Sellawie - So ist das Leben - Bianka Bleier - E-Book

Sellawie - So ist das Leben E-Book

Bianka Bleier

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Beschreibung

So ist das Leben: geprägt von Höhen und Tiefen, vom Loslassen und Finden, von Abschieden und neuen Träumen. In ihrem neuesten Tagebuch erzählt Bianka Bleier berührend ehrlich von einer Zeit voller Umbrüche und Neuanfänge. Die Kinder sind aus dem Haus, ihr Mann Werner und sie müssen sich als Paar neu erfinden und beschließen, einen Lebenstraum Wirklichkeit werden zu lassen: Das Ladencafé Sellawie ist zunächst nur eine wagemutige Idee. Wie daraus Stück für Stück Realität wird, ist nicht nur spannend zu lesen, sondern beflügelt auch eigene Träume. mit 16-seitigem Bildteil und Leseband

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Seitenzahl: 430

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BIANKA BLEIER

Sellawie So ist das Leben

Vom Loslassen, Aufbrechen und neuen Lebensträumen

TAGEBUCH

SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-7751-7538-8 (E-Book)

ISBN 978-3-7751-6014-8 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck

© 2021 SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbH

Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen

Internet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: [email protected]

Die Bibelverse wurden folgenden Ausgaben entnommen:

Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart (LUT)

Gute Nachricht Bibel, revidierte Fassung, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 2000 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart. (GNB)

Hoffnung für alle ® Copyright © 1983, 1996, 2002, 2015 by Biblica, Inc.®. Verwendet mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers

Fontis – Brunnen Basel (HFA)

Bibeltext der Neuen Genfer Übersetzung – Neues Testament und Psalmen

Copyright © 2011 Genfer Bibelgesellschaft

Wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung.

Alle Rechte vorbehalten. (NGÜ)

Lektorat: Rebecca Schneebeli

Umschlaggestaltung: Sybille Koschera, Stuttgart

Titelbild: Fotografie Nakischa Scheibe

Bildteil: © Bianka Bleier, privat

Autorenfoto: © Nakischa Scheibe

Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach

Inhaltsverzeichnis

Über die Autorin

Vorwort

Das Jahr 2009

Das Jahr 2010

Das Jahr 2011

Das Jahr 2012

Bildteil

Das Jahr 2013

Anmerkungen und Zitate

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Über die Autorin

BIANKA BLEIER (Jg. 1962) ist Autorin zahlreicher Bücher, Kalender und Zeitschriftenbeiträge. Die dreifache Mutter und gelernte Bibliothekarin lebt und wirkt in Forst/Baden, wo sie das Event-Laden-Café Sellawie gegründet hat.

www.sellawie.de

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Vorwort

Je älter ich werde, umso mehr erfahre ich vom Lauf des Lebens. Meine Kindheit liegt Jahrzehnte zurück, unsere eigenen Kinder sind erwachsen und unabhängig und die Eltern, die immer da waren, werden gebrechlich. Immer wenn ich denke: »So ist das Leben!«, zeigt mir das Leben, dass es im Wandel ist. Diese Tagebuchauszüge beschreiben einige einschneidende Änderungen.

Bei der Gründung unseres Laden-Cafes Sellawie waren viele Menschen beteiligt. Nicht alle werden in diesem Buch erwähnt. Dennoch bin ich ihnen von Herzen dankbar für eine außergewöhnliche, schöne, gemeinsame Lebenszeit, die wir miteinander teilen durften.

Ich danke allen, die mein Leben über die verschiedenen Zeiträume mitverfolgt haben! Danke für Euer Interesse, Eure Verbundenheit und Eure Rückmeldungen per Post und E-Mail. Ihr habt mich ermutigt, am Schreiben dranzubleiben!

Herzlich, Bianka Bleier

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Das Jahr 2009

3. Januar 2009

Anna und Lena sind immer noch in Australien. Ich vermisse die beiden manchmal doch ziemlich. Aber ich habe schöne Kontakte, mal ein langes Telefonat, mal witzige Mails, mal eine SMS. Die Telefongespräche sind das Beste. Erst höre ich eine Weile nichts von ihnen und dann wieder berichten sie komprimiert, wie das Leben weitergegangen ist mit Entwicklungen, von denen ich hier nichts mitbekomme. Das ist eine neue Muttererfahrung. Sie lernen Dinge, die sie daheim nicht lernen könnten. Es geschieht viel Beziehungsarbeit zwischen den Geschwistern, mit ihren Partnern – und mit Gott. Und Pause von Beziehungsarbeit mit ihren Eltern …

Liebe Maman,

danke für all die guten Worte und Ermutigungen. Es hat gutgetan, über meine Sorgen zu reden. Im Endeffekt machen sie mich nur nervös und bringen gar nichts. Und es hat sehr gutgetan, eure Stimmen zu hören, mit dir zu reden, euch teilhaben zu lassen, zu erfahren, was daheim so geht.

Ich habe manchmal Angst, ich rede zu viel, ich hab immer so viel, was ich dir erzählen möchte, will aber gleichzeitig immer alles auch wissen …

Danke für deine ganzen E-Mails, ich lese jede einzelne mit Freude!

Ich hab dich so lieb!

Deine Lena

Liebe Lena,

mach dir keine Gedanken, wir haben eine Stunde fünfzig Minuten lang telefoniert und ich bereue keine einzige davon. Ich koste sie aus, die Minuten, staune über deine Entwicklungen, Gedanken, Erlebnisse, finde mich wieder, entdecke Eigenes an dir, sehe das kleine Mädchen aus der Vergangenheit, entdecke die junge Frau in dir, es ist so spannend und schön.

Aber andersherum gilt auch: Falls ich dich überschwemme mit Ratschlägen, darfst du das Stoppschild hochhalten!

Ich hab dich so lieb, heute vermisse ich dich wieder arg.

Deine Bianka

Mutti hat zu Weihnachten einen »Klapptopp« geschenkt bekommen, wie Vati ihn nennt. Er soll ihr helfen, ihre Sehnsucht nach ihren Enkelinnen zu stillen, die sie unendlich vermisst. Sie ist gespannt und hoch konzentriert, mein Vater sehr aufgeregt. Ich habe ihr Fotos von uns und den Kindern aufgespielt, darüber ist sie schon mal sehr glücklich. Nun übt sie tapfer das Schreiben in Word. Ganz nebenbei haben wir beide für unseren Austausch eine neue Plattform gefunden. Ich bin gespannt, was sich daraus entwickelt.

4. Januar 2009

Ich habe geträumt, dass meine Krebserkrankung zurück ist, dieses Mal unheilbar, mir blieb mit Chemo noch eine Lebenserwartung bis Ostern, weitere Aussicht: Siechtum und Tod durch Ersticken. Mein Arzt war so schockiert, dass er aus Versehen eine Vase zerbrochen hat. Das hat mir meine letzte Sicherheit geraubt.

Ein naher Freund von uns ist unheilbar an Krebs erkrankt. Ich habe im Traum Günters Gefühle geahnt. Wie furchtbar, dieses Ausgeliefertsein! Woher nur die Kraft nehmen, daran zu glauben, dass man nicht der Krankheit ausgeliefert ist, sondern Gottes guten Händen?

9. Januar 2009

Jan ist allgegenwärtig und füllt die Lücke, die Anna und Lena hinterlassen haben, zu hundert Prozent. Er kann sich miserabel selbst beschäftigen, hat kaum Kontakte in seiner Freizeit, ein Dilemma, das schon immer in den Ferien auftrat, durch Anna und Lena aber abgemildert wurde. Wenn man ihn lässt, guckt er fern und isst. Das macht mir immer ein schlechtes Gewissen.

Aber heute ist er auf einem Fußballturnier der Lebenshilfe, Halleluja! In acht Monaten wird für uns und Jan noch einmal ein richtiger Umbruch geschehen. Dann beginnt seine Zeit im Berufsbildungswerk, sein Leben im Internat. Wir sehnen uns nach erfüllender Gemeinschaft mit Freunden, nach neuen Eindrücken, Unabhängigkeit von den Kindern, wenn sie denn schon eigene Wege gehen.

