Der Weg ins Licht - Tatjana Weichel - E-Book

Der Weg ins Licht E-Book

Tatjana Weichel

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Beschreibung

Zwei Jahre nach dem Tod seines Freundes Yanis bittet dessen Vater John Gabriel um einen irrsinnigen Gefallen: Er soll herausfinden, was wirklich mit Yanis geschehen ist. Dafür nimmt Gabriel eine Stelle am Palast der Träume an, dem Internat für Hexen und Wächter, an dem auch der magische Rat angesiedelt ist. Auf der Suche nach Antworten findet Gabriel heraus, dass die magische Welt voller Überraschungen steckt - und immer noch voller Gefahren. Schon bald muss er entscheiden, ob ein Leben in Sicherheit wirklich das ist, was ihn glücklich macht.

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Der Weg ins Licht

Black Heart Spin-Off 02

 

 

Tatjana Weichel

 

Für Charlie

- weil du ein Licht in dieser Welt bist.

 

 

Dunkelheit

 

Mir ist, als ob ich alles Licht verlöre.

Der Abend naht und heimlich wird das Haus;

ich breite einsam beide Arme aus,

und keiner sagt mir, wo ich hingehöre.

(Rainer Maria Rilke)

 

 

 

 

[spoilerwarnung]

 

Dieses Buch ist die Fortsetzung von »Der Sturz ins Ungewisse« und somit der zweite Spin-off aus der Black-Heart-Serie von Kim Leopold. Es ist ohne Band 1 nur schwer verständlich, daher empfehle ich, die Geschichte von Yanis vorher zu lesen.

 

Was Black Heart betrifft, so sind die Spin-offs unabhängig lesbar. Allerdings enthält »Der Weg ins Licht« einige Spoiler auf die Serie und ihr Staffelfinale.

 

[1]

 

England

September 2015

 

Schwarz.

Wenn ich den Blick schweifen lasse, sehe ich schwarz. In der Kleidung, in den Gesichtern, für meine Zukunft. Das Schlimmste aber sind die Gedanken. Sie sind tiefdunkelgraumatschig, durchzogen von schwarzen Tränen. Jeder hier weint.

Auch ich.

All meine dunklen Gedanken sind erfüllt von Schmerz. Wo vorher Liebe und Freude war, ist jetzt nichts mehr.

Yanis ist tot.

Eine Woche war ich der glücklichste Mensch auf der Welt, nachdem ich Yanis eine gefühlte Ewigkeit nur gewollt hatte.

Eine Woche durfte ich verliebt auf eine Zukunft hoffen, darauf, den Menschen gefunden zu haben, mit dem ich sie verbringen könnte. Vielleicht wäre es nicht für immer gewesen, aber ein bisschen mehr hätte es schon sein dürfen.

Eine Woche Yanis war zu wenig.

Traurige Gedanken, deren Wahrheit mir immer und immer wieder tief in mein Herz sticht.

Yanis ist tot.

Mein Freund ist tot.

Gestorben in einer Welt, die nicht seine war.

Gestorben wegen einer Welt, von der wir alle nichts wissen dürfen.

Ich habe keine Sekunde aufgehört, an ihn zu denken, seit Sam im Café vor mir stand, mich seltsam ansah, mit diesen rotgeschwollenen Augen. Ich wusste sofort, dass er nicht wegen Liebeskummer bei mir war. Ich habe es in seinen Augen gelesen.

Yanis ist tot.

Und das ist für immer.

 

[2]

England

September 2017

 

Schwarz.

Wenn ich den Blick schweifen lasse, sehe ich schwarz. In der Kleidung, in den Gesichtern. Meine Gedanken sind nicht mehr ganz so tiefdunkelgraumatschig, und wir weinen nicht mehr, aber alles andere ist wie letztes Jahr und das Jahr davor.

Zwei Jahre ist es her.

Zwei Jahre ist Yanis tot.

Ich atme tief durch, habe meine Hände tief in meinen Jackentaschen zu Fäusten geballt. Eine fremde Hand schiebt sich dazu und greift nach meiner Wut. Yanis’ Mum steht neben mir, sie sieht so traurig aus.

»Ich kann es immer noch nicht glauben«, sagt sie leise. »Manchmal denke ich, er muss doch einfach zur Tür hereinkommen.« Jackie versucht mit ihren Fingern meine Faust zu lösen, und ich gebe nach. Sie legt ihre Hand in meine und hält sie fest.

»Ich weiß«, antworte ich. Wie muss es sein, sein Kind zu verlieren? Ob es genauso schlimm ist, wie die Eltern zu verlieren?

»Wie geht es dir? Wir haben dich lange nicht gesehen.«

»Ich bin okay. Nur … wütend. Immer noch. Er wollte kein Teil der magischen Welt sein, es hat ihn so fertiggemacht.« Ich schaue sie an.

»Ich weiß«, flüstert sie, und ihre Augen füllen sich mit Tränen. Ich habe sofort ein schlechtes Gewissen, löse unsere Hände und lege den Arm um sie. Sie kann ja auch nichts dafür. Sie lehnt sich an mich, und so verharren wir einen Moment.

Wir haben noch Tränen. Vielleicht hört das auch nie auf.

Yanis’ Dad tritt neben uns. Über Jackie hinweg schauen wir uns an, sein Blick ist eindringlich, als wolle er mir etwas mitteilen. Doch ich verstehe nicht, was.

Im ersten Jahr habe ich viel Zeit mit den beiden verbracht. Ich habe versucht, die magische Welt zu verstehen. Was es für Yanis bedeutete, ein Wächter zu sein. Warum diese Veranstaltung, auf der er mit seinen Freunden war, überfallen wurde. Warum er sterben musste. Doch zuletzt wurde der Kontakt zu seinen Eltern weniger, weil ich irgendwann das Gefühl hatte, mich lösen zu müssen, mehr Raum für einen Neuanfang zu brauchen. Für mich.

»Kommst du noch mit zu uns?« Auch John hat die Hände da, wo niemand seine Wut sieht. Aber ich weiß, dass sie da ist. Es hilft mir ein bisschen.

Jackie löst sich von mir, wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. Ihr Lächeln ist fast schon entschuldigend. Als müsse sie für irgendwas um Verzeihung bitten. Muss sie nicht, schon gar nicht dafür, dass sie um ihren Sohn trauert, und heute sowieso nicht.

»Natürlich kommt er mit. Tust du doch, Gabriel, oder?« Sie sieht mich ernst an, während sie ein Päckchen Taschentücher aus ihrer Jackentasche zieht.

»Sicher«, murmle ich. »Klar komme ich mit.«

John nickt, und nachdem Jackie sich die Nase geputzt hat, geht sie zu den anderen Menschen, die heute hier sind. Wir alle tragen schwarz, wir alle haben Blumen abgelegt. Nichts davon war abgesprochen.

Sams Gesicht ist eingefallen, er sieht dünn aus. Miles steht wie ein Fels neben ihm. Mel und Mike halten sich an den Händen, und Julie … Julie ist da und doch nicht da. Sie weiß, wer schuld an dem ganzen Scheiß hier ist. Sie weiß das sehr genau. Und ich auch.

Sie hebt den Kopf, unsere Blicke treffen sich. Ich nicke ihr zu, mehr geht nicht, mehr kann ich nicht geben. Denn sie ist es.

Sie ist schuld an allem.

Erst als John mich am Arm festhält, registriere ich, dass er immer noch neben mir steht. »Können wir uns heute Abend treffen? Ich muss mit dir reden.« Er schaut sich kurz um, offensichtlich soll niemand mitbekommen, dass er mich um ein Treffen bittet.

Ich schaue ihn irritiert an. »Was ist los?«

John sieht zerknittert aus, und ich ziehe fragend die Augenbrauen zusammen. Er winkt ab.

»Heut Abend. Um sechs am See?«

 

 

Das Wasser glitzert in Bildern. Mal sieht es aus wie eine Wolke, die sich im Weg verirrt hat, dann wie ein Segelschiff. Doch immer spricht es.

Den See habe nicht ich entdeckt, obwohl ich in Canterbury aufgewachsen bin. Als kleiner Junge, der seine Eltern und seinen Bruder früh verloren hat und vom Onkel aufgenommen wurde, hat es mich selten sehr weit weg von dem gezogen, was ab da mein Zuhause war. Liebe zur Natur habe ich mich erst sehr spät getraut, als ich sicherer wurde, dass mein neues Zuhause nicht einfach verschwindet.

Yanis hat mir diesen See gezeigt. Genau das erzähle ich seinem Dad, nachdem wir eine Weile schweigend auf den See geschaut haben, jeder in seine eigenen Erinnerungen versunken.

»Ich weiß. Er war so oft hier. Er hat den See sehr geliebt«, sagt er leise, und etwas Wehmütiges schwingt darin mit.

»Warum wolltest du mich sprechen?«, frage ich ihn, um von den Erinnerungen abzulenken, die mich hier überkommen.

