Im Schatten der Silberfarne - Svenja Mann - E-Book

Im Schatten der Silberfarne E-Book

Svenja Mann

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Beschreibung

Als Sarahs Beziehung zerbricht, fällt ihr Leben wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Um möglichst viel Abstand zwischen sich und ihren Exfreund zu bringen, ergreift sie die Flucht ans andere Ende der Welt. Auf der Suche nach einem Neuanfang kehrt sie in einer Nacht-und-Nebel-Aktion in das Land zurück, in dem sie aufgewachsen ist: Neuseeland. Dort angekommen, muss sie sich nicht nur mit dem Ende ihrer Beziehung, sondern vor allem mit sich selbst auseinandersetzen. Als sie droht, sich in den dunklen Abgründen ihres Seelenlebens zu verlieren, reicht ihr unerwartet eine fremde Frau die Hand. Im Schatten der Silberfarne muss Sarah sich entscheiden: Kehrt sie nach Deutschland zurück oder wagt sie einen Neuanfang?

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Im Schatten der Silberfarne

Svenja Mann

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar.

© 2023 Svenja Mann

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand, Norderstedt

ISBN:978-3-738-62038-2

Prolog

Am Ende eines weitläufigen Gartens, auf einer leicht abschüssigen Wiese, wuchs ein majestätischer Baum. Seine Äste zierten zierliche Zweige mit dunkelgrünem Blattwerk und knallroten, puscheligen Blüten, die kleinen Feuerbällen ähnelten. Von einem der kräftigen Äste baumelte ein Seil, an das sich ein junges Mädchen klammerte. Es hielt das raue Tau fest mit seinen kindlichen Fingern umfasst, schwang enthusiastisch vor und zurück. Seine langen, haselnussbraunen Zöpfe, die sein schmales Gesicht umrahmten, sausten mit ihm durch die Lüfte, vor und zurück.

Als das Seil nach vorne schwang und den Körper des kleinen Mädchens mit sich riss, fühlte es sich wie einer der schwarzgefiederten Vögel, die anmutig durch die Lüfte glitten, auf der Suche nach dem goldenen Nektar aus den feuerroten Blüten des Baumes. Kurz bevor sich das Seil wieder in die entgegengesetzte Richtung bewegte, erwachten Schmetterlinge im Bauch des Mädchens. Rückwärts fliegen war fast wie fallen, aufregend, aber auch unheimlich, weil man nicht sehen konnte, was hinter einem lag. Aus dem dichten Buschwerk, welches das Ende des Gartens markierte, drang wildes Geschrei zu dem Mädchen hervor. Dann, ganz plötzlich, teilte sich das Grün vor ihm und eine Gruppe älterer Jungen stürmte an dem Baum vorbei, an dem das junge Mädchen durch die Lüfte sauste. Der kräftigste der Jungspunde rannte eng an dem Mädchen vorbei. Frech lachend versetzte er ihm einen heftigen Stoß, sodass es nicht länger vor und zurück schwang, sondern sich in einer spiralförmigen Bewegung um sich selbstdrehte.

Das Mädchen blickte nach oben in das Geäst über ihm. Blätter, Zweige, Feuerbälle und dichte Wolken, die sich vor die Sonne geschoben hatten, dazwischen blaue Tupfen - der Himmel, der hin und wieder zwischen dem Grün des Baumes hervor schimmerte. Ein Kaleidoskop an Farben. Die Welt drehte sich schwindelerregend im Kreis. Chaos packte den kleinen Körper des Mädchens. Es lockerte seinen Griff um das Seil. Seine Finger lösten sich, unsanft landete es auf dem staubigen Boden zu Füßen des mächtigen Baumes. Das junge Mädchen blieb sitzen, bis die Welt zur Ruhe gekommen war und die Wolken die gleißende Sonne wieder freigaben. Ein goldener, strahlender Anker am Horizont. Ein Fokuspunkt.

Teil 1

1

Liebe Franzi,

wie beginnt man eine E-Mail, die einem mit jedem getippten Wort einen Dolch mitten ins Herz rammt? Ich starre nun schon minutenlang auf diesen Bildschirm vor mir, doch ich finde einfach nicht die richtigen Worte, den richtigen Anfang. Das Schreiben dieser Nachricht fällt mir schwer, schmerzt mich. Ich weiß jedoch, dass ich endlich all das loswerden muss, was ich schon seit Monaten mit mir herum schleppe. Ich muss mich endlich jemandem anvertrauen, um nicht den Verstand zu verlieren. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie oft ich schon kurz davor gestanden habe. Doch irgendwie habe ich es am Ende nie fertig gebracht. Warum? Auch wenn es für dich vielleicht lächerlich klingt, aber ich habe mich einfach abgrundtief geschämt. Für das, was passiert ist, aber vor allem und in erster Linie für mein eigenes Verhalten. Meine Stille, meine Passivität. Ich hätte viel früher etwas tun sollen, hätte mich wehren sollen, anstatt mich einfach so meinem Schicksal zu ergeben. Damit hätte ich mir wahrscheinlich viel Kummer und Leid ersparen können.

Dieser schreckliche Tag vor einem Jahr, an dem wir uns das letzte Mal gesehen haben, hat alles in meinem Leben verändert. Seitdem ist nichts mehr so, wie es einmal war. Ich glaube, du würdest mich nicht mehr wiedererkennen. Die Frau, die ich einmal gewesen bin, gibt es nicht mehr. Nach diesem Tag bin ich in ein Loch gefallen, aus dem ich lange Zeit nicht mehr herausgekommen bin. Die Dunkelheit darin hat mich verschluckt und nicht wieder gehen lassen, sie hat an mir geklebt wie Öl an dem Federkleid eines Wasservogels. Es hat Tage gegeben, an denen ich nicht einmal mehr aus dem Bett gekommen bin. Stattdessen habe ich apathisch an die Decke gestarrt und darauf gewartet, dass sich der Zeiger auf der Uhr weiter nach vorne bewegte. Irgendwann wusste ich nicht mehr, ob es Tag oder Nacht war, hell oder dunkel. Wenn Max mich nicht irgendwann unter Druck gesetzt hätte, mir professionelle Hilfe zu suchen, dann säße ich heute glaube ich nicht hier und würde dir diese E-Mail schreiben.

Wahrscheinlich denkst du jetzt, ich sollte Max dankbar sein. Das bin ich auch. Ich weiß nicht, ob ich es ohne ihn geschafft hätte, mir die Unterstützung zu holen, die ich so dringend gebraucht habe. Das Gefühl der Dankbarkeit hat sich allerdings schneller verflüchtigt als der Schnee in der Frühlingssonne. Denn schon kurze Zeit später habe ich herausgefunden, dass Max mich betrogen hat. Mitten in der Zeit, als ich hundeelend im Bett gelegen habe und nichts mehr gebraucht hätte, als seine Unterstützung, seinen Halt, hat er sich hinter meinem Rücken mit einer seiner Kolleginnen vergnügt. Letzten Juni, auf dem Sommerfest seiner Firma, ist es passiert. Max’ merkwürdiges, distanziertes Verhalten in den Tagen nach der Feier hat mich so sehr irritiert, dass ich Verdacht geschöpft habe. Ich habe dann immer weiter nachgebohrt, bis er schließlich keine andere Wahl mehr hatte und mit der bitteren Wahrheit herausgerückt ist.

Franzi, ich kann dir wirklich kaum beschreiben, wie hart mich sein Geständnis in diesem Moment getroffen hat. In einer einzigen Sekunde, mit nur wenigen Worten aus seinem Mund, ist meine ganze Welt über mir zusammengebrochen. Ich habe mich gefühlt, als wäre ich mit einem Lastwagen überfahren worden. Mehrfach. Ich war absolut sprachlos und hatte keine Ahnung, wie ich reagieren sollte. Mein erster Gedanke war: ich muss mich sofort von Max trennen und mir eine eigene Wohnung suchen. Im nächsten Augenblick aber bin ich völlig von meinen Gefühlen überwältigt worden. Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. In mir ist ein abgrundtiefes, unkontrollierbares Chaos ausgebrochen, das jegliche rationale Gedanken unmöglich gemacht hat.

Weißt du, was das Schlimme ist, wenn man von einem Lastwagen überrollt wird und nicht gleich tot ist? Man ist so schwer verwundet, dass man bewegungsunfähig ist. Genau so habe ich mich gefühlt. Bewegungsunfähig, gelähmt, zutiefst verletzt.

