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Endlich wieder ein neues Tagebuch der "frommen Hausfrau"! Nach den Bestsellern "Stinknormal und einfach herrlich", "Tonnenschwer und federleicht", "40 werden immer nur die anderen" und "Gezeitenwechsel"erzählt Bianka Bleier wie gewohnt auf ihre ehrliche Art in ihrem neuen Tagebuch aus der Mitte ihres täglichen Lebens. Doch nachdem nun alle Windeln gewechselt und Schulprobleme gemeistert sind, stehen neue Herausforderungen ins Haus: Die Kinder werden erwachsen, sie starten ins Leben. Humorvoll, leidenschaftlich, aber auch nachdenklich berichtet Bianka Bleier von den Freuden und Leiden der sich neu formierenden Familiensituation und wirft die entscheidende Frage auf: Was kommt nun? Mit Gott an ihrer Seite ringt sie um ihren Platz im Leben. Inkl. 16-seitigem Bildteil.
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Seitenzahl: 428
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SCM R. Brockhaus ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.
ISBN 978-3-7751-7453-4 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-5859-6 (lieferbare Buchausgabe)
Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck
© 2019 SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbH
Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: [email protected]
Die Bibelzitate wurden folgenden Übersetzungen entnommen:
Hoffnung für alle ® Copyright © 1983, 1996, 2002, 2015 by Biblica, Inc.®.
Verwendet mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers
Fontis – Brunnen Basel (Hfa)
Gute Nachricht Bibel, revidierte Fassung, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 2000 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart. (GNB)
Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart (LÜ)
Umschlaggestaltung: Kathrin Spiegelberg, Weil im Schönbuch
Titelbild: Rahel Täubert, Stuttgart
Bildteil: © Bianka Bleier, privat; außer S. 13: © Franz Porscha, 76684 Östringen
Autorenfoto: Lea Weidenberg
Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach
Vorbemerkungen
Das Jahr 2004
Das Jahr 2005
Das Jahr 2006
Das Jahr 2007
Das Jahr 2008
Anmerkungen
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Immer wieder haben mir Leserinnen geschrieben oder mich in unserem Laden-Café Sellawie besucht und mich gefragt, ob ich nicht wieder ein Tagebuch veröffentlichen möchte. Seit dem Erscheinen meines letzten Bandes vor vierzehn Jahren ist »viel Wasser den Rhein runtergelaufen«, wie man bei uns im Badischen sagt. Unsere Kinder sind ausgezogen, unser Sellawie-Projekt läuft rund und endlich habe ich wieder die Zeit und Muße gefunden, meine Tagebücher weiter abzuschreiben. Dieser fünfte Band schließt direkt an das letzte Tagebuch »Gezeitenwechsel« an und berichtet von der Zeit, als unsere Kinder sich von uns abnabelten, unsere Eltern gebrechlich wurden und Werner und ich begannen, uns nach einer neuen Aufgabe auszustrecken.
Als ich mich wieder neu so intensiv mit meinen Tagebüchern befasste, merkte ich, wie gut mir diese Biografiearbeit tut. Es ist jedes Mal wie das Schnüren eines Paketes, das mir fortan in seiner kompakten Form zur Verfügung steht, um darauf zurückgreifen zu können.
Es war ein Prozess, mich mit dem Abstand der gelebten Jahre wieder an alle Höhen und Tiefen dieser Zeit zu erinnern. Wenn man mittendrin steckt, Tag für Tag sein Leben entfaltet, gestaltet, genießt und bewältigt, wäre man manchmal dankbar für diesen Weitblick und Überblick, den man im Rückblick findet. Dies schenkt das Tagebuchlesen im Nachhinein; es lässt vieles noch einmal in einem anderen Licht erscheinen und manches heil werden. Ich freue mich also, dass ich auf diese Weise nun weiter an meiner Geschichte Anteil geben kann – es wird vermutlich nicht das letzte Mal gewesen sein …
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Immer noch bin ich eine stinknormale Hausfrau, wie sie zu Millionen und Abermillionen im deutschsprachigen Raum vorkommt, und darüber hinaus. Immer noch komme ich jeden Morgen zerknittert aus dem Bett und brauche jedes Jahr länger dafür, diesen Zustand im Bad wieder rückgängig zu machen.
Immer noch (mit Betonung auf noch) leben wir zu fünft in einer Erwachsenen-WG – auch Jan ist nun kein richtiges Kind mehr. Er besucht eine Ganztagsschule für Schwerhörige und Sprachbehinderte. Das Leben mit unserem Jüngsten ist ein besonderes Leben. Er hat das Kabuki-Syndrom, eine weltweit bisher erst 200 Mal diagnostizierte Behinderung. Das hat unsere Lebensschwerpunkte geprägt und bereichert.
Wer den kleinen Prinzen von Saint-Exupéry kennt, kennt irgendwie auch Jan. Jan hat keine Masken, ist ohne Arg und lebt im Jetzt. Das ist bezaubernd und schutzlos zugleich. Sprechen fällt Jan schwer, aber da er in einer Familie lebt, für die Sprache das Medium ist, kann er gar nicht anders, als erfreuliche Fortschritte machen.
Anna macht eine Ausbildung zur Krankenschwester, fährt unser großes Auto und weiß manches, was ich nie wusste. Gelegentlich braucht sie noch einen Rat, aber oft gibt sie mir auch gute Tipps. Sie redet kein Wort zu viel, doch ihre Worte haben Gewicht.
Lena besucht eine weiterführende Schule. Sie wird demnächst unser großes Auto fahren. Lena benutzt sehr viele Worte, um auszudrücken, wovon ihre Seele voll ist, und ist ausgesprochen versiert darin.
Das Leben in unserem kleinen Haus ist eng und intensiv. Ich genieße diese Zeit in dem Bewusstsein, dass sie bereits zu Ende geht und wir dabei sind, die letzten Starthilfen zu geben. Es ist eine wundervolle Phase, die mich immer wieder überrascht. Immer noch ist alles sehr spannend, lerne ich viel, ist das Leben mit Gott ein Abenteuer.
Werner, der Mann, der zu uns gehört und dessen Schlüsselrolle in meinem Leben mit der wachsenden Selbstständigkeit der Kinder wieder zunimmt, leitet eine Werkstatt für Behinderte und seine Heimwerkstatt im Keller. Im Gegensatz zu seiner Frau hat er kein Bedürfnis, sich der Öffentlichkeit mitzuteilen, und bleibt am liebsten inkognito.
Zweimal in der Woche arbeite ich in einer christlichen Buchhandlung. Mein Ressort sind Karten, Kalender und Bildbände. Ich liebe schöne Fotos und aussagekräftige Kurztexte. Schreiben ist für mich ein tiefes Bedürfnis, das zu einem Teil meines Lebens geworden ist. Seit dreißig Jahren schreibe ich Tagebuch. Ich brauche das, um mein Leben zu ordnen.
Neuerdings habe ich eine kleine Zornfalte über der Nase. Wenn ich den Mund zum Kuss spitze, ist er voller Fältchen um die Lippen, und wenn ich grinse, blühen Lachfalten um die Augen. Falten sind etwas Komisches. Eigentlich zeigen sie ja lediglich, dass ich schon eine geraume Zeit auf der Reise bin, einiges erlebt und erfahren habe. An Oma habe ich sie gemocht, mit meinen eigenen muss ich mich noch arrangieren. Am leichtesten fällt mir das bei den Lachfalten.
Ich steige auf die nächsthöhere Hautpflegeserie um und versuche ansonsten, mich mit den neuen Linien anzufreunden. Auf meinen Spiegel schreibe ich einen Text von Anne Steinwart:
Wünsch dir wassagte die gute FeeAlt und weisemöchte ich werdenund unerschrockenEine eigensinnige Altemit silbernen Haarenohne Strümpfein lila SandalenUnd Lachfaltenmöchte ich habenGanz viele1
Unkonventionell alt werden, mich nicht in starre Formen pressen lassen – ich hoffe, das gelingt mir.
