Der Sturz ins Ungewisse - Tatjana Weichel - E-Book

Der Sturz ins Ungewisse E-Book

Tatjana Weichel

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Beschreibung

Yanis Martel kann sich nicht entscheiden. Steht er auf Frauen oder auf Männer? Liebt er seine beste Freundin Julie oder doch eher den Cafébesitzer Gabriel, der ihm im Nu den Kopf verdreht hat? Aber das Schicksal nimmt ihm die Entscheidung ab. Yanis rettet Julie vor dem sicheren Tod und wird damit zu ihrem Wächter. Denn Julie ist eine Hexe, und sie zieht ihn in eine Welt der Magie, die sein Leben komplett auf den Kopf stellt …

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Der Sturz ins Ungewisse

Black Heart Spin-Off 01

 

 

Tatjana Weichel

 

Für Kim.

 

 

Weil du im richtigen Moment das Richtige von mir gefordert hast.

 

 

 

 

 

 

[ein magisches vorwort]

 

Liebe:r Leser:in,

 

ob treuer Black-Heart-Fan oder Neueinsteiger in die Serie - ich freue mich sehr, dass du dich für dieses Spin-Off aus der Hand meiner geschätzten Freundin Tatjana Weichel entschieden hast.

Tatjana begleitet die Black-Heart-Serie schon von der ersten Seite an als Lektorin, Korrektorin, Motivatorin und zweiter Kopf hinter der verrücktesten Plottwists. Es war mir eine unheimliche Freude, mit ihr über einen so langen Zeitraum an einem Projekt zu arbeiten – umso mehr freute ich mich natürlich, als sie mir schrieb, sie habe eine Idee zu Yanis' Vorgeschichte.

Da ich mich schnell begeistern lasse, drängte ich darauf, dass sie diese Geschichte zu Papier brachte – und so wurden "Der Sturz ins Ungewisse" und später auch seine Fortsetzung "Der Weg ins Licht" zu einem nicht mehr wegzudenken Teil des Black-Heart-Universums. Dass Tatjana mit dem ersten Spin-Off außerdem ihr Debüt veröffentlicht hat und seitdem weiterhin Bücher schreibt, erfasst mich mit sehr viel Stolz für diese außergewöhnliche Frau.

Ich wünsche ihr von Herzen alles Gute für dieses und alle folgenden Bücher - und ich wünsche dir viel Spaß mit Yanis und Gabriel!

 

Bis bald,

Kim Leopold

 

[1]

 

Canterbury, England

2015, ein Sonntag im September

 

Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, der Typ an der Theke flirtet mit mir. Unsicher erwidere ich sein charmantes Lächeln und murmle ein leises »Danke«. Mein Wechselgeld packe ich in die Hosentasche und balanciere dann das Tablett mit den Tassen an den Tisch, an dem bereits meine beiden Freundinnen sitzen.

Mel greift ungeduldig nach ihrem Milchkaffee. »Warum hat das so lange gedauert? Musstest du dich bei Gabriel erst wieder freikaufen?«

Julie verdreht die Augen und verteilt die restlichen Heißgetränke, bevor sie mir das Tablett abnimmt und es ans Tischbein lehnt.

Ich halte inne und blinzle überrascht. »Was?«

»Gabriel ist der Kellner, und er steht auf dich«, erklärt Mel mir.

»Du spinnst doch!«, winke ich nervös lachend ab und lehne mich auf der Holzbank zurück. Doch ich kann nicht verhindern, dass mein Blick zurück zur Theke wandert.

Seit dieses Café vor einigen Monaten komplett renoviert wurde, treffen wir uns hier regelmäßig. Natürlich ist mir auch Gabriel direkt aufgefallen.

Er dürfte etwas älter sein als ich, ich schätze ihn auf dreiundzwanzig, vielleicht vierundzwanzig. Er sieht mit dem langen dunklen Haar und dem kurzen Bart wie ein Franzose aus. Was mich aber vom ersten Moment an völlig fasziniert hat, sind seine blauen Augen. Immer, wenn sich unsere Blicke begegnen, fühle ich mich ans Mittelmeer erinnert, an blaues Wasser und endlose Weite.

Ich muss über mich selbst schmunzeln. Ich klinge wie eine der Frauen in den Kitschromanen, über die Julie und Mel andauernd reden. Die, in denen der Kerl angeschmachtet und auf seine atemberaubenden Augen und den sexy Körper reduziert wird.

Ich bin aber keine Frau.

Ich heiße Yanis, und ich bin ein Mann.

Viel zu spät merke ich, dass ich von drei Augenpaaren angestarrt werde. Julie und Mel haben ihr Gespräch unterbrochen, weil ihnen aufgefallen ist, dass ich ihnen gar nicht zuhöre. Schlimmer ist allerdings, dass Gabriel nun meinen Blick erwidert.

Ich spüre, wie mir die Hitze in die Wangen steigt.

Fuck.

Schnell wende ich mich Julie zu und halte mir schützend die Tasse Kaffee vors Gesicht. Wie peinlich.

Sie hebt nur die Augenbrauen und wiederholt ihre Frage. »Bleibt es dabei, dass du zum Con mitkommst und uns fährst?«

»Klar. Hab ich doch versprochen.«

»Hast du denn ein Kostüm? In Jeans und Schlabbershirt nehme ich dich nicht mit.«

»Genaugenommen nehme ich ja euch mit. Aber reg dich ab. Mike hat mir geholfen, ihr werdet staunen.« Selbstsicher grinse ich die beiden an. Tatsächlich hoffe ich, dass mein Kumpel Wort hält und mir das Kostüm mitbestellt hat, das ich mir ausgesucht habe. Dann muss es nur noch rechtzeitig ankommen.

»Wo ist er eigentlich? Wollte er nicht auch herkommen?« Mel zieht ihr Handy aus der Tasche und wischt darauf herum.