Oft bin ich einfach traurig. Werner meint: »Ist ja auch kein Wunder! Zwei wichtige Menschen sind aus unserem Leben verschwunden und sie fehlen sehr!«

Diese Übereinstimmung tut mir tausendmal besser als sein anfänglich abgeklärtes Rationalisieren. Gemeinsames Heimweh ist eine stimmige Ausgangsbasis für eine neue Lebensphase, macht Werner weich, menschlich, nahbar.

11. Januar 2009

Hallöchen meine Liebsten!

Ich sitz hier gerade in einem Bonzenhaus am Strand. Wir waren in der Baptist Church in Kiama, der Gottesdienst war der Hammer!

Wir sind sofort ganz freundlich begrüßt worden und nach sieben Minuten Liedersingen, die wir zum Teil gekannt haben, gab es eine Pause, in der wir Kaffee, Tee und Gebäck angeboten bekamen. Danach hat ein junger Mann gepredigt, es war sein erstes Mal. Er war nach fünfzehn Minuten fertig, selbst sehr überrascht.

Nach der Predigt hat uns ein Mädchen angesprochen und gesagt, dass ihr Vater ein Deutschlandfan sei und uns gerne zu sich über Nacht einladen würde. Jetzt sind wir hier, haben Pizza spendiert bekommen und ein echtes Bad. Es sind so nette Christen hier!

Ich hab euch sehr lieb!!!

Eure Anna

Was für ein schönes Lebenszeichen! Warme Gastfreundschaft, ein Stück Geborgenheit, ein gut gefüllter Magen und ein echtes Bad, kombiniert mit ihrem ersten Gottesdienst in Australien, welche Freundlichkeit von Gott!

Als Anna und Lena noch zu Hause wohnten, hatte ich immer teil an ihrer Leichtigkeit. Wenn ein guter Freund ums Überleben kämpft und die Bedrohung des Todes den Alltag überschattet, hat es die Leichtigkeit nicht mehr so leicht. Wenn ich Fotos von meinen Töchtern betrachte, wie sie am anderen Ende der Welt über Traumstrände hüpfen und ihr Leben so grenzenlos scheint, muss ich aufpassen, dass sich neben all dem Gönnen, Mitfreuen und Vermissen nicht Neid einschleicht.

Vielleicht ist diese Form von Leichtigkeit ein Privileg der Jugend. Andererseits fällt mir heute vieles leichter, was ich mir früher mühsam erkämpfen musste. Und die Zeit, als alles noch offen war, als so vieles gewählt und entschieden werden musste, war sie wirklich leichter? Und als die Kinder ausgetragen, geboren und aufgezogen werden mussten, war das leicht, die Nächte, die Krankheiten, die Schmerzen, die Sorgen? Und wie viel Ehearbeit haben wir schon geleistet, wie viel Erziehungsarbeit …

Eigentlich ist mein Leben jetzt viel leichter mit dem Nachlassen von Verantwortung und Fürsorge. Ich muss lediglich noch das bisschen Loslassen lernen und da sind dann noch die alt werdenden Eltern. Älterwerden ist zugleich Vorrecht und Herausforderung für Charakter und Glaube. Wenn es darauf ankommt, zeigt sich, wie tief unser Vertrauen gegründet ist.

13. Januar 2009

Werner war lange bei seinen Eltern. Er ist erschüttert. Sie waren sehr offen und ehrlich und haben auch übers Scheitern gesprochen. Sie wirken lebensmüde, schuldbeladen und ratlos. Sein Vater kämpft mit Suizidgedanken. Je älter er wird, umso mehr kommen die Traumata, die ihn während des Krieges geprägt haben, an die Oberfläche. Er beschäftigt sich unglaublich intensiv mit den Folgen des Krieges. Bis heute leidet er darunter, dass sein Vater desertierte und von der SS gestellt, seinem Leben selbst ein Ende setzte. Welch grausame Lebensbilanz! Ich bin so dankbar für die Gnade einer geborgenen Kindheit. Kein Krieg, kein Hunger, liebevolle Eltern, die uns Heimat, Werte und Rückendeckung gaben. Was schieflief, wiegt immer weniger in der Gesamtsumme. Bis heute bieten sie mir Annahme und Familie.

Werner fragt mich, ob ich gewappnet sei, dass meine Eltern irgendwann in vielleicht gar nicht langer Zeit sterben könnten. Das bin ich nicht!! Meine Eltern sind für mich unsterblich! Er meint nüchtern: »Wenn es schlecht läuft, stirbt dein Vater am Mittwoch.«

Darauf bin ich in keinster Weise gefasst.

Ich hatte Vati zu einem Routinetermin in die Gefäßchirurgie begleitet. Erst hat er sich geziert, dann bedankt. Geteiltes Leid war halbes Leid, es war so schon schwer genug für ihn. Bisher ging es ihm ganz gut. Er hatte den Arzt eigentlich nur aufgesucht, um zu fragen, ob er das lästige Blutverdünnungsmedikament absetzen dürfe. Zack landete er im MRT und kam mit einer OP-Empfehlung zurück, schockiert über die Aussage des Arztes, dass er keine Wahl habe. Seine rechte Halsschlagader ist verschlossen, die linke zu achtzig Prozent auch. Der Eingriff, der einen zu erwartenden Schlaganfall verhindern soll, könnte genauso einen Schlaganfall hervorrufen, ein Paradox, das man in Kauf nimmt, um die Wahrscheinlichkeit zu halbieren.

So nah wie heute waren wir uns ewig nicht mehr. Trotz der ungewohnten Nähe gibt es kein unangenehmes Schweigen. Er erklärt mir, wo er sein Geld angelegt hat. Es ist wie ein Vermächtnis. Ich schiebe jedes Gefühl weit weg, baue eine Mauer aus Watte um mich, versuche, ihm zu helfen.

Später sagt er im gleichen beiläufigen Ton: »Ich will verbrannt werden.«

Der Satz schwebt durch den Krankenhauskorridor, zusammenhanglos, bedeutungsschwer.

»Mutti will ein Grab. Ich nicht. Seht zu, wie ihr das Problem löst. Ich will das Theater nicht mit den Blumen.«

Abends geht Werner mit Jan Fußball spielen. Werner hat eine Gruppe für integratives Fußball im Rahmen der Gemeinde gegründet. Er erzählt, dass ein junger Mann, motorisch topfit, geistig jedoch leicht behindert, fragte: »Können wir heute eine Gedenkminute für meine Oma halten? Heute wäre sie 103 Jahre alt geworden.«

Werner unterdrückte ein Lachen und wiegelte ab: »Nein, das können wir nicht machen, es hat sie hier keiner gekannt. Wenn sie mitgekickt hätte, wäre das etwas anderes.«

Das sieht Michael ein, fragt aber, ob Werner etwas dagegen habe, wenn er in Trauerflor spiele, er habe eine schwarze Stoffbinde dabei. Werner liebt den Umgang mit Menschen mit Behinderung.

15. Januar 2009

Anna und Lena rufen an, wollen alles über Opa wissen, reden lange über Gott, den Himmel, das Sterben, Familie, Zukunftsgedanken. Ich bin dankbar für so viel Nähe und Ehrlichkeit.

Anna sagt: »Ich vermisse euch manchmal so arg, dass ich nur noch heimwill. Es ist eine sehr tolle Zeit hier, ich möchte aber nicht, dass ihr denkt, ihr müsstet das nicht so Schöne von uns fernhalten. Ich möchte wissen, wie es euch daheim geht. Ich liebe euch doch!«

Durch die Entfernung kommen wir uns näher. Nähe durch Distanz, noch so ein Paradox. Jetzt brauchen sie sich nicht mehr so angestrengt abzunabeln. Wir denken täglich an die beiden, manchmal stündlich, oft wehmütig seufzend und immer voller Staunen, Liebe und Dankbarkeit.

17. Januar 2009

Wenn jemand zu mir zu Besuch kommt, denke ich immer an das Chaos im Haus, den Dreck da und dort, an Geschirr, das nicht zusammenpasst, an Gläser, die dreckig aus der Spülmaschine kommen, und an diese und jene Unbequemlichkeit bei uns.