Nach Max' Geständnis habe ich erst einmal Zeit gebraucht, um zu verarbeiten, was er mir da eigentlich gestanden hatte. Ich kann dir versichern, noch nie habe ich eine solche Bandbreite an Emotionen innerhalb einer so kurzen Zeit durchlebt. Ich war am Boden zerstört, ich war wütend, enttäuscht, einfach nur tieftraurig, voller Wut und Hass auf ihn, auf diese Kollegin, auf mich selbst. Ich habe ihm eine Ohrfeige verpasst, dann tränenüberströmt zusammengekauert in der Ecke gesessen und hyperventiliert, habe ihn angefleht mich nicht zu verlassen, nur um ihm gleich darauf zu sagen, er soll gefälligst seine Sachen packen. Ich war wie ein Pendel, das an jedem Tag in eine völlig andere Richtung ausschlagen konnte.

Max’ Affäre hat mich mental total zurückgeworfen. Erneut musste ich mich durch Tage kämpfen, an denen ich nicht aus dem Bett gekommen bin, wieder hat diese zähe, dunkle Masse versucht, mich in den Abgrund hinabzuziehen. Ich habe mein Bestes versucht, mich dieser Dunkelheit nicht hinzugeben, aber ich muss dir ganz ehrlich sagen, dass mir das nicht sehr gut gelungen ist. Ich hatte mich und meine Emotionen kaum noch unter Kontrolle. Manchmal bin ich inmitten meiner Arbeit, wie aus dem Nichts heraus, in Tränen ausgebrochen. Ich war ein emotionales Wrack - kaputt, morsch und in keinster Weise mehr dazu in der Lage, mich gefahrlos durch die Wogen des täglichen Lebens zu navigieren.

Warum ich mich nicht von Max getrennt habe? Zu einer solchen Entscheidung wäre ich gar nicht in der Lage gewesen. Dazu ging es mir emotional viel zu schlecht. Auch wenn Max mir schrecklich weh getan hat, ist er in diesen Monaten doch der einzige Halt für mich gewesen, einer der wenigen Menschen, der wusste, wie es in mir ausgesehen hat. Ohne ihn wäre ich untergegangen, davon war ich fest überzeugt. Zusätzlich bin ich dann auch noch von Selbstzweifeln gequält worden. Immer und immer wieder habe ich mich gefragt, ob ich seinen Seitensprung hätte verhindern können, hätte ich mich nicht so gehen lassen. Vielleicht hätte ich mehr für Max da sein, ihm mehr Aufmerksamkeit schenken müssen. Vielleicht wäre dann alles anders gekommen. Vielleicht.

Max wiederum hat es mir zudem auch nicht leicht gemacht, mich von ihm zu trennen. Er wollte mich nicht verlieren und hat alles daran gesetzt, mich zum Bleiben zu bewegen. Eine Trennung hat für ihn überhaupt nicht zur Debatte gestanden, ist einfach keine Option gewesen. Unermüdlich hat er versucht, mich davon zu überzeugen, dass sein Seitensprung nur ein dummer Ausrutscher gewesen ist, eine einmalige Sache, die keinerlei Bedeutung für ihn hatte. Immer wieder hat er mir versichert, dass er nur mich liebt.

Seine exakten Worte muss ich an dieser Stelle wohl nicht wiedergeben, solche Sprüche kennst du sicher. Sie unterscheiden sich ehrlich gesagt von Mann zu Mann nicht großartig. Trotzdem hatten sie aber ihre beabsichtigte Wirkung auf mich. Obwohl ich mir mehr als einmal fest vorgenommen hatte, unsere Beziehung zu beenden, habe ich es am Ende nicht übers Herz gebracht. Ich wollte glauben, dass er es ernst meinte. Unsere Beziehung sollte an dieser Stelle nicht enden. Und so habe ich anscheinend irgendwann die Entscheidung getroffen, ihm seinen Seitensprung zu verzeihen. Einfach ist es nicht gewesen. Es hat mich zahlreiche schlaflose Nächte gekostet und eine vermutlich umweltschädigende Menge an Taschentüchern noch dazu.

Wenn du da gewesen wärst Franzi, hättest du mich wahrscheinlich einmal kräftig durchgerüttelt und mich gefragt, ob ich noch ganz sauber im Kopf bin. Wenn ich allein war und Zeit zum Nachdenken hatte, konnte ich deine Stimme praktisch in meinem Kopf hören. Permanent hast du mir zugeflüstert, dass ich die falsche Entscheidung getroffen habe, hast Zweifel in mir gesät. Wollte ich wirklich eine von den Frauen sein, die Seitensprünge als Kavaliersdelikt abtun? Hatte ich Max überhaupt tatsächlich verziehen? Kann Verzeihen bedeuten, nichts zu tun, keine Konsequenzen zu ziehen? Wenn dich der Mensch, mit dem du dein Leben teilst, dem du absolutes Vertrauen entgegenbringst, so hintergeht, dann kannst du das nicht einfach vergessen und ihm vergeben. Von einem bewussten Verzeihen kann ich vielleicht daher gar nicht wirklich sprechen. Am Ende war mein Verzeihen vielleicht nur ein Verbleiben, ein Warten auf bessere Zeiten.

Wenn ich ehrlich zu dir, und zu mir selbst bin, dann bin ich einfach nur feige gewesen. Zu bleiben, ist schließlich die leichtere Option für mich gewesen. Wäre ich gegangen, hätte ich mein ganzes Leben umkrempeln müssen. Ich hätte mir eine Wohnung suchen, eine Umzug organisieren müssen. Ich hätte finanziell schlechter dagestanden. Mein Leben wäre nicht mehr das Gleiche gewesen. Überlegungen, die mir Angst eingejagt und mich nur noch mehr gelähmt haben.

Es ist aber nicht nur diese Angst gewesen, die mich am Ende zum Bleiben bewegt hat. Der Gedanke, Max nicht mehr als Teil meines Lebens betrachten zu können, hat mir das Herz gebrochen. Ich konnte diese Vorstellung einfach nicht ertragen. Für mich ist Max nicht nur mein Partner im romantischen Sinne gewesen, sondern auch mein bester Freund, in diesen Tagen vielleicht sogar mein einziger Freund. Durch meine mentale Situation in den Monaten davor hatte ich mich von meinen Freundinnen und Bekannten völlig distanziert. Max war der Einzige, der in dieser Zeit noch eine konstante Präsenz in meinem Leben gewesen ist. Er hat sich um mich gekümmert, als es mir schlecht ging. Er wusste, was ich durchgemacht habe, vor ihm musste ich mich nicht rechtfertigen, wenn ich einen miesen Tag hatte. Max und ich, wir haben schon so viel gemeinsam erlebt und durchgemacht: Unsere Abschlüsse, der Unfall seiner Mutter, unser Umzug nach Deutschland, der Tod meines Vaters… Zehn gemeinsame Jahre miteinander schmeißt man doch für eine bedeutungslose Affäre nicht einfach so weg. Ein Leben ohne Max war für mich unvorstellbar.

Trotz all dieser Argumente konnte ich diese leise Stimme in meinem Kopf jedoch nicht vollständig zum Schweigen bringen. Fast jeden Morgen bin ich aufgewacht, in unserer Wohnung, auf der rechten Seite unseres Bettes, mit Blick auf den Berliner Fernsehturm und den immer gleichen Zweifeln, die hartnäckig an mir genagt haben. Jedes Mal habe ich mich gefragt, ob ich abends an dieselbe Zimmerdecke starrend einschlafen würde, oder ob ich doch noch die Entscheidung treffen würde, zu gehen.

An einem regnerischen Spätsommertag im September hatte ich dann die Nase voll. Ich wollte endlich einen Schlussstrich ziehen, mit dem Grübeln aufhören und nach vorne schauen. Also bin ich kurzerhand zum Baumarkt gefahren, habe mir einen Eimer Wandfarbe besorgt und die Decke über unserem Bett dunkelblau gestrichen. Ich konnte es nicht mehr ertragen, an diese weiße, leblose Decke über mir zu starren. Eine kleine Veränderung, von der ich mir einen großen Effekt erhofft habe. Leider musste ich feststellen, dass sich Gefühle nicht so leicht überstreichen lassen, wie eine öde Zimmerdecke. So ein Seitensprung hat dann eben doch weitreichende Folgen für eine Beziehung.

Es ist mir unheimlich schwer gefallen, das zerstörte Vertrauen in Max und unsere Beziehung wieder aufzubauen. Auch wenn Max mir bei jeder Gelegenheit versichert hat, dass der Seitensprung eine einmalige Sache gewesen ist, hat mich doch permanent die Angst verfolgt, dass sich mehr daraus entwickeln könnte. Die Tatsache, dass Max den Kontakt zu seiner Kollegin nicht vollkommen abbrechen konnte, hat mir schwer zu schaffen gemacht. Jedes Mal, wenn sein Handy ein Geräusch von sich gegeben hat, bin ich davon überzeugt gewesen, dass am anderen Ende der Leitung eine andere Frau seine Aufmerksamkeit einforderte. Ich habe Max unter Generalverdacht gestellt und du kannst dir sicher denken, dass wir darüber mehr als einmal aneinandergeraten sind. Die Stimmung zwischen uns als angespannt zu bezeichnen, wäre sicher untertrieben gewesen.