»Keine Ahnung«, erwidere ich. »Schätze, er arbeitet, wie immer.«

»Hauptsache, er kann sich am Wochenende mal loseisen. Also dann bleibt es wie besprochen: Wir fahren Samstag um acht los. Quatsch, Sonntag. Dann sind wir um zehn da und haben genug Zeit für alles. Boah, ich freue mich wahnsinnig. Ich bin so froh, dass es geklappt hat.« Julies Wangen röten sich vor Aufregung. Ihr ganzes Gesicht strahlt, weil sie es kaum erwarten kann, endlich auf das Event des Jahres zu gehen.

»Wie hast du das eigentlich hinbekommen, dass du deswegen frei hast?«, fragt Mel.

Julie winkt ab. »Ich habe ja nicht deshalb frei, sondern weil Philippe hier ist. Ihr wisst doch, dass er darauf besteht, Quality time mit der Familie zu haben.« Sie verdreht genervt die Augen, und ich erinnere mich daran, dass sie mir am Telefon erzählt hat, wie schwierig es war, durchzusetzen, dass ihre Eltern sie den ganzen Sonntag weglassen. Seit meine beste Freundin in London studiert, sehen wir uns leider nur noch selten.

Die Harry-Potter-Convention ist schon seit Wochen Gesprächsthema Nummer eins in der Clique. Eigentlich kann ich mit so was ja echt nichts anfangen, aber als Julie feststellte, dass das Event genau in der Zeit liegt, in der sie und ihr Stiefvater gemeinsam Urlaub zu Hause verbringen, hat sie mich tagelang bekniet, dass ich mitkomme.

»Das wird irre. Ich weiß nur noch nicht, wie ich meine Haare machen soll. Wollen wir uns Dienstag zu einer Generalprobe treffen?«, fragt Mel.

Julie klatscht begeistert in die Hände. »Das machen wir! Was ist mit euch, Yanis, kommt ihr dazu? Wir wollen doch sehen, was ihr anzieht.«

Ich zucke mit den Schultern. »Keine Ahnung, wann der Kram ankommt. Mike hat bestellt. Laut Sendungsverfolgung sollte es spätestens morgen da sein.«

»Ach, das würde ja gut passen!« Mel hält Julie das Handy hin. »Schau mal, die Frisur finde ich ganz nett. Oder so was?«

Ich trinke meinen Kaffee aus und verspüre ein Knurren im Magen. Kurz muss ich überlegen, wann ich das letzte Mal etwas gegessen habe. Mir fällt das Frühstück mit meinen Eltern ein, das ist eindeutig zu lange her. Immerhin ist schon Nachmittag. Ich schaue zur Theke, lese die Tafeln, die die Speisekarte darstellen sollen, und entscheide mich dafür, mir einen Salat zu bestellen. Für Kuchen bin ich nicht so zu haben.

»Ich hol mir was, wollt ihr auch?«, unterbreche ich meine Freundinnen, die in Fachsimpeleien über ihre Kostüme vertieft sind.

»Vernasch doch Gabriel«, meint Mel und stupst Julie an. Die beiden beginnen zu kichern.

»Sehr witzig.« Ich verdrehe die Augen und schlendere betont lässig auf die Theke zu.

Keine Ahnung, was die Mädels immer haben. Aber jedes Mal, wenn mich ein Mann einen Moment zu lange anschaut (oder ich ihn), dichten sie mir direkt was an. Dabei wissen sie eigentlich genau, dass ich mit meinen Neigungen sehr sparsam umgehe und mich weder an Mann noch Frau so richtig rantraue, schon gar nicht in Begleitung meiner beiden kichernden Freundinnen.

Besonders dann nicht.

Vor mir stehen zwei junge Männer, die sich nicht entscheiden können, was sie bestellen wollen, und so habe ich Zeit, Gabriel ein wenig zu mustern – und für seine Gelassenheit zu bewundern, die er den beiden Idioten gegenüber an den Tag legt. Sein Lächeln wirkt einstudiert, einen Tick zu freundlich. Ich kenne ihn lange genug, ich weiß, wie er aussieht, wenn er wirklich freundlich ist. Und seine Augen lächeln nicht mit. Die Hände hat er flach auf den Tresen gelegt, lange, schmale Finger, an einem davon trägt er einen Siegelring. Eigentlich finde ich die Dinger ja echt protzig, aber bei ihm sieht es irgendwie edel aus.

»Also, ich hätte ja gern einen zuckersüßen, quietschrosa Kuchen. Hast du sowas?«, fragt der eine mit süffisanter, näselnder Stimme und schaut Gabriel provokant an.

Der verzieht keine Miene und deutet gelassen auf die Vitrine mit den Kuchenstücken. »Erdbeer-Sahne oder Himbeer-Joghurt kann ich dir anbieten.«

»Ach. Eigentlich hätte ich vielleicht doch lieber … was Warmes.« Er deutet mit dem Finger auf Gabriel, und beide Typen fangen laut an zu lachen.

Ich ziehe die Augenbrauen hoch. What the fuck?

»Okay, ich hab’s begriffen. War echt lustig. Wollt ihr weiter den Verkehr aufhalten oder darf’s wirklich was sein? Sonst macht euch vom Acker, andere Leute wollen auch bestellen.« Seine Stimme ist souverän, er lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, doch ich ahne, dass er hier schon mehr als einmal einen dummen Spruch kassiert hat.

Seltsam. Für mich sieht Gabriel nicht typisch schwul aus. Woran haben die Typen vor mir das erkannt? Haben sie überhaupt recht mit ihrer Annahme, dass er auf Männer steht? Außerdem: Was ist schon typisch schwul?

Ich verdrehe die Augen über mich selbst, weil ich mal wieder in Schubladen denke.

Die beiden Idioten entscheiden sich für zwei Cokes, und als sie endlich bezahlt haben und unter blödem Gegrinse abziehen, schiebe ich mich vor Gabriel.

»Hi.« Ich kann gar nicht anders, als ihn in diesem Moment anzulächeln. Wahrscheinlich kann er ein freundliches Gesicht gerade gut gebrauchen.

