Bis du mich vergisst - Svenja Mann - E-Book

Bis du mich vergisst E-Book

Svenja Mann

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Beschreibung

Elainas Leben könnte perfekter nicht sein. Sie ist unabhängig, schön, erfolgreich - und glücklich mit einem der begehrtesten Junggesellen Miamis liiert. Aufregende Veränderungen stehen an, als die Veröffentlichung ihres ersten Buches bevorsteht und Elaina eine Stelle als Gastdozentin an einer renommierten Universität in Australien antritt. Als das Schicksal sie an einen Ort zurückführt, zu dem sie einst eine tiefe Verbindung verspürte, werden längst vergessene Gefühle plötzlich wieder lebendig. Unerwartet gerät Elaina in einen Strudel der Leidenschaft, der ihr Leben gehörig auf den Kopf stellt.

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Für alle, die an die Liebe glauben.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: MAI 2014 OXFORD (ENGLAND)

Kapitel 2: JANUAR 2023 MIAMI (USA)

Kapitel 3: JANUAR 2023 MIAMI (USA)

Kapitel 4: DEZEMBER 2002 WELLINGTON (NEUSEELAND)

Kapitel 5: JANUAR 2023 MELBOURNE (AUSTRALIEN)\

Kapitel 6: JUNI 2003 WELLINGTON (NEUSEELAND)

Kapitel 7: JANUAR 2023 MELBOURNE (AUSTRALIEN)

Kapitel 8: FEBRUAR 2004 SINGAPUR

Kapitel 9: JANUAR 2023 MELBOURNE (AUSTRALIEN)

Kapitel 10: DEZEMBER 2003 WELLINGTON (NEUSEELAND)

Kapitel 11: JANUAR 2023 MELBOURNE (AUSTRALIEN)

Kapitel 12: MÄRZ 2004 SINGAPUR

Kapitel 13: JANUAR 2023 WELLINGTON (NEUSEELAND)

Kapitel 14: JULI 2012 OXFORD (ENGLAND)

Kapitel 15: JANUAR 2023 WELLINGTON (NEUSEELAND)

Kapitel 16: NOVEMBER 2013 YARRA VALLEY (AUSTRALIEN)

Kapitel 17: JANUAR 2023 WELLINGTON (NEUSEELAND)

Kapitel 18: DEZEMBER 2013 OXFORD (ENGLAND)

Kapitel 19: JANUAR 2023 WELLINGTON (NEUSEELAND)

Kapitel 20: MAI 2018 SINGAPUR

Kapitel 21: JANUAR 2023 WELLINGTON (NEUSEELAND)

Kapitel 22: OKTOBER 2021 MIAMI (USA)

Kapitel 23: JANUAR 2023 WELLINGTON (NEUSEELAND)

Kapitel 24: JANUAR 2023 WELLINGTON (NEUSEELAND)

Kapitel 25: NOVEMBER 2013 AUCKLAND (NEUSEELAND)

Kapitel 26: JANUAR 2023 WELLINGTON (NEUSEELAND)

Kapitel 27: DEZEMBER 2013 AUCKLAND (NEUSEELAND)

Kapitel 28: JANUAR 2023 WELLINGTON (NEUSEELAND)

Kapitel 29: OKTOBER 2022 MIAMI (USA)

Kapitel 30: FEBRUAR 2023 WELLINGTON (NEUSEELAND)

Kapitel 31: JUNI 2021 AUCKLAND (NEUSEELAND)

Kapitel 32: FEBRUAR 2023 WELLINGTON (NEUSEELAND)

Kapitel 33: DEZEMBER 2022 AUCKLAND (NEUSEELAND)

Kapitel 34: FEBRUAR 2023 WELLINGTON (NEUSEELAND)

Kapitel 35: DEZEMBER 2022 AUCKLAND (NEUSEELAND)

Kapitel 36: FEBRUAR 2023 WELLINGTON (NEUSEELAND)

Kapitel 37: FEBRUAR 2023 WELLINGTON (NEUSEELAND)

Kapitel 38: FEBRUAR 2023 WELLINGTON (NEUSEELAND)

Kapitel 39: FEBRUAR 2023 QUEENSTOWN (NEUSEELAND)

Kapitel 40: FEBRUAR 2023 MILFORD SOUND (NEUSEELAND)

Kapitel 41: MÄRZ 2023 MELBOURNE (AUSTRALIEN)

Kapitel 42: MÄRZ 2023 MELBOURNE (AUSTRALIEN)

1

MAI 2014

OXFORD (ENGLAND)

Nachdenklich betrachtete ich das Abbild einer idyllisch aussehenden Blumenwiese, das über mir an der ansonsten kalkweißen Decke hing. Es musste von einer Mitarbeiterin mit einem fragwürdigen Sinn für Humor dort befestigt worden sein. Zur Ablenkung, nahm ich an.

Ich lag mit weit auseinander gespreizten Beinen auf einem dieser schrecklichen medizinischen Stühle, während zwischen meinen Schenkeln ein blonder Schopf auf und ab tanzte. Einzelne Haarsträhnen, die sich aus dem streng zurückgebundenen Zopf gelöst hatten, wiegten in der süß duftenden Sommerbrise sanft hin und her. Vor dem geöffneten Fenster blähten sich die durchscheinenden Vorhänge auf, die dort als Sichtschutz angebracht worden waren.

Die Muskeln in meinen Oberschenkeln verhärteten sich, als die Besitzerin besagten Schopfes damit begann, mit einem Wattestäbchen unbeirrt in meinem Innersten herumzustochern. Ich sog scharf die Luft ein, hielt sie für einen Augenblick in meinen Lungen gefangen, bevor ich sie langsam und kontrolliert meinen Lippen entweichen ließ.

»So, das war’s schon«, murmelte Dr. Demuth unter ihrem türkisfarbenen Mundschutz.

Sie verstaute die entnommene Probe in einem Plastikröhrchen mit orangenem Schraubverschluss, brachte ein beschriftetes Klebeetikett darauf an und stellte es zu einer Reihe anderer Proben in einen bereitstehenden Reagenzglashalter. Mit ihren weißen Turnschuhen stieß sie sich schwungvoll vom makellosen Vinylboden ab und rollte auf ihrem Höckerchen sitzend zurück zu ihrem Schreibtisch.

Sie streifte die Gummibänder ihres Mundschutzes über ihre Ohren. Dann sah sie mich mit einem leicht irritierten Gesichtsausdruck an, als verstehe sie nicht, warum ich mich noch nicht bewegt hatte.

»Sie können sich dann wieder anziehen und bitte obenrum freimachen.«

Ich lächelte ein wenig gequält und zog meine Beine aus den Halterungen links und rechts von mir, erleichtert diesen Teil meines Besuches hinter mich gebracht zu haben. Ich wartete. Schließlich räusperte ich mich dezent.

»Ach du meine Güte«, entschuldigte sich Dr. Demuth verlegen, als sie ihren Fehler bemerkte. »Ich lasse Sie sofort herunter.«

Eilig rollte sie auf ihrem Höckerchen zurück in meine Richtung und drückte auf den blauen Knopf, der den Behandlungsstuhl in einer einschläfernden Geschwindigkeit senkte. Als ich endlich eine Position erreicht hatte, die es mir erlaubte, mit beiden Füßen den Boden zu erreichen, erhob ich mich. Mit spitzen Fingern zog ich das hauchdünne Schutzpapier, das sich mit mir zusammen von der Sitzfläche gelöst hatte, von meiner linken Pobacke.

Mit hochroten Wangen verschwand ich hinter der provisorisch aufgestellten Schutzwand, um mich untenrum anzukleiden. Die Umkleidekabine werde gerade noch renoviert, hatte mir Dr. Demuth mit einem entschuldigenden Schulterzucken erklärt, als ich das Behandlungszimmer vor wenigen Minuten betreten hatte. Ich hatte es mit einem gleichgültigen Kopfnicken zur Kenntnis genommen. Wozu man in diesem Kontext überhaupt eine separate Umkleidekabine benötigte, war mir immer schon schleierhaft gewesen. Ich kam schließlich her, um mir von einer völlig fremden Person meine intimsten Körperöffnungen inspizieren zu lassen. Da schien mir das kleine bisschen zusätzliche Privatsphäre, für die eine separate Umkleidekabine sorgte, dann doch ein wenig überflüssig.