Darüber ist unsere Beziehung in eine Art Teufelskreis geraten. Je mehr wir gestritten haben, desto mehr hat Max sich von mir zurückgezogen. Es war einfach nicht mehr so wie früher zwischen uns, das haben wir beide deutlich gespürt. Das wiederum hat bei mir nur für noch mehr Panik gesorgt. Anstatt Vertrauen zu ihm aufzubauen, ist mein Misstrauen ihm gegenüber Tag für Tag gewachsen. Max ist es irgendwann leid gewesen, sich permanent vor mir rechtfertigen zu müssen. Er hat sich immer mehr in seine eigene Welt zurückgezogen, war nur noch mit seinem Handy beschäftigt. Sobald ich mich umgedreht habe, konnte ich aus dem Augenwinkel beobachten, wie seine Finger in rasanter Geschwindigkeit über die Tastatur geflogen sind. Habe ich mich ihm zugewandt, hat er sein Handy schnell wieder in seiner Hosentasche verschwinden lassen. Für mich ist es offensichtlich gewesen, dass da hinter meinem Rücken irgendetwas vor sich ging.

Max auf sein Verhalten anzusprechen, hat mich nicht weitergebracht. Er hat jegliche Gespräche sofort abgeblockt und behauptet, ich würde mir das alles nur einbilden. Übersensibel und paranoid waren, glaube ich, die Worte, die er für mich übrig hatte. Und was hatte ich ihm auch schon entgegenzusetzen? Bis auf dieses seltsame Gefühl hatte ich schließlich keine handfesten Beweise dafür, dass Max hinter meinem Rücken etwas Unrechtes tat. Glaub mir, ich habe irgendwann sogar angefangen, meine eigene Wahrnehmung in Frage zu stellen. Vielleicht war ich ja wirklich einfach nur verrückt und psychotisch und drauf und dran, meinen Verstand zu verlieren.

Völlig überzeugt von meiner eigenen Paranoia bin ich jedoch nicht gewesen. Also habe ich eine Entscheidung getroffen, in deren Konsequenz ich eine rote Linie überschritten habe, eine magische Grenze, die unserer Beziehung potentiell noch mehr Schaden zufügen konnte. Aus meiner Perspektive hatte ich jedoch keine andere Wahl mehr. Die Büchse der Pandora zu öffnen war zwar mit einem gewissen Risiko verbunden, doch die Alternative war, mich von meinen Zweifeln und der Ungewissheit in den Wahnsinn treiben zu lasen.

Ich wusste zunächst nicht so recht, wo ich mit der Suche nach Beweisen beginnen sollte. Da ich natürlich keinen direkten Zugriff auf Max’ Smartphone hatte, wollte ich mich der nächstbesten Quelle zuwenden: seinen Social-Media-Profilen. Als ich eines Abends mal wieder von meiner üblichen Schlaflosigkeit heimgesucht wurde, habe ich die Stille der Nacht dazu genutzt, mir Max’ Profil etwas genauer anzuschauen. Ich habe gehofft, dort vielleicht Hinweise darauf zu finden, mit wem er die ganze Zeit so eifrig Nachrichten austauschte. Max ist, im Gegensatz zu mir, schon immer sehr aktiv in sozialen Netzwerken unterwegs gewesen, daher war ich mir ziemlich sicher, dort fündig zu werden.

Franzi, was ich in dieser Nacht auf seinem Profil gesehen habe, ist in mehr als einer Hinsicht ernüchternd gewesen. Kein einziges gemeinsames Foto von uns war dort auffindbar, kein Urlaubsschnappschuss, kein Pärchenfoto, nicht ein einziges Bild, auf dem wir zusammen zu sehen waren. Es war, als ob ich in dieser Welt überhaupt nicht existierte, als hätte er mich mit der klinischen Präzision eines Neurochirurgen einfach aus seinem Leben entfernt. Versteh mich nicht falsch, es hat natürlich Aufnahmen von unseren Reisen gegeben, doch auf all den Fotos war einzig und alleine Max abgebildet. Und unter diesen Beiträgen? Zahllose Kommentare und Herzchen von mir völlig fremden Frauen. Ich war fassungslos. Warum ist mir das verdammt nochmal nie aufgefallen?

Ich habe mich daraufhin dann jedenfalls erst einmal durch die Profile einiger dieser Damen geklickt. Ich wollte herausfinden, was das für Frauen waren und was genau sie mit Max zu tun hatten. Ziemlich schnell habe ich auf jeden Fall festgestellt, dass diese Damen einiges gemeinsam hatten: Sie waren alle jung, überdurchschnittlich gut aussehend und lebten zum Großteil in Berlin. Einige der Profile waren öffentlich zugänglich, viele waren aber auch nur nach Anfrage einsehbar. Ich hatte keine Ahnung, wie ich das einordnen sollte. Wie und vor allem wo hatte Max all diese Frauen kennengelernt? Zumindest diejenigen Damen mit privaten Profilen schienen doch zumindest ein wenig Wert auf ihre Privatsphäre zu legen. Hätten sie wirklich Kontaktanfragen von einem wildfremden Mann wie Max akzeptiert? Kannte er sie vielleicht über andere Kanäle? Aber welche?

Max' gesamten Profil-Auftritt habe ich als ziemlich befremdlich empfunden. Mit was für einem Mann hatte ich da die letzten Jahre zusammengelebt? War er wirklich einer dieser Typen, die das Internet nach Frauen durchforsteten, um dann mit ihnen… Ja, was eigentlich? Affären anzufangen? Am Ende hat meine kleine Recherche jedenfalls mehr Fragen aufgeworfen als Antworten geliefert.

Als ich Max auf seine ominöse Social-Media-Präsenz angesprochen habe, hat er mir wieder nur sehr ausweichende Erklärungen gegeben und versucht, alles zu bagatellisieren. Angeblich hatte er nur neue Freundschaften schließen wollen. Dass es sich bei seinen neuen Bekanntschaften fast ausschließlich um äußerst attraktive Frauen handelte, sei reiner Zufall. Frauen seien halt kontaktfreudiger.

Völlig abwegig war seine Erklärung natürlich nicht. Wir sind zu dem Zeitpunkt schließlich noch nicht so lange in Berlin gewesen und wo sollte man während des Lockdowns auch sonst Kontakte knüpfen, wenn nicht im Internet. Trotzdem bin ich aber das Gefühl nicht losgeworden, dass da mehr dahintersteckte. Ich sage es ganz offen - ich habe Max nicht über den Weg getraut, nicht bei der Vorgeschichte kombiniert mit seinem merkwürdigen Verhalten.

Einige Tage später sollte mir dann das Schicksal auf die Sprünge helfen. Auf oberste Anordnung musste ich mal wieder persönlich auf der Arbeit erscheinen, um an einem wichtigen Meeting teilzunehmen. Als ich auf dem Weg ins Büro an der U-Bahn-Haltestelle gewartet habe, ist mir auf einmal ein großes Plakat an der gegenüberliegenden Wand aufgefallen, mit Werbung für eine der zahlreichen Dating-Apps, die gerade das Lockdown-Dating-Leben vieler Singles bestimmten. Finde Singles in deiner Nähe, lautete der Slogan. In deiner Nähe. Dieser Wortlaut hat mich in der U-Bahn nicht mehr losgelassen.

Im Büro angekommen, habe ich mir sofort die drei beliebtesten Dating-Apps heruntergeladen und mir Fake-Profile angelegt. Ich habe meine Suchkriterien passend auf Max eingestellt und dann den Radius für anzuzeigende Singles in meiner Nähe so reduziert, dass unsere Wohngegend noch mit abgedeckt wurde. Max hat sich zu dem Zeitpunkt nämlich wie gewohnt in unserer Wohnung befunden. Dann habe ich angefangen, mich durch die Profile zu arbeiten, die mir angezeigt wurden. Mit jedem Wisch nach links oder rechts ist meine Nervosität größer geworden, schließlich konnte die nächste Bewegung meines Fingers das Ende meiner Beziehung bedeuten.

Gefunden habe ich nichts. Ich bin in dem Moment so unglaublich erleichtert gewesen, das kannst du dir kaum vorstellen. Trotzdem wollte ich, um vollständig sicher zu gehen, abends noch einen zweiten Versuch starten. Es konnte ja sein, dass Max gerade nicht online gewesen ist und mir sein Profil deswegen nicht angezeigt wurde. Gleichzeitig habe ich mir aber auch vorgenommen, es gut sein zu lassen, sollte ich auch am Abend keine handfesten Beweise für Max’ Untreue finden.