»Hi.« Vielleicht bilde ich es mir ein, aber seine Haltung entspannt sich etwas. Er schaut den beiden nicht einmal nach, sondern erwidert mein Lächeln warmherzig. »Was darf’s für dich sein?«

»Ich nehme die dreizehn, bitte, den Salat mit Hähnchen und Sesam.«

Er nickt und tippt meine Bestellung in seinen Computer ein, und da ich weiß, dass es nun einen Moment dauert, bis das Essen aus der Küche kommt, bleibe ich einfach stehen. Hinter mir ist niemand, der etwas bestellen will.

»Passiert dir das häufiger?«

Gabriel schaut mich überrascht an, und ich kann es gut verstehen. Bisher ist es zwischen uns bei Blicken und Bestellfloskeln geblieben – dabei bin ich mindestens zweimal die Woche hier. Das Gespräch haben wir noch nie gesucht. Ich, weil ich so was nicht gut kann, und er … keine Ahnung. Weil Mel sich vermutlich einfach irrt und Gabriel kein bisschen auf mich steht. Was schade wäre.

»Die meisten Gäste benehmen sich.«

»Souveräne Ansage eben.« Ich nicke ihm aufmunternd zu, und seine Augen blitzen vor Überraschung auf. Er nickt langsam, bevor er mit den Schultern zuckt.

»Ich versuche gelassen zu bleiben. Es wird immer Idioten geben, die sich lustig machen. Ich hab gelernt, das nicht persönlich zu nehmen.«

»Aber es ist doch persönlich. Wie kannst du es anders sehen?«

Mich interessiert das wirklich. Ich bin noch nie mit einer solchen Abneigung konfrontiert worden, aber zugegebenermaßen gehe ich auch nicht sonderlich offen mit meinem Privatleben um.

Gabriel mustert mich einen Moment, bevor ein Klingeln hinter ihm ihn ablenkt. Er lächelt entschuldigend. »Moment.«

Er dreht sich um und nimmt zwei Teller aus der Durchreiche, die die Theke mit der Küche verbindet, bevor er eine Nummer ruft und die Teller an den dafür vorgesehenen Platz neben mir stellt. Ein junger Mann kommt und holt seine Bestellung ab. Ich schaue ihm nach und sehe, wie er sie zu seinem Tisch trägt, einen der Teller vor einer jungen Frau abstellt und ihr einen Kuss auf die Stirn gibt, bevor er sich hinsetzt.

Als ich mich wieder zu Gabriel drehe, begegnen sich unsere Blicke, und für einen Moment verhaken sie sich ineinander. Seine Mundwinkel ziehen sich hoch, und dieses Lächeln erreicht auch seine Augen. Und es macht mich nervös.

»Yanis, ich denke, das hier ist nicht der richtige Ort für so eine Unterhaltung.« Er öffnet die Schublade vor sich und nimmt einen Zettel und einen Stift heraus. Kurz schaut er mich an, bevor er etwas aufschreibt. »Ich geb dir meine Nummer, und wenn du wirklich Interesse hast, ruf mich an.«

Bevor ich etwas antworten kann, steht Kundschaft neben mir. Er schiebt das Papier über die Theke, ich nehme es an mich und rutsche ein Stück zur Seite, damit die Leute Platz haben, um ihre Bestellung aufzugeben. Gabriel lächelt mich kurz an, bevor er sich ihnen widmet.

Auf dem weißen Stück Papier steht sein Name, daneben eine Handynummer. Doch es ist das, was da noch steht, das mich verdammt dumm grinsen lässt.

 

 

»Du hast es echt erst jetzt geschnallt, oder?«, ist Julies Reaktion, als ich sie später nach Hause bringe und ihr unterwegs von dem Gespräch mit Gabriel erzähle.

Ich zucke mit den Schultern, die Hände tief in den Taschen meiner Jeans vergraben. In einer Hand halte ich den Zettel ganz fest. Nicht, dass sich plötzlich ein Loch in der Hose auftut und die Nummer verschwindet.

Das wäre echt zu schade.

»Ich hab schon gemerkt, dass er mich häufig ansieht, aber du weißt doch, dass ich so was nicht raffe.«

»Ich erinnere mich. Wenn ich an dich und Mel denke … da war ein ganzer Gartenzaun nicht Hinweis genug.« Julie lacht leise, und ich kann nicht anders und stimme ein.

Es ist einige Jahre her, dass Mel und ich den eher halbherzigen Versuch einer Beziehung gestartet haben, denn bis ich ihre Annäherungsversuche überhaupt bemerkt hatte, war ihr Interesse schon halb verflogen. Das kann an Mel liegen, die ihre Kerle wie Unterwäsche wechselt, oder an mir, der in Liebesdingen eher ein wenig … introvertiert ist.

Julie stößt mit dem Ellbogen in meine Rippen. »Wann rufst du ihn an?«

»Hm? Keine Ahnung«, murmle ich. Ihn anrufen? Uff. Beim Gedanken daran spüre ich Aufregung hochsteigen. Darüber muss ich erstmal nachdenken.

Julie schlägt mir mit der flachen Hand auf den Oberarm. »Yanis! Der Typ ist zwar verdammt heiß, und er hat dir seine Nummer gegeben. Schon klar. Aber du rufst ihn auf gar keinen Fall zu früh an. Übermorgen. Oder am Wochenende. Bloß nicht mehr heute, das wäre viel zu schnell.«

Ich schmunzle, lege Julie den Arm um die Schulter und ziehe sie an mich. Ich liebe dieses Mädchen. »Und warum wäre das zu schnell?«

Sie schlingt ihren Arm um meine Hüfte und läuft mit mir im Gleichschritt. »Weil du ihm nicht nachrennen sollst. Interesse zeigen, aber nicht zu offensichtlich. Er soll sich nach dir sehnen. Sich fragen, ob du wirklich anrufen wirst.«

Ich wuschle ihr durch die Haare und ziehe an ihrer verblassten, mittlerweile nur noch hellblauen Haarsträhne. »Schon mal auf die Idee gekommen, dass es solche Spielchen sind, die verhindern, dass du deinen Traumprinzen findest?«

»Mein Traumprinz würde mich nicht warten lassen. Nur ich ihn, sollte er mir seine Nummer geben. Das Spiel funktioniert nur in eine Richtung, du Spinner.«

»Oh, das wusste ich nicht. Heißt das, weil ich ihn warten lassen soll, bin ich das Mädchen in dieser Sache?« Ich muss lachen bei der Vorstellung.