Nachdem ich in Slip und Jeanshose geschlüpft war, kämpfte ich mich unter einigen Schwierigkeiten aus meinem Oberteil, das sich nur widerständig von meiner nass geschwitzten Haut lösen wollte. Ich löste die Ösen meines BHs mit einem geschickten Griff in meinen Rücken und streifte die Träger über meine Arme. Bevor ich hinter dem Raumtrenner hervortrat, saugte ich mit einem der bereitliegenden Papiertücher die Feuchtigkeit unter meinen Achseln auf, tupfte über die kleinen Schweißperlen, die sich zwischen meinen entblößten Brüsten gesammelt hatten. Ich nahm mir vor, meine Gynäkologin demnächst ausschließlich im Winter aufzusuchen.

Dr. Demuths Finger huschten emsig über ihre in eine schützende Plastikfolie eingewickelte Computer-Tastatur. Ohne aufzusehen, deutete sie mir mit einem Kopfnicken an, mich auf die schwarze Liege zu meiner Linken zu setzen.

Meine Beine baumelten in der Luft, während ich darauf wartete, dass mir meine vielbeschäftigte Ärztin ihre Aufmerksamkeit schenkte. Interessiert betrachtete ich ein eingerahmtes Poster an der gegenüberliegenden Zimmerseite, welches die weiblichen inneren Geschlechtsorgane inklusive ihrer korrekten lateinischen Bezeichnungen abbildete.

Ich beschäftigte mich gerade mit den Fachbegriffen für meine Eierstöcke, als Dr. Demuth freundlich lächelnd auf mich zurollte. Ich fragte mich, ob ihr Hinterteil mit ihrem rollenden Höckerchen verwachsen war. Ohne eine Miene zu verziehen, platzierte sie ihren rechten Schuh auf einem schwarzen Pedal, das am unteren Ende ihres Hockers angebracht war. Mit pumpenden Bewegungen ihrer Fußspitze justierte sie die Höhe ihres Stuhles, sodass sie sich auch für diesen Teil der Untersuchung nicht erheben musste.

Ich schmunzelte, durchaus nicht unbeeindruckt. Als Dr. Demuth ihre gewünschte Arbeitshöhe erreicht hatte, begann sie, mit ihren eiskalten Fingerspitzen konzentriert über meine Brüste zu streichen. Ich zuckte unter ihren Berührungen zusammen, doch sie ließ sich davon nicht irritieren. Mit leicht gerunzelter Stirn und halb geschlossenen Augen tastete sie hier und fühlte dort, bevor sie mir geschult in meine schon wieder leicht feuchten Achselhöhlen griff. Zum Glück kommentierte sie dies nicht weiter.

Schließlich nickte sie zufrieden und deutete erneut auf die provisorische Umkleidekabine.

»Sieht soweit alles gut aus. Ich kann keine Unregelmäßigkeiten feststellen. Sie können sich dann wieder ankleiden.«

Erleichtert verschränkte ich die Arme unter meinen Brüsten und verschwand hinter der nur mittelmäßig blickdichten Trennwand. Mit meinem BH in der Hand zögerte ich einen Moment, stopfte ihn dann aber entschlossen in meine Handtasche und streifte mir mein Oberteil über den Kopf. Es war heiß und ich wollte endlich dieses unangenehme Gespräch hinter mich bringen und zu dem eigentlichen Grund für meinen Besuch kommen. Der BH konnte warten.

Ein wenig nervös trat ich hinter der Trennwand hervor und nahm noch einmal auf dem Stuhl vor Dr. Demuths massivem Eichenschreibtisch Platz. Die Feuchtigkeit in meinen Achseln schien sich urplötzlich noch einmal drastisch gesteigert zu haben, wie ich peinlich berührt feststellte. Ich spürte, wie sich eine kleine, verräterische Schweißperle löste und langsam die Innenseite meines rechten Arms hinunter rollte. Hastig drückte ich meinen Oberarm gegen meine Rippen, um das Kitzeln des Schweißtropfens zu unterbinden.

Dr. Demuth löste ihre Finger von der Tastatur, faltete ihre Hände zusammen und lächelte mich freundlich über den Tisch hinweg an.

»So, das war’s dann fürs Erste. Falls etwas sein sollte, melden wir uns in zwei Wochen bei Ihnen. Wenn Sie nichts von uns hören, ist alles in Ordnung und wir sehen uns im nächsten Jahr wieder.«

Dr. Demuth war ganz offensichtlich in Abschiedsstimmung und darauf bedacht, sich möglichst zügig ihrer nächsten Patientin zu widmen, die mit großer Sicherheit schon ungeduldig im Patientenzimmer nebenan wartete. So schnell würde sie mich heute allerdings nicht loswerden. Als ich mich auch nach einigen Augen-blicken nicht rührte, wurde sie ungeduldig.

Sichtlich irritiert, hakte sie nach. »Oder kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«

Dies war der Satz, auf den ich gewartet hatte. Ich richtete mich kerzengerade in meinem Sitz auf. Für mein Anliegen, das hatte man mir mehrfach ans Herz gelegt, war es wichtig, Selbstbewusstsein und Entschlossenheit auszustrahlen. Ich durfte ihr keine Angriffsfläche bieten, durfte keine Schwäche ausstrahlen.

Ich öffnete meine Handtasche und kramte darin nach dem entscheidenden Stück Papier, das ich vor einigen Wochen von meiner Hausärztin erhalten hatte. Als ich fündig wurde, zog ich den zusammengefalteten Zettel hervor und schob ihn Dr. Demuth über den Tisch hinweg zu. Ich kam mir vor, als versuchte ich ihr gerade auf unauffällige Art und Weise eine Dosis illegaler Drogen zuzustecken.

Die Lächerlichkeit dieser Situation machte mich für den Bruchteil einer Sekunde wütend. Ich sollte mich nicht so fühlen müssen. So schnell wie meine Wut gekommen war, löste sie sich allerdings auch wieder in Luft auf und wurde stattdessen durch Nervosität ersetzt. Ich bearbeitete meine linke Handfläche mit dem Daumen meiner rechten Hand, während ich darauf wartete, dass die werte Frau Doktor den Zettel entgegennahm. Ihre eisblauen Augen fixierten mich fragend.

»Nun ja, also wenn ich ehrlich bin, dann gibt es da etwas, was ich gerne mit Ihnen besprechen würde«, murmelte ich schließlich.

Dr. Demuth nickte mir aufmunternd zu, während ihre Augen den Inhalt des Zettels in ihrer Hand überflogen. Ihre Augenbrauen kräuselten sich, ihr Blick verdunkelte sich für einen Moment. Der Mittelfinger ihrer rechten Hand tippte unruhig auf der hölzernen Tischplatte herum. Sie hob ihren Kopf und sah mich erneut fragend an.

Ich schluckte, doch nun gab es kein Zurück mehr. Mir blieb keine andere Wahl, als endlich mit meinem Anliegen herauszurücken.

»Ich bin heute nicht nur gekommen, um mich untersuchen zu lassen, sondern wollte mich vor Allem danach erkundigen, ob Sie Sterilisationen durchführen.« Ich machte eine kurze Pause, um die Information sacken zu lassen. »Wie Sie sehen, habe ich bereits mit meiner Hausärztin über dieses Thema gesprochen.«

Ich hielt die Luft an. Meine Stimme hatte zittriger, unsicherer geklungen, als es mir lieb war.

Stille. Dr. Demuths Augenbrauen runzelten sich konzentriert. Die Falte zwischen ihnen wurde merklich tiefer. Sie suchte ihren Schreibtisch nach ihrer Brille ab, vermutlich mit der Intention, die Überweisung genauer unter die Lupe zu nehmen.

»Medizinisch indiziert?« forschte sie nach. Sie wirkte kurz angebunden.

»Äh nein.« Ich räusperte mich, rutschte unbehaglich auf meinem Stuhl hin und her. Meine Stimme klang ungewohnt piepsig.

Was war nur los mit mir? Verärgert biss ich mir auf die fleischige Innenseite meiner Unterlippe. Ich hatte mich vorab penibel auf diesen Termin vorbereitet, so wie es mir von meiner Hausärztin empfohlen worden war. Sie hatte mich gewarnt, mich darauf vorbereitet, dass ich mit Widerstand zu rechnen hatte. Warum brachte mich der Ausdruck auf Dr. Demuths Gesicht nun also so aus der Fassung?

»Hm.«

Schweißperlen krochen aus meinen Poren hervor, manifestierten sich schillernd auf meiner Stirn.

Endlich fündig geworden, schob sich Dr. Demuth ihre Brille auf den Nasenrücken. Dann lehnte sie sich in ihrem großen Lederstuhl zurück, während sie die Überweisung meiner Hausärztin noch einmal genau inspizierte. Zu dem Schluss gekommen, dass es sich wohl nicht um eine Fälschung handelte, musterte sie mich über den Rand ihrer Brille hinweg mit einer Mischung aus Konzentration, Neugier und unterschwelliger Irritation.