Naja, du kannst dir sicher denken, was am Ende passiert ist. Natürlich habe ich sein Profil gefunden. Ein komplettes, ausführliches, mehr als vollständiges Dating-Profil, inklusive Links zu seinen Social-Media-Accounts. Auf der Suche nach Spaß und Abwechslung sei er, so stand es da. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was das in diesem Moment für mich bedeutet hat. Ich bin ja irgendwie darauf vorbereitet gewesen, so etwas zu finden, aber es dann schwarz auf weiß vor mir zu sehen, hat mich getroffen wie eine Abrissbirne.

Rückblickend hätte ich an dieser Stelle wohl taktisch klüger handeln und Max nicht direkt konfrontieren sollen. Aber in dieser Situation konnte ich mich einfach nicht zurückhalten. Ich bin vollkommen ausgerastet und habe Max sofort völlig hysterisch zur Rede gestellt. Natürlich hat er zunächst versucht, mir irgendwelche Ausreden aufzutischen, von wegen Freundschaften schließen und so weiter. Er hat jedoch ziemlich schnell festgestellt, dass das dieses Mal nicht mehr ziehen würde. Mit dem Rücken zur Wand hat er mir dann letztendlich gestanden, dass er heftig mit den Frauen geflirtet und ziemlich explizite Nachrichten mit ihnen ausgetauscht hatte. Er hat jedoch vehement abgestritten, sich jemals persönlich mit ihnen getroffen zu haben. Angeblich hatte sich alles nur im Internet abgespielt, ohne jeglichen körperlichen Kontakt.

Na klar, das machte es auch viel besser. Max ist jedenfalls allen Ernstes der Meinung gewesen, dass er mich nicht betrogen hat. Betrügen beginnt für ihn nämlich erst bei körperlichem Kontakt. Für mich ist diese feine Unterscheidung allerdings völlig irrelevant, denn sie ändert nichts an der Tatsache, dass Max wieder einmal nicht ehrlich zu mir gewesen ist. Er hat mich erneut angelogen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Mir diese Lügen aufzutischen, mich zu manipulieren, mir weiß zu machen, ich wäre paranoid - das ist eine bewusste, fast schon berechnende Entscheidung von ihm gewesen. Ich konnte schlicht und ergreifend nicht verstehen, warum Max mich so behandelte. Er hat doch gewusst, wie sehr ich unter seinem ersten Seitensprung gelitten habe. Wie konnte er da guten Gewissens genau so weitermachen?

Die Tage, die auf diese Auseinandersetzung folgten, kann ich rückblickend nur schwer zusammenfassen. Ich habe gelitten wie ein Hund, mal wieder, und Max hat versucht, die Situation zu entschärfen, wie immer. Um mir zu beweisen, dass er sich ändern will, hat er vor meinen Augen sein Dating-Profil gelöscht und ist einem Großteil der Accounts in seinen sozialen Netzwerken entfolgt. Er hat alles dafür getan, mein Vertrauen irgendwie zurückzugewinnen. Als ließe sich Vertrauen durch ein paar nette Gesten reparieren.

Nun hatte ich also noch weniger, an das ich mich guten Gewissens klammern konnte, das mir noch den Glauben gegeben hat, dass zwischen uns alles wieder gut werden würde. Erneut war ich am Boden zerstört, habe mich völlig kraftlos gefühlt. Wenn ich zur Abwechslung einmal nicht heulend im Bett gelegen habe, habe ich versucht, Antworten auf die quälende Frage des Warums zu bekommen. Immer und immer wieder habe ich das Gespräch mit Max gesucht, doch ich habe nie eine zufriedenstellende Erklärung von ihm erhalten. Warum hatte er mir das angetan? Um ehrlich zu sein, ich weiß gar nicht so recht, was für eine Erklärung ich mir von ihm erhofft habe, ob er mir überhaupt eine zufriedenstellende Antwort hätte geben können. Was hätte er denn schon sagen können, um die Situation für mich akzeptabel zu machen? Ich weiß es nicht, aber dennoch habe ich weiter gebohrt. Gelitten und gebohrt habe ich, nur gegangen bin ich nicht.

Irgendwann haben sich unsere Konversationen dann nur noch im Kreis gedreht. Bei jeder Kleinigkeit bin ich misstrauisch geworden und habe Max die schlimmsten Dinge unterstellt. Max wiederum hat mir vorgeworfen, dass ich ihn kontrollieren und von anderen Menschen abschotten will. Und ja verdammt, natürlich wollte ich das! Er hat mich schließlich über die letzten Monate hinweg permanent belogen und betrogen. Wie konnte er mir da ernsthaft vorwerfen, ihm gegenüber misstrauisch zu sein?

Seine Social-Media-Accounts habe ich jedenfalls weiterhin genau im Blick behalten. Einige Wochen lang konnte ich auch keine verdächtigen Aktivitäten auf seinem Profil feststellen - bis mir der Account einer Sportstudentin ins Auge gefallen ist, die einige von Max’ letzten Beiträgen mit einem Herzchen versehen hatte. Warum? Nenn es Zufall, nenn es Intuition, das ist mir gleich. Lena hat jedenfalls perfekt in sein Beuteschema gepasst und das hat sie aus meiner Perspektive verdächtig gemacht.

Sie war jung, Anfang 20, offensichtlich sportlich und unheimlich attraktiv, wie ihr zahlreiche überwiegend männliche Bewunderer in den Kommentaren zu ihren Fotos beinahe täglich versicherten. Interessant an Lena war, dass sie in Köln, nicht in Berlin, wohnte und dort an der Sporthochschule eingeschrieben war. Einen Großteil ihrer Freizeit schien sie mit Fitnesstraining zu verbringen. So sehr es mich auch jetzt noch nervt, ich muss zugeben, sie war wirklich eine wahnsinnig attraktive Frau. Von Kopf bis Fuß durchtrainiert, jeder Muskel sichtbar, kein Gramm Fett zu viel, langes, blondes Haar, große Augen, volle Lippen, perfekte Brüste. Sie sah aus wie die Personifikation eines lebendig gewordenen Fotofilters. Würde nur die Hälfte meines Körpers so aussehen, wie Teile dieser Frau, könnte ich mich vor Bewunderern wohl kaum noch retten. Das hat für mich die Frage nahegelegt: Was hat so eine Frau mit meinem Freund zu tun?

Um das herauszufinden, musste ich tiefer in die Trickkiste greifen. Ich wollte natürlich nicht als Max’ verrückte Stalker-Freundin in Erscheinung treten, daher musste ich bei meinen Nachforschungen behutsam vorgehen - und meine wahre Identität verbergen. Max habe ich dieses Mal nicht auf Lena angesprochen, denn ich wollte ihn in Sicherheit wiegen. Ich habe schließlich aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt. Klar hätte ich ihm eine Szene machen können, aber was hätte das gebracht? Er hätte doch ohnehin alles abgestritten oder mir im Zweifelsfall wieder irgendeine Ausrede präsentiert, die ich, wie immer, einfach geschluckt hätte. Zudem wusste ich zu dem Zeitpunkt ja auch nicht mit absoluter Sicherheit, dass die beiden tatsächlich miteinander Kontakt hatten, der über das gegenseitige Bewundern von Fotos in sozialen Netzwerken hinausging.

Was ich wollte, was ich brauchte, waren handfeste Beweise. Ohne die wollte ich nicht mehr in eine Konfrontation mit Max gehen. Weil Max natürlich nun wusste, dass ich seine Aktivitäten im Internet äußerst genau beobachtete, musste ich eine Schippe zulegen. Um unerkannt Informationen sammeln zu können, habe ich mir also einen zweiten Social-Media-Account unter einem falschen Namen angelegt. Dadurch hatte ich dann die Möglichkeit, Lenas Profil-Aktivitäten unerkannt zu verfolgen. So war es ein Leichtes, an detaillierte Informationen über sie und ihr Leben heranzukommen.

Natürlich hat es sehr geholfen, dass Lena über ein ausgeprägtes Mitteilungsbedürfnis verfügt. Sie lässt die Welt aber auch wirklich lückenlos jeden Tag an ihrem Leben teilhaben. Täglich verwöhnt sie ihre zahlreichen Fans mit Spiegel-Selfies, Food-Fotos und Workout-Tipps - und mich mit Informationen. Teilweise hatte ich wirklich das Gefühl, sie Schritt für Schritt durch ihren Alltag zu begleiten. Irgendwann war ich mir sicher: Wenn tatsächlich etwas zwischen Max und ihr lief, dann würde dies früher oder später sicher auch einen Beitrag in ihrer Story wert sein. Ich musste nur eines sein: geduldig.