»Zu viele Details!«, kreischt Julie auf und rennt kichernd los. Ich folge ihr, und erst an ihrer Haustür hole ich sie ein. Verdammt, ist sie schnell. Mit einem lauten Aufschrei stürze ich mich auf sie, doch just in diesem Moment geht die Tür auf, und wir müssen beide heftig um unser Gleichgewicht kämpfen, damit wir nicht durch die offene Tür in den Hausflur stürzen. Prustend lassen wir uns gegen den Türrahmen fallen, in dem Philippe steht, der Mann von Julies Mum. Er hat die Arme verschränkt und beobachtet uns mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Ihr benehmt euch wie kleine Kinder.« Man hört immer noch deutlich seinen charmanten französischen Akzent in seinem Englisch, selbst nach all den Jahren, die seine Familie schon in England lebt.

»’n Abend, Philippe.«

Sein Händedruck ist fest und warm. »Guten Abend, Yanis. Danke, dass du Julie nach Hause gebracht hast«, begrüßt er mich höflich, und ich stelle fest, dass ich mich immer freue, Philippe zu sehen. Im Sommer war er für einige Tage hier, jetzt pausiert sein Wanderzirkus für länger in der Stadt, und Philippe verbringt die Zeit ausschließlich mit seiner Familie – und da ihm diese Zeit heilig ist, halte ich mich nicht lange auf.

»Na klar, kein Ding. Schönen Abend noch, viele Grüße an Isabeau.«

Ich drücke Julie einen Kuss auf die Stirn und wuschle ihr nochmal durch die Haare, bevor ich zum Abschied die Hand hebe.

Ich bin noch nicht ganz um die Ecke, da trudelt eine Nachricht von Julie ein.

- Ruf ihn NICHT heute an. –

 

 

Während ich die paar Minuten nach Hause laufe, denke ich darüber nach, ob ich Gabriel überhaupt treffen möchte. Julie hat natürlich schon recht, er sieht heiß aus, und irgendwie ist da auch was zwischen uns. Wenn ich so recht überlege, schauen wir uns schon seit einer Weile immer an, und die Begegnung mit ihm vorhin hat mich nicht kalt gelassen. Aber zu einer Beziehung gehört ja doch mehr.

Ich habe keine Lust, meine Zeit zu verschwenden und treffe mich eigentlich nur zu einem Date, wenn ich das Gefühl habe, ich habe da was von. Das bringt mir oft den Ruf ein, arrogant zu sein.

Was wäre Gabriel für mich? Würden wir uns treffen, würde er sicher nicht nur über die Anfeindungen reden wollen, denen er als anscheinend offen lebender Schwuler ausgesetzt ist. Dem Zettel nach zu urteilen, war das nur der Aufhänger, mich zu treffen, das hab sogar ich kapiert. Kann ich mir was mit ihm vorstellen?

Vielleicht sollte ich das vor dem Anruf wissen.

Ich bin völlig in Gedanken versunken und schrecke hoch, weil jemand meinen Namen ruft.

»Yanis. Du träumst ja auf offener Straße!« Unsere Nachbarin Karen winkt mir zu. Sie steht in ihrer Haustür und hält mir eine weiße Schüssel hin. Ich lächle sie entschuldigend an und gehe auf sie zu, um die Schüssel an mich zu nehmen.

»Tut mir leid, ich hab dich nicht gehört. Ist die für Mum?«

»Ja, für wen denn sonst? Weiß dein Dad neuerdings, wo die Schüsseln in der Küche sind?« Sie zwinkert mir zu, und ich muss lachen. Karen und ihr Mann Peter sind die besten Freunde von Mum und Dad. »Darin hat sie mir doch gestern den Salat mitgegeben. Alles gut bei dir oder bedrückt dich was? Du bist doch sonst nicht so vergesslich.«

»Ähm, ja. Alles gut. Danke für die Schüssel.« Ich verabschiede mich verlegen und gehe nach Hause.

Im Flur ziehe ich meine Schuhe aus und hänge die Jacke weg, bevor ich die Schüssel in den Küchenschrank räume. Es ist ruhig im Haus, und am Kühlschrank hängt ein Zettel von Mum, der mich an den Polizeiball heute Abend erinnert, an dem Dad als Direktor natürlich teilnehmen muss.

Ich nehme mir eine Flasche Wasser aus dem Kasten hinter der Tür und setze mich damit in den Wintergarten. Der Ausblick auf unseren Garten und den kleinen Teich wirkt immer beruhigend auf mich. Hier sitze ich oft und denke nach. So auch jetzt.

Ich stelle die Flasche ab und ziehe den Zettel aus der Hosentasche. Auf meinem Bein streiche ich ihn vorsichtig glatt.

 

- Gabriel. 07522762304.

Kino? Reden? IRGENDWAS? Yanis, ruf an, ja? –

 

Ich muss lachen. Okay, er meint es offensichtlich ernst, auch wenn sich mir direkt ein paar Fragen auftun. Wieso kennt er überhaupt meinen Namen? Und was passiert, wenn ich ihn wirklich anrufe? Kino? Reden? Irgendwas? Was meint er mit ›irgendwas‹? Mir wird flau im Magen, wenn ich die Möglichkeiten durchdenke.

Es ist nicht so, dass ich noch nie Sex hatte. Okay, mit Mädchen hatte ich Sex. Ich habe auch schon Männer gedatet und mit ihnen herumgemacht. Nur das, was alle anstreben, und ich vermutlich auch, dieses Flattern im Herzen, das dauerhafte Denken an den einen Menschen – das ist mir noch nicht passiert. Vielleicht bin ich zu wählerisch (Julies Meinung), vielleicht bin ich zu introvertiert (Mel), zu hässlich (Mike) oder zu unentschlossen (Sam), aber ich für mich weiß, dass mir einfach noch niemand begegnet ist, den ich für so besonders hielt. Ob Gabriel dieser Mensch sein könnte?