So wie ich einen Teil meiner Mutter in mir enthalte, erweitere ich mich durch das Leben meiner Töchter. In den vielen Gesprächen mit Anna und Lena, in denen wir unser Leben ansehen, das ineinander verwoben ist, in denen sie mir neugierig zuhören, um etwas über sich selbst zu erfahren, erfahre ich auch etwas über mich. Ich erkenne mich wieder in Lenas Art zu denken, in Annas Art zu fühlen.
Wunderschöner Sommertag. Nachts hat es geregnet, sodass wir bei angenehmer Temperatur reiten können. Ich bin genauso zufrieden wie Chopper, der entspannt schnaubend über die abgemähten Kornfelder galoppiert, die in der Abendsonne goldgelb leuchten. Die Luft ist klar, es weht ein sanfter Wind. Wie immer hat es Überwindung gekostet, reiten zu gehen, und wie fast immer hat es sich gelohnt. Mit den Pferden habe ich ein dickes, rundes, warmes Stück Leben gewonnen, das mich lockt, Neues zu wagen und zu erfahren, wie sich Angst in ein unbeschreibliches Glücksgefühl verwandeln kann.
Werners vierwöchiger Urlaub hat begonnen. Wir renovieren hier und dort, reiten, gießen, ernten. Lena und Jan fahren morgen für eine Woche ins Sommerlager, danach fahren wir nach Holland, worauf wir uns alle sehr freuen. Werner hat den alten Faltcaravan in den Garten geholt. Eine Maus hat ein Riesenloch ins Vorzelt gefressen und ein Nest hinterlassen, ansonsten ist er funktionstüchtig.
Zurzeit sind Werner und ich öfter allein. Ein ruhiger Zustand. Werner liebt es zu arbeiten, ohne unterbrochen zu werden. Zu zweit lässt es sich auch angenehm leben, ohne die Daueraufgabe »Kinder«. So war es vor ihrer Zeit.
Wenn wir mit den Mädchen unterwegs sind, fühlt er sich schnell im Stich gelassen, als würde ich mich gegen ihn verbünden. Da läuft etwas auseinander. Neulich waren wir mit Anna in Heidelberg frühstücken. Anschließend hatte er plötzlich keine Lust mehr, mit uns bummeln zu gehen. Sie hatte sich extra chic gemacht, aber zwischen Werner und ihr war wenig Nähe. Abnabelung?
Ich habe nicht das Gefühl, dass Teenager ihre Mütter weniger brauchen. Nur zu anderen Unzeiten. Mit Jan war ich im Schwarzwald auf einer Intensivtherapiewoche. Neue Ideen und Programme motivieren mich, wieder mit ihm zu üben, um ihm noch mal ein Stück weiterzuhelfen. Täglich eine Dreiviertelstunde.
Vielleicht ist jetzt noch einmal eine gute Zeit für einen Countdown mit Jan, weil die Mädchen tagsüber oft unterwegs sind. Bisher wäre so eine intensive Zuwendung gar nicht möglich gewesen. Wir freuen uns über jeden kleinen Fortschritt. Und Jan auch.
Jan war sehr herausgefordert im Zeltlager, aber grundsätzlich aufgefangen. Dadurch, dass er »Lenas Bruder« war, die jeden Morgen ins Jungenzelt kam und nach ihm sah (»Ich wollte nur mal sehen, wie es Jan geht.« – »Prääächtig! Wir kümmern uns um ihn!«), war ihm das Wohlwollen einzelner Gönner sicher. Überfordert war er, wenn es galt, thematische Workshops zu wählen oder Geschenke herzustellen.
Dann rettete ihn Lena, indem sie auf ihren Workshop verzichtete und stattdessen mit Jan zum Bauern ging oder ihm sein Geschenk aus Speckstein feilte. Das Lager zeigte Jan, was er kann – und brachte ihn schmerzhaft an seine Grenzen.
Abreise nach Holland. Werner repariert den Zeltanhänger erst heute Morgen. Sein Timing ist durch nichts zu beeinflussen, er handelt immer auf den letzten Drücker. Eigentlich passen wir gut zusammen, aber unter Zeitdruck sind wir ein schlechtes Gespann. Wir sind beide sehr erschöpft. Zu allem Überfluss haben wir gehört, dass uns im Norden eine Schlechtwetterfront erwartet.
Ich habe tagelang die notwendigen Habseligkeiten zusammengetragen für sieben Leute und Hund. Wir packen unkoordiniert, keiner hat den Überblick. Mehrmals eskaliert die Situation. Wenn Werner überlastet ist, wird er angriffslustig. Er ärgert sich gewaltig, dass ich darauf bestehe, unseren Kellerkühlschrank im Bus mitzunehmen, nur weil er mir das mehrmals versprochen hat. Dass ich ein Zehnerpaket H-Milch dabeihaben möchte, ist für ihn Eulen nach Athen tragen.
Irgendwann sind fünf Fahrräder am Heck des Busses montiert, ist der Faltcaravan angehängt. Werner quetscht seine in letzter Minute gepackte Kleidertasche in den Kofferraum. Die Wucht des Quetschens (der Wut) kann man daran ablesen, dass drei Liter Milch platzen und sich über den ganzen Kofferrauminhalt ergießen, über alle Taschen, CD-Player …
In dem Moment, als Werner den Faltcaravan abhängt, den Fahrradträger wieder abmontiert, den Kofferraum aufreißt, das runterfallende Gepäck mit den Füßen an die Mauer kickt und wir der Milch zusehen, wie sie aus dem Auto rinnt, steht das ganze Unterfangen auf der Kippe. Dass unsere Ehe das übersteht, hängt damit zusammen, dass ich bereits drei Bücher über Ehe, Kommunikation und »Christsein heute« gelesen habe. Und dass Werner wütend werden kann, aber nicht gewalttätig.
Ich kündige an, nie wieder mit ihm zu verreisen. Er wird zugänglicher. Damit habe ich nicht gerechnet. Manchmal denke ich, das Thema »Wer hat denn hier eigentlich recht?« ist endlich ausgestanden, nur um gleich darauf zu erleben, dass wir doch noch nicht darüber hinweg sind.
Als wir endlich im Bett liegen, kann ich lange nicht einschlafen. Wird Anna, die frisch den Führerschein hat, die sechsstündige Fahrt im eigenen Auto durchstehen? Werden wir zwei Plätze nebeneinander auf dem Campingplatz finden? Werden wir im Regen aufbauen und vierzehn Tage lang bei schlechtem Wetter auf engstem Raum zusammenleben müssen?
Anna fährt im Konvoi wie ein Autopilot die ganze Strecke allein, ihr Freund ist stolzer Beifahrer. Eingeklemmt zwischen Kühlschrank und Gepäck beobachte ich bangen Herzens die graue Suppe am Himmel, male mir das Schreckensszenario aus, bei Regen im Matsch den alten Zeltanhänger aufzubauen.
Zaghaft bete ich zu diesem großen Gott, der die Welt erschaffen hat und erhält. Bei strömendem Regen sage ich ihm, dass es schön wäre, im Trockenen aufzubauen und hin und wieder die Sonne zu sehen. Dass ich Angst habe vor der Enge im Zelt und vor Werners Gefühlen.
Als wir die lange Brücke zur Insel überqueren, entdecke ich vor uns am Himmel einen blauen Fleck, der sich ausbreitet, je mehr wir uns unserem Bestimmungsort nähern. Auf dem Campingplatz ist plötzlich alles wie immer: Der Himmel strahlt, die Leute fahren Fahrrad, es ist warm, und das hält den ganzen Tag so an. Ich bin sehr berührt über dieses Gnadenzeichen.
Unsere groß gewordenen Mädchen blödeln in den Dünen wie junge Hunde. Ich bade in den Wellen, sauge den Anblick des Strandes in mich auf, dankbar, jetzt hier zu sein. Diese Insel ist unsere große Liebe.
Jan langweilt sich. Er kann keinen Leerlauf ertragen, kein zufriedenes Schweigen, kein Gespräch zwischen Werner und mir, das er inhaltlich nicht versteht. Er kann seinen Geist nicht schweifen lassen. Wenn wir uns nicht auf ihn einlassen, wird er aufdringlich.