Es hat jetzt zwar eine ganze Weile gedauert, aber ich glaube, der Tag der Wahrheit ist nun endlich gekommen. Wenn tatsächlich etwas zwischen Lena und Max laufen sollte, dann haben sie dieses Wochenende die perfekte Gelegenheit dazu, sich trotz der nicht unerheblichen Distanz zwischen Köln und Berlin zu treffen. Warum ausgerechnet an diesem Wochenende? Das erkläre ich dir gerne.

Max und ich sind schon vor zwei Jahren zu einer Hochzeit von zwei guten Bekannten eingeladen worden. Eigentlich hätte die Trauung bereits letztes Jahr stattfinden sollen, aber genau wie viele andere Paare auch, mussten Kathi und Jan wegen der Pandemie sämtliche Feierlichkeiten abblasen und ihre Hochzeit verschieben. Nun ist sie aber endlich nachgeholt worden, und zwar heute. Max und ich hatten schon vor Wochen zugesagt und auch bereits ein Hotel in der Nähe der Hochzeitslocation gebucht.

Vor einigen Tagen hat Max dann aber ganz plötzlich angefangen, über sehr ominöse gesundheitliche Beschwerden zu klagen. Mir ist das Ganze gleich sehr seltsam vorgekommen. Seine Symptome waren ziemlich unspezifisch und er hat ganz ehrlich nicht den Eindruck gemacht, als ob es ihm tatsächlich schlecht ginge. Du weißt ja, wie Männer sind - wenn sie wirklich krank sind, dann weiß man das. Gestern jedenfalls, kurz bevor wir losfahren wollten, hat Max mir dann mitgeteilt, dass er sich zu krank fühlt, um mitzukommen.

Weißt du, unter normalen Umständen wäre dies vielleicht eine völlig legitime Entschuldigung gewesen. Für mich aber hat das ganze bis zum Himmel gestunken. Ich bin mir absolut sicher, dass Max meine Abwesenheit nutzen möchte, um sich heimlich mit Lena zu treffen. Die Hochzeit ist für ihn doch die perfekte Gelegenheit gewesen, mich loszuwerden.

Du kannst dir also vorstellen, mit welchem Gefühl ich mich gestern Abend alleine auf den Weg nach Hamburg gemacht habe. Wenn ich ehrlich bin, habe ich tatsächlich kurz darüber nachgedacht, ebenfalls abzusagen und zu Hause zu bleiben. Aber dann ist mir bewusst geworden, dass diese Reise vielleicht auch für mich die ultimative Gelegenheit ist, endlich Gewissheit zu erlangen. Falls Max sich an diesem Wochenende tatsächlich mit Lena trifft, dann wird sie es mit ziemlich hoher Sicherheit früher oder später dem Rest der Welt mitteilen. Dem Rest der Welt und ihrer neusten Followerin fitguuuurl24.

Die Hochzeit hat heute Nachmittag stattgefunden. Ich habe es definitiv nicht bereut, dafür die lange Fahrt auf mich genommen zu haben. Es war wirklich wunderschön, super emotional und total romantisch. So richtig genießen konnte ich die Feierlichkeiten aber natürlich nicht. Zu oft sind meine Gedanken dann doch wieder zu Max gewandert. Zu Max und Lena. Von Max habe ich übrigens den ganzen Tag fast nichts gehört. Er hat oft stundenlang nicht auf meine Nachrichten geantwortet und war bei unserem kurzen Telefonat vorhin sehr kurz angebunden. Wahrscheinlich, weil er gerade mit dieser Frau beschäftigt ist. Würde ja ins Bild passen.

Obwohl die Stimmung auf der Hochzeitsfeier wirklich grandios gewesen ist, habe ich mich relativ früh verabschiedet. Mir war einfach nicht zum Feiern zumute. Seitdem sitze ich alleine in meinem Hotelzimmer und grüble vor mich hin. Die letzten Stunden habe ich damit verbracht, dir diese ausführliche Nachricht zu schreiben. Um mich abzulenken, mir die Zeit zu vertreiben, meine Gefühle loszuwerden, meine Gedanken zu ordnen. Ich warte auf neue Beiträge in Lenas Story, um endlich Gewissheit zu erlangen.

Der Gedanke, dass sich Max und Lena gerade miteinander vergnügen, während ich hier ganz alleine in meinem Hotelzimmer sitze, bringt mich schier um den Verstand. Vielleicht ist es tatsächlich besser, wenn ich nicht nachschaue. Dann kann ich morgen nach Hause fahren und mein Leben kann weitergehen, wie bisher.

Feige, ich weiß. Ich möchte die Wahrheit wissen, aber eigentlich auch wieder nicht. In der Vergangenheit habe ich mich immer für eine starke Frau gehalten. Doch jetzt sitze ich hier und habe Angst davor, dass eine wildfremde Frau mit einem Beitrag in einem sozialen Netzwerk mein Leben zerstört. Denn wenn sich meine Befürchtungen bewahrheiten, muss ich schon ganz bald eine Entscheidung treffen, die mein Leben unweigerlich verändern wird.

Genauso viel Angst habe ich allerdings davor, weiterhin in Ungewissheit zu leben und mir von Max etwas vormachen zu lassen. Ich möchte doch meine befristete Zeit auf diesem Planeten nicht an einen Mann verschwenden, der mich bei jeder Gelegenheit belügt und betrügt.

Was ist wohl schmerzlicher? Ein Leben in Ungewissheit oder ein Leben, das nichts weiter ist, als eine einzige Lüge? Ich weiß nicht, ob ich die Antwort auf diese Frage wissen möchte.

2

Eine Frau saß mit ausgestreckten Beinen auf dem ausladenden Bett eines Hotelzimmers. Sie trug ein elegantes Cocktailkleid. Ihre flinken Finger flogen über die abgenutzte Tastatur ihres Laptops, auf dem Bildschirm war ein geöffnetes E-Mail-Programm zu sehen. In unmittelbarer Reichweite der Frau lag ein Handy, dessen nach unten gerichtetes Display nicht zu sehen war.

Auf dem cremefarbenen Teppichboden lag ein achtlos zurückgelassenes Paar silberner High Heels, daneben eine halb geöffnete Handtasche, die farblich auf das Kleid der Frau abgestimmt war. Eine kompakte Reisetasche stand neben einem Plastikstuhl, die Kleidungsstücke darin farblich sortiert und akribisch genau gefaltet. Der kleine Tisch, der zu dem Stuhl gehörte, war fast vollständig mit Kosmetikartikeln und Haarutensilien bedeckt. Cremes, Haarspray, Make-Up-Produkte, Haarpins, Bürsten, Kämme.

Die Finger der Frau schwebten eine Weile über der Tastatur des Laptops, ohne jedoch die Tasten zu berühren. Die Frau seufzte und blies einige der feinen Haarsträhnen aus ihrer Stirn, die sich aus den Klammern in ihrem Haar gelöst hatten. Erschöpft rieb sie sich mit ihren Handflächen durchs Gesicht, faltete ihre Finger unter ihrem Kinn zusammen und stützte ihren Kopf auf ihre Fingerknöcheln ab. Eine ganze Weile starrte sie scheinbar gedankenverloren auf den Bildschirm vor sich. Schließlich griff sie nach ihrem Handy.

Sie drückte mit ihrem rechten Zeigefinger auf den Powerknopf am äußeren Rand des Gerätes. Auf dem Startbildschirm leuchtete ein Foto auf, auf dem ein glücklich aussehendes Paar zu sehen war. Der Mann und die Frau auf dem Bild lachten und strahlten förmlich um die Wette. Die weibliche Person in der Aufnahme sah der Frau auf dem Hotelbett zum Verwechseln ähnlich.

Es waren keine neuen Nachrichten eingegangen. Die Frau legte das Handy auf den Nachttisch zurück und starrte erneut unentschlossen auf den Laptop-Bildschirm vor sich. Schließlich zuckte sie mit den Schultern und wählte Franziska Schuster als Empfängerin aus. Sie ignorierte die Warnung, die die fehlende Betreffzeile bemängelte, und versendete die E-Mail, an der sie zuvor so eifrig gearbeitet hatte. Entschlossen klappte die Frau anschließend den Laptop zu. Sie verharrte noch einen Moment gedankenversunken in dieser Position, die Handfläche auf dem geschlossenen Notebook liegend, bevor sie ihre langen Beine aus dem Bett schwang.