Ich kann nicht fassen, dass John mich um dieses Gespräch gebeten hat und ich zu feige war, seinen Vorschlag dieses Ortes abzulehnen. Tatsächlich war ich anfangs oft hier, doch seit einem Jahr nicht mehr. Seit ich letztes Jahr an diesem Tag beschlossen habe, dass mein Leben weitergehen muss.

Es tut trotzdem weh, hier zu stehen, und es fällt mir schwer, die Erinnerungen zu verdrängen, die in leisen Wellen über mich schwappen, so wie sie auch den Holzsteg umspielen.

John seufzt leise, und ich wende mich ihm zu.

»Steven McGuire ist gestorben.« Ich hebe fragend die Augenbrauen, und er ergänzt sofort. »Der Gerichtsmediziner, der Yanis für tot erklärt hat.«

»Okay?« Ich habe keine Ahnung, warum er mir das erzählt.

»Es tut mir leid, wenn ich dich damit belaste, aber ich weiß nicht … ich kann nicht mit Jackie …« Er bricht den Satz ab, aber ich verstehe ihn auch so.

»Schon okay, sag mir ruhig, was du loswerden möchtest.«

Sein Blick ist dankbar, und er schaut über den See, als suche er die Worte in den glitzernden Wellen.

»Steven hatte Krebs. So schlimm das ist, manchmal hat es etwas Gutes, wenn man erfährt, dass es zu Ende geht. Es gibt einem die Chance, sein Leben in Ordnung bringen. Steven hat mich zu sich gebeten und mir etwas erzählt, was ich …« Seine Stimme bricht, bevor er sich räuspert und in sachlichem Diensttonfall weiterspricht. »Laut seiner Aussage hat er damals Yanis’ Leiche verschwinden lassen, und das, was wir … verbrannt und beerdigt hatten, war nicht mein Sohn gewesen.«

Ich keuche auf. Das kann er doch nicht ernst meinen. »Bitte was?« Das muss ein Scherz sein. »Was heißt das?«

John nickt düster. »Ich konnte das auch kaum glauben, aber Steven war sehr gefasst und sehr klar. Er sagte, er will mit all den Geheimnissen aufräumen, und das sei eins davon. Philippe hatte ihn damals gebeten, ihm den toten Körper zu überlassen. Steven habe ihm noch was geschuldet, deshalb hatte er ihm diesen Wunsch erfüllt und keine Fragen gestellt.«

»Philippe? Julies Dad? Aber was wollte er denn mit Yanis’ … Leichnam?« Ich spüre die Wut wieder hochsteigen, die Wut über diese Welt, die macht, was sie will, die ihre eigenen Regeln hat. Eine Leiche verschwinden lassen? Das klingt wie aus einem schlechten Film. Mir wird übel, wenn ich auch nur über die Möglichkeiten nachdenke, was mit Yanis’ Körper geschehen sein könnte. Ist es nicht schlimm genug, dass er sterben musste?

»Das wusste Steven nicht. Aber ich … Gabriel, ich habe es ihm geglaubt. Weißt du noch, wie Philippe mich damals davon abgehalten hat, Yanis noch einmal zu sehen? Wie gefasst er war? Leider ist Steven zwei Tage nach meinem Besuch gestorben.« Er seufzt auf, seine Stimme wird leiser und auch wenig brüchiger. »Ich habe Yanis’ Urne für einen DNA-Vergleich öffnen lassen.« Er winkt ab. »Frag besser nicht, ob das legal ist.« Er dreht seinen Kopf zu mir, und was ich in seinen Augen lese, macht mir Angst. »Es gibt keine Überreste von Knochen. Das ist nicht ungewöhnlich, aber dadurch können sie nicht herausfinden, wessen Überreste das sind. Und irgendwas sagt mir, dass Steven die Wahrheit gesagt hat und es nicht die von Yanis sind. Ich weiß nicht, zu wem ich sonst damit gehen soll. Ich bitte dich inständig, Gabriel«, seine Stimme bricht, und mit ihr mein Herz, »Finde heraus, ob mein Sohn noch lebt.«

Ich taumle zurück und halte mich am Geländer des Stegs fest. Die Bedeutung seiner Worte tröpfelt langsam in mich.

Finde heraus, ob mein Sohn noch lebt.

»John!« Ich kann gar nichts sagen, ich kann nicht mal denken. Fuck. Meint er das ernst?

Es hat so weh getan, Yanis zu verlieren, und jetzt besteht die Möglichkeit, dass er-

»Ich weiß.« John legt mir die Hand auf die Schulter, als hätte ich nicht genug Last auf ihnen. »Ich weiß nicht, wen ich sonst fragen soll.«

»Jeden, aber doch nicht mich. Was … was denkst du dir?« Ich schüttle den Kopf, viel zu entsetzt bin ich von seiner absurden Idee. Viel zu wenig verstehe ich, was er mir da eigentlich gerade sagt. »Das ist doch komplett verrückt!«

»Ich kann niemanden sonst fragen. Julie vertraue ich nicht. Sie könnte mit Philippe darüber sprechen. Ich hab ihn zwar angerufen, aber er sagte, er könnte sich das nicht erklären und dass Steven Mist erzählt hätte, aber ich spüre, dass er mir etwas verheimlicht hat. Dass er nicht ehrlich war. Jemand … jemand muss an den Palast der Träume. Ich glaube, nur dort kann man herausfinden, was wirklich passiert ist.« Mein Blick ist offenbar so ungläubig, dass er sich zu mehr Erklärungen gezwungen sieht. »Die Schule, an der Hexen und Wächter ausgebildet werden. Sie ist in Österreich. Wenn es einen Ort mit geballtem Wissen gibt, dann ist es der Palast der Träume. Aus Philippe werden wir nicht herausbekommen. Und …« Er schaut mich zerknirscht an. »Du weißt, ich hab in meiner Stellung Kontakte. Sie suchen gerade einen neuen Küchenchef. Dir traue ich das zu. Und willst du nicht wissen, was geschehen ist?«

Nein! Verdammt, nein! Ich bin dankbar, dass sich jedes Jahr im Herbst die Wunde wieder schließt. Jetzt an den Ort zu gehen, der Ausdruck der Welt ist, die ich verabscheue, erscheint mir wie ein schlechter Film. Aber John sieht so entschlossen aus, ich frage mich, wie genau er das schon durchdacht hat, wie lange er sich damit befasst, und warum zur Hölle er mich für einen guten Teil seines Plans hält.

Ich schüttle vehement den Kopf. »John, du verlangst zu viel von mir.«

Er sieht mich bittend an. »Du hast ihn geliebt.«

»Es war eine Woche.« Eine Woche. Die zwei Jahre her ist, die ich hinter mir gelassen habe.

John schürzt die Lippen. »Er hat dich geliebt.« Er sieht mich fest an.

»EINE WOCHE!« Ich kann das nicht fassen. Das kann er doch nicht ernst meinen. Doch er meint es ernst. Seine Augen füllen sich mit Tränen, nur mühsam kann er sie zurückhalten.

»Ich kann nur dich fragen. Denk wenigstens drüber nach. Bitte.«

 

 

Die Straßen leeren sich bereits, es ist später Abend, als ich den Aston Martin durch Canterburys Straßen lenke. Langsam wird es wieder früher dunkel. Der Herbst wird nicht mehr lange auf sich warten lassen, und mit ihm kommt die besinnliche Jahreszeit.

Ich freue mich auf Weihnachten, allerdings nicht auf den Urlaub. David möchte gerne in den Skiurlaub, ich wäre lieber in die Sonne gefahren. Aber ich bin froh, dass er einem gemeinsamen Urlaub überhaupt zugestimmt hat. Vielleicht bringt das Klarheit in unsere Beziehung. David ist mein erster Freund nach Yanis, leider ist es nicht so zwischen uns, wie ich es mir wünschen würde.

Es ist kompliziert.

Yanis … sein Dad denkt wirklich, dass Yanis lebt und ich an den Palast der Träume gehen sollte, um herauszufinden, ob das stimmt.

Was für eine Schnapsidee.

Diese verdammte magische Welt. Ich will damit nichts mehr zu tun haben. Ich habe mich nicht einfach so von allen aus Yanis’ damaligem Umfeld zurückgezogen. Was für eine beschissene Nummer, mich zu fragen. Mir wird schlecht.

Ich fahre an den Straßenrand, halte an und drücke auf die Kurzwahltaste für David. Wir sind seit ein paar Monaten zusammen, na ja, was man so zusammen nennt. Wir sehen uns oft, aber in der Öffentlichkeit sind wir Freunde. Ein Paar sind wir nur im geschützten Raum.

Es klingelt eine Weile, und ich will schon auflegen, da geht er doch noch dran.

»Hey, Gabriel, was gibts?«

Ich verdrehe die Augen. Er ist nicht allein, ich erkenne es sofort an seiner Begrüßung.

»Hi. Stör ich? Ich würde dich gern sehen, kann ich-«, erkläre ich ihm, aber er unterbricht mich.