Ich hielt ihrem Blick stand, versuchte, mich nicht von ihr verunsichern zu lassen. Ganz offensichtlich hatte sie nicht vor, es mir leicht zu machen. Sie platzierte ihre Ellbogen auf der Tischoberfläche, faltete ihre Hände ineinander und legte ihr Kinn auf ihren Fingerknöcheln ab. Abschätzend fixierte sie mich mit ihren eisblauen Augen.

Dann stellte sie endlich die aus ihrer Perspektive alles entscheidende Frage: »Was sagt denn Ihr Lebensgefährte zu Ihrem Wunsch?«

2

JANUAR 2023

MIAMI (USA)

»Elaina?«

Unsanft stieß Laura ihrer Freundin mit ihrem spitzen Ellbogen in die Rippen. Elaina zuckte erschrocken zusammen.

»Hm?«

Die Frau mit den grau melierten Haaren, die ihr erwartungsvoll gegenüberstand, streckte Elaina einen Strauß Wildblumen entgegen. Die ältere Dame räusperte sich und wiederholte geduldig ihre Frage.

»Was sagt denn Ihr Lebensgefährte dazu, dass Sie jetzt so lange ohne ihn nach Australien gehen?«

Laura gluckste, verbarg dann hastig ihre gepuderte Stupsnase tief in ihrem Cocktailglas, um ihre Belustigung vor der älteren Dame zu verbergen. Dieser wiederum war Lauras Reaktion jedoch nicht entgangen. Aus dem Augenwinkel warf sie ihr einen pikierten Blick zu.

Bevor die Situation eskalieren konnte, nahm Elaina den Blumenstrauß mit einem freundlichen Lächeln entgegen. Suchend sah sie sich nach einer Ablagemöglichkeit um, während sie gleichzeitig versuchte, eine angemessene und nicht unhöflich wirkende Antwort auf die ihr gestellte Frage zu finden.

Nicht zum ersten Mal an diesem Abend ärgerte sich Elaina darüber, dass Kevin Gott und die Welt zu dieser Party eingeladen hatte. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wer diese impertinente Dame war, die ihr vollkommen unverblümt solch persönliche Fragen stellte. Elaina vermutete jedoch, dass die Dame mit einem von Kevins Geschäftspartnern liiert war, weshalb sie sich dazu entschloss, auf Nummer sicher zu gehen und die schlagfertige Antwort, die ihr auf den Lippen brannte, herunterzuschlucken.

»Nun ja, also ich…«

Glücklicherweise tauchte in diesem Augenblick Kevin hinter ihr auf. Seine warme Hand umfasste ihren rechten Ellbogen und zog sie mit sich. Elaina warf der älteren Dame einen entschuldigenden Blick zu und zuckte hilflos mit den Achseln. Diese nickte verständnisvoll, hob beschwichtigend die Hand. Dem Anschein nach war sie Elaina für ihren überstürzten Aufbruch nicht böse. Sie wusste wahrscheinlich nur zu genau, wie sich die Begleiterinnen erfolgreicher Männer auf Veranstaltungen wie diesen zu verhalten hatten.

Während Kevin Elaina auf die andere Seite der hell erleuchteten Dachterrasse geleitete, um sie, so flüsterte er ihr ins Ohr, einer Gruppe ernst aussehender Herren mit ihren Begleiterinnen vorzustellen, warf Elaina verstohlen einen Blick über ihre Schulter. Gerade noch konnte sie beobachten, wie sich die unbekannte Dame nun Laura zuwandte. Diese hielt ein wenig hilflos ihr Cocktailglas umklammert. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, dämmerte Laura wohl plötzlich, dass sie soeben den Moment verpasst hatte, dem Smalltalk mit der unbekannten älteren Frau zu entkommen. Elaina konnte sich ein vergnügtes Schmunzeln nicht verkneifen.

Während Kevin sie quer über die Dachterrasse geleitete, sah sich Elaina nach einer Möglichkeit um, ihren neu ergatterten Blumenstrauß loszuwerden. Schließlich gelang es ihr, einem vorbeilaufenden, perplex dreinschauenden Kellner das Bouquet in die Hand zu drücken, gerade noch rechtzeitig bevor sie dazu genötigt wurde, zahlreiche Hände zu schütteln.

Wie gewöhnlich langweilten Kevins Geschäftspartner Elaina schnell. Sie wurde vorgestellt, man gratulierte ihr zur Veröffentlichung ihres Buches, dann stellte man ihr wohl mehr aus Höflichkeit als aus ernsthaftem Interesse einige Fragen dazu. Kevin, der in seinen Ausführungen gerne ein wenig übertrieb, lobte ihre Arbeit ins Unermessliche, sodass man ihm fast abkaufen konnte, dass sie den nächsten internationalen Non-Fiction-Bestseller verfasst hatte.

Wie immer ließ Elaina diese Prozedur höflich lächelnd über sich ergehen. Sie beantwortete Rückfragen kurz und knapp, beschränkte sich darüber hinaus allerdings darauf, an passenden Stellen zustimmend ihren Kopf auf und ab zu bewegen. Sie wusste schließlich genau, dass weder Kevins Geschäftspartner noch eine ihrer viel zu jungen, viel zu attraktiven Begleiterinnen ernsthaftes Interesse an einer tiefgründigen Unterhaltung über die Thematik ihres Buches hatten. Es kam daher auch nicht überraschend, dass das Gespräch schnell wieder in andere, ökonomisch orientierte Richtungen abdriftete, sobald es die allgemein gültigen Höflichkeitsregeln erlaubten.

Ungeduldig trat Elaina von einem Fuß auf den anderen. Hin und wieder nippte sie gelangweilt an ihrem Drink, während sie ihren Blick über die kleinen Grüppchen an Menschen schweifen ließ, die sich in dieser lauen Winternacht durchaus zu amüsieren schienen.

Auch wenn die Gästeliste nicht ganz so exklusiv war, wie sie es sich gewünscht hätte, musste Elaina zugeben, dass Kevin ein Händchen für solche Veranstaltungen besaß. Allein die Location war atemberaubend. Zahlreiche Lichterketten erleuchteten die Dachterrasse, das Wasser des großen Swimmingpools glitzerte anmutig im Schein der funkelnden Skyline von Miami. Vor wenigen Stunden erst waren die Partygäste zudem in den Genuss eines fantastischen Sonnenuntergangs gekommen, der die markanten Hochhäuser der Stadt in ein magisches, goldenes Licht getaucht hatte.

Kevins große, warme Hand auf ihrem unteren Rücken holte Elaina plötzlich in die Gegenwart zurück. Mit einem Lächeln auf den Lippen tauschte er ihr leeres Glas gegen einen frisch zubereiteten Cocktail aus. Wie er seinen Gästen ausführlich berichtet hatte, hatte er weder Kosten noch Mühen gescheut, einen über die Grenzen hinaus bekannten Barkeeper aus Australien für dieses Event zu gewinnen. Um der Party, Elaina zu Ehren, einen besonderen Touch zu verleihen, wie Kevin augenzwinkernd versichert hatte.

Kevin hatte sich bereits wieder seinen Geschäftspartnern zugewandt. Eine humorvolle Bemerkung jagte die andere, alle lachten. Elaina tat es ihnen gleich, obwohl sie keine Ahnung hatte, was der Grund für das ausfallende Gelächter war. Im Gegensatz zu ihr war Kevin der geborene Entertainer, zog auf Partys stets die Aufmerksamkeit auf sich. Sie selber hingegen bevorzugte es, sich in seinem Schatten aufzuhalten.

Mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht, legte Kevin seinen großen, muskulösen Arm um ihre zierlichen Schultern, drückte ihr sanft einen Kuss auf die Schläfe. Elaina ließ sich gegen seinen breiten Brustkorb sinken. Er war groß, kratzte beinahe an der Zwei-Meter-Marke, und eignete sich daher hervorragend als eine Art Fels in der Brandung in der manchmal überwältigenden Strömung sozialer Konversationen.

Als Kevin plötzlich sein Glas hob und einen Toast aussprach, errötete sie leicht. Gläser klirrten, Münder tranken, die Unterhaltung kam folglich zu einem jähen, doch nicht unwillkommenen Ende. Elaina nutzte den Moment, um sich mit einem höflichen Lächeln auf den Lippen von der Gruppe zu verabschieden. Sie ließ Kevin in bester Gesellschaft zurück.