Dennoch freue ich mich hier sehr an ihm. Wie aktiv und selbstständig er geworden ist, wie schnell und kräftig er Rad fahren kann! Selbstbewusst geht er mit dem Hund aus und kauft sich jeden Morgen seine Bildzeitung, aus der er die Sportnachrichten aufsaugt.
Heute ist es dann doch den ganzen Tag enorm stürmisch und regenschauerisch. Jan tritt uns auf den Füßen herum, fragt minütlich, was er tun könnte (bei ihm tappe ich in die Falle, die ich bei den Mädchen vermeiden konnte – ich fühle mich für seine Langeweile verantwortlich), und es kommt, wie es kommen muss:
Werner fällt die Decke auf den Kopf. Seine Ruhe will er und kann sie nicht finden. Keine Ahnung, wie er auf die Idee kommt, sie hier zu suchen. Ich glaube, dass wir nur noch einige wenige Jahre mit den Mädchen reisen werden, und genieße jede Stunde. Ich amüsiere mich, wenn sie um 22 Uhr eine chinesische Tütensuppe kochen und singen: »Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?«
Wir radeln vor ans Meer, um den Sonnenuntergang zu sehen. Lena und ihr Freund liegen am Strand. Die Sonne sinkt glutrot ins Meer. Lena sagt: »Werner muss dich jetzt auch in den Arm nehmen«, und mir fällt zum wiederholten Mal die Diskrepanz auf zwischen frischer Verliebtheit und alter Liebe. Wobei ich nichts dagegen hätte, wenn Werner etwas aufmerksamer wäre.
Er sagt: »Lena ist arg romantisch! Und es muss immer auf eine bestimmte Art sein.«
Ich sehe ihn an und sage: »Ja, aber ich bin genauso, Werner!«
Er sieht mich überrascht an. Dann nimmt er mich in den Arm. Als wir so jung verliebt waren wie die beiden, musste ich nicht so viele Worte machen …
Es ist August, ich sitze in Sturmjacke mit Kapuze vor dem Zelt. Das Wetter jagt den Himmel entlang, Charly lässt zufrieden seufzend den Hollandwind über sich hinwegblasen. Irgendjemand klopft Heringe. Werner sagt überraschend zärtlich: »BIANKA!«
Ich sage: »So schön hast du meinen Namen schon lang nicht mehr gesagt!«
Er sieht mich irritiert an: »Sei doch mal ruhig!« Er speichert Namen in sein neues Handy mit Spracherkennung …
Wenn die ersten Stunden des Urlaubs ein Sinnbild für Gnade waren, dann waren die letzten ein Gleichnis für Verlorenheit. Seit gestern tobt ein Unwetter mit hoher Windstärke und ununterbrochenem Sturzregen. Ich schlafe keine Minute bei dem Lärm. Ich habe Angst, dass der Zeltanhänger dem Wolkenbruch nicht standhält, und fürchte mich vor Jans Umtriebigkeit in der Enge. Ich rechne damit, dass Anna ertrinkt in ihrem undichten Zelt nebenan, auf das sie gestern die zweite Flasche Imprägnierung gesprüht hat.
Wird der Urlaub in einem Fiasko enden? Während Werner schneller schlecht gelaunt ist, bin ich schneller besorgt.
Ich habe gehört, dass achtzig Prozent der Sorgen, die man sich macht, sich als unbegründet erweisen. Der Zeltanhänger hält durch. Annas Zelt bleibt dicht. Sie bekommt überhaupt nichts mit von dem Sturm! Außer mir bekommt überhaupt niemand etwas davon mit!
Anna und Lena kriegen es fertig, wegen des Küchendienstes zu streiten. Werner kriegt es fertig, die Moral der Truppe zu stärken. Den Rest des Tages lassen Sonne und Wind das Getöse der Nacht vergessen. Danach beantworte ich die Frage, ob der Packstress im Verhältnis zum Gewinn des Urlaubs gerechtfertigt war, mit einem fröhlichen Ja.
Allen ist klar, dass wir doch nicht nach Spanien fahren werden im nächsten Urlaub. Charly liegt wie seit zehn Jahren auf der weichen Wiese und erinnert sich. Gute Zeiten hat er hier verbracht. Endlich, endlich komme ich zur Ruhe.
Abends radeln Werner und ich am Meer entlang, während die Sonne untergeht. Dort habe ich einen 360-Grad-Rundumblick und keine Worte für das, was in meinem Herzen ist. Später sitzen wir unter dem Sternenhimmel und verfolgen die Bahn des Mondes.
»Dann sprach Gott: ›Das Wasser unter dem Himmelsgewölbe soll sich alles an einer Stelle sammeln, damit das Land hervortritt.‹ So geschah es. Und Gott nannte das Land Erde, die Sammlung des Wassers nannte er Meer. Und Gott sah das alles an: Es war gut« (1. Mose 1,9-10; GNB). Ich weiß, warum ich mich hier Gott so verbunden fühle: Ich teile meine Begeisterung über das Meer mit dem, der es geschaffen hat!
Anna und Lena tun sich schwer miteinander. Sie haben so eine gute Basis, aber hier verletzen sie sich ständig oder gehen sich aus dem Weg. Auch das muss ich loslassen: meine Vorstellungen von Harmonie in ihrer Beziehung. Ich kann es nicht machen. Wenn es ihnen wichtig ist, müssen sie selbst daran arbeiten, sie zu erhalten. Ich kann nur in meine Beziehung zu meinen Töchtern investieren, Treffpunkte anbieten wie diesen Urlaub und unser Haus als Heimat offen halten. Vielleicht müssen auch sie sich voneinander abnabeln, wie Zwillinge, die lernen müssen, eigene Wege zu gehen.
Heute Morgen bin ich allein ans Meer gefahren, um mich daran sattzusehen. Werner läuft oft weiter an Stellen, an denen ich gern verweilen würde. Was ist eine gute Ehe? Wenn es bedeutet, unaufhaltsam auf einen Gipfel harmonischer Zweisamkeit zuzusteuern, sind wir weit davon entfernt. Gestern haben wir unter dem gigantischen Wolkenspiel am Meer heftig gestritten.
Wenn es aber bedeutet, nach zwei Jahrzehnten immer noch darum zu ringen, gemeinsam einen Weg zu gehen, die Berge des Lebens Hand in Hand oder, zumindest, in Rufweite zu erklimmen und oben Arm in Arm immer mal wieder nach vorne und hinten zu schauen, wenn eine gute Ehe eine umkämpfte Ehe ist, dann führen wir eine.
Seit zwanzig Jahren bemühen wir uns um Zuneigung, Nähe, Zärtlichkeit, Annahme, Erotik, Seelenverständnis, gegenseitige Förderung, Gemeinsamkeit. Wenn eine gute Ehe an ihren Früchten zu erkennen ist, dann führen wir eine. Jedenfalls finde ich unsere drei Früchtchen wundervoll lebensfroh, glaubenshungrig und liebesfähig.
Jan scheint auch vom Meer berührt zu sein. Er fragt: »Mama, willst du hier mal wohnen? Für immer? Ich liebe Wasser, wenn es das Meer ist, Mama!«
»Jan, wo willst du denn mal wohnen?«
»Das kann ich noch nicht wissen, ich war noch nie in Portugal und Bolivien.«
Eine unglaubliche Nacht. Windstärke sieben. Ich fasse Werners Hand, um nicht zu kentern. Als er aufwacht, sagt selbst er: »Das war wie eine stürmische Überfahrt nach Afrika!« Achtzig Liter Regen pro Quadratmeter sind gefallen. Werner würde den nächsten Urlaub nun doch lieber im Süden verbringen.
Wir sind überrascht, wie sehr unsere Jugendlichen uns noch brauchen. Ohne uns geht gar nichts. Der Faltcaravan ist ein Raumwunder: Hier können locker sieben Personen essen und wohnen, was sie auch tun. Tagsüber sind wir umgeben von herumalbernden Teenagern. Ihre Zelte benutzen sie nur zum Schlafen.