»Sorry, können wir morgen quatschen?« Es ist laut bei ihm, offensichtlich ist er ausgegangen.

»Wo bist du? Kann ich vorbeikommen?«, frage ich ihn, und er schweigt einen Moment, bis er dann ungeduldig antwortet.

»Das ist schlecht heute. Ich melde mich morgen bei dir, okay?« Dann legt er auf.

Fassungslos schaue ich auf das Display, und als es dunkel wird und mir mein eigenes Gesicht entgegenschaut, werfe ich das Handy auf den Beifahrersitz.

Ich habe mir geschworen, die Sache zu beenden, wenn er das noch einmal tut. Habe mir versprochen, mich nicht mehr so behandeln zu lassen. Ich will keine Beziehung führen, in der man mich verleugnet, und doch macht er es immer wieder. Und ich lasse es mit mir machen.

In Wellen spüre ich die Enttäuschung hochsteigen, ich versuche durchzuatmen, bevor sie hochschwappt und mich überschwemmen kann.

Einatmen, ausatmen.

Er ist ausgegangen. Er verleugnet mich, weil jemand bei ihm ist, der nicht wissen soll, dass ich nicht nur quatschen wollte, sondern sein Freund bin, mit dem er schläft und den er liebt.

Ich lache auf. Sein Freund. Den er liebt. Ich muss schlucken, die Wut kommt gleichzeitig mit dem Lachen, ich sehe meine Hände zittern.

Es ist nicht neu für mich, dass David keine Zeit für mich hat und mich abwimmelt, wenn er mit seinen Freunden unterwegs ist. Freunde, die ich nicht kenne, weil er mich nicht zu ihnen mitnimmt. Zu offensichtlich könnte sein, dass wir mehr sind, und das passt ihm nicht. Er braucht noch Zeit, sagt er. Immer wieder sagt er das.

Und was ist mit mir?

Ich greife nach meinem Handy, öffne den Messenger.

 

Ich: Sorry für die späte Störung, seid ihr noch wach?

 

Die Antwort kommt sofort.

Sam Walsh: Sind wir.

 

Ich: Habt ihr Zeit für mich? Kann ich vorbeikommen?

 

Für einen Moment schließe ich die Augen, um die Angst zurückzudrängen, dass auch Sam mich abwimmeln könnte.

 

Sam Walsh: Was für eine blöde Frage. Ich mach dir ein Bier auf.

 

Ich hätte Überraschung erwartet, Ablehnung oder Ungläubigkeit, während ich Sam und Miles von dem Gespräch mit John erzähle. Irgendjemandem muss ich es erzählen, sonst platze ich. Doch Sam ist einfach nur still geworden.

Wir sitzen auf dem Sofa in ihrer gemeinsamen Wohnung. Sein Blick liegt auf einem Bild von ihm und Yanis. Es steht neben einem Reagenzglas mit einer einzelnen weißen Rose auf einem Sideboard.

»Hast du das Gefühl, dass er tot ist? Ich meine, ist da dieses Gefühl, was dir sagt, er lebt nicht mehr?« Sam blickt mich an. »Ich hab das nicht. Nach all der Zeit ist es immer noch so irreal, so absurd. Es fühlt sich an, als wäre es gestern erst passiert, ich kann es nicht glauben. Er fühlt sich nicht … weg an.«

Ich lege den Kopf schief, schaue kurz zu Miles, der nicht aussieht, als wären diese Gedanken neu für ihn.

Es tut weh, die beiden zu sehen, nicht nur, weil Sam Yanis’ bester Freund war. Es tut weh, eine funktionierende, langjährige und liebevolle Beziehung zwischen zwei Männern zu sehen, etwas, das für mich noch nie funktioniert hat. Bis auf diese eine Woche vor zwei Jahren, doch wenn ich darüber nun weiter nachdenke, kann man mich ganz vergessen. Besser, ich konzentriere mich auf Sams Frage.

»Ich fühle diese Leere, ja. Er ist weg. Ob tot oder nicht … er ist weg.« Ich horche in mich, ob ich da einen Unterschied ausmachen kann, doch das kann ich nicht. »Jackie meinte, sie hat das Gefühl, er müsste jeden Moment durch die Tür kommen.«

Sam nickt. »So fühlt es sich an. Ich rechne jeden Tag auf der Arbeit damit, dass er plötzlich reinkommt und mich angrinst. Und das hat nichts mit Verleugnen zu tun. Was, wenn John recht hat?« Er sieht nachdenklich aus, keinesfalls so schockiert, wie ich erwartet hätte.

»Das wäre ziemlich krass«, sagt Miles leise. Er hat sich in einen der beiden Sessel gesetzt, die Füße liegen auf dem Couchtisch. Auch er sieht eher nachdenklich aus.

»Macht ihr Witze? Nein!« Ich schaue von einem zum anderen. »Nein, ich glaube das nicht. Das wäre …« Ja, was wäre es? Krass? Unglaublich? Immerhin reden wir über Magie.

Sam spricht aus, was auch in mir vorgeht. »Ich glaube, in dieser magischen Welt ist mehr möglich, als wir Muggel uns vorstellen können. Julie hat uns Geschichten erzählt …« Er winkt ab.

Miles rutscht vor und legt die Arme auf den Knien ab. »Ich halte das tatsächlich auch nicht für abwegig. Allerdings ist Johns Idee trotzdem ziemlich haarsträubend. Was denkst du darüber? Was sagt David?«

Ich antworte nicht, drehe meine leere Bierflasche in den Händen.

Sam seufzt. »Gabriel.«

»Ja, was denn?« Ich stelle die Flasche ab, sie landet mit einem lauteren Knall auf dem Tisch, als ich es beabsichtigt habe. »Sorry. Heikles Thema.«

»Ach«, wirft Miles trocken ein, und diese kurze Äußerung macht mir mehr als alles andere klar, in welche Situation ich mich da schon wieder hineinmanövriert habe.

»Ich bin ja selbst schuld. Er hat immerhin von Anfang an ehrlich gesagt, dass er nicht offen schwul lebt. Hätte nur nicht gedacht, dass mich das so nervt.«

»Wirst du es ihm erzählen?«, fragt Miles, und erst will ich erneut den Kopf schütteln, doch dann halte ich inne und überlege.

»Mal schauen.« Ich stehe auf und greife nach meiner Jacke, die ich vorher achtlos über die Couchlehne geworfen habe. »Danke, Leute. Ich muss das alles mal sacken lassen.«

Sam und Miles stehen auf und begleiten mich zur Tür. »Ich würde es mir überlegen. Wenn John mich gefragt hätte, ich würde es sofort machen«, meint Sam, und Miles boxt ihn gegen den Arm.

»Am Arsch würdest du. Als ob ich zulassen würde, dass du allein nach Österreich gehst. Schlaf gut, Gabriel. Aber … was David betrifft: Schieß ihn ab. Er ist nicht gut genug für dich.« Miles klopft mir auf die Schulter.

»Was mein Mann sagt.«

 

 

Eigentlich bin ich diese Woche für die Spätschicht eingeteilt, aber mein Onkel Trevor hat mich gebeten, das Café an diesem Morgen aufzumachen, weil er noch einen Termin hat.

Ich liebe die Morgenstunden, wenn der erste Kaffeeduft durch den Laden zieht, die Tür weit geöffnet ist und hoffentlich einladend auf die Gäste wirkt. Ich mag, wie alles sauber und frisch glänzt, wie ich die Musik auswähle, die Blumen auf den Tischen arrangiere und mir überlege, was ich zum Mittagstisch anbiete.

Nachdenklich schaue ich die Vorräte durch. Natürlich gibt es eine feste Speisenkarte, aber das Mittagessen für kleineres Geld entscheide ich immer spontan. Heute hätte ich Lust auf Kartoffelsuppe.

Ich nehme den Sack Kartoffeln und setze mich zum Schälen an den Tisch in der Ecke, und während ich sie zu schälen beginne, kommt mir unweigerlich ein Tag vor zwei Jahren in den Sinn. Yanis und ich hatten unser erstes privates Date, das erste Mal, dass wir nicht ausgehen, sondern uns bei mir zu Hause treffen würden. Ich war total aufgeregt, habe mir tagelang Gedanken gemacht, wie ich es für uns beide gemütlich und romantisch gestalten könnte. Ich erinnere mich, wie mein Onkel mich amüsiert angegrinst hat, weil ich ganz kurzfristig meine alten Sofamöbel entsorgt und mit dicken Matratzen und Kissen eine große Liegefläche gezaubert habe, die er belustigt Spielwiese genannt hat. Yanis und ich hatten eine wunderschöne erste Nacht, und ich hatte für ihn Kartoffelsuppe gekocht.

Ich lasse das Messer sinken. Was, wenn er wirklich noch lebt? Kann ich diese Möglichkeit einfach so ignorieren?

Seufzend stehe ich auf und mache mich an die Zubereitung der Suppe. Aber ich kann nicht aufhören, über den gestrigen Tag nachzudenken.