Zielstrebig lief Elaina auf den hinteren Teil der Dachterrasse zu. Ihre Schritte waren lang und selbstbewusst, doch von einer gewissen Dringlichkeit. Auf keinen Fall wollte sie den Eindruck erwecken, gerade für weiteren Smalltalk zur Verfügung zu stehen. Sie sehnte sich nach einem Moment der Ruhe. Ihr Kopf schwirrte bereits mit Namen und Gesichtern von Menschen, die sie bislang entweder gar nicht oder bestenfalls nur flüchtig kannte.

Elaina wusste, dass Kevin es nur gut gemeint hatte mit dieser Überraschungsparty, doch ein Abschied in kleinerer Runde mit Menschen, die sie zumindest namentlich kannte, hätte es ihrer Meinung nach auch getan. Aber so war es eben mit Kevin. Diese Party war nicht nur ein Event für sie, sondern vor allem auch eines für ihn selbst, auch wenn er das niemals zugeben würde. Kontakte knüpfen und netzwerken waren für ihn so überlebenswichtig wie Wasser und Brot. Wie hätte er der Versuchung auch widerstehen können, die offizielle Verabschiedung seiner überaus erfolgreichen Lebensgefährtin nicht auch für sich selbst zu instrumentalisieren?

Abseits des Partygeschehens ließ sich Elaina auf eine der aus dem Weg geräumten Pool-Liegen sinken. Sie streifte sich mit einem Seufzer der Erleichterung ihre viel zu engen, kirschroten Pumps von den Füßen. Gerade so widerstand sie dem Impuls, ihren Fuß auf ihrem Oberschenkel abzulegen, um sich eine kleine Massage zu verpassen. Ihr zugegebenermaßen sehr knappes Outfit hätte dies aller Wahrscheinlichkeit nach nicht ohne Höschenblitzer zugelassen. Seufzend begnügte sie sich stattdessen damit, ihre Zehen genussvoll in der lauen Abendluft hin und her zu wackeln, während sie das Partygeschehen aus der Ferne verfolgte.

Von ihrem Platz auf der Liege hatte sie einen guten Überblick über die Terrasse. Kevin stand lässig, auf einen der mit gestärkten Tischtüchern eingewickelten Stehtische gestützt, auf der gegenüberliegenden Seite des Pools. Er hatte ihr den Rücken zugekehrt. Seine breiten Schultern zeichneten sich deutlich vor dem hell erleuchteten Teil der Dachterrasse ab. Er unterhielt sich weiterhin angeregt mit der Gruppe, die Elaina gerade zurückgelassen hatte.

Kevins glasfreie Hand fuchtelte angeregt durch die Luft, untermalte seine animierten Ausführungen. Seine einnehmende Gestik verlieh ihm noch mehr Präsenz, noch mehr Autorität, als er ohnehin schon ausstrahlte. Sämtliche Blicke waren auf ihn gerichtet. Wie immer hatte er seine Zuhörerschaft vollständig in seinen Bann gezogen. Selbst die sonst so oft entgeistert, fast schon apathisch daneben stehenden Begleiterinnen hingen an seinen Lippen.

Elaina lächelte anerkennend. Auch sie war sogleich fasziniert von ihm gewesen, von seinem selbstbewussten, vielleicht schon ansatzweise arroganten Auftreten. Er hatte ihr imponiert, damals in Singapur. Kevin wiederum hatte Elainas direkte Art gefallen, ihr selbstbewusstes Auftreten. Sie hätte in seinen tiefblauen Augen ertrinken können, er war nicht unbeeindruckt von ihren beruflichen Errungenschaften gewesen. Nach einer anstrengenden Phase in ihrem Leben hatte sie sich nach einer Schulter zum Anlehnen gesehnt, er wiederum hatte sie zur Verfügung gestellt. So hatte das Schicksal letztendlich seinen Lauf genommen.

Es hatte nicht lange gedauert, bis Kevin und sie ein Paar geworden waren. Sie mussten sich zwar zunächst mit einer Fernbeziehung zwischen Singapur und Miami begnügen, doch da Elaina ohnehin nach einem Tapetenwechsel war, war diese aufgezwungene Trennung nicht von langer Dauer gewesen und Elaina hatte sich dazu entschieden, Kevin an die Südostküste der USA zu folgen.

Völlig in Erinnerungen versunken, hatte Elaina nicht gemerkt, dass es Laura offensichtlich gelungen war, sich aus den Fängen der alten Dame zu befreien. Elaina fuhr erschrocken zusammen, als sich ihre Freundin mit einem lauten Seufzer neben ihr auf die Liege plumpsen ließ.

»Da hast du dir aber ein nettes Plätzchen ausgesucht.« Laura streckte ihre langen, makellosen Beine von sich. »Alles okay bei dir? Du wirst doch nicht schon schlapp machen, oder?«

Energisch schüttelte Elaina den Kopf. Dies bekräftigend, langte sie nach Lauras halbvollem Glas. Sie leerte es in einem Zug, bevor sie es mit einem entschuldigenden Achselzucken auf den Steinfliesen zu ihren Füßen abstellte.

Laura kicherte. Sie lehnte sich lässig nach hinten, ließ ihr langes Haar über ihre Schultern fallen. Sie legte den Kopf in den Nacken und schloss für einen Moment genüsslich die Augen. Ihre Füße wippten im Rhythmus der Musik, die die sanfte Abendbrise zu ihnen trug.

»Ich kann nicht glauben, dass du in ein paar Tagen schon wieder weg bist«, sagte Laura plötzlich und schob ihre Unterlippe dabei schmollend nach vorne. »Wie soll ich denn bitte ohne dich diese verdammten Yoga-Stunden überstehen?«

Elaina grinste. »Ich bin mir sicher, dass dich alleine der Anblick der neuen Yoga-Lehrerin schon über meinen Verlust hinwegtrösten wird.« Sie zwinkerte Laura neckisch zu. Dieser schoss das Blut in die Wangen. »Du glaubst ja wohl nicht, dass mir deine lechzenden Blicke am Donnerstag entgangen sind, oder?«

Wäre es nicht so dunkel gewesen, hätte man Lauras errötende Wangen sicher noch auf der anderen Seite des Pools leuchten sehen können.

»Lechzende Blicke? Ich bitte dich.« Sie schlug Elaina in gespielter Empörung auf den Oberschenkel, konnte sich ein Lächeln aber dennoch nicht verkneifen.

Versöhnlich legte Elaina ihr den Arm um die Schultern und drückte ihrer Freundin einen flüchtigen Kuss auf die Wange.

»Mach dir nichts draus. Ich werde dich und deine lechzenden Blicke auch vermissen. Aber ich bin ja auch nicht aus der Welt.«

Laura legte ihren Kopf auf Elainas Schulter ab. »Naja, aber fast. Melbourne ist jetzt nicht gerade um die Ecke.«

Tröstend tätschelte Elaina die Außenseite von Lauras Oberschenkel, kommentierte ihre Bemerkung allerdings nicht weiter. Ganz Unrecht hatte sie schließlich nicht. Melbourne war nicht gerade einen Katzensprung entfernt.

Die beiden Frauen schwiegen eine Weile, hingen jeder ihren Gedanken nach, während die Partygäste auf der anderen Seite der Dachterrasse ihre Körper rhythmisch im Beat des dröhnenden Basses bewegten. Der australische Barkeeper hatte anscheinend einen guten Job geleistet. Es war wohl ihm zu verdanken, dass die meisten Gäste langsam aber sicher ihre Hemmungen verloren und sich zu einem Tänzchen hinreißen ließen.

»Wie machst du das eigentlich immer?« Laura hob ihren Kopf von Elainas Schulter und rückte ein Stück von ihr ab, um sie ansehen zu können.

»Was meinst du damit?« Irritiert zog Elaina ihre Augenbrauen in die Höhe.

»Naja, das mit dem Umziehen und so.« Laura verschränkte fröstelnd die Arme vor der Brust, als eine ungewöhnlich frische Windböe über die Dachterrasse fegte. »Ich meine, deine wievielte Lebensstation ist Melbourne jetzt?«

»Inklusive oder exklusive Kindheit?«

Laura schnaubte belustigt. »Inklusive natürlich. Deine Kindheit gehört doch zu deinem Leben dazu.«

Elaina zuckte unschlüssig mit den Schultern. Sie runzelte die Stirn, in Konzentration, während sie mit den Finger zu zählen begann.