Die Frau erhob sich und nahm auf dem Stuhl neben dem Bett Platz. An der Wand über dem Tisch vor ihr hing ein großer Spiegel, in dem sie sich nachdenklich betrachtete. Langsam drehte die Frau ihren Kopf zur Seite und begann damit, die Haarnadeln aus ihren dunklen, kunstvoll hochgesteckten Haaren zu entfernen. Ihr langes, leicht welliges Haar fiel ihr nach und nach über die Schultern. Nachdem sie alle Haarnadeln herausgezogen und sorgfältig vor sich gestapelt hatte, glitt die Frau mit ihren Fingerspitzen zwischen die einzelnen Haarsträhnen und massierte in kleinen, kreisenden Bewegungen ihre spannende Kopfhaut. Ein Seufzer der Erleichterung entwich ihren Lippen. Sie griff nach der Haarbürste, die neben den restlichen Haarutensilien lag, und arbeitete sich sorgfältig durch ihr dichtes Haar, ihre Augen genüsslich geschlossen. Exakt einhundert Bürstenstriche später legte sie die Bürste wieder zur Seite, rutschte seitlich vom Stuhl und schlurfte in das anliegende Badezimmer.

Unter Schwierigkeiten versuchte sie, sich ihres Kleides zu entledigen. Mit einiger Anstrengung gelang es ihr schließlich, den Reißverschluss zwischen ihren Schulterblättern nach unten zu ziehen. Sie streifte die Träger über ihre Schultern und schlüpfte aus dem Kleid. Befreit von dem eng anliegenden Stoff holte sie tief Luft. Mit ihrer Handfläche strich sie einige Male vorsichtig über den Chiffon-Stoff des Kleides und hängte es anschließend ordentlich auf einen gepolsterten Kleiderbügel, der an der Rückseite der Badezimmertür hing. Sie streifte sich ihr Höschen über die Hüften und ließ es achtlos auf dem Boden zurück.

Tropfend stieg die Frau wenig später aus der Duschkabine. Sie wickelte sich ein großes Badehandtuch um den Körper und ging die wenigen Schritte zum Waschbecken hinüber. Dabei hinterließ sie feuchte Fußabdrücke auf den dunklen Bodenkacheln. Mit ihrer rechten Hand wischte sie über den Badezimmerspiegel, um ihn von dem kondensierten Wasserdampf zu befreien. Müde, blau-graue Augen starrten sie aus dem Spiegel an. Einige ihrer künstlichen Wimpern hatten sich durch das Wasser in der Dusche gelöst und klebten nun auf ihrer rechten Wange fest, mitten in den Resten ihrer zerronnen Wimperntusche. Diese hatte sich in zwei langen, dunklen Streifen von ihren Augen bis zu ihren Mundwinkeln verteilt. Die Frau griff nach einem Wattepad, tröpfelte ein wenig Make-up-Entferner darauf und machte sich daran, die Reste ihrer aufwändigen Festtagsbemalung zu entfernen.

Als die Frau ihr Handy auf dem Nachttisch vibrieren hörte, schlüpfte sie hastig in den weißen Bademantel, der neben ihrem Kleid an der Innenseite der Badezimmertüre hing. Sie eilte zurück ins Schlafzimmer und las die Nachricht, die ihr auf dem Display angezeigt wurde:

Ich hoffe, du hattest einen schönen Tag. Ich liebe dich, schlaf gut. M.

Ohne eine Antwort zu verfassen, drückte die Frau auf den Powerknopf des Handys und legte es zurück auf den Nachttisch. Mit versteinerter Miene drehte sie sich zum Fenster und starrte regungslos in die Nacht hinaus. Sie beobachtete zwei Teenager, die auf der anderen Straßenseite unter einer Laterne standen und sich leidenschaftlich küssten, bevor sie händchenhaltend und leise kichernd in der Dunkelheit verschwanden. Die Frau stand noch eine Weile mit dem Rücken zum Zimmer gewandt vor der Glasscheibe, bis sie sich plötzlich ruckartig umdrehte. Sie schüttelte eines der Federkissen auf und ließ sich auf dem Bett nieder, das Kissen als Rückenpolster zwischen sich und die Wand geklemmt.

Erneut griff die Frau nach ihrem Handy. Sie entsperrte es mit Hilfe ihres Fingerabdrucks, wischte dreimal nach links und klickte auf einen App-Ordner, der mehrere Icons bekannter Social Media Apps enthielt. Sie wählte ein leuchtend pink aussehendes Logo aus und öffnete das dahinter liegende Programm. Konzentriert scrollte sie eine Weile durch verschiedenen Beiträge, klickte mal in dieses, mal in jenes Foto hinein, las den dazugehörigen Text oder drückte ihr Wohlgefallen durch einen schnellen Doppelklick mit ihrem Daumen aus. Ihr Feed war gefüllt mit Fotos von glücklich aussehenden Menschen. Nahezu perfekte Körper, atemberaubende Naturkulissen. Hochzeitsfotos, Babyfotos, Urlaubsfotos. Einige Beiträge von Influencerinnen, fast jeder dritte Beitrag eine Werbeanzeige, über die sie schnell hinweg scrollte.  

Nach einer Weile änderte die Frau die Bewegungsrichtung ihres Daumens und wischte von oben nach unten über den Bildschirm, bis sie wieder ganz oben angelangt war. Desinteressiert klickte sie sich durch eine Reihe aktueller Story-Beiträge. Szenen einer Hochzeitsfeier schaute sie sich genauer an. Schließlich tippte sie mit dem Daumen auf ein kleines Lupensymbol am unteren Rand des Handydisplays und gab einen Namen in das Suchfeld ein. Sie wählte das erste Suchergebnis aus und betrachtete eingehend die zuletzt auf dem Profil veröffentlichten Fotos einer jungen, sehr attraktiven Frau.

Unvermittelt schloss sie die App und legte ihr Handy zur Seite. Sie starrte vor sich hin, die Stirn nachdenklich in Falten gelegt. Sie nestelte unruhig mit der Bettdecke. Wenige Augenblicke später öffnete sie die App mit dem pinken Logo erneut. Sie navigierte sich zu ihrem Profil, tippte auf ihren Anzeigenamen in der linken, oberen Ecke des Bildschirms und wechselte zu ihrem zweiten Konto, für das kein Profilbild hinterlegt war: fitguuuurl24.

Im Newsfeed ihres anderen Accounts dominierten Beiträge rund um das Thema Fitness. Gestählte Körper, nackte Haut, Hanteln, Fitnessstudios, Yoga-Pants, mehr nackte Haut und Proteinpulver. Die Frau verzichtete darauf, sich diesen Newsfeed detaillierter anzusehen. Stattdessen klickte sie erneut auf das Lupensymbol am unteren Bildschirmrand, wählte das letzte Suchergebnis aus und gelangte so auf das Profil einer jungen Frau. Sportstudentin, Foodie, Fitfluencer, 22 aus Köln. So war es in der kurzen Beschreibung zu lesen, die unter dem Profilbild eingeblendet war.

Auf dem neusten Foto war die Profilinhaberin zu erkennen, gekleidet in hautenge, türkisfarbene Leggings, die weit bis in die Poritze hochgezogen war. Dazu trug sie einen farblich passenden Sport-BH, der ihre üppige Oberweite in Szene setzte. Die junge Studentin stand perfekt positioniert vor einem großen Spiegel, dem sie den Rücken zugekehrt hatte. Die Ferse ihres hinteren Beines hatte sie nah am Spiegel platziert und leicht angehoben. Ihr Gewicht hatte sie auf den vorderen Fuß verlagerte, und diesen dabei leicht nach außen gedreht. Gleichzeitig hatte sie ihre Hüfte gekonnt nach außen geschoben, um dadurch ihre perfekten Rundungen und vor allem ihr durchtrainiertes Hinterteil zu betonen. Ihre langen, blonden und zu einem Zopf zusammengebundenen Haare reichten etwa bis zur Mitte ihres Oberkörpers und hoben den natürlichen Schwung ihrer Wirbelsäule hervor, die sich zwischen ihren muskulösen Schulterblättern abzeichnete.

Die Frau betrachtete das Bild eine Weile nachdenklich, bevor sie aus dem Bett stieg und Richtung Hotelzimmertür lief. Direkt neben der Türe am Eingang befand sich ein hoher Spiegel. Die Frau hielt kurz inne, öffnete dann die Hotelzimmertüre und brachte das Bitte-Nicht-Stören-Schild an der Außenseite an. Sie drückte auf den Lichtschalter neben der Eingangstüre, um die große Leuchte einzuschalten, die über dem Spiegel im Eingangsbereich des Hotelzimmers angebracht war. Ihr Handy, welches sie noch immer in der Hand hielt, legte sie auf dem Boden ab, so platziert, dass sie das Foto der Studentin aus Köln noch immer auf dem Bildschirm sehen konnte. Die Frau schlüpfte aus ihrem Bademantel und warf ihn auf das Bett, welches sie jedoch knapp verfehlte.