Warum hat John ausgerechnet mich gefragt? Die Sache ist so lange her, und auch wenn ich manchmal traurig werde, wenn ich an Yanis denke, war es letztendlich nur e – ine Woche meines Lebens – abgesehen von den Wochen und Monaten, die ich ihn aus der Ferne angehimmelt habe. Aber ich kann nicht ewig einer Vergangenheit nachweinen, die unwiederbringlich vorbei ist.

Unwiederbringlich. Wenn er noch leben würde, dann hätte er sich doch gemeldet, oder?

Ich setze die Suppe auf, und die nächsten Stunden habe ich keine Zeit mehr, über Yanis nachzudenken. Heute läuft das Café gut, schon recht bald ist der Mittagstisch ausverkauft. Ich kann nur noch bedauernd die Schultern zucken, als am frühen Nachmittag Gäste noch etwas von der Suppe bestellen wollen. Ich weiß, das ist eine Ausnahme, denn heute hat der Konkurrenzladen am Ende der Straße Ruhetag. Morgen wird es vermutlich wieder anders aussehen, und ich bleibe auf meinem Mittagstisch sitzen.

»Ist gut, dass heute was los war«, sagt mein Onkel müde, dem ich direkt einen starken Kaffee hinstelle. Er ist später ins Café gekommen, als ich ihn für die Spätschicht erwartet hätte. Er zieht seine Jacke aus und hängt sie über die Stuhllehne, bleibt ein wenig haltlos stehen.

»Alles in Ordnung? Du siehst fertig aus.« Ich schaue mich kurz um, es ist ein ruhiger Moment. Wir setzen uns, und ich schiebe ihm ein Stück Kuchen hin. Er jedoch greift nach dem Kaffee.

»Ich hatte einen Banktermin«, antwortet er und verzieht das Gesicht. »Wir müssen uns mal unterhalten.«

»So schlimm?« Ich habe es befürchtet, ich kenne die Zahlen, und ich sehe täglich, wie viel Einbuße wir haben. Seit vor einem Jahr nicht nur eine Filiale von BestCoffee, sondern auch das vegane ThinkGreen direkt im Umfeld eröffnet haben, sind die Zahlen beängstigend.

»Lass uns heute Abend mal sprechen, ja? Und erzähl mir, was mit dir ist, du wirkst unruhig.« Er nimmt seinen Kaffee und mustert mich. Trevor kennt mich so gut wie niemand sonst.

Ich schnaube auf und erzähle ihm die Kurzfassung, doch dann kommen Gäste, ich springe auf und bewirte sie. Trevor hilft mir danach beim Aufräumen, denn auch ich bin absolut erledigt.

Das war ein echt langer Tag.

»John ist doch eigentlich niemand, der sich in Hirngespinsten verliert, oder?« Mein Onkel kennt Yanis’ Mum aus der Schule, seinen Dad hat er auf der Beerdigung und bei den Treffen danach kennengelernt.

Ich schüttle den Kopf. »Eigentlich wohl nicht, aber du weißt, was mit Menschen passiert, die einen herben Verlust erleiden. Und Jackie hatte arg zu kämpfen«, antworte ich.

»Aber er kann nicht mit ihr darüber reden, hast du erzählt. Er muss sich allein damit fühlen, wenn er dich um Hilfe bittet.« Mein Onkel schaut mich an, und ich erwidere seinen Blick nachdenklich.

»Denkst du, ich sollte das machen?« Ich hänge den Lappen weg, wir sind fertig. Mein Rücken fühlt sich an wie ein steifes Brett, ich könnte eine Massage brauchen. Meine Gedanken wandern zu David. Eigentlich sind wir nicht verabredet, aber vielleicht hat er Zeit. Doch Trevor macht mir einen Strich durch die Rechnung.

»Vielleicht ist die Idee nicht die schlechteste.« Er reibt sich über die Stirn, wirft noch einmal einen prüfenden Blick umher und nickt dann. »Der Kuchen für morgen?«

»Ist in der Kühlung«, erwidere ich nachdenklich. »Wieso ist diese Idee nicht die schlechteste?«

»Komm, setzen wir uns mal.« Er deutet auf einen der Tische, und angespannt sitze ich ihm gegenüber, während er mir von seinem Banktermin erzählt. »Wir können vielleicht noch ein Jahr durchhalten, danach wird es eng. Die Einnahmen gehen zurück, wir sind zwar sparsam, aber es sieht nicht gut aus.« Sein Blick ist besorgt.

»Was bedeutet das? Werden wir zumachen müssen?«, frage ich und fahre mir mit den Händen durch die Haare. »Fuck, ich hab gehofft, wir können das noch mal rumreißen durch den Mittagstisch und die Aktionen.«

»Erstmal bedeutet es, dass es nicht so schlecht wäre, wenn wir Geld sparen könnten, zum Beispiel deinen Lohn, wenn du diesen Job annehmen würdest. Mark und ich kommen auch allein klar. Ansonsten werden wir Mark bald entlassen und den Laden allein schmeißen müssen. Und vielleicht … versteh mich nicht falsch, ich will dich nicht loswerden, aber vielleicht würde es dir auch guttun, hier mal rauszukommen und die Sache abzuschließen.« Er seufzt leise. »Tut mir leid, Gab.«

Fassungslos sehe ich meinen Onkel an. Aber er meint das ernst. Wir sitzen noch lange über den Umsatzzahlen, wir diskutieren noch lange über Möglichkeiten, das Café zu retten, und auch darüber, ob ich einen Tapetenwechsel brauche oder nicht.

Aber all das kann für mich unmöglich ein Grund sein, an eine magische Schule zu gehen!

 

 

Ich kann kaum schlafen in den nächsten Nächten, die Sorgen halten mich wach. Im Café bin ich unkonzentriert, ich zucke zusammen, wenn mein Handy piepst, in der Sorge, dass es John sein könnte, und ich überdenke jede Ausgabe mehrfach. Die finanzielle Bedrohung macht mir zu schaffen.

In den letzten Jahren gab es nur das Café für mich. Hier habe ich meine Zeit verbracht, gearbeitet, Kontakt zu Menschen gehalten und manchmal auch übernachtet, wenn ich meine Wohnung und die Einsamkeit nicht ertragen habe. Hier hab ich Yanis kennengelernt, hier hat David mich zum ersten Mal geküsst. Das Café aufgeben zu müssen, würde mir das Herz brechen. Und Trevor auch.

Und so bemerke ich, wie sich langsam die Vorstellung einschleicht, dass ich doch woanders arbeiten könnte. Um Geld zu sparen und uns die Möglichkeit zu geben, dass sich das Café erholt. Dass ich vielleicht etwas herausfinden könnte. Vielleicht auch nur, dass John sich geirrt hat und einem Hirngespinst nachläuft.

Ich schreibe ihm eine Nachricht, um ihn zu fragen, was diese Schule für meinen Job bezahlen würde, und seine Antwort kommt unmittelbar und lässt mich blass werden: Der Verdienst ist fast doppelt so viel wie das, was ich durch das Café bekomme, Miete und Verpflegung inbegriffen. Fuck.

Ich bekomme meine Gedanken nicht sortiert und rede mit dem Menschen, der mir neben meinem Onkel irgendwie noch am nächsten ist und von dem ich mir eine sachliche Meinung erhoffe, einen Rat, wie ich damit umgehen soll … ein letzter Versuch, zu schauen, wo wir stehen. Allerdings gestaltet sich das schwierig, denn David weiß nichts von der magischen Welt.

»Bist du von allen guten Geistern verlassen? Du kannst doch nicht wirklich darüber nachdenken, diesen Scheiß zu machen!«

Okay. Sachlich ist anders.

Aufgebracht geht er in seinem Wohnzimmer umher, seine Mimik zeigt mir deutlich, dass er sauer ist. Ich sitze ein bisschen verloren auf seiner Couch und weiß nicht, wohin mit mir. Denn ich habe keine Ahnung, warum er so sauer ist.

»Ich will Trevor entlasten«, fällt mir lediglich ein. »Der Lohn ist wirklich gut, und ich könnte das sicher zeitlich eingrenzen.«

»Ich kann dir Geld leihen, wenn es so knapp ist. Ich besorge dir einen Job in meiner Firma. Aber es ist kompletter Irrsinn, an diese Schule am Arsch der Welt zu gehen.« David schaut mich nicht an bei diesen Worten, sondern aus dem Fenster. Mir ist es fast recht so, denn all seine Vorschläge sind zwar nett – und doch irgendwie …

»Ich will mir kein Geld leihen, ich will arbeiten und es selbst verdienen, aber nicht in deiner Firma. Ich bin Koch, keine Aushilfskraft für … was auch immer.« Ich schüttle den Kopf. David arbeitet als Computermensch in einer großen Firma, was hab ich da verloren? Ich bin froh, dass ich den Power-Knopf an meinem Laptop finde. Abgesehen davon: Warum sollte er mich so unterstützen? Wir sind doch nicht mal richtig zusammen. »Ich könnte das von dir auch nicht annehmen. Müssten wir dafür nicht einmal … über uns reden?«, frage ich herausfordernd, und ich sehe an seinem Gesichtsausdruck, dass er das nicht für nötig hält.