Und dann ist da noch Jan, der permanent seinen Tribut fordert. Ich habe keine Viertelstunde für mich. Wir ringen mehrmals am Tag um unser Gleichgewicht. Trotzdem ist es unglaublich schön, dass sie mit uns noch Urlaub machen wollen und wir sie so aus der Nähe erleben können.
Werner fragt, ob dieser Urlaub ein Stück Abnabelung für mich ist. Und das ist er in der Tat. Je unabhängiger Anna von mir wird, umso fremder wird sie mir. Ich bekomme kaum noch etwas von ihr mit. Ihr Freund kennt sie immer mehr, ich immer weniger. Sie entfernt sich von mir. Vorsichtig beginnt ein Prozess des Loslassens. Dass sie so gut klarkommt mit ihrem Leben, erleichtert mir die Vorstellung, dass sie eines Tages gehen wird.
Jan hat auch Zukunftspläne. Stündlich redet er davon, was er machen will, wenn er groß ist. Tankwart. Wirt wäre auch schön. Oder Lkw-Fahrer beim Getränkehändler. Beim Billardspielen amüsieren wir uns königlich: Es ist zum Schießen, wie er um den Billardtisch schlendert, sich darauf legt wie Humphrey Bogart und sämtliche Haltungen nachahmt, die er bei den anderen Jungs sieht. Man merkt, dass er inzwischen im Jugendkreis ist.
Der Abstand von zu Hause wird groß und immer größer, der Alltag verschwindet in der Vergangenheit, und je weiter er weg ist, umso vorstellbarer wird es, ihm wieder begegnen zu wollen. Ich tue nicht viel mehr als nichts.
Wo ist die Zeit geblieben zwischen dem Wissen, noch vierzehn Tage vor mir zu haben, und dem angenehmen Nichts, das nun hinter mir liegt? Jan sagt: »Vielleicht gehe ich auch zur Müllabfuhr und entsorge Müll von Campingplätzen.« Anna sagt selig: »Nach Holland zu fahren, ist kein aufregender Pionierurlaub. Für mich ist es einfach das Gefühl, nach Hause zu kommen. Mehr brauche ich nicht.«
Wir verlassen das Meer. Ein letztes Mal. Zwei große Hunde stürmen die Dünen hinunter und stürzen sich ins Wasser. Ich bleibe stehen, um ihnen zuzusehen. Sie kommen problemlos mit den heranrollenden Wellen zurecht.
Ein weißhaariges Paar kommt dazu. Sie setzt eine skurrile Bademütze auf und rennt zu den Hunden ins Wasser. Sie juchzt. Der Mann läuft hinterher, wirft einen Ball für die Hunde. Die Alten schwimmen lachend mit ihnen um die Wette. Kein Kind weit und breit, nur die zwei, die Spaß miteinander haben.
So könnte es sein. So könnte es gut sein. Jetzt kann ich das Meer verlassen. Das Bild nehme ich mit: zwei lachende Alte, deren einziges Gepäck zwei Handtücher sind.
Am Ende hat dieser Urlaub Werner und mich einander nähergebracht, auch wenn wir selten zu zweit waren. Die große Unbekannte unserer Zukunft bleibt für mich, wie es mit Jans Entwicklung weitergeht. Bleiben wir ein Dreiergespann?
Heute haben wir bei 28 Grad den Neuanfang zu Hause recht harmonisch geschafft. Wir sind auf stürmischen Pferden geritten. Werner hat mich gefragt, ob ich doch wieder mit ihm in Urlaub fahre, und ich habe gesagt: »Ja, aber ich packe nicht mehr mit dir …«
Vor siebzehn Jahren sind wir mit zwei winzigen Kindern in dieses kleine Haus gezogen. Heute sind wir zu fünft und jeder Winkel ist besiedelt. Wir leben inmitten lauter großer Menschen. Wir wollen unseren Kindern ein offenes Haus bieten, deshalb weilen oft noch mehr große Menschen bei uns. Manchmal kommt es mir vor, als hätten wir keinen Quadratzentimeter für uns allein.
Wenn wir uns in die Sauna zurückziehen wollen, steht Anna neben uns mit einem Handtuch unter dem Arm. Ihre Liebessprache ist Zweisamkeit; ich glaube, sie würde uns bis Alaska folgen, wenn ihr nach Gemeinschaft zumute ist.
Werner und ich haben viel zu wenig Zweisamkeit, aber gestern habe ich den Schock meines Lebens bekommen, als ich realisierte, dass sich sowohl Anna als auch Lena vorstellen können, in wenigen Jahren (sprich: zwei oder drei) auszuziehen. Wenn Jan dann auch noch eine Ausbildung in einem Internat beginnt, die das Berufsbildungswerk für Schwerhörige anbietet, wären wir in Kürze wieder ganz allein.
Ein ungeheuerlicher Gedanke!
Es stimmt, die allgegenwärtige WG, deren Mitglieder an die geschlossene Schlafzimmertür klopfen, um zu fragen, ob die letzte Tiefkühlpizza noch zu haben ist, ist etwas heftig. Aber die ebenfalls extreme Aussicht, plötzlich derart zusammenzuschrumpfen und von meinen Kindern höchstens noch besucht zu werden, statt mit ihnen den Alltag zu teilen, lässt mich demütig bleiben. Ich versuche also, alles zu nehmen und zu genießen, wie es ist.
Werner freut sich darauf, mich nicht mehr teilen zu müssen. Dann gehöre ich ihm endlich wieder allein, so wie damals, bevor wir uns vermehrt haben. Er muss teilen, ich bin die, die sich teilt. Noch liegt ein Teddy in Annas Bett. Aber es ist ein Bär, den ihr Freund ihr geschenkt hat.
Ich kuschle mich wieder zu meinem schlafenden Gatten in dem schlafenden Haus, wie seit zwanzig Jahren. Was für eine unglaubliche Zahl. Was für ein schönes Leben …
Schlaflosigkeit ist ein neues Thema in meinem Leben. Wenn ich spät esse, mir etwas auf der Seele liegt, eine Schnake summt, Werner schnarcht, die Nachbarin hustet, die Katze umherläuft – wenn ich den Moment verpasse, in dem ich einschlafen könnte, ist es für Stunden um meinen Schlaf geschehen.
Mein Zyklus ist seit der Operation völlig durcheinander. Ich kann meine Gefühlsschwankungen nicht mehr deuten und frage mich, welche Konsequenzen das für meinen Körper haben wird. Wechseljahre mit zweiundvierzig?
Anna hat frei und fragt: »Was macht man bei dem Wetter?« Da machen wir bei dem Wetter etwas, was ich seit fünfzehn Jahren machen will: Inliner fahren. Ich schnalle mir sämtliche Schützer an und übe jaulend im Hof, Anna fährt kichernd hinterher. Dann eine Stunde um den Ort, plaudernd, zweisam, zunehmend sicherer.
Als Kind bin ich gern Rollschuhe gefahren. Mein Körper erinnert sich. Welch nette rollende Sache!
Lena kommt nach Hause und meint: »Also, ich finde Wochenende eine gute Erfindung! Es kommt immer dann, wenn ich es gerade brauche!« Legt einen englischen Liebesfilm rein, um sich auf die Prüfung vorzubereiten, Anna setzt sich vergnügt dazu.
Ich finde beim Ausmisten in den Tiefen des Kellers eine Kassette, auf der »Anna und Lena« steht. Einst habe ich sie aufgenommen und dann nie mehr angehört. Ich staune über Annas Kinderstimme, die ich fast nicht mehr erkannt hätte. Welch ein Schatz ist dieser Fund! Als ich die Kassette abends Werner vorspielen möchte, kann er nichts damit anfangen. Kommentarlos richtet er sein Abendessen weiter.
Wie unterschiedlich wir sind! Während ich die Schätze der Vergangenheit hüte, sieht er lieber nach vorn.
Wir genießen Annas letzte freie Tage. Bald wird sie ein viermonatiges Praktikum in einem Altenwohnheim und im April dann ihre Ausbildung zur Krankenschwester beginnen.