Unschlüssig drehe ich den Zettel in meinen Fingern, dann greife ich zum Handy und tippe eine Nachricht ein.

– Wenn Du mir sagst, was du mit irgendwas meinst, überlege ich mir das mit dem Treffen ☺ Y.-

Ich mag keine Spielchen. Diese Entscheidung habe ich zumindest schon einmal getroffen.

 

 

Gabriel mag auch keine Spielchen. Seine Antwort ließ nicht lange auf sich warten, und so stehe ich mir nun vor dem Kino die Beine in den Bauch. Ich bin zu früh. Ungefähr … eine Stunde. Aber ich habe es daheim einfach nicht mehr ausgehalten. Mum habe ich eine Nachricht geschickt, dass es später werden könnte, und sie hat mir viel Spaß gewünscht.

Spaß. Ha. Ich bin ziemlich aufgeregt.

Ich fühle meine Hände schwitzig werden und hoffe, er will keinen Handschlag zur Begrüßung. Vielleicht umarmen wir uns?

Als Gabriel auf mich zukommt, ist sein Hallo ein Lächeln, eins, das die Augen erreicht. Seine, und meine vermutlich ebenso.

Er ist nämlich auch deutlich zu früh.

»Hey, Yanis.«

»Hey, Gabriel.«

Beide schauen wir uns für einen Moment unsicher an, er fängt zuerst an zu lachen, und da bricht das seltsame Eis zwischen uns. Gleichzeitig wenden wir uns dem Eingang zu, und ab da ist irgendwie alles ganz einfach.

Wir hatten uns schon beim Verabreden auf einen Actionfilm geeinigt, wir mögen beide keine Nachos, ich nehme Popcorn, er Schokolade, beide wollen wir eine Coke, und als wir gleichzeitig »zusammen« antworten auf die Frage, wie wir bezahlen wollen, ist das Lächeln zwischen uns schon einen Hauch tiefer.

Neben ihm zu sitzen, fühlt sich vertraut an. Wir reden über unsere Jobs, tauschen die ersten Daten aus (er ist drei Jahre älter als ich), wir hören ähnliche Musik, nur beim Fußball kommen wir in ernsthafte Schwierigkeiten. Wir beschließen, das Thema einfach auszuklammern, denn man soll ja nichts riskieren, was noch gar nicht angefangen hat.

Nach dem Film schlendern wir durch die Kinohalle. Gabriel schließt seine Jacke und vergräbt die Hände in den Hosentaschen.

»Gehen wir noch was trinken?« Er schaut mich fragend an, und bevor ich darüber nachdenken kann, nicke ich schon.

»Klar, gerne. Was schlägst du vor?«

»Wir könnten ins Rainbowgehen, falls dir das nicht zu offensiv ist. Sonst ist dasDreamlight hier um die Ecke, da ist es aber ein wenig lauter.«

Ich war noch nie im Rainbow, weiß aber natürlich, was er mit ›offensiv‹ meint. Die kleine, gemütliche Bar war die erste Lokalität in der Stadt, die explizit für Schwule und Lesben eröffnet hatte. Das ist viele Jahre her, heute ist der Pub über die Stadtgrenze hinaus bekannt und zieht ein sehr gemischtes Publikum an.

»Ich würde da gerne mal hin. Wenn ich einen Kaffee bekomme und man sich unterhalten kann«, stimme ich Gabriels Vorschlag zu.

 

 

»Du hast mich heute Morgen gefragt, wie ich das nicht persönlich nehmen kann, was da mit den beiden Typen lief«, beginnt Gabriel das Gespräch, als wir auf der breiten Fensterbank sitzen. Wir haben uns jeder in eine Ecke gesetzt, einander zugewandt.

Das Rainbow ist urgemütlich, wie es der Name schon vermuten lässt. Die Wände sind farbig gestrichen, mit Szenen und Menschen aus der Stadtgeschichte illustriert. Andere Wände sind von oben bis unten mit Postkarten tapeziert – man könnte vermutlich ziemlich lange dort stehen und nur lesen.

Ich wende meinen Blick Gabriel zu und nehme einen großen Schluck von meinem Kaffee. Nach Alkohol ist mir heute Abend nicht, ich sollte vermutlich eh besser einen klaren Kopf bewahren.

»Sie haben dich dumm angemacht, nicht die andere Bedienung, nicht mich oder einen der Gäste. Es war doch klar persönlich«, entgegne ich nachdenklich.

Gabriel lächelt mich an. »Ja. Aber das Problem bin nicht ich, es ist ihre Einstellung. Sie kennen mich nicht. Sie sehen nur, dass ich anders bin, dass ich offensichtlich auf Männer stehe, und allein das war ihr Problem.«

»Du … du siehst nicht aus wie …« Ich komme dummerweise ins Stocken, weil das, was ich sagen will, echt dämlich ist.

»Du auch nicht.« Er zwinkert mir zu, und ich stelle erleichtert fest, dass es sich nicht peinlich anfühlt.

»Ich bin da nicht so festgelegt«, murmle ich dennoch eher leise, denn auch wenn eine Vertrautheit da ist, die mich das offen aussprechen lässt, muss es ja nicht jeder mitbekommen. Doch die Gäste um uns herum interessieren sich nicht für uns, also entspanne ich mich mehr und mehr.

»Sie haben es mir trotzdem angesehen. Solche Leute haben da ein Gespür für. Aber da sie mich nicht kennen und ich nichts getan habe, um sie zu verärgern, galt ihr Getue auch nicht mir. Nicht mir, Gabriel. Nur der Servicekraft, die rein zufällig vor ihnen stand und auf Männer steht.«

Ich mustere ihn nachdenklich. Was er sagt, macht Sinn. Dennoch muss es sich echt scheiße anfühlen – immerhin habe ich mich schon unwohl gefühlt, obwohl ich nicht mal betroffen war. »Erlebst du das öfter?«

»Hin und wieder. Ich habe mich bewusst dafür entschieden, frei leben zu wollen, da muss ich das in Kauf nehmen. Schöner wäre es natürlich, wenn die Menschen aufhören würden, in Schubladen zu denken. Ich mache mir ja auch keine Gedanken darüber, wer mit wem ins Bett geht.«

Ich fühle mich ertappt. Ich weiß, dass auch ich oft genug vorverurteile, auch wenn gerade ich das nicht tun sollte. Weder passe ich in eine Schublade noch will ich in eine. Ich bin ein Zusammenspiel aus so vielen kleinen Dingen, wie jeder Mensch. Will ich wirklich auf eine Sache davon reduziert werden?