Bei meinen kreativen Freundinnen sieht es immer aus wie in einem Lifestylemagazin. Dort sitze ich still und gucke. Farbe und Form stimmen bis ins letzte Detail. Alles ist wie aus einem Guss. Claudia hat in einer Truhe für jede Jahreszeit andere Vorhänge, Kissen und Decken und verzaubert ihr Heim damit immer wieder neu.

Mein Trick ist, dass ich unser Haus zwei Jahre lang derart entrümpelt habe, dass ich es schaffe, mit überschaubarem Aufwand zwei Zimmer des Erdgeschosses besuchbar zu halten. Was ich einmal dekoriert habe, bleibt für immer. Nicht sehr originell, aber es funktioniert. Am liebsten sind mir die Abendgäste, weil man da nicht sieht, wenn Fenster und Gläser nicht glänzen. Die gucken begeistert in unser Feuer und schwelgen, wie gemütlich es bei uns sei.

Oder es ist Sommer, sie bleiben gleich draußen und ich muss nur darauf achten, dass die Sitzecke im Garten aufgeräumt ist. Leider bin ich keine Gourmetköchin, die locker eben mal dies und jenes aus dem Ärmel schüttelt. Das löse ich so, dass es immer Flammkuchen in Variationen gibt, wenn Gäste kommen. Das weiß ja keiner vom anderen … Ich halte mich an zwei Sprüche, die in meiner Küche auf einer Wandtafel stehen und die mir helfen, entspannt Gastfreundschaft zu leben:

Gastfreundschaft besteht aus ein wenig Wärme, ein wenig Nahrung und großer Ruhe.

Ralph Waldo Emerson

Gastfreundschaft ist in erster Linie Ausdruck von Lebensfreude.

Andreas Schlamm1

Im Geiste füge ich noch Werners oft zitierten Satz hinzu: »Mach dir nicht so einen Stress! Wir haben doch alle drei bis sieben Kilo Übergewicht! Die Leute kommen doch nicht wegen des Essens, die kommen wegen uns!«

Ulrike schrieb neulich nach einem Besuch bei uns: »Ich bin immer gern bei dir, weil die Atmosphäre gut ist und ich in euren Räumen und im Garten das Gefühl habe, dass dort echte Menschen leben. Das sieht nicht einfach nur schön aus, sondern das ist ein Zuhause.«

18. Januar 2009

Werner fragt, ob ich noch zu meinem Vater fahren möchte. Eigentlich war das nicht mein Plan. Er fragt: »Falls dein Vater morgen sterben würde, kannst du dann damit umgehen, dass du heute nicht mehr bei ihm warst?«

Er hat so eine krasse Art, hilfreiche Fragen zu stellen. Plötzlich weiß ich, dass ich auf jeden Fall noch zu ihm möchte. Werner fährt mich nach Heidelberg. Vati hat ein Notbett in einem Vierbettzimmer mit Männern hinter Sauerstoffmasken. Als wir ankommen, telefoniert er gerade mit Mutti: »Ich dich auch, ganz doll!« Er trägt den Schlafanzug, den ich ihm zum Geburtstag geschenkt habe. Und er freut sich wie ein Schneekönig, dass wir gekommen sind. Vati ist noch nie operiert worden, er ist der Mann, der bisher bei jeder Spritze spektakulär in Ohnmacht gefallen ist. Jetzt muss er eine schwerwiegende Operation ohne Narkose durchstehen. Er tut mir so leid.

Auf der Heimfahrt haben wir einen Unfall auf der Autobahn mit großer Engelsbewahrung. Aus dem Dunkel heraus taucht plötzlich ein riesiger Lkw-Reifen auf, der auf uns zurollt. Werner hat keine Chance auszuweichen. Er macht eine Vollbremsung, hinter uns ist zum Glück niemand, es entsteht kein Auffahrunfall. Der Reifen rast unter unserem Auto durch und springt auf die gegenüberliegende Fahrseite, auch dort kein Unfall. Nichts Schlimmes geschieht!

Werner scannt beim Vorbeifahren die Lastwagen, entdeckt und verfolgt geistesgegenwärtig den Lkw, von dem der Reifen stammt, und drängt ihn mit unserem Pkw in eine Parkbucht. Der Lkw-Fahrer verlässt tatsächlich die Autobahn und hält an. Was habe ich nur für einen Cowboy als Mann! Ich bin komplett verblüfft über seine unverfrorene Aktion. Werner ruft blitzschnell die Polizei an, die unverzüglich kommt und die Autobahn absperrt. Derweil sitze ich die ganze Zeit wie gelähmt im Auto, sehe den Reifen auf mich zudonnern und denke: Wir sind unversehrt! Danke, Gott, danke!!!

Wenn das der Gott ist, der auf meinen Vater aufpasst, kann alles gut gehen …

19. Januar 2009

Der Vater meiner Freundin Doro ist vor vier Wochen gestorben. Sie freut sich, dass er zehn Tage vorher zum ersten Mal zu ihrer Lesung gekommen ist.

Er hat sie getätschelt und gesagt: »Es war gut. Es war alles gut, Doro!« Ohne es zu wissen, war das sein Vermächtnis an seine Tochter. »Alles ist gut und alles an dir ist gut« – das ist es, was wir von unseren Vätern hören wollen.

Ich besuche Mutti, bringe ihr neue Bilder für ihren PC von den Australiern. Sie ist tapfer und ahnungslos. Vati verschont ihre Nerven mit Einzelheiten. Lieber trägt er seine Ängste allein. Ein anderes Partnerschaftsmodell. Es fällt mir schwer, dabei mitzumachen, aber er fordert es ein.

Große Angespanntheit bis zum erlösenden Anruf aus dem Wachraum. Die Operation ist gut verlaufen! SMS an Anna und Lena, die auf der anderen Seite der Erde beten, was das Zeug hält.

»Gott sei Dank! Halleluja! Mann, bin ich froh!« – Lena

»Du glaubst gar nicht, wie dankbar ich bin! Muss jetzt eine Lobeshymne starten! Sag dem Patient ganz liebe Grüße, wir lieben ihn.« – Anna

Abends rufe ich ihn an. Er hat die stundenlange, belastende Wach-OP heldenhaft überstanden.

»Es war schwer, ja. Ich war ein guter Patient, bin sehr gelobt worden.«

Ich habe so viel Liebe zu ihm wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Was für ein zutiefst menschliches Phänomen, die Tragweite zu begreifen, was man an jemandem hat, wenn man in Gefahr steht, ihn zu verlieren …

Über den Bildschirm meines Laptops laufen im Hintergrund Familienfotos im Zufallsmodus. Anna in Australien, Anna mit einem Jahr in meinem Nachthemd, Anna mit ihrem Freund im Café, Anna mit ihrem Prinzessinnenkleid tanzend auf dem Küchentisch. Manchmal muss ich mir klarmachen, dass es sich hier nicht um zwei verschiedene Menschen handelt. Anna und Tobias bei ihrer Hochzeit, Anna mit ihrer Katze, die es seit fünfzehn Jahren nicht mehr gibt, Anna, die schreiben lernt, Anna im Standesamt, die unterschreibt, Anna in Australien, die auf ein Schild geschrieben hat: »Du bist der beste Bruder der Welt« …

Sabrina schreibt mir:

Guten Morgen, liebe Bianka,

heute steht in meinem Kalender »Der Herr ist mein Hirte«.

Er führt dich, Bianka!

Deine Sabrina

Das ist Vatis Konfirmationsspruch, der einzige Vers, den er aus der Bibel kennt!

Mutti erbarmt mich auch so. Ich hoffe so sehr, dass Vati heil nach Hause kommt und ihr Leben weitergehen darf, wie sie es noch können und lieben.

21. Januar 2009

Ich fahre mit Mutti zu Vati ins Krankenhaus. Ich bringe ihm einen Sack voll australischer Grüße mit. Wenn keine Nachblutungen kommen, sich nichts entzündet und er keine Embolie bekommt, darf er bald nach Hause. Mutti ist getrost, sie weiß von keiner Gefahr. Mir geht es auch gut, weil ich das Gefühl habe, die Gefahr ist überstanden.