»Also gut, lass mich überlegen. Ich bin zwar in Bonn geboren, kann mich an die Zeit aber kaum erinnern. Aber gut, zählen wir mit.«

Ihr Zeigefinger schnellte in die Höhe. »Als ich vier war, ging es zurück in die USA, zuerst nach Washington, dann nach New York. 1996, nein…« Sie rechnete noch einmal nach. »1997 dann nach Tokio, anschließend für einen Großteil meiner Jugend nach Wellington. Im Anschluss an Neuseeland ging es zu der Familie meiner Mutter nach Singapur. Also schon mal sechs Stationen, über die ich keinerlei Kontrolle hatte.«

Lauras Augen wurden immer größer.

»Nun schau nicht so, das ist völlig normal für ein Diplomatenkind.«

Elaina zuckte mit den Achseln und zählte weiter. »Nach dem Schulabschluss in Singapur ging es dann nach Harvard für den Bachelor, dann nach San Francisco für den Master und schließlich nach Oxford für meinen PhD. Als meine Mutter krank geworden ist, bin ich für eine Weile zurück nach Singapur. Tja, und den Rest der Story kennst du ja.« Elaina spielte auf ihren bis dato letzten Umzug von Singapur nach Miami an. »Das macht dann also…«

Elaina blickte hinunter auf ihre Hände, an denen alle zehn Finger aufgerichtet waren.

»Zehn Stationen, und Melbourne wird die elfte. Wow.« Selbst ein wenig beeindruckt von dieser Zahl, schürzte Elaina ihre Lippen. »Ob du es glaubst oder nicht, ich habe mir noch nie die Mühe gemacht, nachzuzählen.«

Sie faltete die Hände in ihrem Schoß zusammen. Für einen Moment blickte sie schweigend hinaus in Richtung des atlantischen Ozeans, der unsichtbar und finster vor ihnen lag.

»Aber um deine Frage zu beantworten - man gewöhnt sich irgendwie dran. Und irgendwann versteht man, dass ein Zuhause weniger ein Ort, sondern mehr ein Gefühl ist, das man in sich trägt, egal wohin es einen verschlägt.«

»Hm. Klingt irgendwie wie aus einem Kitschroman.«

Elaina kicherte, versetzte ihrer Freundin einen sanften Stoß. »Sei nicht so fies.«

Laura legte ihre künstlich geglättete Stirn erneut in Falten. So ganz war sie mit dieser Erklärung noch nicht zufrieden.

»Aber was ist denn mit all den Menschen, die du überall zurücklässt? Fällt es dir nicht schwer, immer wieder neue Freundschaften aufbauen zu müssen? Immer wieder von vorne zu beginnen, allen immer und immer wieder alles aus deinem Leben aufs Neue erzählen zu müssen? Ich stelle mir das furchtbar anstrengend vor.«

Die tanzenden Körper auf der anderen Seite des Pools jubelten lautstark, als der DJ ein allseits beliebtes Stück auflegte. Arme flogen durch die Luft, Hüften kreisten, Köpfe wippten eifrig auf und nieder. Der Boden unter ihren Füßen vibrierte im Rhythmus der Musik.

»Das Gute ist ja, dass es heutzutage ein Leichtes ist, mit Menschen auch über große Distanzen hinweg in Kontakt zu bleiben. Wenn ich mich also mal einsam fühle, dann sind doch alle nur einen Knopfdruck entfernt.«

Elaina hielt einen Moment inne. Was sie sagte, kam ihr im nächsten Augenblick schon wieder ein wenig lächerlich vor, vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass ihre eigene Familie mal wieder mit Abwesenheit glänzte. Ganz so leicht, wie sie es gerade darstellte, war es dann eben doch nicht. Doch dies musste sie Laura an diesem Abend ja nicht unbedingt auf die Nase binden.

»Und wenn es ganz hart auf hart kommt, springe ich eben einfach ins Flugzeug«, fügte sie leichtherzig hinzu. »Oder du kommst mich besuchen. Du bist auf jeden Fall jederzeit bei mir Willkommen.«

Laura, noch immer ein wenig skeptisch, lächelte versöhnlich. Sie begann, in ihrer Handtasche zu kramen, die sie neben sich auf der Liege abgelegt hatte. Schließlich holte sie ihr Handy hervor, rückte wieder ein Stück näher an Elaina heran und reckte ihre Hand samt Telefon weit von sich.

»Na los, ein Abschieds-Selfie kannst du mir heute Abend aber nicht verwehren. Nicht, dass du in Melbourne noch vergisst, wie ich aussehe. Nachher erkennst du mich nicht mehr, wenn du mich am Flughafen abholst. Ich habe nämlich gehört, dass es in Melbourne ganz exquisiten Kaffee geben soll, den ich unbedingt probieren sollte.«

Lächelnd brachte sich Elaina in eine angemessene Foto-Position. Laura würde ohnehin nicht eher Ruhe geben, bis sie eine Aufnahme gemacht hatte, die ihren zugegebenermaßen recht hohen Qualitätsansprüchen gerecht wurde. Sie hatte nicht umsonst eine stattliche Menge an Followern in ihren sozialen Netzwerken, die sich nur so nach ihren neuesten Updates verzehrten.

Es war abzusehen, dass Laura sich die Gelegenheit, ausführlich von dieser extravaganten Party zu berichten, nicht entgehen lassen würde. Elaina sollte es Recht sein. Immerhin würde so auch ihr Buch, dessen Veröffentlichung laut Kevins Aussage ebenfalls heute gefeiert wurde, einiges an Aufmerksamkeit erhalten. Man musste eben nur die richtigen Leute kennen. Leute wie Laura.

Es dauerte eine ganze Weile, bis ihre fotoaffine Freundin endlich mit einer der Aufnahmen zufrieden war. Durch einen schmalen Schlitz ließ Laura ihr Telefon zurück in ihre Tasche gleiten. Dann erhob sie sich, zog ihr äußerst knappes Kleid ein Stück nach unten, um die Rundungen ihrer Pobacken wieder unter dem schimmernden Stück Stoff verschwinden zu lassen und streckte Elaina anschließend auffordernd die Hand entgegen.

»Na los, du solltest vielleicht deine anderen Partygäste mal wieder mit deiner Anwesenheit beehren.«

Elaina nickte, ergriff Lauras Hand und ließ sich unter Stöhnen und Ächzen in die Vertikale ziehen. Ein wenig widerwillig zwängte sie ihre schmerzenden Füße zurück in ihre Schuhe. Laura hakte sich bei ihrer Freundin unter und gemeinsam schlenderten die beiden Frauen zurück in das Getümmel der mittlerweile gut besuchten Tanzfläche.

3

JANUAR 2023

MIAMI (USA)

Genüsslich räkelte Elaina sich unter den dünnen Laken, die ihren nackten Körper bedeckten. Mit ihrer linken Hand tastete sie den Platz auf der Matratze neben sich ab, griff jedoch ins Leere. Sie blinzelte. Hastig drehte sie ihren Kopf zur Seite. Das gleißende Sonnenlicht, das durch einen schmalen Spalt zwischen Wand und Jalousie fiel, hatte sie geblendet, ihr Tränen in die Augen getrieben. Licht und die Nachwirkungen von übermäßigem Alkoholkonsum waren definitiv keine empfehlenswerte Kombination.

Elaina atmete einige Male tief durch, dann richtete sie sich in ihrem Bett auf. Auf ihre Unterarme gestützt, sah sie sich im Schlafzimmer um. Eine Spur achtlos zurückgelassener Kleidungsstücke zog sich durch den Raum. Verschwommene Erinnerungen an die letzte Nacht kehrten zurück, zauberten ein Lächeln auf ihre Lippen. Kevin und sie hatten es nach der Party sehr eilig gehabt, nach Hause zu kommen und sich ihrer Klamotten zu entledigen.

Sacht ließ sich Elaina zurück in ihre Kissen sinken. Sie glitt zärtlich mit ihren Fingerspitzen über ihren nackten Körper. Noch immer trug sie den Geschmack Kevins leidenschaftlicher Küsse auf den Lippen, konnte seine Hände auf ihrer Haut spüren, zwischen ihren Beinen. Elaina schloss für einen Moment die Augen, ließ sich von den Erinnerungen an die gestrige Nacht davontragen. Sie würde Kevin vermissen, das stand außer Frage.

Ihre Hände hielten plötzlich inne. Sie runzelte die Stirn und faltete ihre Arme hinter ihrem Kopf zusammen. Dünnes Eis. Ganz dünnes Eis. Dies war nun wirklich nicht der Augenblick, sich irgendwelchen Sentimentalitäten hinzugeben.