»Über uns reden? Was meinst du?« Er runzelt die Stirn.

»Letztens … ich hätte dich gern gesehen, mir ging es nicht gut. Ich-« Die Worte habe ich mir sorgfältig zurechtgelegt, mir genau überlegt, was ich sagen möchte.

»Ich war unterwegs. Du weißt, dass ich nicht auf Überraschungsbesuche stehe«, fällt er mir ins Wort.

Ich nicke langsam. »Ja, das weiß ich. Trotzdem würde ich gerne meinen Freund anrufen können, wenn ich ein Problem habe. Irgendwas scheine ich dir ja zu bedeuten, wenn es dich so aufregt, dass ich weggehen könnte. Auch wenn wir irgendwie kein richtiges Paar sind. Um eine Entscheidung zu treffen, müsste ich schon wissen, was wir für dich sind.«

»Ich reg mich nur auf, weil das Blödsinn ist. Du hast ein Café, das ein bisschen schwächelt, da muss man nicht gleich abhauen.« Er wendet sich mir zu, und mir wird unwohl unter seinem Blick. »Was ist denn mit uns? Natürlich sind wir ein richtiges Paar. Darling, du weißt doch, dass ich noch Zeit brauche, dass … ich bin noch nicht so weit. Du bist so viel stärker als ich, ich brauche dich für diesen Weg.« David setzt sich neben mich und nimmt meine Hand. Ich wende mich ihm zu.

Das hat er schon so oft gesagt. Seine Stimme wird in diesem Moment immer ganz weich und liebevoll, meistens küsst er mich dann, und wir haben Sex.

»Gabriel, ich weiß nicht, ob ich das hinkriege. Wenn du ein paar Monate weg bist oder vielleicht für immer, das wäre das Aus für uns. Das will ich nicht.«

Ich betrachte unsere Hände, die ineinander liegen, und in mir steigt das Gefühl hoch, das ich schon ein paar Mal hatte, aber nie wirklich greifen konnte. Das ich als Angst identifiziert habe, obwohl es keine Angst ist. Heute spüre ich es genauer, heute habe ich das Gefühl, näher bei mir zu sein. Hier, wo ich eigentlich Nähe zu jemand anderem suche.

Langsam entziehe ich ihm meine Hand. »Ich werde das machen, David«, sage ich leise. »Wir sind kein Paar, und ich hab’s satt, nur dein Freizeitvergnügen zu sein.« Ich atme tief durch. »Ich hab gedacht, das mit uns wäre gut für mich, nach der Sache mit Yanis, aber-«

»Yanis, Yanis. Gabriel, das ist doch …« David rauft sich die Haare und springt auf. »Du musst aufhören, an ihn zu denken und ihm hinterher zu heulen. Er ist weg. Tot. Für immer, und du musst weitermachen! Hier, in deinem Zuhause, in deinem Café, das kann man retten, so schlimm kann es nicht sein mit der Kohle. Dein Onkel übertreibt doch total. Und der Typ, er ist tot, Gabriel.«

Seine Worte verletzen mich, jedes einzelne. Aufhören, an ihn zu denken. Ich spüre den Schmerz hochsteigen, spüre Verzweiflung. Tot. Für immer. Verzweiflung, die auch John ergriffen hatte, und doch spüre ich die gleiche Hoffnung. Tot.Übertreibt doch total. Sehe Trevor vor mir, wie erschöpft er war, weil die Bank ihm nicht mehr helfen kann, sehe das leere Café.

Sehe meine Leere.

Unwillkürlich schüttle ich den Kopf und stehe von der Couch auf, suche Davids Blick. Er versteht sofort und hebt hilflos die Schultern. Ich habe keine Worte mehr für ihn, stattdessen suche ich meine zwei, drei Sachen zusammen und fahre in meine Wohnung. Schaue mich um, beginne zu packen. Öffne an meinem Laptop einen Ordner, den ich tief versteckt hatte, um nicht ständig darüber zu stolpern, und schaue mir die Bilder an, die damals am See entstanden sind. Ich bemerke erst, dass ich weine, als die Tränen auf die Tischplatte tropfen.

Dann rufe ich John an.

 

[3]

 

England

Oktober 2017

 

Das wird bestimmt eine gute Erfahrung!« Mein Onkel sagt das bestimmt zum dreißigsten Mal, und genauso oft war ich versucht, zu widersprechen. Aber ich lasse mir meine Unsicherheit nicht anmerken, also nicke ich wie all die Male davor.

»Wir haben das doch besprochen. Es wird guttun, was Neues zu sehen«, antworte ich ihm. »Wir sparen Geld, ich verdiene was dazu, und im Frühjahr schauen wir weiter.«

»April.« Trevor legt mir die Hand auf die Schulter. »Dann kommst du wieder. Gab, das alles tut mir so leid. Ich hatte mir so gewünscht, dass es besser läuft.«

»Es ist, wie es ist. Wir haben gewusst, dass das Café immer ein Risiko ist. Und nun müssen wir schauen, dass wir es halten können. Wenn ich dafür eine Weile woanders Geld verdiene, ist das okay.« Dass dieser Ort eine magische Schule in Österreich sein würde, hätte ich mir allerdings nicht einmal in meinen kühnsten Träumen ausgemalt.

»Melde dich, wenn du angekommen bist, ja?« Er nimmt meinen Koffer und hebt ihn ins Auto.

Ich habe mich für wenig Gepäck entschieden, ich weiß nur noch nicht genau, warum. Ob ich neu anfangen will oder nicht lange bleiben, diese Entscheidung steht noch aus. Ausgemacht haben wir ein halbes Jahr. Bis dahin könnte ich einiges gespart haben, und mehr Zeit wollte ich John auch nicht zugestehen. Wenn ich in sechs Monaten nichts erfahren habe, was seine Vermutung bestätigt, wars das.

Ein halbes Jahr. Das ist überschaubar.

Meine Wohnung vermieten wir per Airbnb, meine wenigen wertvollen und persönlichen Sachen sind bei Trevor untergebracht.

Ich bin bereit, aufzubrechen.

Wir umarmen uns lange. Es geht ihm nicht gut damit, dass ich wegfahre.

Kurz schweifen meine Gedanken zu David. Er hat noch versucht, mit mir zu sprechen, aber wenn ich nicht reden will, will ich nicht reden, da bin ich stur wie ein Esel. Julie kann ein Lied davon singen.

Sie hat sich zwei Jahre die Zähne an mir ausgebissen.

Von Sam und Miles habe ich mich verabschiedet, sie sind wieder eng an mich herangerückt seit diesem Abend, an dem sie für mich da waren. Sie befürworten, was ich tue. Dass ich eine Weile weggehe, dass ich David verlasse, dass ich an den Palast reise.

Dass ich herausfinde, was mit unserem toten Freund passiert ist.

 

 

Kurze Zeit später bin ich auf dem Weg nach Österreich. Mein erster Zwischenstopp ist die Fähre in Dover. Ich schaue aufs Meer, verabschiede mich von England und meinem bisherigen Leben.

Es erschien mir immer undenkbar, mein Zuhause zu verlassen. Zu groß war die Angst, dass es nicht mehr da ist, wenn ich zurückkomme.

Warum ich jetzt gehe, kann ich mir selbst nicht erklären. Ich habe Johns Bitte aus allen Perspektiven betrachtet. Mich dagegen gewehrt, sie als verrückt abgelehnt und in Betracht gezogen.

John hat mir alle Informationen gegeben, die ich brauchen werde. Ich habe jetzt schon mehr über den Palast der Träume und die magische Welt erfahren, als ich wissen wollte. Es hat leider nicht dazu beigetragen, dass ich sie mehr mag.

In der magischen Welt gibt es Hexen und Wächter.

Hexen sind Frauen, deren Fähigkeiten von alltäglichen Kleinigkeiten bis hin zu Dingen reichen, die John haben blass werden lassen, und da ist ein langsames Altern noch harmlos.

Wächter sind die Männer, die einmal eine Hexe beschützt und sich dadurch den Zugang in diese magische Welt verdient haben. Riskier dein Leben, und du darfst mitspielen. Wächter haben keine Magie, sie sterben also in einem meist normalen Lebenszyklus. Aber sie werden am Palast zu einer Art Agenten ausgebildet und schützen die magische Welt.

Warum allerdings sterbliche Männer mächtige Zauberinnen beschützen sollen, die Logik erschließt sich mir nicht so richtig.

In Calais werfe ich das Navi an. Knapp elf Stunden bis zum ersten Ziel. Ich werde in München übernachten. Ich möchte schlafen, und vor allem ausgeruht an meiner neuen Arbeitsstelle ankommen. Auch wenn ich nicht ganz glücklich bin mit diesem Plan, will ich doch einen guten Eindruck machen. Mein Einstellungsgespräch fand lediglich per Videokonferenz statt, trotzdem will ich Mr Mansour keinen Grund geben, seine Zusage zu bereuen, wenn er mich real kennenlernt.