Heute fahren wir nach Karlsruhe. Kichernd schunkeln wir an Oberammergauer Straßenmusikern vorbei, probieren Hüte im Kaufhaus auf, essen Pommes frites mit Ketchup, fahren Rolltreppe und mit meinem winzigen rosafarbenen Auto, das Anna ziemlich schräg findet, wieder nach Hause. Lachend lässt sie sich auf den Beifahrersitz fallen und sagt: »Ich fühle mich wie in einem Kettcar. Man sitzt so tief, dass man denkt, man muss mit den Beinen mittreten, um vorwärtszukommen.«
Hauptsache, es bringt mich von A nach B! Dieses winzige Gefährt hat viel Unabhängigkeit in mein Leben gebracht.
Werner-freies Wochenende. Er ist auf einer Männerfreizeit. Das wirft mich auf mich selbst, was sich frei und einsam zugleich anfühlt. Aber es gibt Raum für Ungewohntes, zum Beispiel einen Filmabend mit einer Freundin. Ich habe sonst abends nie Besuch von einer Freundin.
Lange, ruhige Gespräche mit Lena über Beziehungen. Werner hat sich das Wohnzimmer als Refugium erobert, es ist seine Höhle, in die er sich nach den Turbulenzen der Jagd zurückzieht. Heute Abend gehört es uns. Durch den Abstand spüre ich meine Liebe zu ihm so klar, dass ich nie auf Dauer ohne ihn sein will, aber ich spüre auch wieder mehr mich.
Wenn er hier gewesen wäre, hätte ich heute vermutlich Äpfel aufgelesen und einen Ausritt gemacht. Ich hätte vermutlich keine Zeile geschrieben, nicht ausgeschlafen, gestern Abend Berta nicht getroffen, den Film »My Big Fat Greek Wedding« nicht gesehen und unser Wohnzimmer gar nicht benutzt. Auch schön!
Anna beginnt wieder ein geregeltes Leben. Sosehr ich sie vermisse, bin ich doch auch froh, dass ich morgens wieder für mich sein kann. Es war eine intensive Zeit miteinander. Anna ist häuslich und familiär und kann sich lange behaglich fühlen dabei, mit Charly und mir spazieren zu gehen, die Pferde rauszustellen, gemeinsam einzukaufen, zu kochen. Wenige Menschen genügen ihr.
Ich bin dankbar, dass sie so zur Ruhe gekommen ist und ihr Leben ansehen und planen konnte. Dass sie Zeit für sich und ihre Beziehung, für diesen Sommer hatte. Ihr ist sehr klar, dass ihr Freund der richtige Partner für sie ist, dass sie Krankenschwester sein möchte, dass sie sich in der Gemeindejugend engagieren möchte. Anna reift bei Ruhe wie ein guter Wein.
Lena übt »Der rosarote Panther« auf dem Saxofon. Jazzig. Jan macht Hausaufgaben. Er soll notieren, wie der Erbauer des Stadttores von Neckargemünd heißt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihn das interessiert. »Karl« schreibt er auf, den Nachnamen weiß er nicht mehr. In der Schule haben sie im Internet nachgesehen.
Ich schlage ihm dasselbe vor.
Er lehnt dankend ab. »Ich schreib einfach ›Karl‹. Damit habe ich weniger Arbeit.«
Lena spielt »Michelle«.
Anna kommt vom Altenwohnheim und erzählt lustige Geschichten. Sie kann köstlich Menschen parodieren. Zwölf Tage hintereinander hat sie Frühschicht, drei Tage frei, danach zwölf Tage Spätschicht. Am Abend stehe ich an ihrem Bett und betrachte die schlafende Kindfrau, den Bär im Arm. Ich denke an das blondlockige Baby, vor dessen Bett ich oft genauso staunend gestanden habe.
Jan erzählt beiläufig, dass er Klassensprecher geworden ist.
Wir sind platt. Lena: »Wie bist du das denn geworden?«
Jan: »Keiner wollte es. Und ich hab mir selbst die Stimme gegeben. Ich wollte.«
Aber auf dem Elternabend meint Jans Lehrerin: »Ganz so war es nicht. Die anderen fanden schon, dass Jan ein Klassensprecher ist. Sie kennen ihn als jemanden, der sich nie an Streitigkeiten beteiligt, sondern friedlich ist.«
Unbändiger Stolz. Ich bin gerührt, wie er sich ins Leben kämpft, welch freundlicher Charakter sich da entfaltet, wie duldsam er sich in seine Begrenzungen fügt und dennoch immer wieder versucht, sie zu erweitern. Vielleicht wird er ja eines Tages noch Bürgermeister …
Mich motiviert das, an seinem Förderprogramm dranzubleiben, doch in der Praxis ist das allfeierabendlich eine Entscheidung. Jan, der den ganzen Tag geistig gefordert wurde, noch einmal zu fordern, während alle daheim ankommen, widerstrebt mir eigentlich. Aber nachdem er seine Sechs im Vokabeltest durch das Üben mit Lena in eine Zwei verwandelt hat und das für ihn so ein Sieg war, habe ich verstanden, dass er Hilfe will.
Wenn er um 16 Uhr heimkommt, brauche ich mir nichts mehr vorzunehmen. Hausaufgaben, Lesen üben, Vokabeln üben, Logopädie – zum Glück gibt es das Mittwochfußballtraining, den Omatag, das Wochenende und die Ferien.
Elternabend in Lenas Schule, meine vierte Abendveranstaltung diese Woche. Aber dort hinzugehen, ist wichtig, um ihr Leben zu verstehen – Schule ist ein großer Teil davon.
Ich finde es bereits nach zwei Stunden ätzend, auf dem harten Holzstuhl auszuharren. Dreißig Schüler, die sich großteils bekämpfen, in diesem kleinen Klassenzimmer – ein sozialer Brennpunkt. Wie gut, dass sie noch ein anderes Leben hat. Frauenfußball, Saxofonensemble, Jugendkreis, Freunde, Großeltern, ihre alte Freundin Frau Wagner – Lenas Leben ist so randvoll wie meins.
Welch klares, ruhiges Leben Anna dagegen führt! Sie chauffiert Lena zum Fußball …
Werner bringt zwei große Fässer voller Äpfel vom Acker mit. Die möchte er zu Schnaps verarbeiten. Ich finde, er spinnt.
Er fragt, ob ich eine Reibe habe.
Grinsend zeige ich ihm die kleine Gemüsereibe.
Ob ich keine andere habe.
Ich zeige ihm die Muskatreibe. Nein, ich habe keine Presse, durch die man Äpfel zu Brei zerdrücken kann.
Er reibt tatsächlich einen Apfel durch die Gemüsereibe. Beim zweiten schneidet er sich in den Finger und braucht ein Pflaster.
Ich gehe ins Haus. Eigentlich habe ich mich auf Feierabend gefreut.
Als ich Minuten später raussehe, schneidet er mit einem Küchenmesser Äpfel klein. Ein Hundertstel hat er wohl schon geschafft. Mir fällt seine Liebessprache ein: Hilfsbereitschaft.
Ich mache das Licht draußen an, hole ein Messer, einen Stuhl, einen warmen Pulli – das kann länger dauern – und fange an zu schneiden.
Zufrieden schnippelt er vor sich hin, plaudert über dies und das, und auf das Gespräch, das sich entwickelt, möchte ich auf keinen Fall verzichten. Ich wundere mich, dass er nicht überschwänglich dankbar reagiert, aber beim vorletzten Apfel sagt er: »Ich liebe dich!«
Ich frage: »Weil ich dir Äpfel schneiden helfe?«
Er sagt: »Ja! Du hättest auch sagen können: Der spinnt.«
Ich sage: »Ich liebe dich auch.«
Als wir fertig sind, gehen wir ein Glas Rotwein trinken.
Gerade als ich die Therapie mit Jan gründlich satthabe und als sinnlose Feierabendgeißel infrage zu stellen beginne, lernt er zum ersten Mal, seine Zunge zu Zischlauten zu formen.
Jan spricht ein S, ein Sch, ein Z! Behutsam experimentiert er mit seiner Zunge zwischen den Schneidezähnen, mit seinem Schnütchen, mit seinen Lippen. Als ich vor Freude schier explodiere, wirft er sich auf den Bauch und liegt ganz still da. Er kann es lernen!
