber sooft Ben die beiden Termine auch in die Waagschale warf: Das Geschäftsessen wog immer mehr. Lara das zu erzählen wäre allerdings unklug, obwohl sie seine Bemühungen vielleicht sogar geschätzt hätte. Geändert hätte es aber nichts, sie hätte trotzdem von ihm erwartet, an ihrem Geburtstag anwesend zu sein. Also schwieg er, wie so oft. Ihm war bewusst, dass Schweigen mehr Normalität geworden war als reden. Es fehlte ihm, dass seine Frau seine beste Freundin war, allerdings fehlte ihm auch, dass seine Frau seine Geliebte war, und irgendwie gehörte eins zum anderen. In schlechten Momenten fragte er sich, ob sie einen Liebhaber hatte, in noch schlechteren, ob er sich selbst mal was anderes suchen sollte.

Beides war keine Option.

Allerdings hatte er auch keine Idee, wie sie aus dieser Situation herauskommen sollten. Er verstand Lara so oft nicht. Er verstand nicht, wieso ihr mitten in der Nacht ein anderer Mann einfiel, einer, der ja angeblich nur für ihre Geschichte sein sollte. Ihre Geschichte. Er hatte noch nie ein Wort von dem lesen dürfen, was Lara schrieb. Es war ihr alleiniges Hobby.

Wenn ich mal was fertig habe, zeige ich es dir, hatte sie gesagt, wann immer er sie danach gefragt hatte. Irgendwann hatte er nicht mehr gefragt.

So war das schon immer gewesen. Ein Nein war ein Nein, für immer und ewig. Ein Ja hingegen wurde ständig hinterfragt.

Er schlief schlecht in dieser Nacht, viel zu dunkel waberten seine Gedanken. Er hörte Lara atmen, roch ihren Duft, ignorierte seine Erregung. Es sollte gerade nicht sein. Sie waren kein Paar derzeit, sie wohnten nur zusammen.

Weit vor dem ersten Weckerklingeln stand Ben auf. Joggen half noch immer gegen trübe Gedanken.

Leise zog er die Schlafzimmertür hinter sich zu, um Lara nicht zu wecken, und ebenso leise verließ er das Haus, in dem sie lebten. Sofort traf ihn dermaßen kalter Wind, dass er bereute, sich nicht wärmer angezogen zu haben, doch die Frische des Januarmorgens weckte alle Geister in ihm. Sie rangen miteinander, die Geister, doch am Ende der Runde durch das noch schlafende Viertel waren alle bösen vertrieben, und die guten rieten ihm, einfach mal wieder etwas zu tun, das längst in Vergessenheit geraten war.

Er duschte, danach kochte er Kaffee und bereitete Toast zu. Als Lara in die Küche kam, auch früher als sonst, empfing er sie gut gelaunt und mit einem ehrlichen Lächeln. Er sah die Überraschung in ihrem Gesicht.

»Guten Morgen, Schatz. Ich dachte, wir frühstücken mal wieder zusammen. Hunger?« Er ging auf sie zu, um sie in die Arme zu nehmen, und sie ließ es zu, schmiegte sich für einen kurzen vertrauten Moment an ihn.

»Du hast Frühstück gemacht?«, fragte sie nach, als ob sie nicht glauben konnte, was sie da sah.

So lange war das letzte Mal nun auch nicht her. Oder?

»Hab ich. Kaffee ist fertig, und das Rührei ... wooooooah!« Er hechtete zum Herd, um die Pfanne von der heißen Fläche zu ziehen. »Mist. Es sollte nicht so fest werden, aber hey, immerhin ist nichts angebrannt.«

Lara lachte leise und nahm die Teller mit Aufschnitt und Käse. Gemeinsam setzten sie sich an den Esstisch. Ben hatte sogar einen kleinen Strauß Winterblüher aus dem Garten gepflückt. Das sah Elly, seine Schwiegermutter, zwar gar nicht gerne, denn sie vertrat die Meinung, dass Blumen in die Erde gehörten und nicht in die Vase, aber heute Morgen war ihm das egal gewesen. Er hatte sich fest vorgenommen, seinen Teil dazu beizutragen, dass diese Ehe wieder lief. Da waren geklaute Blumen wohl vertretbar.

Lara legte eine Hand auf seine. »Danke. Das ist wirklich lieb.« Sie lächelte ihn an, dann beugte sie sich zu ihm und küsste ihn auf die Wange. »Was liegt bei dir an heute?«

Zufrieden nahm er sich eine Scheibe Toast und schichtete Schinken und Ei darauf, danach bestrich er eine zweite mit Butter und legte sie als Deckel obendrauf. Er war froh, dass Lara auf seinen Versöhnungsversuch einging. »Ich muss zur Baustelle, danach haben wir Teamsitzung. Heute Abend wollte ich mit Karsten zum Badminton, komm doch mit.«

Karsten, sein bester Freund seit Schulzeiten und er waren lange nicht beim Sport gewesen. Eine Weile hatten Sandra, Karstens Frau, und Lara sie begleitet, doch dann war Sandra schwanger geworden, und die Männer waren nur noch allein gegangen.

»Ne, keine Lust. Ich wollte ein wenig schreiben. Aber ich koche dann was.« Sie warf ihm einen Blick zu, er wich aus. Sollte er das Thema echt auf den Tisch bringen?

Er lehnte sich zurück, während er aß, und musterte seine Frau. Sie hatte die langen, braunen Haare nachlässig hochgebunden, trug eine ihrer unzähligen Yogahosen und – wie er mit einem warmen Gefühl im Bauch bemerkte – seinen eigenen Lieblingshoody.

»Worüber schreibst du?« Vielleicht musste eine harmlose Frage zum Einstieg reichen.