Die Frau stand nun splitterfasernackt im Zimmer und betrachtete mit kritischem Blick ihr Spiegelbild. Zögerlich drehte sie sich von links nach rechts, strich mit ihren Handflächen über ihre Vorderseite, die Rundungen ihrer Hüften. Sie klemmte sich eine vermeintliche Rolle Bauchspeck zwischen die Finger und rollte sie auf und ab. Sie experimentierte mit ihrer Körperhaltung, indem sie ihre Schulterblätter zusammenzog und sich auf die Zehenspitzen stellte, um ihre Beine optisch zu verlängern. Ihr Blick fiel zurück auf ihr Handy, das noch immer vor ihr auf dem Boden lag. Sie verglich. Sie drehte sich um, positionierte ihre Füße, so wie es die junge Sportstudentin aus Köln in ihrem Foto getan hatte. Sie versuchte, ihren Körper ähnlich in Szene zu setzen.

Nach einigen Versuchen ging sie in die Knie und hob ihr Handy auf. Sie wechselte in den Kameramodus und versuchte, mit Hilfe der gerade einstudierten Verrenkungen ein zumindest halbwegs vergleichbares Foto aufzunehmen. Nach zahlreichen Aufnahmen brach sie den Versuch ab, klickte sich durch die Ergebnisse und ging dazu über, ein Foto nach dem Anderen wieder zu löschen. Sie schlurfte mit hängenden Schultern zurück zum Bett, um in ihren Bademantel zu schlüpfen. Durch die Kühle der Nacht hatten sich die Härchen auf ihren Unterarmen protestierend aufgerichtet.

Frustriert warf die Frau ihr Smartphone zwischen die Bettdecken und ließ sich anschließend, Gesicht voraus, auf das Bett fallen. Gedämpft durch Matratze, Laken und Bettdecken ließ sich ein ärgerlicher Schrei vernehmen. Der Oberkörper der Frau hob und senkte sich einige Male. Sie drehte sich um und starrte mit geröteten Wangen und völlig aus der Ordnung geratenen Haaren an die Decke. Ihre blauen Augen füllten sich bis zum Rand mit einer glasklaren Flüssigkeit. Es dauerte nicht lange, bis die Oberflächenspannung brach und ihre Augen überliefen. Verstohlen bahnten sich einige Tränen einen Weg über ihre Schläfen. Sie rollten lautlos an ihrem Ohr vorbei und tropften auf die Matratze unter ihr. Die Frau bedeckte Augen und Wangen mit ihren Händen. Einen Moment lang lag sie regungslos da und wartete darauf, dass ihre Tränen versiegten.

Nach einigen Minuten richtete sie sich im Bett auf, zog die Beine an und suchte zwischen den gestärkten Laken nach ihrem Handy. Sie entsperrte es und fand sich auf der Profilseite der jungen Studentin aus Köln wieder. Das Profilbild war nun von einem pink-orange schimmernden Kreis umgeben. Neue Beiträge. Der linke Daumen der Frau schwebte einen Augenblick bedenklich nah über dem Profilbild. Minuten verstrichen. Schließlich gab die Frau nach. Die Balken am oberen Rand der sich nun öffnenden Box zeigten an, dass es fünf neue Beiträge gab.

Das erste Bild war die Nahaufnahme einer Portion Porridge, verziert mit Blaubeeren, Himbeeren und Heidelbeeren, die mit einer zarten Schicht Zimtpulver bedeckt waren.

Auf dem zweiten Foto war ein halb gepackter Koffer auf einem unordentlich aussehenden Bett zu erkennen. Um das Bett herum lagen zahlreiche Gegenstände und Kleidungsstücke überall auf dem Boden verteilt. Das Foto war mit der Inschrift ‘Roaaaaaad Triiiip’ versehen.

Die Frau wischte sich kleine Schweißperlen von der Stirn.

Der dritte Beitrag war ein kurzes Video, gefilmt während der Fahrt auf der Autobahn. Der Clip war mit dem Lied einer bekannten Künstlerin unterlegt. Teile des Songtextes flimmerten über den Bildschirm.

Im nächsten Foto war vor strahlend blauem Himmel ein hoher Turm zu sehen, der oben von einem kugelförmigen Gebäudeteil geziert wurde und in einer langen, rot-weiß gestreiften Antenne endete. Der Beitrag war zudem mit der Aufforderung versehen, doch mal zu raten, in welcher Stadt sich die Studentin gerade befand.

Die Frau verzichtete darauf, ihren Vorschlag in die eingeblendete Antwortbox einzugeben. Die Hände der Frau zitterten leicht, als sie erneut auf den Bildschirm tippte, um sich den nächsten und letzten Beitrag anzusehen.

Auf dem finalen Foto waren zwei dunkle Keramikteller zu sehen, auf denen ein italienisches Nudelgericht ansehnlich angerichtet war. In der oberen Ecke des Bildes konnte man eine Hand und einen Unterarm erkennen, kräftig, muskulös und leicht behaart, der Nagel des Zeigefingers blau unterlaufen. Eindeutig männlich. In der Hand hielt die Person mit dem haarigen Unterarm ein halb gefülltes Weinglas mit einem auffällig geschwungenen Stiel. Unten links hatte die Studentin die Worte ‘Date Night’ hinter einen Hashtag gesetzt eingefügt.

Die Frau ließ das Handy in ihren Schoß sinken. Ihr Brustkorb hob und senkte sich immer schneller, in immer kürzer werdenden Abständen. Das Zittern ihrer Hände verstärkte sich merklich. Sie schüttelte ihren Kopf fassungslos von einer Seite zur anderen, schluckte mehrmals deutlich und starrte auf das in ihrem Schoß liegende Smartphone. Sie rief den letzten Beitrag erneut auf und versuchte, mehrere Knöpfe an der Seite des Gerätes gleichzeitig zu drücken. Ihre zitternden Hände machten es ihr jedoch unmöglich, einen Screenshot aufzunehmen. Nach mehreren fehlgeschlagenen Versuchen gab sie schließlich auf. Mit einer schwungvollen Bewegung ihres rechten Armes beförderte sie ihr Handy zum gegenüberliegenden Bettende, von wo es über die Kante hinaus auf den Boden rutschte. Regungslos starrte die Frau dem Gerät hinterher. Die winzigen Muskeln unter ihrem linken Auge zuckten nervös. Dann brach es ganz plötzlich aus ihr heraus. Tränen liefen ihr in unstillbaren Strömen über die geröteten Wangen.

Draußen hatte es zu regnen begonnen. Im Schein der Straßenlaterne sammelten sich niederprasselnde Regentropfen in kleinen Pfützen auf dem Asphalt. Dort, wo gerade noch das junge Liebespaar Zärtlichkeiten ausgetauscht hatte, reflektierte das Regenwasser nun das verschwommene Licht der Straßenbeleuchtung. Innerhalb und außerhalb des Hotelzimmers kehrte schleichend Ruhe ein. In der Stille der Nacht war einzig und allein der Klang von Wassertropfen zu vernehmen.

3

Sarah reihte sich in die lange Schlange wartender Passagiere ein. Umgeben von entnervten Ehefrauen und ihren meckernden Gatten, kreischenden Kleinkindern und brüllenden Babys stand sie da und wartete darauf, dass sich die Menschenmassen vorwärts bewegten.

Unter ihrem Arm klemmte ein Stapel Papierdokumente. Mit ihrer linken Hand hielt Sarah einen schwarzen Reisepass umfasst, den ein silbriges Blattmuster zierte. Auf ihrem blassen Handrücken zeichneten sich hellblaue, feine Venen ab, die im Schein der künstlichen Beleuchtung deutlich hervortraten. In ihrer anderen Hand befanden sich ihr Handy und eine bereits halb geleerte Wasserflasche, deren Etikett sie vollständig abgeknibbelt hatte.

Die Menschen in der Schlange bewegten sich im Zeitlupentempo voran. Sarah streckte ihren Hals und stellte sich auf ihre Zehenspitzen, um einen Blick nach vorne zu werfen. Lediglich zwei der sechs Schalter an der Sicherheitskontrolle waren geöffnet und mit entsprechendem Sicherheitspersonal besetzt. Ungeduld und Unzufriedenheit lagen in der Luft, die Stimmung war angespannt.

Sarah seufzte und ließ ihre Schultern resigniert sinken. Sie klemmte sich ihre Wasserflasche unter den Arm und entsperrte mit einer geschickten Bewegung ihres Daumens den Bildschirm ihres Handys. Die App eines sozialen Netzwerkes erschien geöffnet auf dem Display. Sarah navigierte sich in wischenden Bewegungen durch mehrere Beiträge aus ihrem Feed. An einem Foto von sich selbst, das sie zusammen mit einem Brautpaar zeigte, blieb sie für einen Moment hängen. Sie lächelte und tippte auf das Herzsymbol unterhalb des Bildes. Anschließend widmete sie ihre Aufmerksamkeit weiteren Fotos, die das gleiche glückliche Hochzeitspaar zeigten. Hier und da hinterließ Sarah einen freundlichen Kommentar oder drückte ihre Anerkennung durch das Hinterlassen eines Herzchens aus.