Heute bin ich mit Jan im Vogelpark: Vogelfedern suchen für Bildende Kunst, das Fach, das er hasst wie Chili con Carne. Er muss Pfeil und Bogen basteln. Bei so etwas machen ihm seine ungeschickten Hände leider oft einen Strich durch die Rechnung. Ich tapse durch Flamingokot, die Angst vor einem peinlichen Zusammentreffen mit dem Tierwärter im Nacken.
Abendessen, Therapie. Anna nimmt den Softball (damit muss er prellen und gleichzeitig Laute wie Ha-Ha, He-He, Hi-Hi rufen, um sein Gaumensegel zu stärken) und fängt an, kichernd und schreiend mit Jan Ball zu spielen.
Später machen Werner und Jan ein Lagerfeuer auf dem Acker. Ich wittere ein Zeitfenster zum Schreiben. Da ruft Werner an: »Kommst du zu uns? Drinnen sterben die Menschen! Hier draußen ist es wunderschön! Bringst du mir ein Bier mit? Und meine Astschere vom Traktor? Und die Astsäge?«
Ich überlege kurz, dann mache ich den Computer wieder aus.
Es klingelt wieder: »Und einen Innensechskant von der Werkbank?«
Ich höre es knistern und mache mich auf den Weg. Ich mag das flache Land mit den Hügelketten am Horizont. Es lässt dem Himmel so viel Platz. Durchatmen. Heimat.
Heute hätte ich ohne zu zögern das Reiten aufgeben können. Die winterliche Durststrecke hat begonnen, und ich frage mich wieder öfter, ob sich der Aufwand lohnt. Aufgrund der früh einsetzenden Dunkelheit ist Ausreiten nur noch am Wochenende möglich, aber manchmal können wir es Jan auch dann nicht zumuten, allein zu bleiben; manchmal gehen Haus und Hof vor oder Beziehungen.
Ich komme gar nicht mehr in die Pfalz, ins Elsass oder in den Schwarzwald, weil ich immer dieselbe Waldstrecke reite, statt größere Ausflüge zu machen. Heute wäre ich lieber mit unseren Freunden durch den Herbstwald gewandert. Jan hat nach dem Gottesdienst keinen Freund gefunden, der mit ihm heimgeht – sowieso findet sich nur selten jemand, zu dem Jan gehen kann –, und war traurig und allein. Anna und Lena sind längst keine Spielkameraden mehr für ihn. Am Wochenende sind wir eine dreiköpfige Familie.
Wir einigen uns mit Jan darauf, dass wir erst reiten gehen und dann mit ihm einen Spieleabend machen. Innerlich zerrissen fahre ich zu den Pferden, aber als Chopper willig und zufrieden durch den lichtdurchfluteten Herbstwald trabt, wohlig schnaubend bei seiner Wohlfühltemperatur von 8 Grad, werde ich zusehends ruhiger.
Eigentlich ist das Reiten meine letzte Oase mit Werner, wo wir gemeinsam auftanken können. Ich bin ihm dankbar, dass er hartnäckig daran festhält. Während wir nebeneinander durch die bunte Landschaft reiten, sagt Werner bestimmt ein Dutzend Mal: »Ich liebe dich!«, und lächelt mich an. Das allein ist es schon wert!
Wir reiten in ruhigem Schritt, was zu meiner melancholischen Stimmung passt. Es ist die schönste Stunde des Tages. Ich bin dankbar, dass Jan uns zu den Pferden ziehen lässt und ich mich aufrappeln konnte.
Dennoch lastet seine Traurigkeit auf mir. Meine Seele schmerzt, weil er so viele Probleme im Leben hat, die gleichaltrige, gesunde Jungs nicht haben, und weil wir zu einer Kleinfamilie schrumpfen – gestern Abend haben Lena und Anna mit ihren Freunden in der Küche gegessen, heute sind sie beide den ganzen Tag weg.
Ich käme mit der Abnabelung besser zurecht, wenn ich auch die Vorzüge der Zweisamkeit genießen dürfte. Stattdessen sind wir auf Jans Abhängigkeit und Bedürftigkeit geworfen.
Lena erzählt: »Anna hat neulich gesagt, dass du so cool bist, Bianka. Sie findet, sie ähnelt mehr Werner, deshalb kommt sie so gut mir dir klar. Mit Werner kann sie super arbeiten. Auf ihn ist Verlass, er packt an und hilft immer. Bei dir findet sie so schön, dass sie dich jederzeit ansprechen kann, dass dir das nie zu viel ist, egal, zu welcher Zeit, in welchen Umständen!«
Das freut mich, weil ich mich innerlich oft schwer losreiße von der Arbeit an meinem neuen Manuskript.
Anna kommt im Pyjama und massiert einige Sekunden meinen Nacken. »Kommst du noch zu mir hoch?«
Ich verneine, will schreiben.
Sie ruft von oben noch einmal lockend: »Fühl dich eingeladen!«
Der Satz schwebt durch die Luft, umschmeichelt mein Mutterherz, sodass ich nicht mehr schreiben kann. Werner schaut Fußball mit Jan und Lena. Vielleicht redet sie mit mir …
Seufzend mache ich den PC aus. Und natürlich ist es gut und richtig. Wir schweigen, plaudern, kichern und am Ende teilt sie ein Seelenfitzelchen mit mir.
Eigentlich sollte ich meine Periode bekommen, PMS ist jedenfalls reichlich vorhanden (Aufräumen sämtlicher Schubladen und Dunkelkammern, Schlaflosigkeit und Unruhe, Tränen und Weltschmerz). Solange ich in Bewegung bin und mir nichts und niemand im Weg steht, geht es.
Schlimmer wird es, wenn ich innehalten muss. Mit Jan Englisch üben und keinen Sinn darin sehen. Mundübungen machen. Alles muss er sich so mühsam erkämpfen. Heute sagt er: »Wir fangen jetzt etwas Neues an in Mathe.«
Ich bin erleichtert, endlich können wir das Umrechnen von Quadratmillimeter in Hektar und das Berechnen der Rauminhalte von Zylindern und Pyramiden hinter uns lassen. Arglos frage ich: »Was denn?«
Jan: »Bruchrechnen.«
Ich hätte mir denken können, dass nichts Leichteres nachkommt … Ich stöhne innerlich. Aber dann dringt Jans Stöhnen an mein Ohr, als er mich mit unsicherer Stimme fragt, was denn Bruchrechnen ist und ob das schwer sei.
6.15 Uhr. Der Wecker klingelt. »Schon wieder ein Tag vorbei«, muffle ich Richtung Werners Bettseite.
»Schon wieder ein neuer Tag!«, grinst der, unerträglich optimistisch.
Ich schleppe mich ins nächste Zimmer. »Guten Morgen, Jan!«
Jan brummt, umringt von einem Rudel Stoffhunde. »Tut mir leid, Mama. Ich schlaf noch.«
Ich muss schmunzeln. Seine Gegenwehr ist nur halbherzig und zehn Minuten später torkelt er runter zur Küche. Er stolpert: »Oh Mann, blöde Hausschuhe!«
»He, Jan, das sind meine Hausschuhe!«
»Oh, liebe Hausschuhe! Charly, mein Großer, guten Morgen! Cindy! Miau!«
Das Haus erwacht zum Leben.
Jeden Morgen, wenn alle nacheinander das Haus verlassen und sich jeder auf seine Art von mir verabschiedet, fliegen mich zwei Gefühle gleichzeitig an: Bangen, ob wir uns gesund wiedersehen, und Erleichterung, allein zu sein.
Werner geht zuletzt und wirbelt eine Weile herum, bis er Schlüssel, Handy und Geldbeutel beisammen hat.
Jetzt gehört der Küchentisch mir. Ich schiebe die Tageszeitung zur Seite und breite meine sieben Sachen aus: Bibel, Tagebuch, Gebetstagebuch, Buch, Zeitschriften. Ich liebe es, vor der Arbeit eine Pause zu machen. Pause kommt von innehalten. Meinen Geist nach innen halten. An manchen Tagen bleibt diese Stille am Morgen die einzige.