In einer unsicheren Geste strich Lara sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. »Oh. Ich ... also meistens bloß Liebesgeschichten.« Ihre Wangen röteten sich etwas, und verlegen sah sie ihn an. »Kennenlernen, Zusammenkommen, so was halt.«

»Und wie kommst du darauf?« Er fragte sich, wie das so funktionierte. Seine Fantasie, wenn es um solche Situationen ging, würde sich vermutlich auf sehr direkten, sexuellen Kontakt beschränken, und wenn das bei Lara auch so war, war er nicht sicher, ob er das gut fände. Die Gedanken waren frei, sagte man, und er nahm sich nicht davon aus. Attraktive Frauen fielen ihm auf, und schon manches Mal hatte er den einen oder anderen Gedanken gehabt, doch dabei blieb es dann auch. Er war verheiratet, und seine Ehe nahm er ernst.

Was, wenn Lara das anders sah? Wenn sie mehr erträumte, mehr erhofft hatte? Sie hatten recht früh geheiratet, auch wenn sie sich das gut überlegt hatten. Bereute sie ihre Entscheidung? Vermisste sie etwas in ihrem Leben? Das wäre für ihn eine Katastrophe.

Denn er hatte ihr seins verschrieben.

»Das ist ... ich weiß nicht. Ich kann das nicht gut erklären. Ich sehe Situationen oder Menschen und habe eine Geschichte im Kopf.« Sie zuckte mit den Schultern und zog ihre Füße auf den Stuhl, um ihre Arme darauf aufzustützen. Mit beiden Händen umfasste sie ihre Tasse. »Und dann versuche ich sie in einen Plot zu basteln.«

»Plot?«

»Handlungsstrang. Das Grundgerüst der Geschichte. Was passiert, was will ich sagen, worum geht es?«

»Ach so. Und wieso hast du dann immer Liebesgeschichten im Kopf? Was ist mit Fantasy? Zwerge, Elfen, geile Orks?« Ben war ein großer Herr-der-Ringe-Fan, das würde ihm mehr zusagen als bloß Schmöker.

Lara verzog das Gesicht. »Das ist nicht so meins. Der Weltenaufbau fantastischer Geschichten ist zu kompliziert für mich. Da setzt mein Kopf aus. In Ansätzen kann ich das, da kommen sogar Ideen, aber wenn ich mir vorstelle, das auszubauen ...« Sie winkte ab. »Es gibt Autoren, die haben fünfzig, sechzig Seiten nur Weltenbau. Das krieg ich nicht hin.«

»Aber bei Liebesgeschichten, wieso fällt dir dazu was ein? Da musst du doch auch eine Welt bauen, um die Leute drum herum.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Das ist einfacher. Das ist Alltag, den ich baue, da kann ich mich reindenken.«

Ben verschränkte die Arme vor der Brust. Obwohl es ihn brennend interessierte, wie und womit Lara ihre freie Zeit verbrachte, spürte er Unverständnis in sich. Kurz überlegte er, ob sie schon früher geschrieben hatte.

Er wusste es nicht.

»Wie intensiv machst du das, wenn dir nachts im Bett ein idealer Mann dafür einfällt?« Uh. Das klang einen Hauch zu sarkastisch, und er sah direkt, wie die Entspannung aus Laras Gesicht wich.

Sie hob das Kinn an. »Ich habe keinen Einfluss darauf, wann die Ideen kommen. Sie sind einfach irgendwann da, also würde ich sagen: Ja, mein Unterbewusstsein arbeitet da ganz schön.«

»Würdest du manchmal gern tauschen? Deren Leben und deins?« Okay. Die Zeit für harmlose Fragen war wohl vorbei. Ben kippte nach vorn, legte die Arme auf den Tisch und sah Lara an. Sie biss auf ihrer Unterlippe herum.

»Ben, ich schreib das nicht, weil ich unglücklich bin, ich schreibe, weil-«

»Bist du denn glücklich?«, unterbrach er sie. Er lächelte sie an, um die Aggressivität in seiner Stimme zu neutralisieren. Er wusste selbst nicht, wieso ihn das Gespräch so anpiekte. Aber irgendwie wollte er jetzt wissen, was Sache war.

Ob er sich der falschen Frau verschrieben hatte.

Lara beantwortete ihm die Frage nicht. Seine Schwiegermutter hatte angeklingelt und sie aus dieser durchaus angespannten Situation befreit, nicht nur Lara, auch ihn. Denn jetzt, so im Nachhinein, war er nicht sicher, ob er ihre Antwort wissen wollte und ertragen konnte.

Was, wenn seine Frau sich ein anderes Leben wünschte, einen anderen Mann? Was, wenn sie nur an ihm festhielt, weil er nun einmal da war und sie dieses Eheversprechen nicht verraten wollte? Was, wenn sie ihn im Grunde dafür hasste, für die Art, wie sie lebten, nie leben wollten und nun mussten – weil er versagt hatte.

»Das ist doch Bullshit«, kommentierte Karsten, als er ihm am Abend von seinen Befürchtungen erzählte. »Der Konkurs ist Jahre her, ihr habt euch doch gut zusammengerauft. Ist noch viel abzuzahlen?«

Ben winkte ab. »Sechzigtausend. Es nervt halt, weißt du. Wir wohnen im Haus meiner Schwiegereltern ja ganz nett, aber ich hätte gern meine eigenen vier Wände. Ich hab keinen Bock, den Garten zu machen, wenn es für andere Leute ist. Selbst wenn die meine Familie sind.« Ben musste aufstoßen, das Bier war viel zu kalt, um es so eilig herunterzuzischen. Sie hatten eine schnelle Runde Badminton gespielt, und Ben hatte Karsten noch auf ein Bier eingeladen. Er musste dringend mit jemandem reden.