Ich bin so viel mehr im Einklang mit den beiden als in den vergangenen Jahren. Ich bin dankbar, dass es Vati so gut geht. Er hat sich wirklich tapfer geschlagen und Schweres ausgehalten. Ich bewundere ihn.

Heute scheint der Text unter der Tageslosung für mich zu gelten: »Wie sich ein guter Vater treu zu seinen Kindern hält, so kümmerst du dich täglich neu um uns und unsere Welt« (Detlev Block).

Wenn das die Definition eines guten Vaters ist, dann, verstehe ich und schließe meinen Frieden damit, habe ich einen! Mein Vater ist zwar schrullig, manchmal seltsam unverständlich, so ganz anders als ich und kennt und versteht mich oft nicht, aber er hält treu zu mir.

22. Januar 2009

Entgegen meines ostpreußischen Pflichtbewusstseins habe ich mir heute Abend erlaubt, nicht zur Gemeindeversammlung zu gehen. Fünf vor acht verkündet Werner, dass er heute daheimbleiben wird. Ohne Erklärung. Einfach so. Ach, denke ich, das darf man aber nicht! Dann verkündet Jan, dass er 38,2 Temperatur hat. Meine Motivation schwindet gegen null. Null Lust, allein dort zu sitzen wegen Themen, die mir zur Genüge bekannt sind – Gemeindebau, Mitgliedschaft in der FeG, Jugendreferent. Mein Pflichtgefühl treibt mich an. Werner geht für Jan eine Flasche tröstliches Cola kaufen. Ich überlege, warum ich hingehen würde. Um ein Signal zu setzen.

Werner: »Wir sind doch wandelnde Signale! Signal hier, Signal da, ich habe keine Lust mehr, ein Signal zu sein. Ich will leben!«

Ich schiebe die Steuerpapiere zur Seite. Darunter taucht ein Plakat von Astrid Lindgren auf: »Es gibt kein Verbot für alte Weiber, auf Bäume zu klettern!«

Ich bin weit davon entfernt. Ich gehe durch meine Tage, Signale sendend, Beziehungen pflegend, Pflichten erfüllend, Aufgaben erledigend. »Und dann muss man ja auch noch Zeit haben, einfach dazusitzen und zu schauen« (Astrid Lindgren).

Das Kind in mir verkümmert gerade. Ich will, dass ein neues Zeitalter anbricht. Ich will nicht mehr lieb sein müssen. Ich will nicht immer stark sein müssen. Ich bleibe daheim, sortierte Fotos, lese Gedichte und lasse mich von meinem Liebsten massieren. Der einfach das Bayern-München-Spiel mit seinem Sohn ansieht.

Anna und Lena leben bei einem verpeilten Farmer, der Reisende gegen Kost und Logis aufnimmt und sie für sich arbeiten lässt. Anna schreibt über ein community meeting der Dorfgemeinschaft, wozu jeder etwas zu essen mitbringt: »Kängurufleisch schmeckt sehr gut, es ist mit keinem Fleisch zu vergleichen. War der Hammer heut Abend, lauter Hippies. Wir haben getrommelt und Saxofon gespielt und Tobias Klavier, genial! Aber auch mystisch, wir haben uns im Kreis an den Händen gefasst, ein großes Om an das Universum geschickt und für den Segen, die Freunde und das Essen gedankt. Keine Ahnung, wem.«

Rund um den Erdball die gleiche Sehnsucht von Menschen nach Sinn, Zugehörigkeit, Verbundenheit und Frieden. Wir schreiben uns nun jeden Morgen SMS, das reicht für den ganzen Tag. Bei Anna ist dann Abend und sie hat immer etwas zu erzählen.

Ich habe gute Gespräche mit Mutti, die gerade viel durchmacht. Sie hat eine seltene Autoimmunerkrankung und nimmt dauerhaft Kortison gegen die Schwellungen im Mund, die nicht mehr weggehen. Sie braucht ständig Augentropfen für ihre brennenden, trockenen Augen; Nasenspray, weil ihre Nase ständig zugeht; Schmerzmittel gegen ihre Arthroseschmerzen. Ihr Gesicht ist ganz aufgedunsen, sie tut mir so leid.

Jetzt hat sie auch noch Knieschmerzen und kann mal wieder kaum gehen. Um zu ihrer Ärztin zu laufen, muss sie sich an ihrem Fahrrad festhalten. Ihre Füße sind pelzig, der Rücken schmerzt seit ihrem zweifachen Bandscheibenvorfall. Unglaublich, wie tapfer sie ist. Jeder Tag ist eine Tortur für sie. Was war sie für eine stolze, schöne Frau!

Ich hole einen glücklichen Vater von der Klinik ab. Er hat den Eingriff sehr gut überstanden. Er erzählt wiederholt, dass es schwer war. Aber er hat die fremde, lebensbedrohliche Situation heldenhaft und klaglos gemeistert, er hat sich einfach hineingefügt, ich bin schwer beeindruckt.

24. Januar 2009

Schockierende Nachricht von Lena:

Heute hat mich Gott so sehr beschützt, das war der Wahnsinn.

Ich habe mich beim Surfen total überschätzt. Wir waren in Wellen, die dreimal so hoch waren wie wir. Als wir gemerkt haben, dass wir keine Chance haben, haben wir alle versucht, an Land zu gelangen. Mich hat eine Welle so erwischt und immer wieder auf den Meeresgrund gerissen, dass ich die Orientierung verloren habe.

Mein Surfbrett ist auf mich geknallt. Ich hatte Panik wie noch nie in meinem Leben. Es war so schlimm, in den Augen von Johannes stand das blanke Entsetzen. Er konnte mir nicht helfen, weil er genauso kämpfen musste. Ich hatte solche Angst unter Wasser, war überhaupt nicht mehr Herr der Lage. Gott hat uns so bewahrt, irgendwie sind wir alle an Land gekommen.

Ich habe ein Schleudertrauma, mein Rücken tut so weh, drei Zähne sind abgeschlagen, mein Kiefer ist geprellt, aber das ist alles nichts im Vergleich zu dem, was hätte passieren können. Wir sind fertig mit den Nerven.

Mir ist erst jetzt bewusst geworden, wie gewaltig Wasser sein kann. Solche Wellen habe ich noch nie gesehen. Ich habe vom Surfen erst mal genug.

Mir bleibt die Luft weg beim Lesen. Sie sind jung, fühlen sich unbesiegbar und unterschätzen die Gefahren. Sie sind auf der anderen Seite der Erde und unser Arm reicht nicht mehr aus, sie zu beschützen. Ich kann sie nur noch in hilflosem Vertrauen Gott hinhalten.

28. Januar 2009

Es ist zu süß, wie Mutti am Computer sitzt, herausgefordert und gefesselt! Sie begreift erstaunlich schnell. Anna und Lena haben prompt reagiert auf ihre ersten Mails, an denen sie tagelang geschrieben hat. Sie war überglücklich. Es tut sich eine ganz neue Welt für sie auf. Anna hat ihr eine sehr warmherzige Mail geschrieben. Mutti hat gestaunt, wie schön sie sich ausdrückt. Sie hat ganz viele liebevolle Worte geerntet, mehr als Anna mündlich je ausgesprochen hat. Zwischen Mutti und mir wächst auch etwas Neues oder Altvertrautes.

Hallo Anna, mein Herz,

gestern bin ich fast geplatzt vor Stolz. Ich habe es geschafft, Deinen Brief auf meinen Bildschirm zu bekommen. Vielen Dank für die prommte Rückantwort. Opa und ich haben uns sehr gefreut. Erlässt euch Beide herzlich grüßen und Danke sagen für all Eüre Gebete und Führsorge.

Ich habe von Bianka gehört, dass Ihr in grosser Gefahr wahrt bei eurem Wassersport´. Wir machen uns Sorgen um Euch. Ich darf mir gar nicht vorstellen, was da alles hätte pasieren können. Wasser ist eine Elementare Kraft, eines der 5 Elemente, seid bitte vorsichtig auch wenn es sehr viel Spass macht.

In der Nacht habe ich von Dir geträumt. Du hast mich besucht, hallo Oma, was machst Du.´ Ich stricke dir einen weissen Pullover´mit Perlmuster. Oh wie schön, sagtes Du und hast mich angelächelt., dann bin ich aufgewacht.

