Bis in alle Endlichkeit - James Kestrel - E-Book

Bis in alle Endlichkeit E-Book

James Kestrel

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Beschreibung

»Was wie ein düsterer und rasanter Detektivroman beginnt, entwickelt sich zu etwas weitaus Unheimlicherem und Fesselnderem.« Peter Swanson

Als eine junge Frau tot aufgefunden wird, in einem feinen Cocktailkleid, auf dem Dach eines Rolls-Royce liegend, im gefährlichsten Viertel von San Francisco, gehen Polizei und Gerichtsmedizin von Selbstmord aus. Doch die Mutter der Toten, die megareiche Olivia Gravesend, glaubt ihnen kein Wort und beauftragt Privatdetektiv Lee Crowe mit den Ermittlungen. Bei seinen Recherchen kommt er einer Verschwörung auf die Spur, bei der die Beteiligten vor nichts zurückschrecken …

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Seitenzahl: 496

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Cover

Titel

James Kestrel

Bis in alle Endlichkeit

Thriller

Aus dem amerikanischen Englisch von Stefan Lux

Herausgegeben von Thomas Wörtche

Suhrkamp

Impressum

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Die Wiedergabe von Gestaltungselementen, Farbigkeit sowie von Trennungen und Seitenumbrüchen ist abhängig vom jeweiligen Lesegerät und kann vom Verlag nicht beeinflusst werden.

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage des suhrkamp taschenbuchs 5435.

Deutsche Erstausgabe© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024© 2019 by Jonathan Moore

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Umschlagfotos: Stephen Mulcahey/Arcangel (Frau), Mark Zeng/Getty Images (San Francisco), Andrew Merry/Getty Images (Felsen)

eISBN 978-3-518-78082-4

www.suhrkamp.de

Widmung

Für meine Tochter, Sally Mahina Moore Wang

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

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Danksagungen

Informationen zum Buch

Bis in alle Endlichkeit

1

Als ich Claire Gravesend das erste Mal sah, war sie schon tot. Wenn auch nicht lange. Sie lag vor den Refugio Apartments auf der Turk Street, noch warm und mit Farbe auf den Wangen. Mit zwei Fingern betastete ich die linke Seite ihrer Kehle, um mir das ohnehin Offensichtliche zu bestätigen. Die 9-1-1 zu wählen, kam nicht infrage. Das Letzte, was ich in diesem Moment gebrauchen konnte, war ein Gespräch mit der Polizei. Außerdem hätte die Tote sowieso nichts mehr davon gehabt.

Ich sah, wie sich das Wasser in ihren offenen Augen sammelte. Falls es noch einen Teil in ihr gab, der sehen konnte, schaute sie aus einem Ozean herauf, dessen Oberfläche für sie unerreichbar war. Sie hatte ihren letzten Atemzug getan, sank hinab und nahm alles mit sich, was sie je gekannt hatte.

Claire Gravesend.

Natürlich kannte ich ihren Namen noch nicht. Ich konnte nicht ahnen, wie sie mein Leben verändern würde. Es hätte eine flüchtige Begegnung sein können. Ein bedauerlicher Anblick auf einer Straße im Tenderloin, wo Unglücksfälle an der Tagesordnung waren. Stattdessen nahm ich meine Kamera zur Hand, was mich endgültig in die Geschichte hineinzog. Von Angesicht zu Angesicht sah ich Claire Gravesend in diesen wenigen Minuten, danach nur noch auf Fotos. Momente aus ihrem Leben, Hinweise. Die Spuren waren verstreut wie Glasscherben.

Im Rückblick hätte es mich nicht überraschen dürfen, dass die Begegnung nicht das Ende war. Sobald man einen Menschen wie Claire Gravesend auch nur streift, bleiben Spuren zurück. Entweder setzt man die Dinge selbst in Bewegung, oder sie entwickeln ihr Eigenleben. Und wenn sie erst ins Rollen kommen, sind sie nicht mehr aufzuhalten. Ein ewiger Kreislauf, der sich stetig erneuert.

Ich werde dieses Bild von Ewigkeit einfach nicht los. Vielleicht rede ich auch von Schicksal – von der Vorstellung, dass der Name und der Lebensweg eines Menschen schon vor dem ersten Funken des Urknalls in Stein gemeißelt sind. Dass man ewig leben könnte, ohne von dem Pfad, der einem vorherbestimmt wurde, abweichen zu können.

Aber dieser Eindruck ist nur eine Folge dessen, was später passiert ist.