Die erste Stunde bin ich mächtig überfordert davon, dass sich mein Lenkrad plötzlich auf der falschen Seite befindet, doch mit jeder Meile, die ich mehr auf dem europäischen Festland bin, England hinter mir lasse und meiner neuen Arbeitsstelle entgegenfahre, werde ich ruhiger, fühle ich mich freier und gelassener. Und mit jeder Stunde fühle ich mich meiner Aufgabe weniger gewachsen.

Die magische Welt hat mir von Anfang an Angst gemacht. Aber ich habe nie daran gezweifelt, was Yanis mir erzählt hatte, von sich, von Julie, von ihrer Schule.

Ich habe mit Trevor gesprochen, der sich als Wächter herausstellte.

Ich habe mit Yanis’ Eltern gesprochen, auch John ist ein Wächter.

Ich wollte diese Welt nicht kennenlernen, aber ich hatte keine Wahl, weil ich einen Mann geliebt habe, der ihr zum Opfer gefallen ist.

Ich war über so viele Monate verknallt, und dann ging ein Traum in Erfüllung, als wir endlich zusammengekommen sind. Eine Woche, die sich nach so viel mehr angefühlt hat, vor allem nach einer glücklichen Zukunft.

Yanis’ Tod hat mich verändert, und das nicht zum Guten. Früher war ich ein Spielball für viele Kerle, sie wollten sich daten, wollten Spaß. Mit Yanis war alles anders, von Anfang an ehrlich und direkt. Und als er gestorben ist, war ich wieder der unsichere Kerl von vorher, der niemandem weh tun will, der nimmt, was kommt, der nicht mehr für sich einstehen kann, weil er sich aus den Augen verloren hat.

Die Landschaft fliegt an mir vorbei, ich passiere die deutsch-französische Grenze und mache Pause in einem kleinen Städtchen mit zauberhaften kleinen Gassen und altem Kopfsteinpflaster. Doch die Gedanken werde ich nicht los, als ob ich in mir aufräumen muss, bevor ich diesen neuen Lebensabschnitt beginne.

Und ich kann ehrlich sein, hier mit mir allein.

Vielleicht zum allerersten Mal.

Ich wusste sehr genau, dass ich tief drinhing, dass ich längst hätte loslassen müssen. Dann kam David, und ich habe es wirklich versucht. Ich war Feuer und Flamme für ihn, aber ich habe schnell erkannt, dass ich wieder ein schlechtes Händchen bewiesen hatte. Alles war wie vorher, er war auch nicht bereit, zu mir zu stehen.

Diese eine Woche mit Yanis war so anders. Er hat allen, die ihm wichtig waren, von mir erzählt, wir waren ein Paar, ersichtlich für jeden. Ein Stück Freiheit, von dem ich nicht wusste, dass es mir fehlt, bis ich es verloren hatte.

David wollte ich eine Chance geben, habe mich von Yanis verabschiedet, habe ihm an seinem Grab erzählt, dass ich ihn loslassen muss, um einen neuen Weg einzuschlagen. Weiterzumachen. Und ich weiß, ich war auf einem guten Weg.

Schon seit Wochen denke ich darüber nach, warum es nicht funktioniert hat. Warum David mir nicht genug Zukunftsmusik war, warum es sich nicht so angefühlt hat wie mit Yanis. Und ich komme immer wieder zu der gleichen Antwort: Er wärs gewesen.

Dieses Abenteuer hier, und anders kann man diese Schnapsidee von John ja nicht nennen, ist für mich vor allem eins: Eine Möglichkeit, abzuschließen. Wenn ich herausfinde, dass Yanis wirklich und echt tot ist, dann kann ich vielleicht endlich weitermachen.

Dann kann ich endlich ich selbst sein.

 

 

[4]

 

Österreich

Oktober 2017

 

»Hey, ich bin Daniel. Tut mir leid, dass du warten musstest.« Ein braunhaariger, muskulöser Kerl kommt auf mich zu und streckt mir seine Hand entgegen.

»Gabriel Young, hi!« Ich drücke mich von meinem Auto weg und schüttle Daniels Hand. Er hat einen kräftigen Händedruck. »Macht doch nichts. Ich hätte ja früher anrufen können.« Dass ich erst noch eine halbe Stunde herumgeirrt bin, weil hier nirgendwo eine verdammte Schule zu finden war, und mich dann letztendlich stur auf die GPS-Daten verlassen habe, die mir zugemailt worden sind, erzähle ich ihm nicht.

»Ich schließe dir auf, dann kannst du dein Auto parken.« Daniel zieht eine Chipkarte aus seiner Hosentasche und lächelt mich an.

Ich steige in mein Auto und fahre durch das Tor, welches sich gleich wieder hinter mir schließt, und stelle mein Auto in einer großräumigen Tiefgarage ab. Dann nehme ich meinen Koffer.

Daniel wartet an einer grauen Tür auf mich und liest auf seinem Handy. Er ist ziemlich attraktiv, gut gebaut, er macht sicher viel Sport. Ob er hier Lehrer ist oder nur ein … Wächter?

»Alle Türen hier öffnen sich nur mit Chipkarte, du wirst eine eigene bekommen, damit du nicht immer wen fragen musst, wenn du mal an dein Auto oder raus willst«, erklärt er mir und schiebt sein Handy in die Hosentasche. »Erfahrungsgemäß fährt man aber nicht oft weg, wenn man nicht unbedingt muss.« Wir gehen durch die Tür zum Fahrstuhl, Daniel drückt auf die 1, und knatternd setzt sich der Lift in Bewegung. »Ich bringe dich für den Bürokram zu Lotta ins Sekretariat, dann zeige ich dir deine Wohnung und deinen Arbeitsbereich und weise dich in alles ein, was du wissen musst. Heute Nachmittag hast du ein Gespräch mit Freya und Tyros.«

»Äh, okay«, antworte ich, überfordert von seinem Redeschwall. Er grinst mich an, doch da geht schon die Fahrstuhltür auf, und wir stehen in einer riesigen Eingangshalle. Ich halte die Luft an.

Hohe, steinerne Wände, von meterhohen Pflanzen gesäumt. In der Mitte der Halle befindet sich ein kleiner Brunnen, um den herum zwei breite Treppen nach oben führen. Die Decke ist mit Stuck verziert, durch große Fenster fällt das Tageslicht herein.

»Beeindruckend, was? Aber freu dich nicht zu früh, es sieht nicht überall so aus.« Daniel lächelt. »Herzlich willkommen im Palast der Träume.« Er breitet die Arme aus. »Das hier ist jetzt dein Zuhause. Ich hoffe, du wirst dich wohlfühlen.«

Ich atme tief durch.

Ja. Das hier ist jetzt mein Zuhause.

Nachdem ich bei einer jungen Frau – Lotta – einige Formulare ausgefüllt und meinen Schlüssel bekommen habe, bringt Daniel mich zu meinem Quartier und unterzieht mich unterwegs einer Kurzanweisung über die Regeln des Palastes.

»Ich bin in einer halben Stunde wieder da. Komm erst einmal in Ruhe an«, sagt er und zwinkert mir zu. Dann lässt er mich allein.

Ich stelle meinen Koffer ab und schaue mich um.

Sie haben mir eine kleine Wohnung zugewiesen. Ich schätze, so wohnen alle hier. Es ist jedenfalls sehr nett, ein kleiner Wohn- und Küchenraum, ein Schlafzimmer, ein Bad. Die Wände sind weiß gestrichen, es gibt genug Schränke und Regale, um mein Zeug zu verstauen oder neues anzusammeln. Ich ziehe einen der luftigen Vorhänge zur Seite und öffne das Fenster.

Diese Aussicht.

Sie ist atemberaubend.

Weißspitzige Könige erheben sich majestätisch über das kleinere Fußvolk, ich bin sofort beeindruckt von den Alpen und ihrer rauen Schönheit. Alles um mich herum ist wild und ungestüm, grauer Fels mündet in grüne oder weiße Spitzen. Es ist unglaublich. Wie muss es sich anfühlen, dort oben zu stehen? Den Weg geschafft zu haben, den Berg bezwungen?

Ich spüre ein unbändiges Verlangen danach, wandern und klettern zu gehen. Vielleicht ergibt sich diese Möglichkeit ja.

Die Luft ist frisch und klar, und ein schönes Gefühl von Kraft und Motivation breitet sich in mir aus.

Es fühlt sich wie ein Neuanfang an. Ich stelle erstaunt fest, dass ich mich auf das freue, was auf mich zukommt.