»Ich hab nicht damit gerechnet, dass du dich wirklich meldest«, sagt Gabriel in diesem Moment leise. Er hat den Kopf an die Fensterscheibe gelehnt und schaut mich an. Seine Hände liegen in seinem Schoß, seine Finger spielen mit seinem Glas. Ist er nervös? Wegen mir?

Ich ziehe meinen Fuß hoch und lege meinen Arm locker auf mein Knie. »Ich auch nicht«, gestehe ich ihm und muss unsicher grinsen. »Dein Zettel hat mir aber kaum eine Wahl gelassen.« Ich trinke meinen Kaffee aus, der schon fast kalt ist.

»Stimmt, ich hab dich regelrecht genötigt.« Gabriel lacht leise.

»Nein, das nicht, aber er hat mir gezeigt, dass du das wirklich willst. Ich reagiere auf Anmache für gewöhnlich eher mit Rückzug, aber …«

»Noch habe ich dich ja auch gar nicht angemacht. Aber dass ich …«, unterbricht er mich.

»Moment.«

Er stutzt, weil ich ihn nun mitten im Satz abwürge. Amüsiert zieht er eine Augenbraue hoch.

Ich lasse mich nicht irritieren. Wenn der Zettel keine Anmache war, was ist denn dann eine? Und will ich das wirklich wissen? »Er war keine Anmache? Wie deutlich machst du denn dann einen Typen an?«

Gabriel lacht erneut auf und beugt sich zu mir, er legt beide Hände auf mein Knie und schaut mich eindringlich an. »Dazu, Yanis, ist es noch zu früh.« Er schwingt sich von der Fensterbank und nimmt mir sanft die Tasse aus der Hand, was ich einfach geschehen lasse, zu baff bin ich gerade. »Noch was trinken?«

»Äh. Ja.« Was zur Hölle? Wie macht er das nur? Er sagt nur irgendwas und knockt mich völlig aus.

Gabriel zwinkert mir zu und geht einfach. Dabei habe ich ihm nicht einmal gesagt, was ich trinken möchte. Ich lehne mich wieder zurück und atme tief ein.

Das kann ja heiter werden.

Er kehrt zurück, setzt sich zu mir auf die Fensterbank und reicht mir ein Glas Cider. Cider. Volltreffer. »Dass ich dich wirklich kennenlernen wollte, das stimmt schon.«

Ich drehe das Glas in der Hand. »Warum?«

Es ist eine schlichte Frage, aber mehr als alles brennt sie mir auf den Nägeln. Ich will keine Komplimente hören, kein Rumgeschleime, kein dummes Gerede. Eigentlich will ich nur eine Rechtfertigung vor mir selber haben, warum ich um Mitternacht immer noch hier sitze, mit einem fremden Mann, und so spät ins Bett kommen werde, dass Sam mich morgen auf der Arbeit dauerhaft hochnehmen wird. Doch ich bereue keine Sekunde dieses Abends und hoffe inständig, er sagt nun etwas, was mich überzeugt, hier einfach noch ein bisschen sitzen zu bleiben.

»Warum bist du hier? Ich jedenfalls will unbedingt wissen, wer du bist.« Dann wird seine Stimme etwas leiser, und mir stockt der Atem. »Und ich will mehr von diesem Kribbeln, das deine Blicke in mir auslösen.«

Scheiße. Ich will hier nie wieder weg.

 

[2]

Canterbury, England

Montag

 

Ich verabschiede die Gäste an der Rezeption mit ihrer Keycard auf ihr Zimmer und summe das Lied mit, welches leise aus dem Radio tönt. Sam verschränkt die Arme und stellt sich nahe neben mich, zu nahe. Ich runzle die Stirn.

»Brauchst du was?«, frage ich ihn.

Er wackelt mit den Brauen. »Infos, Schatz, Infos. Schmutzige, dreckige Details. Wie heißt er, oder sie, woher kennst du ihn, oder sie, und was genau hat er, oder sie, getan, dass du so drauf bist?«

Für einen Moment halte ich inne, dann fange ich an zu lachen, winke ab und drehe mich von ihm weg, um ans Telefon zu gehen, das in diesem Moment klingelt.

Als ich wieder auflege, steht er sofort wieder neben mir. »Yaaaaanis. Ich. Sehe. Es. Dir. An.«

Würde er von solchen Idioten wie gestern angemacht, könnte ich es nachvollziehen. Nein, das ist falsch. Nachvollziehen kann ich es nicht, aber ich würde verstehen, warum sie ihn ausgesucht hätten für ihre dummen Sprüche. Sein ganzes Äußeres und sein Auftreten zeigen einen durch und durch schwulen Mann. In allem ist er einen Tick drüber, aber wenigstens steht er dazu.

Ich kenne Sam, seit ich hier die Ausbildung gemacht habe, und wir haben uns vom ersten Moment an super verstanden und wurden schnell beste Freunde. Sam ist anständig, loyal und ehrlich. Eigenschaften, die ich mehr als alles andere an einem Menschen schätze.

Obwohl der Montag ein beliebter Anreisetag ist, ist es gerade ruhig an der Hotelrezeption. Also beuge ich mich zu Sam, um ihm etwas ins Ohr zu wispern. »Eventuell könnte es sein, dass ich gestern ein Date hatte und sich da was … anbahnt.«

Sams Augen weiten sich, und sofort wird er ernst. »Erzähl mir alles!«

Erleichtert darüber, dass er keine blöden Witze macht, sondern ernsthaft interessiert ist, entspanne ich mich, spüre, wie ich wirklich gern über Gabriel und mich reden würde.