2

Lassen Sie mich kurz ein paar Dinge erklären.

In jenem Sommer hatte ich fünf Wochen lang im Westchester gewohnt, einem schäbigen Hotel im fauligen Herzen des Tenderloin. Ich bin nicht wohlhabend, aber in einem solchen Viertel muss ich zum Glück nicht leben. In dem Hotel war ich aus beruflichen Gründen gelandet. Ich arbeitete an einem Fall, also hatte ich den kompletten Juni zwischen einer Prostituierten in Altersteilzeit und einem überzeugten Junkie gewohnt. Das Bad am Ende des Flurs teilten wir uns. Weil das Gebäude dünne Wände hatte, teilten wir auch alle möglichen Geräusche. Äußerlich betrachtet hatten wir unsere Gemeinsamkeiten: Wir alle hatten unsere Gründe, den Rezeptionisten zu meiden; wir gaben kein unnötiges Geld für die Wäscherei aus; der Nachtschicht-Verkäufer im nahe gelegenen Schnapsladen hätte uns bei jeder Gegenüberstellung herauspicken können. Aber im Gegensatz zu mir hatten meine Nachbarn wohl kaum ihre Bodendielen aufgehebelt, um Mikrofone und winzige Kameras an den Decken der eine Etage tiefer wohnenden Gäste anzubringen. Sie verbrachten die Nächte nicht damit, geflüsterten Gesprächen zu lauschen und Codenamen in ein Notizbuch zu schreiben. Dazu waren meine Nachbarn zu ehrlich.

Der Aufzug im Westchester war außer Betrieb, der Schacht voller Müll: Spritzen und Schnapsflaschen, Windeln für Erwachsene und Kartons von Meals on Wheels. Das Treppenhaus war unbeleuchtet, aber benutzbar. Die Treppe endete vor einer schmiedeeisernen Pforte, die auf die Turk Street hinausführte. Morgens vor Sonnenaufgang ging ich regelmäßig nach unten und spazierte mehrere Blocks weit, um festzustellen, ob ich verfolgt wurde. Wenn ich mich vergewissert hatte, dass ich allein war – Sie würden sich wundern, wie allein man im Tenderloin um diese Uhrzeit sein kann –, ging ich ins Civic Center, wo ich ein aus zwei Räumen bestehendes Büro habe, ganz in der Nähe des Gerichtsgebäudes. Gerichte ziehen die Art Menschen an, die für meine Dienstleistungen zahlen.

Während dieser fünf Wochen hatte ich allerdings nur einen einzigen Klienten gehabt. Ich berechnete ihm vierundzwanzig Stunden am Tag. Frühmorgens ging ich ins Büro und sah die Post durch. Ich hörte meinen Anrufbeantworter ab und bezahlte die Rechnungen, schließlich ging mein Leben weiter. Dann rief ich den Mann an, dem ich meine Rechnungen schickte und der meine Schecks unterschrieb. Bevor es hell wurde, schlich ich mich auf meinen Lauschposten im Westchester zurück.

Genau das hatte ich auch am ersten Dienstag im Juni vor. Ich trat durch die Pforte hinaus und checkte die an der Turk parkenden Autos. Vor allem achtete ich auf Lieferwagen ohne Fenster. Sie sind relativ leicht zu entdecken: Außen ist Joe’s Plumbing aufgemalt, aber drinnen sitzt ein halbes Dutzend Agenten von FBI oder DEA vor irgendwelchen Video-Monitoren und spricht in Funkgeräte. Falls an diesem Morgen welche dort waren, bemerkte ich sie nicht. Ich drehte eine Runde um den Block. Als ich sicher war, dass ich nicht verfolgt wurde, ging ich Richtung Westen, Richtung Van Ness Avenue, wo mein Büro lag.

Auf halber Strecke bemerkte ich das Auto. Es war auf dem Bürgersteig geparkt, direkt vor den Refugio Apartments. Nicht irgendein Auto, sondern ein Rolls-Royce Wraith. Er hatte offenbar kürzlich eine Wandlung von brandneu zu komplett zerstört durchgemacht. Bei einem Unfall, vermutete ich, und überquerte die Straße, um mir den Wagen gründlicher anzusehen. Je näher ich kam, desto deutlicher wurde, dass mein erster Gedanke nicht ganz zutraf. Weder vorn noch an den Seiten waren Spuren einer Kollision zu erkennen.