Ich wünsche Euch einen schönen Tag mit Johannes der ja hhheute Geburtstag hat. Ist der Kuchen was geworden` bon Appetito und einen schönen Tag zusammen.

Opa hat sich über deinen Anruf sehr gefreut. Ich glaube, das war das Ütipfelchen für seine Seele. Wir wünschen euch von Herzen eine gute Zeit und schöne Erlebnise die ihr ein Lebenlang nicht vergessen werdet.

Liebe Anna, wie Du siehst, übe ich fleissig. Manchmal ist alles verschwunden was ich mühsam geshrieben habe. Wer hätte gedacht, dass ich auf meine alten Tage noch mal anfange so was zu lernen.

Schreiben geht nun schon ganz gut. Auch wenn sich manchmal Tipfehler einschleichen und ich weiss noch nicht, wie ich sie entfernen kann.

Doch so pö a pö werde ich es lernen. Also habt Gedult mit eurer alten Oma.

Morgen melde ich mich wieder in der Hoffnung. dass ich wieder alles zum Laufen bekomme. Er will nämlich nicht immer so wie ich.

Ihr seid in meinem Herzen, Oma

Hallo Oma,

wow, ich bin begeistert! Und sehr stolz auf dich, ich hab doch tatsächlich eine E-Mail von dir bekommen!

Wir denken die letzten Tage ununterbrochen an euch. Wir haben sehr dafür gebetet, dass alles gut ist, und sind so dankbar, dass es Opa immer besser geht. Ich hab ganz arg mit ihm mitgefühlt, Krankenhaus ist immer sehr anstrengend für die Seele! Wisst ihr, dass ich euch sehr liebe?!

Es ist kaum vorzustellen, dass auf der anderen Seite der Welt jetzt Winter ist. Ich vermisse ihn aber, vor allem weil viele von so tollem Schnee wie schon lange nicht mehr erzählen.

So langsam bin ich mit meiner Seele nachgekommen, ich bin wesentlich entspannter, es ist wirklich ein großes Abenteuer, das wir hier erleben.

Die Natur ist traumhaft schön hier, es würde dir ganz bestimmt gefallen. Ich freue mich über jede Nachricht von euch!

In Liebe,

eure Anna

Lena, mein Herz

´´wie geht es Dir?

Ich sitze jeden Tag an diesem Apparat und übe. Eines schönen Tages ist es soweit, dass ich ihn beherrsche und nicht er mich. Manchmal klaut er mir alles, was ich mühsam geschrieben habe. Es ist einfach weg. Jan ist mir eine grosse Stütze: mit viel Geduld bringt Er wieder alles zum Laufen, wenn ich nicht mehr weiter weis.

Gestern waren wir auf seinem Fest in der Gemeinde .Er war so glücklich, hat sogar eine kleine Rede gehalten. (Ich freue mich dass ihr alle gekommen seid: DANKE)

Werner hat eine kleine Ansprache für seinen Sohn Jan gehalten wunderschön. Dann war Bianka an der Reihe, Sie haben das beide so schön gemacht, ich war den Tränen nahe. Schade, dass Ihr nicht dabei wart. Es währe perfekt gewesen.

Juhu, die Oma schreibt!

Hallo liebe Oma,

ich bin sehr sehr, sehr stolz auf dich, dass du gelernt hast, an einem Computer zu schreiben. Und es freut mich total, dass wir uns jetzt so einfach schreiben können …

Wie geht es dir? Deiner Seele? Wie geht es Opa?

Uns gehts ganz gut, sind momentan bei einem Bauern zu Hause und da werde ich auch meinen Geburtstag feiern, ist schon komisch so weit von zu Hause weg …

Ich war echt traurig, nicht bei Jans Feier zu sein. Es war so schade, grade wir, die ihn seit achtzehn Jahren begleiten und lieben, wären gerne da gewesen. Aber ich hab gehört, das Fest war auch so wunderbar …

Ich habe dich sehr lieb, Oma,

deine Lena

29. Januar 2009

Liebe Mamici,

es ist wirklich wahnsinnig schön hier, ich genieße es sehr und wollte es auf gar keinen Fall vermissen. Man lernt die Welt kennen und gleichzeitig sein Zuhause so sehr zu schätzen!

Tobias und ich genießen unsere Zeit zu zweit sehr. Heute war ich mit Tobias am Mystery Bay, wir sind von einer einsamen kleinen Bucht über Felsen und Meer zu der nächsten gelaufen, wir haben sogar Pinguine gesehen, einfach unglaublich traumhaft!

Ich habe das Gefühl, dass ich Gott noch nie so nah war und ich noch nie so gemerkt habe, wie ich ihn brauche und er uns beschützt.

Ich liebe euch wahnsinnig arg und vermiss euch und bin ein bisschen wehmütig, was ich alles nicht mitbekomme, ganz besonders arg bei Jan!

Mir kommen die Tränen, wenn ich das lese. Ist das nicht das Loslassen allemal wert, dass sie das erleben dürfen? Das sind Erfahrungen, die sie nie und nimmer daheim unter unseren Fittichen gemacht hätten …

Auf eine Art finde ich den Austausch mit Anna und Lena tiefer, intensiver und kontinuierlicher als mit Schicht arbeitenden, Ehe probenden, prüfungsgeschädigten Töchtern. Sie füttern mich mit Fotos von Traumwelten, ich google ihnen hinterher. Ich habe noch nie so viele schöne Strände gesehen, so eine atemberaubende Artenvielfalt von Tieren. Damit habe ich nicht gerechnet, dass ich aus der Reise meiner Töchter so viel Gewinn ziehen würde. Ich erlebe einen Teil der Welt durch sie, auf den ich nie gestoßen wäre. Ich bekomme Zeichen von Nähe, die erst durch den Abstand hervorgerufen werden.

Ich habe einen neuen Zugang zu meinen Eltern gefunden seit Vatis Krankheit und Muttis Schreibleidenschaft. Unsere Begegnungen sind irgendwie entspannter und freier, was dazu führt, dass ich sie regelmäßiger besuche. Der Kontakt zu ihnen strengt mich nicht mehr an. Nach so vielen Jahren, in denen ich mich schwertat, mich auf sie einzulassen, ist das für mich ein Wunder.

Ich denke oft nach über die beiden und über meine Herkunft, meine Kindheit, meine Zeit der Abnabelung. Vor vielem habe ich heute Hochachtung: Dass sie sich nicht in unser Leben eingemischt haben, obwohl wir nur eine Straße voneinander entfernt wohnen. Weder in unsere Erziehung noch in unseren Lebensstil. Sie haben uns einfach gelassen. Sie haben uns nur selten besucht, aber sie waren immer für uns da, und das war so selbstverständlich, dass ich es gar nicht gemerkt habe.

Erst jetzt, als ich dachte, dass Vati sterben könnte, wurde mir bewusst, wie sehr sie mein Netz und doppelter Boden sind. Sie sind die Menschen, die schon immer da waren in meinem Leben, die mich ersehnt und gemocht haben vom ersten Augenblick an. Unersetzlich!

Ich habe großen Respekt davor, wie wenig sie über die Mühsal des Altwerdens klagen. Besorgt nehme ich die Änderungen in ihrem Gesundheitszustand wahr, aber ich spüre keine Angst bei ihnen. Vielleicht ist das die größte Lektion, die sie mich noch lehren können. Ich entdecke immer mehr, worin sie mich geprägt haben: in meiner Reiselust, meiner Freude an Gastfreundschaft. Inzwischen glaube ich sogar, dass ich die Lust am Schreiben von Mutti habe, jedenfalls am Lesen. Von Vati wohl die Ungeduld … Muttis Eifer und Lernfreude im Umgang mit dem PC zu erleben ist ein Lehrstück für Lernen aus Leidenschaft.

Jan kommt vom Fußballspielen heim, packt seinen Rucksack aus und sieht aus wie ein Fragezeichen. Er findet nur ein Hörgerät. Ruhig sucht er systematisch alles ab. Dann denkt er nach. Es könnte im Umkleideraum liegen. Die Halle könnte noch offen sein, da der Putzdienst gerade gekommen war. Wir fahren hin. Unterwegs fasst er nach meiner Hand. Das hat er noch nie gemacht. Er wischt sich eine Träne aus dem Auge. Wir finden nichts.