Wieder ein Tag! Wieder eine überschaubare Zeiteinheit, die mir gegeben ist, um sie zu gestalten, mit Leben zu füllen, auszukosten und am Ende wieder zurückzugeben.
Der Tag geht zu Ende. Ich habe gekocht, geputzt, gewaschen. Geschrieben, geredet, getröstet, zugehört, ermutigt, gelästert. Jan hat sich verliebt. Die Nachbarin meiner Mutter ist gestorben. Mein Bruder hat angerufen. Eine Frau hört von meiner Krebserkrankung vor zwei Jahren und sagt: »Da seid ihr durch schwere Zeiten gegangen!«
»Ja«, denke ich, und es fühlt sich unendlich weit weg an. So viele gute Tage hat Gott mir seither geschenkt. So viele Erfahrungen, so viel Lernen, Glück, Liebe, Geborgenheit. Jeder Tag ist ein Geschenk – diese Binsenweisheit hat sich tief in mir verankert. Wie das Wissen um meine Zerbrechlichkeit, um die Vergänglichkeit meines Glücks.
Aber: Heute bin ich glücklich. Gott wird auch morgen bei mir sein. Und übermorgen …
Abends sitzen Werner und ich vor dem Ofen. Anna setzt sich dazu. Jan schmaust Grießbrei. »Danke für das schöne Essen! Halleluja!«
Ich grinse, fische gedankenverloren ein Obstmückchen aus meinem Weinglas und sehe ihm belustigt nach, wie es erleichtert losfliegt. Noch einmal davongekommen. Später sitze ich auf dem Badewannenrand, schmiege meinen Kopf an Anna und sage: »Ich bin ein betrunkenes Obstmückchen …« Ich möchte mein Glück auskosten bis auf den letzten Tropfen.
Ja, ich habe Schweres durchgemacht. Aber meine Lebenssumme unterm Strich ist positiv!
Jan ist überfordert. Wir feiern den 40. Geburtstag eines Freundes, Jan ist auch eingeladen. Die Vorstellung, er und Joel würden ruhig im Nebenzimmer spielen oder zufrieden Fußball schauen, war naiv. Mindestens zwanzig Kinder rennen johlend herum. Nach zwei Stunden bricht Jan heulend zusammen, will heim, statt wie geplant hier zu übernachten. Schmerz.
In mir wächst die Angst davor, ihn ins Sommerlager fahren zu lassen. Lena hat mir mitgeteilt, dass sie dieses Jahr nicht mitgehen wird. Ich frage sie, ob ich Jan ihrer Meinung nach trotzdem schicken soll. Sie meint: »Gebraucht hat er mich sehr!« Werner sagt: »Natürlich, er hat sich klein gemacht und fallen lassen. Er schafft das auch ohne seine Schwester!« Oje …
Jan läuft unrund. Die Schule fordert ihn ganz. Er ist sehr emotional und steht ständig unter Strom. Er unterbricht dauernd Gespräche, wiederholt penetrant seine Fragen und macht enorm Druck durch den Druck, unter dem er steht. Konversation bleibt mühsam für ihn.
Ich schwanke zwischen Mitgefühl, Sorge und Stress. Die Frage nach seiner Zukunft türmt sich vor mir auf. Für immer bei uns? Ein Leben zu dritt? Was wird, wenn es uns nicht mehr gibt? Darf ich auf seine Schwestern hoffen? Ich wage es kaum.
Ich hoffe auf Gott. Ihm will ich auch weiterhin Jan anvertrauen. Auch seine unklare Zukunft.
Anna kehrt von der Spätschicht heim und legt sich mit einem zufriedenen Seufzer im ofenwarmen Wohnzimmer auf meinen Bauch. Dort bleibt sie liegen. Uff.
Werner hört sich durch alte CDs und verwöhnt uns mit Musik. Ich rolle Anna zur Seite, sie liegt in meinem Arm wie damals als kleines Mädchen und schläft ein. Ich schlafe auch ein. Tiefe Geborgenheit. Wärme, Musik, menschliche Nähe. Werner betrachtet uns lächelnd. Anna … noch wenige kostbare Jahre …
Ich pflanze mit Werner drei Obstbäume auf einem Weinberg, den ich von Oma geerbt habe, für jedes Kind einen. Kirsche, Apfel, Pflaume. Überall sind Triebe von uralten Weinstöcken. Es ist ein gutes Gefühl, dort zu stehen, wo Oma Wein angebaut hat. Vielleicht werden hier einmal Enkel und Urenkel zelten und die Früchte dieser Bäume ernten.
Lena übt Mathematik. Sie meint: »Herr Milich sagt immer, wir müssten die Formeln sogar im Tiefschlaf aufsagen können. Das sollte ich echt mal machen – zu Herrn Milich gehen und ihn aus dem Tiefschlaf reißen. Ich wette mit dir, der wüsste keine einzige Formel. Der Werner weiß, wenn man ihn aufweckt, im ersten Moment nicht mal seinen Namen!«
Bei dem Lärm, den er neuerdings beim Schlafen veranstaltet, ist das auch kein Wunder. Lena nimmt mich freundlich auf, als ich um 3 Uhr in ihr Zimmer unter dem Dach klettere und mich auf ihre zweite Matratze lege. Selbst ein Stockwerk höher hören wir ihn. Sie flüstert: »Ich verstehe, dass du nicht schlafen kannst!«
Fühle mich willkommen und falle in schweren Schlaf.
Ein Freund, der mit Werner im Gemeindefußball kickt, erzählt, dass man Jan aus zwei Blickwinkeln betrachten kann. Man könne denken: »Mist, Jan ist in meiner Gruppe! Der ist behindert. Der behindert uns. Wenn ich dem den Ball abgebe, versemmelt der mir das Tor. Dann verlieren wir.«
Oder man könne denken: »Wenn Jan ein Tor reinkriegt, ist seine halbe Woche gerettet. So wie der freut sich keiner. Wenn ich ihm helfe, eins reinzuschießen, kann ich seine Freude miterleben. Und dann habe ich einen schönen Abend gehabt.«
Ich bin dankbar für den Paradigmawechsel in seinen Gedanken, gleichzeitig schmerzen mich seine Worte. Jan würde gern in den Fußballverein eintreten. Doch er hätte keine Chance, weil dort nur Leistung zählt. Integration ist kein Gedanke. Mitfreude über die Freude eines Schwächeren erst recht nicht.
Jan ist mit Englisch absolut überfordert. Ich auch. Am liebsten würde ich ihn vom Unterricht befreien lassen. Seine Lücken sind riesig, und es entsteht nicht einmal ansatzweise so etwas wie ein Verständnis für diese Sprache. Er ist in der Lage, einige Vokabeln kurzfristig zu lernen, aber er eignet sich keinerlei Grammatik an.
Ich habe das Gefühl, seine Bemühungen darum ziehen ihm nur Kraft ab, die er für seine Muttersprache bräuchte. Vielleicht sollte er in der Zeit, in der er sich damit abquält, lieber etwas lernen, das ihn wirklich weiterbringt. Ich rufe seine Lehrerin an.
Sie fragt schlicht: »Wünscht sich Jan das?«
»Nein«, denke ich verärgert, »aber ich …«
Als ich mit Werner um 19.30 Uhr aufs Sofa sinke, seufze ich: »Ich weiß schon, warum ich mich vor dem Winter fürchte: Weil er ist, wie er ist – dunkel, ermüdend, eng.«
Werner grunzt zufrieden: »Aber schööön!« Er weicht meinem Kuss aus: »Du bist verschmiert!« Er meint meinen Lippenstift.
Ich raffe mich auf und klebe Rezepte auf Kärtchen. Werner und Charly schnarchen sanft um die Wette. Winterschlaf …
Jan ist im Weihnachtsfieber: »Mama, kannst du eigentlich keine Weihnachtsbrötchen backen?« Er kommt von der Schule und bastelt Papierweihnachtssterne. Dann malt er Bilder. Ich kenne ihn nicht mehr. Die Pferde, die er malt, nehmen allmählich Gestalt an. Sie haben vier Beine und einen Schwanz. Ich krame die alten Rezepte hervor.