»Von der räumlichen Nähe mal ganz abgesehen.« Karsten grinste.

»Von der räumlichen Nähe mal ganz abgesehen«, bestätigte Ben seinen Freund. Sie kannten sich seit ihrer frühesten Schulzeit, Karsten wusste um all seine Fehler, Schwächen und Stärken. Natürlich hatte er den Konkurs damals mitgetragen, in erster Linie emotional. Die finanzielle Hilfe hatte Ben abgelehnt.

»Vielleicht kannst du es umschulden. Ein eigenes Zuhause wäre echt wichtig. Lara will doch auch Kinder haben. Sagt Sandra zumindest.« Karsten grinste kurz, die stille Post funktionierte noch immer hervorragend.

»Nicht solange wir bei Laras Eltern leben. Keinen Bock drauf. Ich will meine Familie für mich haben. Und umschulden, keine Ahnung. Da sind die Zinsen vermutlich ziemlich hoch.« Ben grübelte, vielleicht war die Idee gar nicht so übel.

»Frag doch mal nach. Mehr als Nein sagen können sie nicht, und mach dir mal nicht so nen Kopf wegen Laras Schreibflausen. Solange sie nicht dauernd allein ausgeht und mit Marleen in den Clubs abhängt, kannst du doch zufrieden sein.«

Lara und er waren ewig nicht zusammen ausgegangen. Sie hatte ein paar Mal vorgeschlagen, in einen der neuen Clubs zu gehen, und selten hatten sie es dann auch gemacht. Aber bei den teuren Preisen von Drinks, Eintritt, Taxi, da kam in einer Nacht so viel Geld zusammen fürs reine Vergnügen, das war es ihm nicht wert. Nun ging sie manchmal mit Marleen aus. Er jedoch vermied überflüssige Ausgaben, denn die Tilgung der Schulden war das Wichtigste überhaupt.

Ben fuhr sich durch die Haare. Er verfluchte sich noch immer dafür, damals so leichtgläubig gewesen zu sein.

»Hey. Das renkt sich wieder ein.« Karsten nippte an seinem Bier und sah Ben prüfend an.

»Ja«, er winkte ab, »vermutlich.«

»Sie wird dich nicht verlassen, nur weil du es zu deinem wichtigsten Anliegen gemacht hast, dieses Geld abzuzahlen. Rede mit ihr, sie wird das verstehen. Aber so wie ich dich kenne, hast du ihr das nicht mal anständig erklärt.«

Ben wurde die quälenden Gedanken auch auf dem Heimweg nicht los. Er kannte Timo und Magnus seit Ewigkeiten, sie hatten Schule, Studium, feste Beziehungen und die ersten Jobs miteinander geteilt. Es war so naheliegend gewesen, mit ihnen diese Firma zu gründen – und es war so naheliegend gewesen, dass sie gnadenlos damit scheitern würden.

Er hatte sich von seinem Schwiegervater Hans das Geld für die Gründung geliehen, und der hatte ihm danach auch aus der Misere herausgeholfen.

Anstandslos hatte er Bens Schulden übernommen, jedoch hatte Ben diese Schulden nun bei ihm. Lara und er hatten zu der Zeit noch im Haus von ihren Eltern gelebt, waren seit wenigen Jahren verheiratet und bereits auf der Suche nach einem eigenen Zuhause gewesen. Sie hatten Pläne und noch mehr Träume gehabt.

Mit dem Konkurs war das alles vorbei. Mit dem Konkurs drehte sich das Leben um Geld. Das war nun fünf Jahre her, und noch immer hatte Ben Albträume und versuchte alles, um die Sache abzuarbeiten. Es war ein Fass ohne Boden.

»Wie seh ich aus?«, fragte Ben am Freitagabend nervös, während er sich im Spiegel ansah. Er hatte beschlossen, sich leger zu kleiden, denn das Restaurant, in dem sie essen würden, war eher hip als elegant. Also musste es ein Hemd zur Jeans tun und das klassische Jackett, dazu Boots. Bei so viel Mühe hatte er sich natürlich beim Rasieren geschnitten. Die Haare hatten eventuell einen Hauch zu viel Gel abbekommen, und er trug Laras Lieblingsduft, den, von dem sie immer sagte, dass sie weiche Knie davon bekäme. Vielleicht half es ja auch beim Geschäftsessen oder betörte Niemeyers Frau.

»Du siehst gut aus«, antwortete Lara leise und betrachtete ihn, zog eine Falte an seiner Jeans gerade.

Sie hatte sich ebenfalls rausgeputzt. Ihre Party würde in einer Stunde losgehen, Marleen wollte sie abholen. Das Kleid, das sie trug, war ein Traum, schwarz und glitzernd mit tiefem Rückenausschnitt, und mit den hohen Schuhen präsentierte es ihre Beine sehr vorteilhaft. Die langen Haare trug sie ausnahmsweise offen, und Ben spürte, wie ihm heiß wurde, als er sie so betrachtete. Nach all den Jahren war Lara für ihn noch immer die schönste und begehrenswerteste Frau der Welt.

Er drehte sich zu ihr und zog sie an sich. »Du siehst umwerfend aus, weißt du das? Du würdest mich komplett in den Schatten stellen, wärst du heute Abend dabei.«

Sie drückte ihre Hände gegen seinen Brustkorb. »Dann kannst du ja froh sein, dass du allein gehst.«

Verdammt. Das sollte doch ein Kompliment sein.

»Ich würde viel lieber mit dir hierbleiben, ich wüsste schon, was mir da einfallen würde.« Er küsste sie zärtlich auf den Hals, während seine Finger ihren nackten Rücken entlangstrichen.