Er denkt weiter nach. »Vielleicht ist es beim Auspacken im Bett zwischen die Kissen gefallen.«

Wie unauffällig er sich mittlerweile ausdrücken kann! Er sucht vergeblich. Mist, diese Hörgeräte kosten ein Vermögen. Ich gebe innerlich auf. Nicht so Jan.

Plötzlich hat er einen letzten Geistesblitz: »Vielleicht ist es auf die Straße gefallen, als ich meinen Schlüssel herausgeholt habe.«

Und tatsächlich, da liegt es, vor dem Hoftor. Wir sind zweimal darübergestiegen. Große Freude! Und dieser Junge wurde für geistig behindert gehalten!

Werner: »Jan, was willst du mal werden? Jetzt gehst du erst mal nach Winnenden und dann wirst du Papst.«

Ich: »Jan, kannst du Papst werden?«

Jan: »NEIN!«

Ich: »Warum nicht?«

Jan: »Weil ich Hörgeräte habe.«

7. Februar 2009

Hallo Lenchen;

Da bin ich wieder. ich weiss nicht, ob dich meine E-Mail erreicht hat, oder ob Sie zwischen Raum und Zeit verloren ging, oder vielleicht bei Ebbe und Flut? Eigentlich war ich damit noch gar nicht fertig. Lerne fleissig, bis das alles in meinem Kopf gespeichert ist, wie in einem Komputer.

T’ja man ist eben keine 20 zig mehr. So dauert es etwas länger. Der Schreibteufel treibt auch so seinen Schabernack mit mir.

Opa geht es weiterhin gut. Super nach dem, was er mitgemact hat. Ich bin froh meinen Schluri wiederzuhaben. Er hat mir sehr gefehlt in den paar Tagen. Jan sagt, hast Du gespeichert? Keine Ahnung, O mann.

Sehr warscheinlich ist es so wie ich vermute, das Biest verschluckt alles und lacht mich aus.

Für heute alles Liebe, Grüsse an Alle

Schönes Wochenende Omi

Hallo Anna Schatz;

Ich habe gekämpft und verloren. Das kleine Biest hat heimtückisch zugeschlagen. Doch ich gebe nicht auf. Die zwei Briefe an euch beide sind weg, die Arbeit von zwei Stunden, mühsam, nur weil Ich wohl nicht aufgepasst habe. Nun ja so ist das Leben , (Sellawie).

Deine Post habe ich bekommen und mich sehr darüber gefreut. Es ist schön zu wissen, dass es Euch gut geht und Ihr eine schöne Zeit zusammen habt. Alles, was Ihr da erlebt, ist einmalig und es wird wohl nie wieder etwas vergleichbares in Eurem Leben geben. Ich bin sehr Stolz auf Euch, dass Ihr das so durchzieht. Irgendwann werdet Ihr sagen, weißt Du noch? Und das kann Euch keiner nehmen .

Über Kochstunden lässt sich gerne reden Anna. Ich freue mich dass du so interessiert bist und gebe gerne weiter, was ich mir angeeignet habe. So schliest sich der Greiss von Oma Anna über mich zu dir. Sie wird immer noch gelobt für Ihre Kochkunst. Etwas davon habe Ich mitbekommen und nun bist du in der nächsten Gennnnerration dabei. Man braucht dazu nur Muse, Gduld und Liebe. Das alles hast du in Dir.

Wie lange bleibt Ihr bei Eurem Grossgärtner? Wollt Ihr wieder Arbeit für Geld annehmen? Wohin geht dann die Reise, wo ist das Ziel Eurer Träume?

Viel Glück dabei.

Opa geht es soweit ganz gut. Er lässt Euch sagen, dass ER Euch lieb hat. Am Besten Ihr wärt Gestern schon da, als erst Mai oder August.

Wir vermissen und lieben Euch von Herzen.

Omi

Es geht doch nichts über die bedingungslose Liebe einer Großmutter! Während meine Töchter wortreiche Mails, die ihre Oma in tagelanger Kleinarbeit verfasst hat, erhalten, erreicht mich heute ein Einzeiler:

Hallo Bianka Hilfe Mutti ;;;;;;;

3. Februar 2009

Seit einem Jahr kämpft unser Freund Günter um sein Leben. Allmählich dämmert ihm und uns allen, die ihn lieben, dass er den Kampf gegen seine Tumorerkrankung verlieren wird. Es geht ihm sehr schlecht. Heute entscheiden die Ärzte, ob sie noch etwas für ihn tun können. Ich habe keine Hoffnung mehr. Claudia schreibt: »Ich mache mir wirklich Sorgen«, und das ist das Alarmierendste, was sie je geschrieben hat.

Günters Zustand verschlechtert sich seit Tagen dramatisch. Betrübt schleichen wir durch unsere Tage, entsetzt über seinen peinvollen Weg, die Endgültigkeit des Todes, unsere Ohnmacht. Wir haben keine Worte für unsere Traurigkeit. Günter zerfällt und wir stehen hilflos daneben mit nichts in der Hand als unserer Hoffnung auf die Ewigkeit. Unsere Gedanken wandern zurück zu gemeinsamen Stunden im Hauskreis, in der Gemeinde, auf dem Acker, in Urlauben, bei Feiern, beim gemeinsamen Sport und Arbeiten. Unsere Kinder sind zusammen aufgewachsen. So eine Freundschaft kann man nicht mehr so einfach aufbauen.

In Australien beten Anna und Lena ohne Unterlass für die Familie, können sich ein Leben in Deutschland ohne Günter überhaupt nicht vorstellen. Vorbei seine Geselligkeit, seine Herzlichkeit, sein Brummen, sein Geiz, seine Wanderlust, seine Freude an Kindern, an Jan. Vorbei. Sein sprichwörtliches Lachen ist verstummt.

4. Februar 2009

Werner vermisst seine Töchter sehr, aber daneben hat er auch viel gewonnen. Er erwartet, dass sie verändert zurückkommen, und sagt, auch er sei ein anderer. Er findet, dass auch ich mich abgenabelt habe, und erwartet, dass ich nicht mehr in Verteidigungshaltung gehen werde, wenn es Konflikte zwischen ihm und den Mädchen gibt. Wir sind sehr gespannt auf die Veränderungen, die wir erleben werden. Es ist schon etwas, wenn man jemanden ein ganzes Jahr lang nicht gesehen hat.

In jedem wachen Moment denke ich an Günter und wenn ich nicht an ihn denke, denkt meine Seele an ihn. 365 Tage in dem Bewusstsein zu leben, gegen eine todbringende Krankheit anzukämpfen – ich kann nur ahnen, was das heißt. Vor sechs Jahren stand ich selbst – wenn auch nur einige Monate lang – an diesem Abgrund und habe später lange Zeit nicht glauben können, dass es vorbei ist. Ich lebe! Ich kann es heute oft noch nicht fassen.

5. Februar 2009

Werner ist bei Claudia. Ich kann mich nur mit Mühe an ein Leben ohne Günter erinnern. Er gehört einfach dazu. Ich bin wie gelähmt. Günter stirbt. Ich kann die Traurigkeit kaum aushalten, die Fassungslosigkeit, das Mitgefühl, den Verlustschmerz. Ich habe ihn so gern, er ist ein Teil meines Lebens, mit ihm verliere ich ein Stück Heimat. Wenn ich an Claudia denke, packt mich das Entsetzen. Günter ist gehalten und hält sich an Gott. Am Ende seines Kampfes hat er keine Angst mehr. Er befiehlt sich Gott an und überlässt ihm das Ruder.

9. Februar 2009

Ich hisse die schwarze Flagge und trage sämtliche Trauerbänder, die ich finde. Günter stirbt und ich koche. Günter stirbt und ich pflanze Stiefmütterchen. Günter stirbt und ich atme ein und aus. Vielleicht wird im Himmel gerade der Festschmuck bereitet für seine Ankunft? Meine eigene Zerbrechlichkeit wird mir neu bewusst. Morgen für Morgen denke ich: Wieder ein Tag! Abends reihe ich ihn ein auf die Perlenkette meines Lebens, dankbar für meinen Alltag, in dem ich Halt und Geborgenheit erlebe. Günter stirbt und ich lebe.