Als sie ein großes, gelbes Warnschild mit Hinweisen für die Sicherheitskontrolle passierte, schob sie ihr Handy zurück in ihre Tasche. Sie holte ihre Plastikflasche hervor, setzte sie an ihre Lippen und leerte den Inhalt in einem Zug. Anschließend entsorgte Sarah die Flasche in einer dafür bereitgestellten Tonne. Sie sah sich um. Sie hatte nun fast das Ende der Schlange erreicht. Mit ihrer freien rechten Hand zog Sarah daher den Stapel an Dokumenten unter ihrem Arm hervor, faltete ihn sorgfältig in der Mitte zusammen und steckte ihn in ein kleines Seitenfach an ihrem Handgepäckstück. Sie zögerte kurz und betrachtete nachdenklich den schwarzen Reisepass, den sie in ihrer Linken hielt. Sie öffnete ihn und warf einen prüfenden Blick auf das kleine Passfoto. Wilson-Kunz, Sarah Matilde. Sie kräuselte ihre Nase und schob das kleine Büchlein zu den anderen Dokumenten in das Seitenfach ihres Gepäckstücks.

Aus ihrer dunkelblauen Handtasche, deren Henkel lässig über ihrer Schulter hing, holte Sarah, den Hinweisschildern Folge leistend, einen Laptop heraus, den sie sich unter den linken Arm klemmte. Mit konzentriertem Blick tastete sie den Boden ihrer Tasche ab. Nach wenigen Augenblicken erhellte sich ihr Gesicht und sie zog eine kleine Flasche Desinfektionsgel hervor. Sarah öffnete den Behälter und gab, so wie es in den Nutzungshinweisen angegeben war, eine haselnussgroße Menge auf ihre Handfläche. Anschließend entsorgte sie das kleine, noch fast volle Fläschchen ebenfalls in der Sammeltonne für Flüssigkeiten.

Während sich die Reisenden in der Schlange Schritt für Schritt vorwärts bewegten, verteilte Sarah das Gel gewissenhaft in ihren Handflächen, den Fingerzwischenräumen und auf ihrem Handrücken. Sie erhöhte den Druck ihres Daumens, als sie mit ihm über ihre Venen rieb, um diese wieder unter der Hautoberfläche verschwinden zu lassen.

In ihrem Handgepäckstück ging der gedämpfte Vibrationsalarm ihres Smartphones los. Sarah fluchte leise vor sich hin. Als ihre Hände einigermaßen trocken waren, griff sie in ihre Tasche und spähte durch die schmale Öffnung auf den Bildschirm ihres Smartphones. Sie drückte den Power-Button auf ihrem Handy und sah eine ganze Reihe verpasster Anrufe und unbeantworteter Nachrichten auf dem erleuchteten Startbildschirm aufblitzen. Sie kniff die Augen zusammen und ließ das Telefon zurück in ihre Tasche gleiten.

Erneut schaute Sarah sich um. Die Menschen vor und hinter ihr wirkten unruhig. Es wurden Uhrzeiten überprüft, Augen gerollt, Seufzer und unzufriedenes Gemurmel waren zu hören. Das Sicherheitspersonal arbeitete jedoch stoisch in immer gleichem Tempo weiter und ließ sich von den sichtbar ungeduldigen Reisenden nicht aus der Ruhe bringen. Große, gräuliche Plastikkisten wurden mit Handgepäckstücken und Jacken befüllt, Taschen wurden inspiziert, Kleidung auf Sprengstoffpartikel untersucht. Nervös tippte Sarah mit Zeige- und Mittelfinger ihrer rechten Hand auf ihren Oberschenkel. Die lange Warteschlange machte sie unruhig, denn sie hatte es eilig.

Als Sarah endlich an der Reihe war, legte sie ihren Laptop in eine der grauen Boxen, ihre Jacke und ihre Tasche folgten in einer zweiten Kiste. Die Frage der Sicherheitsbeamtin nach Flüssigkeiten im Handgepäck verneinte sie. Auf Aufforderung des Personals stellte sie sich mit erhobenen Händen und weit aufgestellten Beinen in den Ganzkörperscanner, so wie es ihr in der Skizze direkt vor ihr angezeigt wurde. Zügig wurde sie durchgewunken.

Sarah verstaute ihre Jacke und sämtliche Gegenstände in ihrem Gepäckstück, steuerte dann die große Anzeigetafel in der Halle an. Sie zog ihr Flugticket aus ihrer linken Hosentasche, verglich ihre Flugnummer mit denen auf dem großen Bildschirm vor ihr und warf anschließend einen Blick auf die Armbanduhr an ihrem Handgelenk. Liebevoll und mit einem wehmütigen Lächeln auf den Lippen strich sie mit dem rechten Daumen über das Glas der Uhr. Ein Geschenk ihres Vaters.  

Den Arm senkend suchte Sarah das Foyer nach einem Geschäft ab. Bevor sie sich zu ihrem Gate begab, wollte sie sich noch einige Utensilien für ihre bevorstehende Reise besorgen. Zielstrebig lief sie auf einen kleinen Laden zu. Sarah konnte weit und breit keine Einkaufskörbe entdecken, also klemmte sie sich kurzerhand so viele Gegenstände wie möglich unter den Arm. Den Rest ihrer Einkäufe balancierte sie artistisch gestapelt vor sich her zur Kasse.

Die Kassiererin, eine rothaarige Frau mittleren Alters, schrieb in aller Seelenruhe eine Nachricht auf ihrem Handy zu Ende, bevor sie Sarahs Einkäufe gemächlich nacheinander in das Kassenprogramm einscannte. Ein aufblasbares Reisenackenkissen. Zahnbürste und Zahnpasta. Ein durchsichtiger Reißverschlussbeutel für Flugreisen. Zuckerfreies Kaugummi. Lippenbalsam. Taschentücher. Kopfschmerztabletten. Ohrstöpsel. Eine Flasche Wasser. Handdesinfektionsgel. FFP2-Masken, 10 Stück. Sarah zahlte den zusätzlichen Betrag für eine Plastiktüte und transportierte ihre Einkäufe darin zu ihrem Gate.

Vor dem Boarding-Schalter hatte sich bereits eine lange Schlange gebildet, obwohl vom Airline-Personal weit und breit noch keine Spur zu sehen war. Sarah schüttelte amüsiert den Kopf und sah sich nach einer Sitzgelegenheit um. Einige Meter weiter wurde sie schließlich in einer etwas ruhiger gelegenen Ecke abseits ihres Gates fündig.

Sie stellte ihre Tasche und die Plastiktüte auf dem Platz zu ihrer Rechten ab. In aller Ruhe machte sie sich daran, ihre Einkäufe zu organisieren und in ihr Gepäckstück zu packen. Sie hatte nicht vor, mit einer Plastiktüte im Schlepptau ihre lange Reise anzutreten. Während Sarah sich die Wartezeit mit der Reorganisation ihrer Tasche vertrieb, warf sie immer wieder einen Blick in Richtung ihres Gates. Dort war jedoch noch immer kein Flughafenpersonal zu sehen.

Sarah zog ihr Handy aus ihrer Tasche. Mit einem Blick auf den Startbildschirm stellte sie fest, dass dort mittlerweile zwanzig verpasste Anrufe eingegangen waren. Etwa ebenso viele Textnachrichten hatte sie empfangen. Sarah biss sich auf die Unterlippe und verstaute das Telefon in den Tiefen ihres Handgepäcks.

Nach einer Weile schien endlich Bewegung in die Menschenmassen vor dem Boarding-Schalter zu kommen. Mehrere Mitarbeiterinnen der Fluggesellschaft drängten sich zu den Schaltern vor und begannen mit der Vorbereitung des Boarding-Prozesses. Kurz darauf ertönte der Aufruf, dass sich Reisende der ersten und der Business Klasse doch bitte zum Gate begeben sollten. Wenig später setzte das Bodenpersonal das Boarding mit Familien fort. Mehrere Mütter und Väter sprangen prompt auf und schleppten Kind und Kegel hinüber zum Schalter. Das rhythmische Piepen des Ticketscanners dominierte die Geräuschkulisse des Gates.

Kurz nachdem ihre Boarding-Gruppe aufgerufen worden war, holte Sarah ihre Boarding-Dokumente hervor und klemmte sie sich unter den Arm. Bevor sie aufbrach, stellte sie sicher, dass sie nichts neben oder unter ihrem Sitz zurückgelassen hatte. Dann reihte auch sie sich in die Schlange der wartenden Reisenden ein.