Das Kleid raubte ihm gerade ein wenig zu viel den Verstand. Er spürte, wie ihr Körper weich wurde und sie ihre Hand an seinen Oberschenkel legte, was sein Verlangen noch mehr anheizte. Wenn er das jetzt nicht stoppte, war ihrer beider Mühen mit den Outfits umsonst gewesen.

»Wir haben das ganze Wochenende Zeit ...«, flüsterte sie an seinem Ohr, ihr Atem strich über seine Haut und fachte ihn noch tiefer an. »Vielleicht ...« Sie küsste ihn auf den Hals. Ein leises Grollen entwich ihm, und er schob Lara sanft weg.

»Darauf kannst du dich verlassen, Schönste.« Er hob ihr Kinn an und sah ihr tief in die Augen. Das Funkeln darin war von einer Traurigkeit umfasst, doch er konzentrierte sich nur auf das Glitzern. Das verheißungsvolle Glitzern, das ihm zeigte, sie reagierte noch immer auf ihn. Er beugte sich zu ihr und küsste sie, und die Art, wie sie diesen Kuss erwiderte, machte ihm deutlich, dass sie genauso dringend wie er etwas Zweisamkeit brauchte.

Nur mit Mühe löste er sich. »Hab einen schönen Abend. Ich beeile mich, ja?«, raunte er und musste sich räuspern.

Sie lächelte und nickte, strich ihm kurz über die Wange. »Und du überzeug den Kerl, sonst kriegt er es mit mir zu tun. Sei du selbst. Du hast gewonnen, du hast das Projekt zu dem gemacht, was es jetzt ist. Sei selbstbewusst, aber bescheiden. Hau ihn um!«

Ben schluckte. Eine Welle der Zuneigung überrollte ihn. Gott, wie er diese Frau liebte. Noch einmal zog er sie an sich, drückte sie und vergrub seine Nase in ihrem Haar.

»Bis dann, ich lieb’ dich.« Er nahm seine Tasche und seinen Schlüssel, und erst im Auto auf dem Weg zum Restaurant fiel ihm auf, dass Lara das nicht erwidert hatte.

Lara

So sehr sie sich auch um gute Laune bemühte, das Lachen fiel Lara schwer. Ihre Gäste hatten zwar gute Laune, die Musik war ebenfalls absolut nach ihrem Geschmack - es war ja alles auf sie ausgerichtet heute Abend - auch das Essen schmeckte superlecker, und doch fehlte was: Ben fehlte.

Während Lara am Buffet stand und eher nachlässig an einem Stück Baguette knabberte, dachte sie darüber nach, was Ben wohl heute Abend essen würde.

Das Blue, in das sein Chef geladen hatte, war ein Szene-Restaurant mit wechselnder kleiner Karte. Sie hatten dort schon einige Meetings und Geschäftsessen gehabt, und Ben hatte ihr danach immer Bilder vom Essen gezeigt. Sie selbst hatte dort noch nicht gegessen, denn so schick es war, so teuer war es auch. Durch Bens Dokumentation hatte sie immer das Gefühl gehabt, nahe dabei zu sein. Doch ob sie von seinem heutigen Abend irgendwas wissen wollte, da war sie nicht sicher. Der Gedanke, dass er ihr von etwas erzählte, das gar nicht hätte stattfinden sollen – zumindest nicht jetzt, in diesem Moment – nervte sie, und genauso der Gedanke, ihm von ihrer Party zu erzählen, auf der er verdammt noch mal anwesend sein sollte.

»So wie du aussiehst, könnte man meinen, mit dreißig ist das Leben vorbei.« Tom legte den Arm um sie. »Also meins fing da erst richtig an.«

Lara lächelte und lehnte sich an ihn. »Weil du Jenny in dieser stinkenden Bar kennengelernt hast, ich weiß. Ich war dabei.«

»Genau das. Und schau sie dir an!« Er seufzte und lehnte seinen Kopf an Laras, den Blick auf seine Freundin auf der Tanzfläche gerichtet. »Tut mir leid, dass unser Frühstück geplatzt ist. Manchmal hasse ich es.«

»Ich bin es doch gewohnt, dass der Job alles durcheinanderbringt.« Ihre Stimme klang bitter, das hörte sie selbst, aber es fühlte sich auch bitter an.

War das echt alles, worum es ging? Die Jobs zu erledigen, für andere Menschen zu springen, wenn sie ein Anliegen hatten, keine Zeit mehr für das Leben, für sich selbst zu haben?

»Immer noch Ben-Frust?« Tom stellte sich vor sie und schob die Hände in seine Hosentaschen, schaute ihr prüfend ins Gesicht. Er täuschte kein Verständnis für sie vor, er war viel zu sehr Geschäftsmann, als dass er eben nicht auch Bens Ambitionen verstehen würde. Und das machte Lara wütend.

Tom, einige Jahre älter als sie, hatte sich in die kleine IT-Firma seines Vaters eingearbeitet, mit dem Ziel, sie irgendwann zu übernehmen. Schon jetzt brachte er eigene Ideen ein und zog neue Kunden an Land. Sein Vater schätzte das Engagement des Sohnes und hatte daher direkt zugestimmt, als Tom Lara als persönliche Office Managerin einstellen wollte. Sie arbeiteten gut zusammen, und wider Erwarten ließen sich der Job und ihre Freundschaft hervorragend vereinbaren. Viele Freunde hatten ihnen abgeraten, man müsse das trennen, bei Geld höre die Freundschaft auf. Doch sie waren sich sicher gewesen, dass ihre Nähe, das intensive Kennen des anderen, ihnen nur helfen würde, und genau so hatte es sich auch entwickelt. Lara kannte Tom so gut, dass sie seine Probleme sah, bevor er sie hatte, und er wusste, dass er sich auf sie verlassen konnte.