10. Februar 2009

Wir besuchen Günter und Claudia in der Thoraxklinik. Es geht ihm sehr schlecht. Er schläft viel. Essen kann er nicht mehr. Atmen fällt ihm sehr schwer. Morphium lindert seine größte Not.

Werner sagt: »Günter, du bist ein ganz wertvoller Mensch, deshalb sind so viele jetzt ganz arg traurig.«

Ich sage: »Um dich waren immer Menschen, die gelacht haben. Wo du warst, war immer gute Stimmung.«

Claudia sagt: »Das stimmt. Vielleicht will Gott dich zu sich holen, weil er auch lachen will.«

Günter ist sehr traurig.

Ich sage: »Ein schwerer Weg ist das, den du gehst.«

Er sagt: »Das Loslassen halt, das ist schwer. Aber er bestimmt«, und zeigt Richtung Decke.

Nie im Leben werde ich diesen Moment vergessen. Wir sind zu ihm gegangen, um ihn zu stärken. Im Nachhinein sind wir die Gestärkten.

16. Februar 2009

Günter ist gestorben. Oh mein Gott! Die Welt hört auf, sich zu drehen. Die Zeit bleibt stehen. Seit achtzehn Jahren Freund und Bruder. Ich bin getrost, ihn jetzt bei Gott zu wissen, und unendlich traurig, weil mit ihm ein einzigartiger Mensch von uns gegangen ist, den wir sehr geliebt haben. Ich bin erleichtert, dass sein Leiden und Sterben ein Ende hat, emotional erschöpft. Ich hasse die Trennung durch den Tod, ich liebe die Hoffnung auf eine bessere Welt. Gott ist rätselhaft und wild, das Leben ein Mysterium.

Es ist ein Weltuntergang, weil die ganze Welt eines Menschen untergegangen ist. Ich wundere mich, dass in den Straßen das Leben weitergeht, als wäre nichts geschehen. Günter ist gestorben und ein Mann läuft mit Hausschuhen aus dem Haus, um die Zeitung zu holen …

Ich telefoniere mit der fassungslosen Lena. Ich sage: »Das Leben ist seltsam. Aufstehen, essen, arbeiten, trösten, helfen, Fehler machen, streiten, lieben, Zipperlein entwickeln, feststellen, dass manche nicht mehr verschwinden, schlafen gehen. Der Körper verbraucht sich. Wenn es gut läuft, reift der Charakter. Irgendwann steht man da mit einer Diagnose und fragt ernüchtert: Das war es jetzt? Dieses lapidare Leben, das vergeht, während man darauf wartet, dass etwas Großes geschieht – das war es jetzt?«

Lena antwortet: »Das Wesentliche in deinem Leben war der Moment, als du zum Königskind geworden bist.«

Das ist nun überhaupt kein lapidarer Moment …

Claudia sagt, es gab nie einen Zweifel an Günters Liebe. Jetzt ist er in der Herrlichkeit Gottes, es sei ihm gegönnt. Ein kleiner Neid klopft bei mir an. Ich habe keine Lust auf Krankheit und Not, auf Sterben und Tod, ich will auch ewiges Leben in Fülle und Gotteserkenntnis, ich will sehen und nicht mehr glauben müssen … Günters Weg macht mir Angst vor meinem eigenen. Ich will weder Werner verlieren noch selbst früh sterben noch alt und hinfällig werden. Ich hoffe auf die Entrückung.

Es ist ein Irrtum zu glauben, dass man noch beliebig oft einen Sonnenuntergang sehen kann. Irgendwann wird es der letzte sein. Ich habe einen guten Freund verloren. Davon hat man nicht beliebig viele. Er hat sein Leben gut gemeistert. Sein Sterben auch. Er hat auf Heilung gehofft, bis es keine Hoffnung mehr gab, und sich dann hineingeschickt.

Günter ist gestorben. Näher ist mir der Tod noch nie gekommen. Es ist eine Katastrophe und gleichzeitig habe ich erlebt, wie konkret Günters schlichter Glaube gehalten hat, wie real der Friede war, den Gott ihm geschenkt hat.

18. Februar 2009

Das Geschirr kommt verkalkt aus dem Geschirrspüler. Der Wasserhahn klemmt. Ich zerre und tobe.

Werner fragt: »Was ist denn los?«

Ich weine: »Günter ist tot!«

Bruchstückhaft dringt die unbegreifliche Wahrheit in meine Seele. Ich habe mich immer wohl- und angenommen gefühlt in seiner gutmütigen, wohlwollenden Nähe. Er hat gelacht wie Oma, nur tiefer. Sein schlichter, klarer Glaube war ein Gegenpol zu meinem suchenden, fragenden. Was ist das für ein absurdes Leben, wo Freunde einfach wegsterben?

19. Februar 2009

Es ist wohl normal und legitim, dass Zweifel kommen, gerade angesichts solcher Extremsituationen, wo man am liebsten kündigen würde. Oma war tiefgläubig und hat an ihrem Lebensende dennoch manchmal verzagt gesagt: »Es ist halt noch keiner zurückgekommen und hat erzählt …«

Wir leben von Glaube, Hoffnung und Liebe. Die Liebe hat Ewigkeitswert. Was wir an Liebe investieren, wird nie verloren gehen. Einmal, wenn wir im Himmel sind, brauchen wir keinen Glauben und keine Hoffnung mehr, dann werden wir sehen. Die Liebe aber bleibt.

20. Februar 2009

Günters Weg rüttelt mich ordentlich durch und lässt mich erneut alle Prioritäten überprüfen. Mir ist neu bewusst geworden, wie wertvoll es ist, eine Gemeinde zu haben, die sich so hinter eine Familie stellt. Jeden Tag bringt jemand eine stärkende Mahlzeit. Claudia hat einen Keim Hoffnung im Herzen, dass es mit diesen Menschen zusammen irgendwie gehen könnte.

Ich bin neu dankbar dafür, in dieser Gemeinschaft von zerbrechlichen, kantigen, liebenswerten Menschen zu leben. Mir fehlt Günter jetzt schon. Am meisten werden sich die Menschen an sein Lachen erinnern. In seiner Gegenwart ging es einem einfach gut. Ich bin dankbar für viele gemeinsame Jahre und sehr traurig, ohne ihn den Rest bestehen zu müssen.

26. Februar 2009

Werner ermutigt mich. Günters Geschichte macht ihm keine Angst, selbst zu erkranken oder mich früh zu verlieren. Es mahnt ihn, sein Heute dankbar entgegenzunehmen, zu gestalten, Menschen zu helfen, wo und solange es ihm möglich ist. Er orientiert sich am Jetzt und an der nahen Zukunft. Sicher erlaubt Gott uns, dass wir Pläne schmieden, auch langfristige, aber er will auch damit rechnen, dass er zu weit geplant hat und Gott andere Gedanken hatte.

Wenn er heute die Diagnose erhalten würde, nur noch ein Jahr leben zu dürfen, würde ihn das ganz sicher aus der Bahn werfen, weil er sich immer noch irgendwie für unsterblich hält, aber dann müsse er eben lernen, damit umzugehen. Jedenfalls wolle er sich nicht durch solche Ängste die Freude am Jetzt nehmen lassen.

Meine Tränen fließen. Das Kind in mir weint, weil es Angst hat, verlassen zu werden, und dann geschieht es auch noch ständig. Mein Verstand weiß schon, dass alles in Ordnung ist, zumindest teilweise, dass Günter nun erlöst ist von seinen Leiden und bei Gott. Ja, wir werden uns wiedersehen und das Hier ist erst der Vorhof zum Tempel.