Ich ziehe mein Handy heraus und schreibe Trevor eine kurze Nachricht, dass ich gut angekommen bin und mich in der nächsten Woche bei ihm melde. Bei der Gelegenheit lösche ich auch direkt Davids Nummer. Dann beschließe ich, meinen Koffer auszupacken, räume meine Badezimmerutensilien ein und wasche mir Hände und Gesicht. Als es klopft, deute ich mir im Spiegel eine High Five an, grinse und öffne Daniel die Tür.

»Hey, Gabriel, kommst du klar? Brauchst du noch was?«, fragt er mich und deutet mit der Hand in den Raum hinein.

»Nein, alles gut. Es ist toll.« Ich schließe die Tür hinter mir, schließe ab, und wir gehen nebeneinander durch die endlosen Flure.

Wie soll ich mir nur je den Weg merken?

»Das lernt man mit der Zeit.« Er lacht leise, als er sieht, wie ich mich umsehe und versuche, mir markante Dinge einzuprägen. Ich hoffe, er hat recht. »Ich zeig dir jetzt die Küche und den Speiseraum und stelle dir dein Personal vor. Heute Nachmittag werden sich Freya und Tyros mit dir unterhalten.«

»Mein Personal?« Ich hebe die Augenbrauen.

»Klar. Du bist doch als Küchenchef eingestellt worden, oder?«

»Ja, schon. Und … Freya und Tyros? Nennt ihr euch beim Vornamen?« Ich bin neugierig, es klingt alles so locker.

»Ja, meistens schon. Es wird dir zugutekommen, dass wir hauptsächlich englisch miteinander sprechen, das macht es einfacher.« Daniel lächelt. »Freya Erikson ist unsere Direktorin und Gründerin des Rats. Tyros Mansour ist ihr Stellvertreter und derzeitiger Ratsvorsitzender.«

Ich nicke. »Ich weiß, ich hab ihn per Video kennengelernt. Er hat mich eingestellt.«

Daniel nickt ebenfalls. »Tyros ist schwer in Ordnung. Generell hast du einen guten Zeitpunkt erwischt, es ist selten, dass so viele Leute am Palast sind. Wir sind oft unterwegs. Neue Schüler abholen, Artefakte einsammeln, Informationen nachgehen, feindliche Gruppen eliminieren.« Er lacht laut, als er mein entsetztes Gesicht sieht. »War ein Scherz. Aber Montag geht es wieder los, da sind ein paar von uns weg. Morgen Abend ist deshalb eine kleine Abschiedsrunde, komm gerne dazu, wenn du magst. Ich sag dir Bescheid.« Er lächelt aufmunternd, und ich finde es sehr nett von ihm, mich einzuladen. Es könnte meinen Aufenthalt hier deutlich angenehmer gestalten, wenn ich mit den Leuten gut klarkäme.

 

 

Ich schlafe erstaunlich gut in meiner ersten Nacht, und als ich aufwache und mit meinem ersten Kaffee am offenen Fenster stehe, ist mir zwar arschkalt, aber ich spüre Zufriedenheit in mir. Die Unruhe der letzten Wochen legt sich ein wenig, wahrscheinlich tut es wirklich gut, mal etwas anderes zu sehen als das vertraute Zuhause.

Offiziell fange ich erst Montag an zu arbeiten, aber wenn Daniel mich wirklich heute Abend mitnimmt, um mich den anderen vorzustellen, könnte ich ja was vorbereiten. Dabei kann ich direkt die Küche näher kennenlernen und mich mit den Geräten vertraut machen.

Kurz überlege ich, was ich kochen oder backen könnte, aber dann ist die Entscheidung schnell getroffen: Schokoladenküchlein gehen immer.

Die nächsten Stunden bin ich damit beschäftigt, Vorräte zu sichten, die alten Speisepläne zu lesen, herauszufinden, was die Leute hier überhaupt gerne essen, alles irgendwie anzupassen – und dabei nicht denen im Weg herumzustehen, die arbeiten und Schüler und Lehrer versorgen müssen.

Letztendlich werfe ich aber alle Pläne über Bord und entwickle mein eigenes System, in der Hoffnung, dass mein Team damit klarkommt.

»Hey, Tanya, kannst du mir Milch raufholen?« Ich hebe den Kopf aus dem Schrank und erschrecke so sehr, dass ich ihn mir am Oberschrank anknalle.

Vor mir steht nicht Tanya.

Vor mir steht Julie.

Heilige Scheiße.

»Oh, sorry. Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken«, ruft Julie aus und eilt um die Arbeitstheke herum, um mich besorgt am Arm zu greifen.

Das fängt ja hervorragend an.

»Was machst du denn hier?« Ich ziehe die Augenbrauen zusammen und meinen Arm zurück, dann mustere ich sie. Sie lächelt verunsichert und nimmt etwas Abstand.

»Zur Schule gehen?« Sie schmunzelt. »Als ich hörte, wie der neue Koch heißt, da … na ja. Hab ich Sam gefragt, und er hat gesagt, dass das wirklich du bist. Warum? Was machst du ausgerechnet am Palast der Träume?« Sie sieht mich forschend an.

Seit Yanis tot ist, haben wir uns exakt viermal gesehen. Auf der Beerdigung, auf beiden Trauerfeiern, und einmal irgendwann dazwischen, weil sie vor meiner Tür stand und reden wollte. Ich wollte nicht reden, und das will ich noch immer nicht.

»Okay«, ignoriere ich ihre Frage. »Hör zu, Julie, ich … ich hab viel zu tun.« Ich will sie loswerden, das weiß sie genauso gut wie ich. Sie tut mir den Gefallen nicht, aber immerhin bekomme ich eine Verschnaufpause.

»Ich hole dir die Milch, ich kenne mich hier aus.« Bevor ich reagieren kann, ist sie verschwunden. Ich runzle die Stirn. Was heißt das, sie kennt sich hier aus? Arbeitet sie etwa auch für mich?

Himmel.

Ich stütze die Hände auf die Arbeitsplatte und atme tief durch. Ich bin ihr jetzt über zwei Jahre aus dem Weg gegangen, weil ich nicht mit ihr über Yanis reden wollte. Mir ist schon klar, dass nicht sie ihn getötet hat. Aber wegen ihr war er auf dieser Veranstaltung, und wegen ihr war er Teil dieser bescheuerten magischen Welt. Ich sehe ihn vor mir, wie er mich angesehen hat, als wir am See saßen und er mir alles erzählt hat. Wie er sie von der Straße gezogen und damit verhindert hat, dass sie vor mein Auto läuft, wie ihn das zum Wächter gemacht hat, wie sie ihre Träume geteilt haben. Wie sie Nähe mit ihm erzwungen hat, obwohl er sich in diesen Tagen in mich verliebt hat. Schlagartig wallt die alte Eifersucht in mir auf.

Wie er im Traum mit Julie geschlafen hat.

Ich höre sie hinter mir in die Küche kommen und wappne mich für einen Anschiss, dass ich sie nicht hierhaben will, dass sie mir aus dem Weg gehen soll, dass ich am liebsten direkt wieder verschwinden würde, da stellt sie eine Palette Milch neben mir ab.

»Es tut mir unendlich leid. Ich wünschte, ich könnte ein paar Dinge rückgängig machen.« Ihre Stimme ist leise, zart, zerbrechlich. Sie hat Angst vor mir. Vor meiner Wut. »Aber egal, welchen meiner Fehler ich nicht machen würde, wir wären so oder so auf die Convention gefahren, und …«

»Hör auf«, bitte ich sie leise. »Bitte hör auf.« Ich schaue sie an, spüre, wie meine Augen feucht werden. »Ich will nicht darüber reden. Wenn du hier arbeiten musst, tu es. Am besten tust du es aber nicht. Geh mir aus dem Weg. Du und ich, wir haben nichts gemeinsam.«

Sie presst die Lippen zusammen, schiebt die Palette etwas weiter an die Wand. Ihre Hand liegt unschlüssig darauf, dann geht sie ein paar Schritte zurück.

»Doch, Gabriel. Wir haben mehr gemeinsam, als du dir eingestehen willst.« Sie geht aus der Küche, dreht sich aber noch einmal um. »Wir haben ihn beide geliebt, und jetzt sind wir beide hier.«

 

 

Daniel hat Wort gehalten, und so sitze ich am Abend in einer Runde von Lehrern, Wächtern und Hexen und trinke ein eiskaltes Bier. Immer wieder muss ich über die Anekdoten der Leute lachen, die gerne von ihren Reisen und Missionen erzählen, und längst komme ich mir vor, als würde ich sie ewig kennen.

Daniel hat mir kurz und bündig die Leute vorgestellt, und da ich ziemlich gut mit Namen bin, kann ich sie mir auch alle merken: Max, der Psychologe, und die Brüder Alex und Ivan, die die gleichen grünen Augen haben. Lotta, die Sekretärin, mit der ich nun schon einige Male Kontakt hatte und die zusammen mit Moose aufkreuzte – einem Typen, der aussieht wie ihr Bruder –, Silas, der sehr offensichtlich sehr viel Sport treibt. Lena, Jennifer. Mario und Giovanni, die mir erzählen, dass sie am Montag nach Rom fliegen, während Daniel eine neue Schülerin abholt und Alex und Moose was mit Tyros zu erledigen haben. Die Leute scheinen gut beschäftigt.