Jemand nahm ihr das Baguette aus der Hand und riss sie damit aus ihren Gedanken. Noch immer stand Tom vor ihr und schaute sie abwartend an.

Lara verschränkte die Arme. »Du bist mein Freund. Hör auf, ihn in Schutz zu nehmen.«

Tom lächelte. »Das mache ich doch gar nicht. Ich kann nur nicht auf ihm rumhacken, wenn ich im Grunde genauso bin wie er. Was vermutlich der Grund ist, warum er mich nicht leiden kann. Ich versteh ihn.« Er zuckte mit den Schultern. »Aber ich versteh auch dich. Und wenn ich Jennys Geburtstag absagen würde, könnte ich mir vermutlich eine neue Wohnung suchen.«

»Vielleicht sollte ich das auch mal in Erwägung ziehen.« Sie schnaubte. »Ich verstehe ihn ja auch. Aber ... ich hab das Gefühl, ich spiele in allem nur noch die zweite Geige. Der Geburtstag ist ja nur das i-Tüpfelchen. Er sollte einfach hier sein.«

Tom nickte. »Ja, sollte er. Und es tut mir leid, dass er es nicht ist, aber ...«, er verzog das Gesicht und warf einen Blick zum DJ, der die Musik in diesem Moment in ungeahnte Lautstärken knallen ließ, »dass du deswegen deine Party hinschmeißt, ist auch ziemlich kindisch, meinst du nicht? Amüsier dich, trink zu viel, tanze – und reiß ihm morgen den Arsch auf. Aber herrje, du weißt, ich liebe dich, aber ich muss Marleen recht geben, und du darfst es rot im Kalender anstreichen, dass ich das tue: Lara, du übertreibst. Stell dich nicht an wie eine Vierzehnjährige.«

Sein Blick lag dabei so liebevoll und so zerknirscht auf ihr, als hätte er etwas Dummes angestellt, dass Lara nicht anders konnte: Sie lachte laut auf und schlang die Arme um seinen Hals. Gott verdammt, sie hatten ja alle recht. Und genau das sagte sie dann auch.

»Du hast recht. Lass uns feiern!«

Es brauchte nur wenige Momente, bis der Unmut von Lara abfiel. Ben feierte nicht mit ihr, das konnte sie nicht ändern. Sie würde morgen darüber nachdenken. Morgen war auch noch ein Tag, morgen war ihr Geburtstag, und morgen würde er da sein. Sie würden gemeinsam aufwachen, sie würden gemeinsam frühstücken, denn bisher hatte er ihr jedes Jahr ein tolles Frühstück gezaubert. Sie würden nur zu zweit sein und ... vielleicht könnten sie auch mal wieder Sex haben. Es ist viel zu lange her, hatte er gesagt, und das war ein Fakt.

Lara amüsierte sich, trank und tanzte, wie Tom es ihr geraten hatte. Das hier war ihre Party, das hier waren ihre Menschen. Alle mochten sie und hatten gute Laune. Und so löste sich die Schwere in ihr in Alkohol, Lachen und der guten Laune anderer Menschen auf. Die Musik verdrängte alle hörbaren Zweifel, und als ihr Vater sie beim Tanzen fragte, wie es ihr ginge, konnte sie ehrlich antworten.

»Mir geht’s gut, Paps. Ich freu mich total, dass ihr auch da seid.«

»Ich lass mir doch keine Party entgehen, wo es was zu trinken gibt und ich mit meinem Mädchen tanzen kann«, erwiderte ihr Vater und zog sie an sich. Er war ein brillanter Tänzer, und er hatte ihr das alles beigebracht. Wir brauchen keine Tanzschule, das kann ich auch, hatte er gesagt, als sie mit fünfzehn bettelte, mit ihren Freundinnen in die Tanzschule zu dürfen. Insgeheim vermutete sie, dass er nur verhindern wollte, dass sie dadurch Jungs kennenlernte.

Ihre Eltern waren beide erst um die fünfzig, feierten mit ihr und teilten ihr Leben wie beste Freunde statt wie Erziehungsberechtigte, wobei sie das auch schon lange nicht mehr waren. Lara freute sich darüber. Sie war behütet aufgewachsen und konnte sich auf ihre Eltern verlassen. Sie hatten ihr immer beigestanden, und irgendwann dann auch Ben, als er strauchelte.

Und als hätte er ihre Gedanken gelesen, fragte Paps nach ihm. »Läuft gut bei Ben, hm?«

Lara nickte. »Schätze schon. Hat ein wichtiges Essen mit dem Chef, er hofft auf die Projektleitung. Sie haben den Wettbewerb gewonnen.«

Paps nickte anerkennend. »Freut mich sehr für euch, das wird ihm guttun. Er braucht ein Erfolgserlebnis.« Und als hätte er nun auch gemerkt, dass Lara nicht über Ben reden wollte, wechselte er geschickt das Thema. »Wir holen Oma morgen um zwei ab und sind dann um drei wieder zu Hause. Passt das?«

»Ja, ich hab für vier Uhr eingeladen, aber ihr könnt sie ruhig schon eher bringen. Ich sehe sie so selten, und bei dem Trubel wird sie es dann eh nicht lange aushalten.«

»Na, das liegt ja nicht an ihr, dass ihr euch nicht seht. Du bist eben auch zu beschäftigt.« Er stupste ihr auf die Nase, was Lara zum Lächeln brachte. Sie fielen in einen schnellen Disco-Fox, als Frank, ein Freund von Marleen, der heute Abend den DJ machte, ein Lied von Katy Perry spielte.

Schwungvoll wirbelte Paps sie herum, so sehr, dass Lara gegen jemanden stieß und sich lachend umdrehte, um sich zu entschuldigen. Dass ihr Vater so temperamentvoll sein musste!