Während ich Jan dabei beobachte, wie er mit meiner Schürze bekleidet Sterne verziert, stelle ich mir vor, wie er als Erwachsener immer noch mit mir in der Küche steht und backt, und finde die Vorstellung gar nicht so schlimm …
Sabrina fragte neulich, ob ich wisse, wie groß Engel seien. Ich wusste es natürlich nicht. Aber sie: Ungefähr zweimal so groß wie unser Häuschen. Das habe sie in der Bibel gelesen.
Nun sehe ich solch einen Engel hinter Jan stehen. Er hat seine sechs Schwingen über und unter und um ihn ausgebreitet. Was kann da noch schiefgehen?
17 Uhr. Werner kommt heim und fragt unternehmungslustig: »Was machen wir heute? Ausgehen? Allein? Mit Freunden?«, sinkt aufs Sofa und schläft ein.
Ich lese Jan ein Weihnachtsbuch von Findus und Petterson vor. Wir machen Therapie, spielen Kniffel, ich packe Weihnachtsgeschenke ein, schreibe Weihnachtspost. Ich telefoniere.
Als ich Jan rufe, ins Bad zu kommen, schnellt Werner in die Höhe. »Hab ich schon wieder in Jeans die Nacht auf dem Sofa verbracht? Muss ich in die Firma?« Stundenlang sitzt ihm der Schreck im Magen, und als ich um 23 Uhr ins Bett schleiche, heftet er sich an meine Fersen. »Du willst mich gar nicht mehr bei dir haben!«
»Ich habe Angst vor einer schlaflosen Nacht, weil du neuerdings so schnarchst.«
»Ach, steigere dich bloß nicht rein!«
Mein Leben wird ärmer. Mein Schlaf ist so sensibel geworden. Ich schlafe gern in Werners starker Umarmung und Rückendeckung ein. Das geht eine Stunde lang gut, dann schreit die Katze (immer nur an meinem Bett, weil außer mir keiner reagiert), und ich lasse sie ins Freie. Werner dreht sich um und beginnt zu schnarchen.
Ich kann nicht mehr einschlafen, wandere zu Lena aus. Dort falle ich in Tiefschlaf. So schade!
Jeden Morgen ist mir bewusst, dass a) Gott meinen Tagen einen weiteren hinzufügt und b) von den Tagen, die Gott mir zugedacht hat, ein weiterer verstreicht und meine Lebensspanne immer kürzer wird.
Das Wintergrau ist anstrengend. Wenn früh am Abend die Sonne untergeht, fühle ich mich wie ausgeschaltet. Werner scheint es ebenso zu gehen. Still sitzen wir da, sehen uns an, legen Holz nach und schlafen auf dem Sofa ein.
Lena küsst mich: »Sieht man sich heute Nacht?«
So kann es nicht weitergehen. Ich versuche, den Winter aufzuhellen. Lasse tagsüber eine große Kerze im Flur brennen. Das ist wohltuend und ich weite es aus, stelle überall Kerzen in die Fenster und lasse sie durchbrennen. Kerzen sind die Blumen des Winters, Grundnahrungsmittel für lange Winterdämmerungen.
Annas Wiedereinzug bei uns nach ihrem Sozialen Jahr im Krankenhaus ist eine Zugabe des Lebens! Heute färbt sie sich ihre Haare feuerrot. Mutig experimentierend tritt sie aus ihrem Schatten heraus, verlässt ihre Zurückhaltung, gewinnt Profil.
Abends erzählt sie Geschichten aus dem Pflegeheim. Sie verschweigt die Schwere nicht, aber die jugendliche Leichtigkeit überwiegt. Sie kommt spät nach Hause und erzählt schnell und aufgeregt. Manchmal passt das nicht in meine Feierabendstimmung, und ich muss mich aufraffen, um ihr die gebührende Aufmerksamkeit zu widmen.
Zweiter Weihnachtsfeiertag. Bei den ersten Meldungen über eine ungewisse Anzahl von Menschen, die bei einer Überschwemmung in Asien ertrunken sind, reagiere ich verstimmt: Was soll das? Muss ich über jeden Unglücksfall auf der anderen Seite der Erde informiert werden?
Es folgen stündliche Korrekturen von Zahlen, deren Dimension mich innerlich verstummen lässt. Weihnachten scheint ausgelöscht. Ich schiebe die Bilder und Berichte über das Seebeben zur Seite, weil sie unerträglich sind. In den nächsten Tagen dreht sich überall das Gespräch um Menschenmassen, die unermessliches Leid erleben.
Und Gott? Er ist so fremd, eigensinnig, undurchschaubar, unverfügbar, furchterregend. All die Sicherheit, die ich mir mühsam erglaubt habe, wankt. Und doch ist Gott manchmal so real, dass es mich schaudert.
Ich bin mürrisch, weil zwar Weihnachten geschafft ist (?!), aber Jans Geburtstag und Silvester noch vor uns liegen, wir dazwischen das Haus auf Vordermann bringen müssen, Werner nur wenige Tage Urlaub hat, Inventur ansteht im Buchladen und ich bald für drei Tage nach Cuxhaven zu einem Netzwerktreffen von Autoren reisen werde. Wann ist Luft zum Durchatmen angesagt?
24000 Menschen sind in Asien innerhalb einer Stunde an diesem Seebeben mit Flutwelle gestorben. Ich habe keine Worte.
Als ich an Silvester ein kleines, gut gemeintes privates Gebet zum Himmel schicken will, spüre ich meine lähmenden Glaubenszweifel.
Jan wird zum ersten Mal mit dem Jugendkreis der Gemeinde feiern. Ich mache mir Gedanken, ob er den Abend gut über die Runden bringen wird, und möchte ihn Gott anbefehlen. Habe ich doch immer wieder den Eindruck, dass Gott auch das Alltägliche unseres Lebens interessiert.
Da merke ich, dass ich gar nicht glauben kann, dass Gott sich für Jans seelisches Befinden interessiert. 120000 Flutopfer in Asien – was ist eine Silvesterfeier auf Gottes Prioritätenliste angesichts dieser Katastrophe? Wie viele Mütter mögen in den Stunden des Grauens zu Gott geschrien haben, dass er sie und ihre Kinder rette – und sind dennoch zu Schaden gekommen?
Nimmt Gott Anteil daran, wie Jan sich fühlt auf seiner ersten Silvesterparty unter lauter Jugendlichen, während wir zum ersten Mal seit achtzehn Jahren Silvester kinderfrei verbringen? Interessiert Gott das?
Keine Ahnung. Gott wird Wichtigeres zu tun haben, als dafür zu sorgen, dass Jan zurechtkommt in einer christlichen Veranstaltung in einem behüteten Wohlstandsland. Alte Zweifel neu aufgewärmt. Manchmal bleibt mir nur das Wort »Herr, wohin sollen wir gehen, nur du hast Worte ewigen Lebens!«.
Resigniert merke ich, dass ich nicht mehr vertrauen kann beim Beten. Mein verzagtes Gebet lautet ungefähr so: »Herr: Jan! HERR: ASIEN!!« Ich bekomme Angst, dass mein Glaube mir wegrutscht. Ich weiß, dass Gott mir fremd wird, wenn ich nicht mehr bete und seine Nähe suche. Glaube und Unglaube liegen bei mir nah zusammen.
Manchmal finde ich Gott unheimlich einfühlsam, manchmal erscheint er mir so willkürlich. 120000 Menschen hat er nicht vor dem Tod durch Ertrinken gerettet, warum sollte er auf mein Gebetlein reagieren, dass Jan glücklich sein möge?
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Ich weiß, dass es jederzeit losgehen kann, aber ich habe den Eindruck, Werner und ich streiten seltener. Irgendetwas hat sich geändert.
Manchmal, wenn sich mein Widerspruchsgeist regt, entscheide ich mich, auf eine Diskussion zu verzichten. Weil es nicht lohnt, recht zu bekommen, weil man sich Recht nicht erstreiten kann, weil es mir nicht mehr so wichtig ist. Vielleicht geht es Werner ebenso. Vielleicht sind manche Kanten inzwischen abgeschliffen?