Ihr Gespräch mit Laura kam ihr plötzlich wieder in den Sinn und damit auch die Frage, die Laura ihr gestellt hatte und auf die sie ihr nur ausweichend geantwortet hatte. Ausweichend und nicht ganz ehrlich. Reumütig biss sich Elaina auf die Innenseite ihrer Unterlippe. Sie hatte Laura das erzählt, was sie hatte hören wollte. Wohlweislich verschwiegen hatte sie ihr jedoch, dass es einen ganz simplen Weg gab, mit den permanenten Umzügen umzugehen.

Elaina war als Tochter eines Diplomaten aufgewachsen, da lernte man ziemlich schnell, dass man sich besser nicht zu sehr an Menschen gewöhnte. Solange man es vermied, sich emotional an Menschen zu binden, war alles in Ordnung. Dies hatte nämlich gleich zwei riesige Vorteile: Erstens konnte man nicht von anderen Menschen enttäuscht werden und zweitens erhielt man sich damit zugleich auch die Freiheit, sein Leben so zu gestalten, wie man wollte, ohne auf die eigenen oder die Gefühle anderer Rücksicht nehmen zu müssen. Solange man emotional ungebunden war, war man frei. Gefühle waren es, die Fesseln anlegten, die einschränkten. Nicht Menschen.

Gedankenverloren spielte Elaina mit einer langen, pechschwarzen Haarsträhne, die ihr aus ihrer nur noch halb vorhandenen Frisur in die Stirn gefallen war. Für keinen Mann der Welt würde sie ihre Freiheit, ihre Karriere, ihr Leben aufgeben. Zärtlich strich sie über die verblasste Narbe direkt unterhalb ihres Bauchnabels. Ihre Freiheit würde sie für niemanden aufgeben.

Ihr Gedankenfluss wurde unterbrochen, als Kevin plötzlich seinen Kopf durch die Schlafzimmertür steckte. Durch den schmalen Spalt strömte köstlich duftende Luft ins Zimmer, die ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ: Speck, Eier, frisch gerösteter Kaffee, alles, was ein verkatertes Herz begehrte.

»Frühstück ist fertig.«

Kevin schenkte Elaina eines seiner atemberaubenden Lächeln. Er verschwand für einen Moment, nur um einen Augenblick später die Tür mit der Fußspitze vollständig aufzustoßen. Auf seinen Armen balancierte er ein gigantisches Tablett, auf dem sich eine Auswahl verschiedenster Frühstücksleckereien befand.

Elaina richtete sich auf und strich die Bettdecke glatt, damit Kevin das Tablett sicher in der Mitte des Bettes abstellen konnte. Ihr Magen knurrte erwartungsvoll, die kleinen Muskeln unter ihrem rechten Auge zuckten nervös.

So verführerisch es manchmal auch war, sich ihren Gefühlen hinzugeben ‒ sie würde auch für einen Mann wie Kevin keine Ausnahme machen. Keine Sentimentalitäten, keine Zweifel, keine Gefühlsduseleien. Melbourne war nicht aus der Welt. Die paar Monate Fernbeziehung würden wie im Fluge vergehen. Kevin würde auf sie warten, die Gastprofessur definitiv nicht.

Nachdem Kevin das Tablett zwischen ihnen platziert hatte, schlüpfte er zurück zu Elaina unter die Laken, drehte ihr Kinn zu sich und presste seine weichen Lippen auf ihren Mund. Er schmeckte nach einer Mischung aus Zahnpasta und frisch gepresstem Orangensaft. Elaina fuhr mit der Zungenspitze über ihre Lippen. Nach der gestrigen Nacht fühlten sie sich wund an, die Säure des Orangensaftes brannte unangenehm in den winzigen Rissen.

Sie wandte sich von Kevin ab, lehnte sich auf die andere Seite des Bettes hinüber. Ergebnislos kramte sie in der obersten Nachttischschublade nach ihrem Lippenbalsam. Um ihre Suche in ihrer Handtasche fortzusetzen, schwang Elaina ihre langen Beine aus dem Bett, doch Kevin griff nach ihrem Handgelenk und zog sie zurück auf die weiche Matratze.

»Komm schon Elaina, das kann doch sicher warten, oder? Lass uns erst einmal frühstücken.« Er drückte ihr einen Kuss auf die Stirn und schob sich im nächsten Augenblick demonstrativ eine dampfende Gabel Rührei mit Speck in den Mund.

Grinsend ergab sie sich ihrem Schicksal. Nicht undankbar für Kevins Intervention, kroch sie zurück unter die gestärkten Laken. Es war frisch im Schlafzimmer und die kühle Luft hatte sie frösteln lassen. Kevin musste die verdammte Klimaanlage eingeschaltet haben, als er aufgestanden war.

Gedankenverloren starrte Elaina auf das üppig beladene Tablett. Wenigstens über die Zimmertemperatur würde sie sich in Zukunft nicht mehr ärgern müssen. In wenigen Tagen schon würde sie wieder in ihrem eigenen Apartment wohnen, würde wieder Herrin über alles darin sein. Keine Streitereien mehr über Raumtemperaturen, dreckige Socken auf der Couch oder ungespültes Geschirr im Spülbecken. Ein wenig wehmütig schob sie ihre Unterlippe nach vorne. Allerdings würde ihr nach einer durchzechten Nacht auch niemand mehr ein frisch zubereitetes Frühstück ans Bett bringen.

Kevin, der amüsiert das Wechselspiel ihrer Gefühle auf ihrem Gesicht beobachtet hatte, schob das Frühstückstablett näher zu ihr hinüber. Elainas Magen reagierte, indem er sich erneut lautstark zu Wort meldete. Kevin grinste und deutete ihr eifrig kauend an, sich zu bedienen. Sie wollte sich nicht ein weiteres Mal bitten lassen, also griff sie eifrig nach einem der warmen Buttercroissants und tunkte es in ein weißes, mit Marmelade gefülltes Porzellanschälchen.

»Also, unser Plan für Neuseeland steht noch, richtig? Oder musst du doch schon früher zurück in Melbourne sein?« fragte Kevin wenig später und schob sich ein Stück frische Mango in den Mund.

Elaina nickte. Sie presste ihren Handrücken gegen ihre Lippen, während sie hastig zu Ende kaute.

»Ja, das sollte alles nach wie vor funktionieren. Am einundzwanzigsten Januar ist die Verlobungsparty von Amy und Nichola, dafür würde ich gerne in Wellington sein, wie du weißt. Ab dann habe ich aber im Prinzip Zeit für unsere Südinsel-Tour. Ich würde bloß gerne spätestens am neunzehnten Februar wieder in Melbourne sein, damit ich noch ein wenig Zeit habe, mich auf das Semester vorzubereiten.«

Kevin griff nach seinem Handy, das er zum Aufladen auf seinem Nachttisch zurückgelassen hatte und scrollte mit leicht gerunzelter Stirn durch seinen proppenvollen Terminkalender.

»Alles klar, ich werde Lacey morgen gleich bitten, mal zu schauen, was sie tun kann.«

Natürlich ließ er die Reise von seiner Sekretärin planen. Hastig schob sich Elaina das letzte Stückchen Croissant in den Mund, um nicht versehentlich einen Kommentar abzusetzen, den Kevin ihr übel nehmen würde. Er hasste es, wenn sie sich über seine Abhängigkeit von seiner Sekretärin lustig machte.

Kevin legte sein Telefon zurück auf seinen Nachttisch. Dann umfasste er die Henkel des Frühstückstabletts und zog fragend seine buschigen Augenbrauen nach oben.

»Bist du fertig?«

Elaina nickte. Sie leerte ihre Kaffeetasse in einem Zug und stellte sie auf dem Servierbrett ab, bevor Kevin es außer Reichweite auf dem cremefarbenen Teppichboden platzierte. Anschließend ließ er sich zurück in die weichen Kissen sinken und hob seinen linken Arm. Elaina kam der unausgesprochenen Aufforderung nach und machte es sich in seiner Armbeuge bequem. Ihr Kopf ruhte auf seiner breiten Brust, sein klopfendes Herz pochte direkt unter ihrer Wange.

Zufrieden presste Kevin seine Lippen auf ihren Scheitel. »Ich freue mich auf unsere kleine Reise, auch wenn ich weiß, dass an ihrem Ende dann tatsächlich erst einmal ein längerer Abschied von dir ansteht.«

Elaina kuschelte sich enger an Kevins warmen Körper. Sie ließ ihre Fingerspitzen über die zarte Haut oberhalb seines Hüftknochens gleiten. Kevins rechter Fuß zuckte. Um ihre kitzelnden Berührungen zu unterbinden, griff er nach ihrer Hand, führte sie zu seinen Lippen und legte sie anschließend fest umschlossen auf seiner Brust ab.