»Wir wechseln uns immer ein wenig ab. Schließlich können ja nicht alle Lehrer gleichzeitig weg sein. Abgesehen davon ist das nur der nette Kern Lehrer. Die nicht so netten Kollegen werden nicht eingeladen«, erklärt mir Alex, und ich muss darüber lachen.

»Ich bin nicht einmal Lehrerin«, stellt Lotta fest.

»Du wärst sicher eine großartige Lehrerin«, sagt Ivan und zwinkert ihr zu. Sie errötet ein bisschen. Ich glaube, sie steht auf ihn. »Lass mal, ich hab genug zu tun«, erwidert sie und beißt in das letzte Schokoküchlein, das sie in einem harten Kampf gegen Ivan ergattern konnte.

Schokoküchlein. Funktioniert immer.

»Nachdem nun geklärt ist, dass du Muffins backen kannst: Was kochst du uns denn in deiner ersten Woche, Gabriel?«, fragt mich Giovanni und erzählt mir von seiner Nonna, die immer für die ganze Familie kocht, weil sie unter sieben Leuten nicht einmal den Topf herausholt. Wir fachsimplen ein bisschen, und spontan kündige ich eine italienische Woche an. Lotta jubelt und ruft »Pasta«, während Ivan auf »Lasagne!« besteht. Ich grinse vor mich hin, Giovanni haut mir auf die Schulter, und ich weiß, ich habe neue Freunde gefunden.

Für einen Abend vergesse ich den Grund, warum ich hier bin, vergesse Yanis und alles, was daran hängt, vergesse Julie und ihre Anwesenheit.

Für einen Abend genieße ich den Kontakt zu wirklich netten Menschen und einen aufregenden Neuanfang.

 

[5]

 

Österreich

Oktober 2017

 

»Das ist echt nicht lustig.« Ich liege schwer atmend auf einer Matte in der Sporthalle. Holy Shit, meint er das ernst?

Ich war schon erstaunt, dass Silas seine Ansage am ersten Abend – ›Wir können ja mal zusammen trainieren‹ – ernst meinte und sich für heute Morgen mit mir verabredete, aber hätte ich auch nur den Hauch einer Ahnung gehabt, was mich erwartet, wäre ich im Bett geblieben.

Silas hat sich mit dem Kopf an eine der Wandmatten gelehnt, seine Schultern beben, und dann platzt es auch schon aus ihm heraus. Er dreht sich um und wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. »Ich habe noch nie …« Er schüttelt prustend den Kopf und scheint nicht fassen zu können, was er eben zu sehen bekommen hat. »Alter, du bist der unsportlichste Mensch der Welt.«

Ich brumme und nehme die Hand an, die er mir reicht, damit ich wieder aufstehen kann. Mein Kopf dröhnt, und mein Magen fühlt sich an, als wäre ein Rammbock darin gelandet. »Ich hab dich gewarnt.« Hab ich wirklich. Aber er wollte mir ja nicht glauben.

»Ich hab nicht gedacht, dass du das wirklich so meinst. Du musst dringend was tun.« Silas stemmt die Hände in die Hüften und schaut mich an. Er muss nichts mehr tun, sein Körper ist trainiert. Das Sixpack sehe ich trotz des Shirts.

»Hm«, brumme ich erneut und reibe mir übers Gesicht. »Aber nicht mehr heute.«

Silas lacht erneut auf und boxt mich sacht gegen den Arm, während wir nebeneinander zu den Umkleidekabinen gehen.

Plötzlich wird mir übel, ich reiße die Augen auf und schaffe es gerade noch rechtzeitig zur Toilette, wo ich mich keuchend übergebe. Als ich wieder herauskomme, hat Silas sich bereits ausgezogen und grinst mich breit an.

»Echt jetzt?«

»Halts Maul«, fahre ich ihn an, aber weil er so lachen muss, kann ich auch nicht ernst bleiben. »Du hast aber auch echt einen Schlag drauf«, versuche ich mich zu verteidigen und öffne meinen Spind für mein Duschzeug.

»Dabei hab ich nicht mal fest zugehauen. Musst mal schauen, wenn ich mit Alex oder Ivan trainiere, dann weißt du, was ein echter Schlag ist.« So ein bisschen eingebildet klingt das ja schon.

»Kein Wunder, dass die Schüler dich hassen«, brumme ich und folge ihm unter die Dusche. Seinen muskulösen Körper versuche ich dabei so wenig wie möglich anzuschauen.

Sicher ist sicher.

»Zurecht, würde ich meinen. Solange sie mich hassen, sind sie angespornt und geben Leistung. Ich bin ihr Lehrer, sie müssen mich nicht mögen.«

Ich denke an Ivan, der als Lehrer eine ganz andere Nummer fährt. Aber der ist auch Psychologe, vielleicht liegt es daran, dass er eher gleichberechtigter mit den Schülern umgeht.

»Tun sie auch nicht. Sie haben Angst vor dir. Aber immerhin hat es einer geschafft, dir die Nase zu brechen.« Ich kichere leise, die Geschichte wird seit einer Woche jeden verdammten Tag im Speisesaal erzählt. Mittlerweile weiß ich gar nicht mehr, welche Version die richtige ist.

Silas winkt ab und bindet sich ein Handtuch um die Hüfte. »Das war eine gute Leistung, er hat meine Unachtsamkeit genutzt. Ich hab ihn zur Sau gemacht, aber insgeheim war ich echt stolz auf ihn.« Er grinst. »Aber sag ihm das nicht. Er prahlt eh genug damit.«

Ich lache auf. Silas ist schon schwer in Ordnung, und wer bin ich, seine Lehrmethoden anzuzweifeln?

 

 

Am Nachmittag sitze ich im Büro des Direktors und habe Zeit, mich umzuschauen, während Tyros uns Tee einschenkt. Minztee mit viel Zucker, typisch marokkanisch, wie er betont. Er scheint einen Bezug zu Marokko zu haben, sein Büro ist ungewohnt hell, freundlich, sonnig. An den Wänden hängen bunte Wandteppiche, zwischen den unzähligen Büchern im Regal stehen kleine bemalte Keramikwaren, und ich nehme einen nussigen Duft wahr. Alles in allem ein Raum, in dem ich mich sofort entspanne.

»Du bist jetzt vier Wochen hier. Hast du dich gut eingelebt?«, fragt er mich und stellt mir die Tasse mit dem dampfenden Tee hin. Dann setzt er sich lässig in seinen Stuhl und schlägt die Beine über, mustert mich aufmerksam. Tyros’ Blick ist so eindringlich. Ich bezweifle, dass ihm irgendjemand was vormachen kann, also versuche ich es gar nicht erst.

»Besser, als ich dachte. Die Leute sind echt nett, und die Arbeit macht mir Spaß. Alle sind so … dankbar«, antworte ich ihm.

Er lacht leise. »Ja, das sind sie. Man könnte meinen, sie hätten vorher nichts Anständiges zu essen bekommen. Aber du hast echt was drauf.«

»Danke, das ist nett, dass du das sagst. Mein Onkel hat mir alles beigebracht, bei ihm bin ich aufgewachsen.« Beim Gedanken an Trevor wird mir ein wenig flau im Magen, ich rufe ihn viel zu selten an.

»Oh. Wie kommt das? Was ist mit deinen Eltern?« Tyros schaut mich prüfend an, und nach einer Weile wird mir richtig unwohl unter seinem Blick. Doch bevor ich ihm antworten kann, gibt er sich die Antwort selbst. »Du hast sie verloren«, stellt er fest, und ich schlucke.

Sieht man mir das so deutlich an? Oder weiß er einfach nur, wie sich das anfühlt und kann in mir sehen, was er selbst spürt?

»Ja. Sie und meinen kleinen Bruder«, erwidere ich.

Tyros nickt, nimmt seine Tasse und denkt einen Moment nach, bevor er erst trinkt und dann spricht. »Ich wollte dir auch eigentlich nur sagen, dass wir alle sehr glücklich über deine Anwesenheit sind, und dass ich hoffe, du bleibst uns erhalten.« Sein Blick ist freundlich, aber so wissend, so tiefgründig. Er ist älter als ich, nicht so alt, dass er mein Vater sein könnte, aber einer der Ältesten hier am Palast. Er strahlt Souveränität und Autorität aus, und ich habe schon mitbekommen, dass er nicht immer so zugewandt ist wie jetzt.

In mir breitet sich ein Gefühl von Dankbarkeit aus.

Dankbarkeit, dass ich hier eine neue Chance bekomme, einen Neuanfang wagen kann. Die Vergangenheit abschließen.

Verwirrt halte ich inne. Das … ist nicht der Grund, warum ich hier bin.

Als ich Tyros’ Büro verlasse, streife ich ziellos durch die Gänge.

---ENDE DER LESEPROBE---