Der verchromte Kühlergrill und die rauchgraue Motorhaube waren in einwandfreiem Zustand. Das Dach allerdings war bis auf Höhe der vergoldeten Türgriffe eingedrückt. In dieser zerknautschten Delle lag eine makellose Blondine. Sie trug ein schwarzes, hauchdünnes Cocktailkleid, das im Licht der Straßenlaternen glänzte. Blut entdeckte ich nur an ihrem linken Fuß, offenbar war es an der Rückseite ihrer Wade bis auf die Ferse hinuntergelaufen. Ihre Hände waren auf dem Brustkorb gefaltet, die Augen offen. Die Haare fielen wie ein Fächer über das Dach des Wraith. An ihrem rechten Handgelenk hing eine Abendtasche. Ein Fuß war nackt – vielleicht hatte sie beim Aufprall einen Schuh verloren. Ihre Zehennägel waren weiß lackiert wie das Innere einer Muschel.

Ich schaute mich um. Auf der anderen Straßenseite, auf einem Bett aus plattgedrückten Kartons, lag ein Mann in einem wattierten schwarzen Overall. Er schlief oder war bewusstlos. Nach fünf Wochen auf der Turk Street konnte ich den Snowsuit Man je nach Windrichtung zwei Blocks weit riechen. Falls der Knall, mit dem die Frau auf dem Auto gelandet war, ihn geweckt hatte, hatte er ihn jedenfalls nicht daran gehindert, gleich wieder einzuschlafen. Außer ihm und mir war niemand in der Nähe, jedenfalls nicht hier unten auf der Straße. Ob irgendwer die Szene durch eins der dunklen Fenster beobachtete, ließ sich nicht sagen, ich versuchte erst gar nicht, es herauszufinden.

Stattdessen trat ich näher. Die Frau atmete nicht. Vorsichtig streckte ich die Hand aus und legte meine Finger unter ihr Kinn. Behutsam tastete ich nach der Halsschlagader. Die Frau war noch warm, aber ich spürte keinen Puls. Noch einmal schaute ich nach links und rechts, dann drehte ich mich zum Refugio um.

Vierzehn Stockwerke. Hundert Jahre altes Ziegelwerk mit Bögen und Säulen auf den beiden untersten Etagen. Oberhalb des Autos waren keine geöffneten Fenster zu erkennen, aber es gab breite Simse. Sie hätte auf eins hinausklettern und dann das Fenster zuziehen können. Oder sie war vom Dach gesprungen. Aber nichts davon erklärte es wirklich – ihre Lackledertasche, ihr transparentes Kleid und das irrsinnig teure Auto, auf dem sie gelandet war. Auf der Turk Street, direkt vor dem Refugio, ergab nichts davon irgendeinen Sinn. Vierzehn Stockwerke voll Bettwanzen und falschen Feueralarmen. Hier fuhren mitten in der Nacht Polizeiwagen vor, um häusliche Auseinandersetzungen zu schlichten oder Wohnungstüren einzutreten. Es war besser als das Westchester, aber nicht viel.

Ich trat zurück und hockte mich auf den Bürgersteig. Unter meinen Füßen knirschte das Glas der Windschutzscheibe, also kniete ich mich lieber nicht hin. Stattdessen stellte ich den Rucksack ab und öffnete ihn. Beim Verlassen meines Zimmers im Westchester hatte ich nichts herumliegen lassen. Die Überwachungskameras und Mikrofone waren versteckt, ein Teil der Aufnahmegeräte passte unter die Bodendielen. Aber meinen Laptop oder meine Kamera ließ ich grundsätzlich nie zurück. Also nahm ich die Nikon und stellte sie auf Nachtporträt ohne Blitz ein.

Ich hörte eine Sirene, aber das hatte im Tenderloin nichts zu bedeuten.

Ich stand auf und machte fünf Fotos der Selbstmord-Blondine auf ihrem Wraith-Totenbett. Dann trat ich zehn Schritte zurück, um eine Aufnahme von ihr mit dem Gebäude und der Straße zu machen. Fotografieren ist mein Beruf, könnte man sagen. Meistens bekommen nur meine Kunden die Bilder zu sehen. Aber wenn sich die Gelegenheit ergibt, bin ich mir nicht zu schade, ein Foto an den Chronicle oder jeden anderen zahlenden Abnehmer zu verkaufen. Seit der Scheidung und speziell meiner Rückkehr hierher schlage ich mich so gut wie möglich durch. Ich nehme, was ich kriegen kann. Und mit Fotos verdiene ich einiges, weil ich oft am richtigen Ort bin.