»Lass uns doch nicht jetzt schon über unseren Abschied sprechen. Bis es soweit ist, haben wir ja erstmal noch einiges vor.«

Kevin tätschelte ihr zustimmend den Rücken. Zufrieden damit, diese Unterhaltung im Keim erstickt zu haben, schlang Elaina ihr nacktes Bein um seinen Schenkel und schmiegte sich enger an ihn. Je weniger sie ihre bevorstehende Trennung zum Thema zwischen ihnen machten, desto besser würde es ihnen beiden gelingen, nicht sentimental zu werden.

Elaina vergrub ihre Nase an der kleinen, weichen Stelle an Kevins Hals, direkt unterhalb seines Ohres. Sie schloss genüsslich die Augen, spürte, wie die Anspannung aus ihren Gliedern wich. Er roch nach Seife und Küchenarbeit. Kevin musste bereits geduscht haben, denn sie konnte nur noch einen Hauch des süß-säuerlichen Geruchs wahrnehmen, den er normalerweise nach alkoholreichen Nächten verströmte.

Ihren Kopf zur Seite drehend, hob sie ihren eigenen Arm an und schnüffelte. Angewidert rümpfte sie die Nase und ließ ihren Arm sinken. Eine Dusche würde ihr definitiv auch nicht schaden.

Elaina streckte sich, bis sie ihre Gelenke knacken hörte. Ihr Kopf, der noch immer auf Kevins Brust lag, hob und senkte sich im immer langsamer werdenden Rhythmus seiner Atmung. Kevin musste wieder eingenickt sein.

Zärtlich strich sie über seinen haarigen Bauch. Ihre Dusche konnte noch ein wenig warten. Noch war sie nicht dazu bereit, sich von Kevin und seinem warmen, vertrauten Körper loszueisen. Sie musste sich einprägen, wie es sich anfühlte, an ihn gekuschelt im Bett zu liegen.

Dies war eine weitere Taktik, die sich im Laufe der Jahre bewährt hatte. Momente wie diese ließen sich wie kleine Schätze in den Tiefen ihrer Seele vergraben. Sie trug sie bei sich, doch Elaina hielt sie so weit unter Verschluss, dass sie ihr im Alltag nichts anhaben konnten, sie nicht dazu verführen konnten, sich ihren Gefühlen hinzugeben.

Als Elaina wenig später erneut die Augen aufschlug, war der Platz neben ihr auf der Matratze leer. Sie rollte sich zur Seite und fischte mit halb geschlossenen Lidern nach ihrem Handy, das sie neben sich auf dem Nachttisch vermutete. Eine Nachricht von Kevin erschien auf dem Display. Er war auf dem Weg ins Fitnessstudio und wollte auf dem Rückweg Abendessen besorgen. Sie seufzte und ließ das Smartphone auf ihre Brust sinken. Dieser Mann konnte selbst nach einer halb durchzechten Partynacht nicht auf seine tägliche Sporteinheit verzichten.

Elaina rieb sich mit den Fingerspitzen über ihre geschwollenen Lider, griff dann wieder nach ihrem Telefon. Sie schob ihre Unterlippe zwischen ihren Zähnen hin und her und tippte eine Antwort an Kevin in die dunkel unterlegte Textbox ein.

Mehrere Benachrichtigungen auf ihrem Display zeigten ihr an, dass es in der vergangenen Nacht einiges an Aktivität auf ihren Social-Media-Profilen gegeben hatte. Sie öffnete einige der Apps und wurde von der Menge an Nachrichten beinahe erschlagen. Wie sie es vermutet hatte, hatte Laura ausführlich über die Party und die gestrige Nacht berichtet. Elaina scrollte flüchtig durch Lauras nicht enden wollende Beiträge. Auch das Selfie von ihnen beiden hatte sie gepostet, mit dem vielsagenden Hashtag #thatgirl. Sie schnaubte belustigt. That girl. Was hatte Laura sich denn nun dabei wieder gedacht?

Unsicher, ob sie dieser Beitrag eher amüsierte oder frustrierte, legte Elaina ihr Telefon beiseite. Sie schwang ihre braun gebrannten Beine aus dem Bett. Mit ihren Fingerspitzen bekam sie gerade so Kevins Hemd von letzter Nacht zu fassen, das sie zu sich herüber zog, bevor sie in die locker sitzenden Ärmel schlüpfte.

Vor dem kleinen Nebenzimmer, welches als begehbarer Kleiderschrank fungierte, standen bereits zwei große Reisekoffer bereit, die es heute noch zu füllen galt. Mindestens sechs Monate lang würde sie in Australien unterwegs sein, dafür musste sie eine sorgfältige Auswahl an Kleidungsstücken treffen.

Wenig motiviert starrte Elaina auf die überfüllten Regale, Schubladen und Kleiderstangen, die das Ankleidezimmer bestückten. Sie hatte keine Ahnung, wo sie beginnen sollte. Abwägend schob sie ein Kleid nach dem anderen von links nach rechts über die Stange. In ihre Überlegungen vertieft, fuhr sie mit ihrer Zungenspitze über ihre trockenen, eingerissenen Lippen. Sie runzelte die Stirn, presste dann ihre Lippen hart aufeinander. Das Brennen war seit heute Morgen nicht besser geworden.

Elaina schnappte sich eines ihrer Kleider, warf es samt Bügel auf das noch ungemachte Bett und blickte sich im Schlafzimmer nach ihrer Handtasche um. Sie entdeckte sie schließlich auf dem cremefarbenen Sessel neben der Designer-Stehlampe, die Kevin von seinen Eltern zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Ein scheußliches Ding.

In ihrer Handtasche kramte Elaina nach dem Lippenbalsam, den sie heute Morgen kurz nach dem Aufwachen bereits gesucht hatte, wurde aber auch dort nicht fündig. Leise fluchend stemmte sie ihre Hände in die Hüften. Ihre Lippen brannten wie Feuer, es konnte doch nicht sein, dass dieser verdammte Balsam nirgends auffindbar war. Irgendwo musste sie doch noch etwas Vergleichbares haben, das Linderung versprach. Ihre Suche in Bade- und Wohnzimmer blieb jedoch ebenfalls erfolglos.

Elaina war drauf und dran, Kevin damit zu beauftragen, auf dem Rückweg vom Fitnessstudio dem Supermarkt einen Besuch abzustatten, als ihr Blick auf ihren Nachttisch fiel. Sie hielt einen Augenblick inne, biss sich unschlüssig auf die wunde Unterlippe. Schließlich ging sie in die Knie und öffnete die unterste Schublade des schmalen Nachttischchens. Sie holte eine große, braune Schmucktruhe hervor, hinter der sich eine kleine, schäbig aussehende Holzschatulle verbarg.

Tief Luft holend öffnete sie vorsichtig den Deckel der Box, die sie geschickt auf ihren Knien balancierte. In der Box befand sich eine Sammlung unterschiedlichster Gegenstände. Ganz unten lagen einige zusammengefaltete Briefe, deren Ränder abgegriffen aussahen, darüber eine vergilbte Einladung zu einer Hochzeit.

Der Anblick der kleinen Gegenstände in der Schatulle machte Elaina nervös. Sie hatte dieses Holzkästchen seit Jahren nicht mehr geöffnet, hatte es allerdings auch nie übers Herz gebracht, sich von seinem Inhalt zu trennen. Stattdessen hatte Elaina die hölzerne Box von Kontinent zu Kontinent geschleppt und sie nach jedem Umzug wohlweislich in den Tiefen irgendwelcher Schubladen verstaut. Obwohl es Jahre her war, dass sie zuletzt einen Blick in die hölzerne Schatulle geworfen hatte, wusste sie jedoch genau, was sich alles in ihr befand.

Die Augenbrauen in Konzentration zusammengezogen, stocherte Elaina mit ihrem Zeigefinger zwischen den Gegenständen herum, bis sie fand, wonach sie gesucht hatte. Sie holte einen weißen Lippenbalsam hervor, dessen Klebeetikett mindestens genauso vergilbt war wie die Ränder der zahlreichen Briefe am Boden der Schatulle.

Vorsichtig öffnete Elaina den Drehverschluss. Test-weise roch sie an der weißen, cremigen Masse, konnte jedoch keinen unangenehmen Geruch wahrnehmen. Zuversichtlich, dass sie sich mit dem Inhalt der kleinen Plastiktube nicht vergiften würde, strich sie mit Stift über ihren Mund und verteilte den Balsam großzügig auf ihren Lippen.