Laras Herz hüpfte. Vor ihr stand ... Ben! Er hielt einen kümmerlichen Strauß Blumen in den Händen, wo auch immer er den an einem Freitagabend aufgetrieben hatte, und sein Blick war zum Dahinschmelzen.

»Ben?«

»Hallo, meine Schöne. Darf ich noch mitfeiern?« Er nickte kurz grüßend an ihr vorbei und wedelte dann mit dem Sträußchen.

Lara schlang beide Arme um Bens Hals. Vergessen waren Paps, das Tanzen, die Gäste, der Ärger.

»Oh Gott, wie schön, ich freue mich so. Was ist passiert?«

»Nichts ist passiert, aber ich sollte wohl heute bei meiner Frau sein, scheiß aufs Business«, raunte er ihr ins Ohr und zog sie eng an sich. Direkt wiegte er sich mit ihr zur Musik.

Lara strahlte ihn an, da beugte er sich zu ihr und küsste sie, lange und innig, so wie er sie zwar an diesem Abend schon einmal, aber davor schon lange nicht mehr geküsst hatte. Und Lara wusste, das mit dem Sex war mehr als nur eine gute Idee.

Sie schwebte wie auf Wolken, der Rest der Nacht rauschte in einer einzigen Glückswolke an ihr vorbei. Sie tanzten, bis sie ihre Füße nicht mehr spürten, sie lachten, bis ihnen der Bauch weh tat, aßen wenig, tranken mehr.

Als der Countdown zu Mitternacht heruntergezählt wurde, stand Ben eng bei ihr, überhaupt war er nicht von ihrer Seite gewichen. Laut zählte er mit, und dann war es so weit. Der neue Tag brach an, und mit ihm ein neues Lebensjahr. Was würde es wohl bringen?

Lara fühlte sich beschwingt, leicht, glücklich. Ihr Mann war an ihrer Seite, ihre Eltern und liebsten Freunde und Bekannten feierten mit ihr, was konnte schon passieren, was konnte sie zum Stolpern bringen? Sie hatte alles, was es brauchte für ein glückliches, erfülltes Leben. Es lag doch an einem selbst, was man draus machte, oder nicht? Das sagten sie doch immer alle, man habe sein Glück selbst in der Hand. Und jetzt und hier, auf ihrer Party, glaubte Lara fest daran. Vergessen waren die Zweifel der letzten Tage, der Unmut über Bens Gleichgültigkeit. Das Leben war perfekt.

Ihr Leben war perfekt.

»Ich krieg die Scheißtür nicht auf.« Ben ließ sich lachend gegen die Hauswand fallen, holte tief japsend Luft. Lara lehnte sich an ihn und küsste ihn einfach weiter. Was scherte sie die Haustür? Sie wollte Ben, jetzt und hier und unbedingt. Schon seit dem Vorabend, als sie vor dem Spiegel gestanden hatten, brannte das Verlangen in ihr, Ben hatte es die Nacht über auf der Party heftig angefacht, es würde jetzt nicht an der Haustür scheitern – und Lara ließ ihm keinen Zweifel über ihr Anliegen.

Sie schob die Hände unter sein Hemd, längst trug er es lässig über der Jeans, seine Haare waren zerwühlt, keine Ahnung, wo sein Jackett abgeblieben war.

»Schatz, lass uns ...« Er nahm ihr Gesicht in seine Hände, als sie ihn mit einem Kuss unterbrach. Der metallene Schlüssel berührte kalt ihr Ohr. Ohne die Lippen von ihm zu lösen, nahm sie Ben den Schlüsselbund aus der Hand, schob sich an ihm vorbei und öffnete die Haustür.

Sie spürte ihn hinter sich, er hauchte Küsse auf ihren freien Nacken, drängte sie in die Wohnung. Lara machte sich eine gedankliche Notiz, Marleen für die Idee zu diesem Kleid mindestens einen Kaffee auszugeben. Es hatte dafür gesorgt, dass Ben seine Hände nicht von ihr lassen konnte. So auch jetzt.

Sie schafften es nicht bis ins Bett. Ben zog Lara mit sich auf das rote Sofa, das im Flur stand. Sie nestelte seine Hose auf, Kleid hochziehen und auf ihn setzen waren eine Bewegung. Ben schloss seine Augen, und der raue Tonfall, wie er ihren Namen stöhnte, schoss Lara tief in den Bauch. Ihre Haare fielen wie ein Schleier über sein Gesicht, als sie ihn leidenschaftlich küsste, und es blieben nur noch er und sie und ihre lang vermisste Lust.

Und dann war es auch direkt wieder vorbei.

Ben zuckte, und Lara spürte, wie er in ihr weich wurde.

»Entschuldige, ich ...« Ben keuchte. »Himmel, Lara. Ich ... tut mir leid.«

Bens Anblick am nächsten Morgen, dem Morgen, der eigentlich schon ein Tag war, reichte, um sie zum Lächeln zu bringen, und Lara spürte deutlich: Die kurze, aber um so heißere Sequenz von letzter Nacht hatte ihr nicht gereicht, natürlich nicht. In ihrem Bauch kribbelte es noch immer, ihre Begierde flimmerte. Sie versuchte sich daran zu erinnern, wie lange es her war, aber es fiel ihr nicht ein. Früher war ihnen Sex wichtig gewesen, es gab Zeiten, da hatten sie Strichlisten geführt, wie oft sie miteinander geschlafen hatten, waren tagelang nicht aus dem Bett gekommen. Doch mit der Zeit hatte der Alltag ihre Lust begraben. Lara hatte sich angewöhnt, ihre Fantasien in ihren Geschichten auszuleben, erfand romantische oder auch leidenschaftliche Begegnungen. Aber manchmal trieb genau das ihre eigene Sehnsucht so sehr an, dass es schmerzte.