»Der Typ aus dem Coffee’N’Cake hat mir seine Nummer zugesteckt. Wir waren im Kino und danach im Rainbow. Fuck, der Typ geht mir nicht mehr aus dem Kopf, es war toll. Er … wow, er haut mich echt um«, platzt es aus mir heraus, und ich kann nicht verhindern, dass mir die Röte ins Gesicht steigt und sich ein grenzdebiles Grinsen dort ausbreitet.

Sams Gesichtsausdruck wechselt von ungläubig zu begeistert. »Gabriel? Ehrlich? Wow. Der Typ ist unfassbar heiß.«

»Du kennst ihn?«

»Flüchtig. Wie man sich halt kennt, wenn man sich in Clubs oder auf Partys der Szene begegnet. Gabriel. Wow. Ich hab den noch nie mit jemandem gesehen. Und wie war es?«

Noch nie mit jemandem gesehen. Das gefällt mir. Ich spüre in mir den Wunsch aufkommen, der Jemand an Gabriels Seite zu sein.

»Schön. Ich konnte ungestört den Film gucken, weil er dabei nicht so viel gelabert hat wie Julie oder du.« Ich grinse ihn frech an. »Wir hatten ein paar spannende Gesprächsthemen. Er ist echt cool.«

»Cool … aha«, antwortet Sam langgezogen und mustert mich forschend. »Und weiter? Wie küsst er?«

Das allerdings wüsste ich auch gerne. Als Gabriel mitbekommen hat, dass ich früh raus muss, hat er sofort gezahlt und mich nach Hause gefahren. Für einen kurzen Moment dachte ich im Auto vor unserer Haustür, es würde zu einem Kuss kommen, ganz klassisch, vorsichtig, ein Abschiedskuss. Doch er hat keine Anstalten gemacht, und ich ja sowieso nicht, also blieb es bei einem Lächeln wie dem zur Begrüßung, nur noch strahlender, noch tiefer, noch inniger. So strahlend, tief und innig, dass es zum ersten Mal an diesem Abend tief in meinem Bauch zog und ich mir wünschte, ich könnte mich überwinden, den ersten Schritt zu machen. Aber stattdessen habe ich mich bloß verlegen geräuspert und bin ausgestiegen, nur um mich dann doch nochmal umzudrehen.

Gabriel hat die Scheibe an der Beifahrerseite heruntergelassen. Ich hab mich ins Auto gebeugt und wollte mutig sein. »Ich freue mich echt drauf, dich wiederzusehen. Das war schön heute.«

Dann hat mich der Mut genauso schnell verlassen, wie er gekommen war, und ich bin gegangen. Als ich mich an der Tür noch mal umgedreht habe, konnte ich sehen, dass Gabriel immer noch da stand und erst losgefahren ist, als ich längst im Haus war.

»Es gab keinen Kuss. Wir lassen es langsam angehen. Wir kennen uns doch gar nicht.« Ich dränge Sam etwas zur Seite und räume die Unterlagen weg.

»Aber du siehst ihn wieder?«

»Ich hoffe! Er meldet sich, wenn er weiß, wie er diese Woche arbeiten muss.«

Mehr kann ich Sam nicht erzählen, denn die nächsten Gäste betreten die Lobby des Hotels, und wir müssen uns auf die Arbeit konzentrieren.

 

 

In der Mittagspause schlendere ich durch die Stadt und überlege, worauf ich Hunger habe, als ich mich vor dem Coffee’N’Cake wiederfinde. Und wenn ich rein zufällig schon hier bin …

Warme Luft schlägt mir entgegen, die um diese Zeit nach Gebratenem und Kaffee riecht, und sofort knurrt mein Magen. Ich hab Hunger, also stelle ich mich direkt an und studiere die Mittagskarte. Entgegen seines Namens gibt es in unserem Lieblingscafé nämlich nicht nur Kaffee und Kuchen, sondern ein wöchentlich wechselndes Angebot an vegetarischem Essen. Entsprechend voll ist es, sodass ich hoffe, noch einen Platz zu bekommen.

Gabriel ist nicht da.

Sofort habe ich das Bedürfnis, wieder zu gehen, doch das wäre albern, also bestelle ich mir etwas zu essen und suche mir einen freien Tisch.

Während ich auf meinen Linsen-Burger warte und an meiner Coke nippe, denke ich wieder über den gestrigen Abend nach.

Ich mag Gabriel. Und zum ersten Mal verspüre ich in mir den Wunsch, einen Mann näher kennenzulernen, ihn ansehen zu können und … mehr. Beim Gedanken daran wird mir flau im Magen.

Wie sich wohl seine Haare anfühlen?

Um mich abzulenken, ziehe ich mein Handy heraus und lese die letzten Nachrichten. In unserer WhatsApp-Gruppe berichtet Mike, dass unsere Kostüme angekommen sind, also steht unserer Verkleidungsgeneralprobe morgen Abend nichts im Weg. Julie fragt mich, wann ich Gabriel anrufe und ob ich das heute Abend von ihr aus tun möchte, falls ich Beistand bräuchte.

Ich muss darüber lachen und will ihr gerade schreiben, dass es dafür schon zu spät ist, da wird mein Essen ausgerufen. Ich schiebe das Handy in die Hosentasche, schiebe mich aus der Bank – und stehe vor Gabriel, der meinen Teller in der Hand hält. Ich blinzle überrascht, aber es ist keine Einbildung. Er stellt den Teller auf meinem Platz ab und deutet auf den Stuhl mir gegenüber.

»Darf ich? Oder möchtest du lieber alleine essen?«

Völlig irritiert schüttle ich den Kopf und bringe nur ein »Klar, setz dich« raus, bevor ich mich wieder auf die Bank fallenlasse. Er zieht seine Jacke aus und legt sie auf einen der freien Stühle.