Kokosnuss und Wrigley’s Spearmint, eine warme, raue Hand auf ihrer Wange, deren Daumen zärtlich über ihre Wange strich. Ihr Herz, das in ihrem Innersten explodierte und ihre blasse Haut zum Glühen brachte.

Elaina spürte, wie ihr das Blut aus dem Kopf wich. Sie ließ sich rücklings auf den weichen Teppichboden sinken, lehnte sich schwer atmend gegen den gepolsterten Rahmen des Bettes. Sie schloss für einen kurzen Augenblick die Augen, darauf wartend, dass die Welle der Übelkeit, die sie ganz plötzlich überkommen hatte, durch ihren Körper rauschte und sich ihr wild pochendes Herz wieder beruhigte.

Ein Fehler. Es war ein Fehler gewesen, diese verdammte Schatulle auszugraben.

Als sich Elaina wieder einigermaßen gesammelt hatte, verstaute sie den Lippenbalsam erneut in der hölzernen Box. Sie drückte den Deckel fest auf die Schatulle, stellte sicher, dass sie auch wirklich fest verschlossen war und schob sie anschließend zurück in die hinterste Ecke der Nachttischschublade. Dort gehörte sie hin. Aus den Augen, aus dem Sinn.

Elaina griff nach ihrem Handy und bat Kevin darum, ihr auf dem Rückweg einen Lippenpflegestift mitzubringen.

4

DEZEMBER 2002

WELLINGTON (NEUSEELAND)

Ich hatte es schon halb die Straße herunter geschafft, als ich hörte, wie jemand meinen Namen rief. Ich warf einen flüchtigen Blick über meine Schulter, blieb allerdings nicht stehen. Unter keinen Umständen wollte ich den Eindruck vermitteln, dass ich noch einmal zu Mandys bescheuerter Party zurückkehren würde. Mein Streit mit Alicia hatte mir die Stimmung gründlich verdorben, denn mir stand deswegen nun ein langer Fußweg bevor, den ich unbedingt hinter mich bringen wollte, bevor der sich ankündigende Regen einsetzte.

»Elaina, warte doch!«

Ich rollte mit den Augen, stülpte mir die Kapuze meines Pullovers über und beschleunigte meinen Schritt. Wer auch immer sich die Mühe gemacht hatte, mir zu folgen, würde hoffentlich diesen dezenten Wink mit dem Zaunpfahl verstehen und kehrtmachen.

»Elaina!«

Der Takt der Schritte hinter mir auf dem Asphalt erhöhte sich. Der Besitzer der Stimme näherte sich mir zügig. Ich seufzte genervt. Anscheinend war meine unterschwellige Botschaft nicht eindeutig genug gewesen.

Im Licht der nächsten Straßenlaterne stoppte ich schließlich. Bereit, meinem Verfolger ordentlich die Meinung zu geigen, wirbelte ich herum. Ich wollte einfach nur in Ruhe gelassen werden, so schwer war das doch wirklich nicht zu verstehen.

Mir gegenüber stand Matt. Nicht Matt, der pickelige Rugby-Spieler mit dem Vokuhila, auch nicht der große, schlaksige Matt, der einen auf Partys immer in pseudophilosophische Gespräche verwickelte, sondern der gut-aussehende Matt, dessen Eltern bei einem tragischen Verkehrsunfall ums Leben gekommen waren und der deshalb nun alleine mit seiner älteren Schwester in einem riesigen Haus lebte, nur wenige Straßenecken von mir entfernt. Dieser Matt, der wie angewurzelt stehen geblieben war, stand nun mit einem überraschten Gesichtsausdruck vor mir und reckte beschwichtigend die Hände in die Höhe.

»Keine Sorge, ich bin’s nur.«

»Wer sagt, dass ich mir Sorgen mache?« fauchte ich, auf Krawall gebürstet.

Ohne weiter mit der Wimper zu zucken, machte ich kehrt und setzte meinen Weg fort. Matt schien sich von meiner überaus freundlichen Begrüßung jedoch nicht abschrecken zu lassen. Er machte zwei lange Schritte nach vorne und hatte mich sogleich eingeholt.

»Keine Lust mehr auf Mandys Party?« Meine Frage klang bissig und unfreundlich. Offensichtlich allerdings nicht unfreundlich genug.

»Ich hab’ mitbekommen, dass du dich mit Alicia gestritten hast«, sagte Matt, seine Hände tief in seinen Hosentaschen vergraben.

»Und? Hältst du mich nun ebenfalls für eine Spaß-bremse, die keine echten Freunde hat?«

Mit meinen Fingern malte ich zwei Gänsefüßchen in die Luft und äffte Alicias gehässigen Tonfall nach, den sie besonders gerne auflegte, wenn sie ein wenig zu tief ins Glas geschaut hatte.

Matt grinste, eher amüsiert über meine Reaktion als verärgert. Er vergrub seine Hände tiefer in seinen Hosentaschen, zog die Schultern hoch, um seinen entblößten Hals vor der stürmischen Böe zu schützen, die in diesem Moment durch die Wipfel der Bäume fuhr.

»Ach komm schon, du kennst doch Alicia. Morgen früh kommt sie doch eh wieder angekrochen und entschuldigt sich bei dir. Du weißt doch, wie sie ist, wenn sie zu viel getrunken hat.«

»Ja super, davon kann ich mir aber jetzt auch nichts kaufen«, schnaufte ich, frustriert darüber, dass Matt Alicia jetzt auch noch in Schutz nahm. »Erst schleift sie mich zu dieser blöden Party, auf die ich eh schon keine Lust hatte, und dann lässt sie mich hängen, weil sie sich mal wieder die Birne zugekippt hat. Und zu guter Letzt macht sie mich dann auch noch blöd von der Seite an, wenn ich sie darauf aufmerksam mache, dass sie versprochen hat, mich nach Hause zu fahren. Ist ja auch nicht das erste Mal, dass sie so eine Nummer abgezogen hat!« polterte ich weiter.

Wütend verschränkte ich meine Arme vor der Brust.

Matt zuckte nur mit den Schultern. »Sie hat mir das Gleiche versprochen wie dir. Ist halt blöd gelaufen. Ärger dich nicht drüber.«

»Hmpf.« Im Gegensatz zu Matt war ich nicht so schnell bereit, Alicia zu vergeben.

Eine Weile liefen Matt und ich schweigend nebeneinander her. Ich kochte zwar innerlich noch immer vor Wut auf Alicia, aber, wenn ich ganz ehrlich war, noch mehr vor Wut auf mich selbst. Ich war schließlich selber Schuld. Ich hätte mich nicht wieder von Alicia bequatschen lassen sollen. Vielleicht geschah es mir ganz Recht, dass mir nun ein sechzig minütiger Fußmarsch bevorstand, auf dem ich, den dunklen Wolken nach zu urteilen, mit ziemlicher Sicherheit auch noch nass werden würde. Vielleicht würde mir das endlich eine Lehre sein.

Aus dem Augenwinkel warf ich Matt einen verstohlenen Blick zu. Immerhin hatte ich nun einen durchaus netten und attraktiven Begleiter an meiner Seite. Auch wenn ich es niemals offen zugegeben hätte, war ich froh, dass er nun neben mir her trottete und mir auf meinem Heimweg Gesellschaft leistete. Ich hätte es definitiv schlechter treffen können.

In den letzten Wochen waren Matt und ich uns verdächtig oft über den Weg gelaufen. Wir schienen einen ähnlichen Bekanntenkreis zu haben, begegneten uns regelmäßig auf Partys und anderen Events. Insbesondere, wenn Alicia dabei war.

Ich sah erneut zu ihm herüber. Matt jedoch hielt seinen Blick geradeaus auf die Straße gerichtet. Er spazierte noch immer schweigend neben mir her. Mit einem Mal bereute ich es, ihm gegenüber so ruppig gewesen zu sein.

»Kaugummi?« fragte Matt plötzlich, als er bemerkte, dass ich ihn von der Seite aus musterte.

Er zog ein kleines, weißes Päckchen hervor, das er mir auffordernd entgegen streckte. Ich schüttelte mit dem Kopf, beobachtete ihn dann dabei, wie er eines der Kaugummis aus der dünnen, silbernen Folie befreite und es sich einmal zusammengefaltet in den Mund schob.

Abschätzend studierte ich seinen Gesichtsausdruck. Schließlich überwog meine Neugier.