Sie beugte sich zu Ben hinüber, und sanft weckte sie ihn, wie sie es früher oft getan hatte. Sie hauchte zärtliche Küsse auf seinen Bauch, streichelte seinen Brustkorb, seine Seiten, seine Beine, bis sie spürte, wie er aufwachte und seine Hand in ihren Haaren vergrub. Sie wusste, dass er sie nicht lenken würde, aber sie hatte Lust, sie wollte ihm zeigen, wie sehr sie ihn noch immer wollte, und auch, dass sein kleiner Fauxpas von letzter Nacht keine Rolle spielte. Sie hatte Verständnis, dass er sich nicht lange hatte beherrschen können. Aber jetzt hatten sie Zeit.

Und Lara wusste, warum sie nie an ihrer Liebe zu Ben gezweifelt hatte. Er war aufmerksam, liebevoll, zärtlich. Er kannte ihre Schwachstellen und nutzte sie aus, brachte ihren Atem zum Stocken. Seine Berührungen waren verspielt, forsch, vertraut und doch unvorhersehbar. Sie schauderte am ganzen Körper, als er sich ihre Wirbelsäule herunterküsste, und sie vergrub ihr Gesicht Minuten später im Kissen.

»Ich liebe dich«, flüsterte sie, als er sie in seinen Armen bettete und die Decke über sie beide zog. So heiß es auch gewesen war, so schnell kühlten die erhitzten Körper dann auch ab.

»Ich liebe dich auch, meine Schöne«, erwiderte er und hauchte ihr einen Kuss auf die Schläfe. »Für immer und darüber hinaus, zweifle nie daran.« Die letzten Worte sprach er so leise, dass Lara kaum noch sicher war, sie gehört zu haben.

Wohlig schmiegte sie sich an ihn, genoss die Nähe, die Wärme, die Sicherheit. Das war so viel besser als jede Romantik auf Papier.

»Danke, dass du gestern noch gekommen bist. Das bedeutet mir viel. Ich hab dich so vermisst.« Wie sehr, das war ihr erst klar geworden, als sie dann endlich mit ihm ihren Geburtstag so feiern konnte, wie es in ihrer Vorstellung immer hätte sein sollen. Er hatte einfach gefehlt, gute Vorsätze und Ratschläge zum Trotz.

»Ich dich auch. Hab dich eine Weile beobachtet, wie du mit deinem Vater getanzt hast.« Sie hörte das Lächeln in seiner Stimme. »Er hats echt drauf.«

»Oh ja, aber er tut auch einiges dafür. Sie gehen immer noch einmal die Woche aus, und er joggt jeden Tag.«

»Joggen werde ich nun auch wieder regelmäßig. Aber hast du nicht Lust, wieder mit zum Badminton zu gehen?«

Lara überlegte, während sie mit ihren Fingern über seinen Arm strich. Die Idee war vielleicht wirklich nicht die schlechteste, sie würden wieder etwas zusammen tun, und Badminton spielte sie gerne.

»Mit Karsten und Sandra?« Sie musste schmunzeln. Sie hatte Karsten regelrecht mitgeheiratet, ein Ben ohne seinen besten Freund war undenkbar. Gott sei Dank verstand sie sich mit ihm und seiner Frau ziemlich gut.

»Ich frag ihn mal. Aber wir können auch allein gehen. Ich würde gerne wieder mehr Zeit mit dir verbringen.« Ben rieb seine Nase an ihrem Kopf, murmelte die Worte. Er klang schläfrig.

»Hey, schläfst du wieder ein? Ich freue mich schon seit Tagen auf mein Frühstück.« Sie boxte ihm sanft den Ellbogen in den Bauch, und er murrte leise auf.

»Keine Sorge.« Er streckte sich gähnend. »Du kriegst dein Frühstück, Liebste, wie jedes Jahr.« Ben erhob sich und kitzelte sie überraschend. Lara quietschte lachend auf. Als er sie in seine Arme zog und innig küsste, durchzog ein Kribbeln ihren Bauch, sie schob ihr Bein zwischen seine, doch er löste sich von ihr.

»Wenn du was essen willst, lassen wir das lieber. Ich springe unter die Dusche, bleib doch noch ein wenig liegen.« Er stand auf, dann beugte er sich noch einmal über sie und küsste sie erneut.

Lara wollte die Arme um ihn schlingen, zu verlockend erschien es, einfach den ganzen Tag im Bett zu bleiben, aber lachend entzog er sich ihr.

Während Ben duschte, kuschelte sie sich wieder in ihre Decke ein, schob sich Bens Kissen unter den Kopf. Sie liebte es, wenn sie beide in so gelöster Stimmung waren, wenn sie unbeschwert ihr Leben genießen konnten. Sie würde das mit dem Badminton machen, vielleicht auch mal wieder mit ihm spazieren oder doch mal essen gehen. Dabei fiel ihr ein, dass sie ihn gar nicht nach seinem Abend gefragt hatte, und sofort regte sich das schlechte Gewissen in ihr.

Als Ben aus der Dusche kam, richtete sie sich auf. »Wie war eigentlich dein Abend?«

Ben zuckte mit den Schultern. »Ziemlich okay. Niemeyer hatte gute Laune, Scholz hat nicht gestichelt. Dieses Projekt ist eine echt coole Sache, das ist ein Riesending. Aber für die genaue Planung telefonieren wir noch.«

»Wow, das klingt aber super. Vielleicht darfst du das Projekt ja leiten.« Lara zog die Decke hoch und schlang die Arme um die Knie. »An die Nordsee komme ich gerne mit. Ich kann bestimmt ein paar Tage Home-Office machen.«

Bisher hatte sie nie Lust verspürt, Ben auf die Baustellen zu begleiten und sich vor Ort allein zu beschäftigen, während er arbeiten musste. Doch jetzt, mit dem neuen Gefühl von Nähe in ihrem Bauch, reizte sie der Gedanke. Lara sah sie beide schon Händchen haltend am Wasser spazieren gehen.