Ja, es ist in Ordnung, dass die Mädchen selbstständig geworden sind und ihr eigenes Leben leben, aber in mir drin herrscht doch auch Traurigkeit und Wehmut darüber, dass sie es nicht mehr mit mir teilen, meine Fürsorge nicht mehr brauchen und ich sie nicht mehr sehen, spüren, hören und riechen kann. Dass ich auch noch ständig körperliche Beschwerden habe, ist in keiner Weise in Ordnung. Ich warte immer noch darauf, dass ich wieder unversehrt sein werde, aber es geschieht nicht. Ich habe Arthrose in den Knien und das spüre ich beim Sitzen, Gehen und Stehen. Es raubt mir einen Teil meiner Lebensfreude und Unbekümmertheit.

Ich weiß, dass viele Menschen weitaus Schlimmeres durchstehen und ich keinen Anspruch auf nichts habe. Nur scheint das das kleine Mädchen in mir nicht zu wissen, das fröhlich durch sein Leben springen will wie Lena über die Traumstrände in Australien. Und ja, es stimmt, was wir auf Günters Beerdigung gesungen haben, Gott ist ein Anker im Fluss der Zeit und ich wollte all das nicht ohne ihn durchstehen.

28. Februar 2009

Ich sollte nicht so lange allein sein. Werner und Jan machen seit Stunden im Wald Holz für Claudia. Ich bin gesundheitlich angeschlagen, putze schweißgebadet das Haus. Früher habe ich das mit den Mädchen zusammen gemacht. Ich koche und esse allein. Ich kaue und blicke leer auf die Tulpen, die ich mir geschenkt habe. Eine Trauerwelle überschwemmt mich.

Ich fühle mich so gealtert. Wo ist meine Lebensfreude, mein Elan geblieben? Werden sie je zurückkehren? Ich bin nicht zu Hause in mir. Werner und Jan kommen, nur um mir mitzuteilen, dass sie gleich wieder gehen. Meine mühsam aufrechterhaltene Moral fällt in sich zusammen. Heute möchte ich nicht allein sein, ist das zu viel verlangt vom Leben?

Im Großen und Ganzen habe ich mich ja schon tapfer arrangiert mit meinem schmäler gewordenen Alltag. Unser Haus wird immer schöner, nur sieht es keiner mehr. Mein Weltenschmerz wird unterbrochen durch stimmungsaufhellende SMS von Down Under. Bei Anna ist schon März, während bei mir noch Februar ist. Sie geht schlafen, kurz nachdem ich aufgestanden bin. Lena erzählt, dass Werner ihr eine wunderschöne lange Mail geschrieben hat, worin er ihr erzählt, wie schön es mit mir sei, wie viele gemeinsame Nenner wir haben, wie viel wir zusammen unternehmen und gute Gespräche führen, so könne Liebe auf ewig ausgerichtet sein. Ich freue mich.

1. März 2009

Mein Seelsorger hat mir ein Buch geliehen: Howard Halpern: »Festhalten und Loslassen«. Es geht darum, was geschieht, wenn das innere Kind der Mutter und das innere Kind des erwachsen werdenden Kindes aufeinanderprallen. Also um den emotionalen und den reifen Prozess bei dem Vorgang, sich voneinander zu lösen. Mir gehen reihenweise Kronleuchter auf beim Lesen. Endlich erklärt mir jemand die Psychologie des erwachsen werdenden Kindes. Es ist ein hilfreicher Augenöffner, mich in die Lage von Anna und Lena zu versetzen. Plötzlich erinnere ich mich an meine eigene Zerrissenheit bei der Loslösung von meinen Eltern:

Auf der einen Seite stehen das Bedürfnis nach deiner Liebe, deiner Anteilnahme, deiner Zustimmung, deiner Fähigkeit zu geben sowie der Wunsch, sich deine Person als sichere Ausgangsbasis zu erhalten. Zu dieser Abhängigkeit gehört die Angst davor, deine Fürsorge und deine Verfügbarkeit zu verlieren. Und auf der anderen Seite stehen die Gefühle, die unsere Kinder zur Unabhängigkeit drängen, Autonomie erlangen, ihre Kräfte und Fähigkeiten erproben und entwickeln, sich frei bewegen, ihr eigenes Leben schaffen.2

Halperns Gedanken stärken mein angeschlagenes Selbstbewusstsein, dass es zwischen meinen Töchtern und mir ein Band gibt, das uns untrennbar verbindet, und dass ich eine Rolle in ihrem Leben habe, die für sie wertvoll ist und bleibt, auch über zeitliche und räumliche Trennungen und Abnabelungsprozesse hinweg. Ich könnte weinen vor Glück und Erleichterung über diesen wohltuenden Zuspruch:

Es gibt eine gegenseitige Zuneigung, die ihren Ursprung in zahllosen Interaktionen hat, in bewussten und vergessenen Erinnerungen, in Grundbedürfnissen und tiefen Gefühlen, die bis in die Tage zurückreichen, in denen sie eins mit uns waren. Wir sind ihre Wurzel und mit dieser lebensfähigen Wurzel werden sie sich stets weniger allein, weniger bruchstückhaft und weniger verletzbar fühlen. Und sie sind unsere Schösslinge und Zweige, unsere Verbindung zu allem, was folgt. Es ist eine Verbindung, die mit ihren Ursprüngen, Tiefen und gemeinsamen Erlebnissen mit keiner anderen vergleichbar ist.3

Was für eine kraftvolle Wahrheit! Indem ich sie lese, wird sie mir augenblicklich zur unverlierbaren Erkenntnis. Eine Passage erinnert mich an das bedrohliche, inakzeptable Gefühl des Verlassenwerdens kurz vor der Abreise meiner Töchter. Während eines Beratungsgesprächs stellte mein Seelsorger mithilfe einiger kleiner Holzfiguren unsere Situation dar. Als ich so konkret vor Augen gestellt sah, wie sich meine Töchter von mir abwandten und von mir wegstrebten, merkte ich, wie falsch sich das für mich anfühlte, obwohl ich doch alles richtig finden sollte:

Das Bedürfnis der Mutter nach häufigem, warmem und engagiertem Kontakt steht im Gegensatz zum Wunsch des Kindes nach mehr Abstand und weniger Gebundenheit. Ihr inneres Kind spricht: Ist dir nicht klar, dass du eine Erweiterung meiner selbst bist? Dass ich es nicht aushalten kann, wenn du von mir fortgehst und ein Leben führst, das dich von mir trennt? Ich fühle mich dann so abgestellt und verlassen. Es gibt mir das Gefühl, du liebtest mich nicht mehr. Und das tut furchtbar weh und macht mich zornig.4

Ich fühle mich in der Tiefe meiner Seele verstanden. Meine Gefühle sind legitim. Hoffnung keimt in mir auf. Es hat mich vor den Kindern gegeben und ich war vollständig. Ich werde auch nach der vollzogenen Abnabelung vollständig sein. Ich fühle, dass ich vorankomme und dass ich es schaffen kann. Die Lektüre hilft mir sowohl im Verhältnis zu meinen Eltern als auch zu meinen Kindern:

Das Wesentliche ist deine eigene Wandlung. Deine Energie und dein Denken kreisen nicht mehr um dein Kind und du bist dadurch frei, die selbstständige Person zu werden, als die du geboren wurdest, lange bevor dein Kind auf die Welt kam.5

Der Autor beschreibt, dass sowohl Mutter als auch Kind Hilfe benötigen – die Mutter bei ihrem Bedürfnis, sich an das Kind zu klammern, und das Kind bei seinem Kampf mit Ängsten, die jede Trennung begleiten. Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Es ist, als würde mir jemand einen Schlüssel in die Hand geben. Auf einmal sehe ich nicht mehr nur noch mich in der sich verändernden Familienkonstellation, sondern kann neben der Rolle meiner Töchter plötzlich auch Werners Rolle wahrnehmen und verstehen:

Hier ist es die Aufgabe des Vaters, das Kind bei der Hand zu nehmen und mit ihm in die große Welt hinauszuschlendern, ihm ihre Freuden und verwirrenden Reize zu zeigen, ihm beizubringen, mit den Gefahren fertigzuwerden und ihm Vertrauen und Mut einzuflößen, sich nach dort draußen zu begeben. Und ein wirklich guter Vater wird sich auch um das kleine Kind in der Mutter kümmern, das vielleicht während der Trennung betrübt ist und sich bedroht fühlt.6