»Ich war gerade hier, um die Dienstpläne zu machen, da hab ich dich gesehen. Lass es dir schmecken«, sagt er und lächelt mich an, so sanft, dass es mich sofort wieder in die Vertrautheit des gestrigen Abends katapultiert.

»Ah. Stimmt, du sagtest ja, du weißt noch nicht, wie du Zeit hast.« Ich wickle mein Besteck aus, schaue auf mein Essen und lege Messer und Gabel wieder weg. Ich nehme den Burger mit den Händen hoch, fange an zu essen und versuche dabei zu ignorieren, dass Gabriel mich beobachtet.

»Jetzt weiß ich es.«

»Und?«

»Nun. Ich hätte heute Abend Zeit, und morgen Abend, und übermorgen Abend, und … um es kurz zu machen: ich hab die ganze Woche Frühdienst, Freitag frei, und möchte dich jeden Abend sehen.«

Ich verschlucke mich beinahe an einem Stück Brötchen, lege den Burger ab und greife hustend zu meiner Coke, um meine Verwirrung herunterzuspülen. Das leise, selbstgefällige Lachen von Gabriel macht es nicht besser.

»Wow. Okay. Ähm. Also, morgen Abend kann ich nicht, da treffe ich Freunde. Generalprobe für die Harry-Potter-Convention am Sonntag.«

»Harry-Potter-Convention? Dein Ernst?«

»Mein völliger.«

»Wird bestimmt … nett.« Sein Tonfall hört sich eher zweifelnd an, und ich grinse. »Dann heute Abend? Bis Mittwoch wäre es mir ein bisschen zu lange.«

Ich stocke, unsere Blicke treffen sich. In seinen Augen kann ich die gleiche Hoffnung erkennen, die ich seit gestern Abend auch in mir verspüre, die Hoffnung auf ein Wiedersehen, auf einen weiteren Schritt, auf ein Mehr.

Also sage ich Ja.

 

 

Zurück im Hotel grinse ich vermutlich noch dämlicher als am Morgen. Ich ziehe Sam auf die Seite. »Ich hab Gabriel beim Essen getroffen. Findest du, es wäre zu schnell, ihn heute Abend direkt wiederzusehen?«

»Zu schnell? Es kann nie zu schnell gehen, wenn man aufeinander steht.« Sam macht eine eindeutige Handbewegung, und ich verdrehe die Augen.

»Du bist ein Idiot.«

»Sorry.« Er grinst diabolisch, bevor er mir dann ernst antwortet. »Herzchen. Also ich mag es, dass ihr keine Spielchen spielt. Es ist doch superschön, wenn man nicht rätseln muss, ob der andere Interesse hat oder nicht. Ich finde, gerade in unseren Kreisen«, er näselt ein bisschen, »weiß man ja nie, ob einer wirklich will oder sich nur ziert. Und ihr redet Klartext, eiert nicht herum. Ich finde das total gut. Was habt ihr beiden Hübschen denn vor?«

»Wir wollen auf ein Konzert. Freunde von ihm spielen heute.«

»Ah, super. Da kann man sich auch unaufdringlich näherkommen!«

»Sam!«

»Ja, was denn? Einen neuen besten Freund brauchst und willst du ja wohl nicht, oder?« Er wackelt mit den Augenbrauen.

Ich verziehe das Gesicht. »Ne, es reicht doch, dass ich dich an der Backe habe.«

Sam zieht gespielt betroffen eine Schnute. »Aua. Das hat mich jetzt verletzt.«

»Die Wahrheit tut nun mal weh, Nervensäge. Natürlich will ich keinen Kumpel. Aber ich unternehm halt auch gern was.«

»Na klar. Knutschen und vögeln tut man sowieso ausreichend. Hab ich dir je erzählt, wie oft Miles und ich …«

Ich stöhne auf und winke ab. Die Geschichte von Miles und Sam kenne ich in- und auswendig. Unter Sams Gelächter machen wir uns wieder an die Arbeit. Auch wenn ich zugegebenermaßen nicht sonderlich konzentriert bin.

 

 

Als ich am Nachmittag nach Hause komme, ist Mum damit beschäftigt, das Abendessen zu kochen. Ich drücke ihr einen Kuss auf die Wange und stibitze mir eine Kartoffel aus der Pfanne.

»Wann gibt es Essen?«

»Eigentlich ist das für heute Abend, Dad kommt später.«

Normalerweise versucht Dad, früh genug daheim zu sein, damit wir zusammen essen können. Eine ganze Weile hatte er nur Zeit für das Sonntagsfrühstück, doch Mum fehlten unsere gemeinsamen Mahlzeiten, also hat sie neue Regeln aufgestellt. Ich finde es schön, meine Eltern um mich zu haben.

Bei den anderen läuft es nicht so harmonisch. Julie ist immer genervt, wenn Philippe da ist, weil er sich dann aufspielt, auch wenn sie meiner Meinung nach damit übertreibt. Er ist schon schwer in Ordnung. Mels Eltern sind schon lange geschieden, zwischen denen gibt es andauernd Stress und Mike … der lebt seit einer Weile alleine, weil er es zu Hause nicht mehr ausgehalten hat, seit sein Dad gestorben ist.

Ich bin der Einzige mit einer heilen Familie, und ich genieße es. Deshalb wohne ich gern zu Hause und fand es echt klasse, dass wir das Dachgeschoss zu einer eigenen kleinen Wohnung ausgebaut haben – auch wenn ich nach wie vor bei Mum esse und sie meine Wäsche wäscht. Abgesehen davon spart es Geld, so viel verdiene ich so kurz nach der Ausbildung im Hotel auch noch nicht.

»Wie war der Ball?«, frage ich Mum, während ich mir einen Joghurt aus dem Kühlschrank hole.

»Ach, es war ganz nett. Sie haben Live-Musik gespielt, und dein Vater und ich haben tatsächlich mal wieder getanzt«, antwortet sie und lächelt versonnen.

»Das klingt doch gut. Apropos Live-Musik: Ich werde um sechs abgeholt, weil ich auf ein Konzert gehe. Es kann also spät werden«, sage ich.

---ENDE DER LESEPROBE---