»Und wie war das Essen? Ich will die Bilder sehen!«

»Zeig ich dir später. Jetzt sehe ich erst mal zu, dass mein Weib ein Frühstück bekommt!«

Sie lachte und wedelte ihn huldvoll aus dem Zimmer, streckte sich und nahm ihr Notizbuch vom Nachttisch. Derzeit fielen ihr ständig Sätze oder Szenen ein, die sie sofort niederschreiben wollte, und die Party, die Nacht mit Ben, der zauberhafte Morgen ... all das tobte in ihrem Inneren. Sie zog die Beine an und begann zu schreiben.

Das würde ein wundervoller Tag werden!

Ben

Die Kartoffelsuppe hieß pikantes Süppchen, aber ganz ehrlich, die war ein bisschen zu pikant. Ich habe noch versucht, die Chiliflocken runterzunehmen, aber keine Chance. Scholz hat mich voll ausgelacht.« Ben grinste und wischte über das Display seines Handys.

Dass er immer sein Essen fotografierte, war für seine Umgebung längst zur Gewohnheit geworden. Lara saß neben ihm und schaute ihm zu. Er hatte ihre Frühstücksdecks nebeneinandergelegt. Sie hatten es von jeher gemocht, sich berühren zu können, wenn sie sich irgendwo hinsetzten. Den Tisch hatte er mit Blumen dekoriert, diesmal hatte er keine von der Tankstelle geholt wie letzte Nacht und auch nicht bei seiner Schwiegermutter geklaut, sondern beim Floristen altrosa Rosen vorbestellt. Einunddreißig. Eine für jedes Lebensjahr und eine fürs nächste. Ihr Geschenk trug Lara bereits an ihrem Handgelenk, und diesmal war auch das Rührei gelungen. Alles war perfekt.

»Die Suppe sieht echt gut aus. Ich würde auch gerne mal im Blue essen.« Sie biss in ihr Brötchen, wirkte entspannt und gut gelaunt.

Er hoffte, sie mochte das schlichte Armband mit dem kleinen Anker. Geschenke waren immer schwierig, es musste ja auch im Rahmen bleiben. Viel Firlefanz konnten sie sich nicht leisten, jedenfalls nicht, solange er noch die Schulden hatte. Und nun wollte sie ins Blue. Er ging durchaus auch gerne essen, aber dieses Restaurant lag definitiv außerhalb ihres Budgets.

»Ich weiß nicht. Mir reicht es ja, wenn ich da mit der Firma ab und zu bin.« Er wischte weiter und deutete auf das nächste Bild, das ein regelrecht kunstvoll dekoriertes Stück Fleisch mit kleiner Beilage zeigte. »Zum Hauptgang hab ich Lammhaxe genommen.«

Doch Lara ließ sich nicht ablenken. »Deswegen würde ich da auch gerne mal essen, die Bilder machen echt Lust drauf.«

»Das Kartoffelpüree hatten die mit Möhren angemacht, so mit Stückchen drin, war saulecker. Vielleicht kochen wir so was mal nach?«

Lara schwieg, und Ben legte das Handy zur Seite. Das war wohl nicht das, was sie hatte hören wollen. Er versuchte es anders. »Wir können die Karte ja mal im Blick behalten, und wenn was draufsteht, was uns zusagt, gehen wir hin. Aber erzähl mal, wie lief die Party, bevor ich dazu kam?«

Lara lächelte ihn an. »Ach, es war schon schön. Ich war erst ein bisschen geknickt, dass du nicht da warst. Aber Tom hat mich aufgemuntert, und danach ging es.«

Ben lehnte sich zurück und schnaubte leise. Er wusste nicht, wieso die Erwähnung von Laras »bestem Freund« immer wieder Aggressionen in ihm hervorrief. »Na, das ist ja prima.« Himmel, er klang wie ein eifersüchtiger Gockel. Dabei war er kein bisschen eifersüchtig, und erst recht nicht auf Tom.

Lara überging das, vielleicht hatte sie den Unterton auch nicht wahrgenommen – was eher unwahrscheinlich war. »Du hast mir den Nachtisch nicht gezeigt. Das ist doch immer das Tollste!« Lara deutete auf das Handy und lächelte ihn an.

»Kein Nachtisch«, erwiderte Ben und stand auf, seine Kaffeetasse in der Hand. »Auch noch einen Kaffee?«

Lara schüttelte den Kopf und rieb sich über ihren Bauch. »Ich kann nicht mehr. Schatz, du hast dich selbst übertroffen, ich bin satt für die nächsten drei Tage. Aber ich verstehe es nicht: Wieso hast du Süßigkeiten-Junkie den Nachtisch ausgelassen? Das ist nicht mein Mann. Wer bist du?«

Ben freute sich über ihr Lob. Sein kurzer Anfall von Missstimmung verflog. Das war Laras Tag, sie hatte ihren Mann in bester Stimmung verdient. Er würde alles dafür tun, dass wenigstens heute nichts ihre Laune trüben würde. Erst jetzt wurde ihm klar, wie erleichtert er war, dass durch sein Geschäftsessen kein Zwist mehr zwischen ihnen herrschte. Die Party war lustig gewesen, sie hatten Sex gehabt. Okay, es war ihm echt peinlich gewesen, dass er ... aber egal, heute Morgen hatte er sie gut entschädigt für die kurze Nummer im Flur, von der sie vermutlich reichlich wenig gehabt hatte. Sie hatte beteuert, dass es nicht schlimm gewesen sei, aber was sollte sie auch sonst sagen?