Als ich die Kamera herunternahm, sah ich den Mann. Er hatte sich auf dem Bürgersteig genähert und zog einen schwarzen Karren, auf dem silberne Kisten festgezurrt waren. Aber jetzt war er stehen geblieben, um schockiert und mit offenem Mund auf das Auto zu starren. Mir war nicht klar, ob er die junge Frau sehen konnte oder nicht. Es dauerte eine Weile, bis er mich überhaupt registrierte. Dann blickte er abschätzend zwischen mir, meiner Kamera und dem zerstörten Auto hin und her.

»Wer zum Teufel sind Sie?«

»Niemand«, sagte ich. »Ein Typ, der einen Spaziergang macht. Und Sie?«

Er antwortete nicht, trat aber näher. Unter seinen Laufschuhen knirschte Glas. Er trug eine Segeltuchhose und ein Flanellhemd. Darüber eine Weste mit zahllosen Taschen. Auf seiner Baseballkappe stand der Name einer Produktionsfirma, von der ich nie gehört hatte. Für einen Augenblick glaubte ich, in ein Filmset gestolpert zu sein. Aber es gab keine Scheinwerfer, keine weißen Trailer, keine Sägeböcke, mit denen Autos vom Parken abgehalten wurden. Auch die tote Frau war kein Requisit.

»Was ist passiert?«, fragte der Mann, als er endlich zu Atem gekommen war.

»Es sah schon so aus, als ich hier ankam«, sagte ich. »Ist das Ihr Auto?«

Er schüttelte den Kopf.

»Ich bin am Arsch. Ich bin komplett am Arsch.«

Er zog sein Handy aus der Tasche und fing an, auf dem Display zu scrollen. Vielleicht überlegte er, wen er als Erstes anrufen sollte.

»War sie mit Ihnen zusammen?«, fragte ich.

»Sie?«

Ich deutete mit dem Kopf auf den Wagen, der Mann kam noch näher. Er entdeckte die Frau und wandte sich schnell ab.

»O Gott.«

»Kennen Sie sie nicht?«

»Ich hab sie nie im Leben gesehen.«

Ich trat zur Seite, um den richtigen Bildausschnitt zu finden. Als ich den Kerl von der Filmproduktionsfirma mit der Frau und dem Auto im Sucher hatte, hob ich die Kamera und löste aus.

»Hey!«, sagte er. »Verdammt, was soll das?«

»Für die Zeitungen.«

Ich ging los. Er rief mir weder hinterher, noch folgte er mir. Am Ende des nächsten Blocks entdeckte ich einen geparkten Kastenwagen, auf dessen Seite der Name der Produktionsfirma stand. Auf der Ladefläche war ein junger Mann im Collegealter dabei, mit Hilfe einer Taschenlampe verschiedene Kisten mit Videoausrüstung zu durchsuchen. Wenn sie nur zu zweit mit dem geliehenen Wraith hier waren, musste es sich um einen Kleinstbetrieb handeln. Ich trat vom Bürgersteig hinunter und legte eine Hand ans Heck des Autos.

»Guten Morgen«, sagte ich, der junge Mann blickte endlich auf. »Wofür ist der teure Wagen gedacht?«

»Werbedreh«, sagte er. »Ein TV-Spot.«

Er wandte sich wieder seiner Ausrüstung zu. Sechs weiße Schirme hatte er bereits zur Seite gelegt, jetzt suchte er wahrscheinlich nach Stativen und einer Flashbox mit Fernauslöser. Er machte einfach seinen Job, als sähe er keinen inneren Widerspruch darin, in einer Gegend mit Sozialwohnungen Werbung für ein Auto zu machen, das eine halbe Million Dollar kostete. Wahrscheinlich würden sie auch nicht davor zurückschrecken, den Snowsuit Man von der anderen Straßenseite herüberzuzerren und ihn als Requisit zu nutzen.

»Vielleicht sollten Sie den Wagen abschließen und mal nach Ihrem Boss sehen«, sagte ich. »Er hat ein Problem.«

»Er hat … was?«

»Und nehmen Sie Ihr Handy mit, dann können Sie die 9-1-1 anrufen.«

Wieder blickte er auf. Ich fotografierte ihn, diesmal mit Blitz, damit ich sein Gesicht im dunklen Laderaum aufs Bild bekam. Als Zugabe machte ich gleich noch eine Aufnahme vom Nummernschild. Dann ging ich zurück zu meinem Büro.

In mein Büro gelangte man über eine Treppe zwischen einer Beratungsstelle für Kriegsveteranen und einer Kreditgenossenschaft. Am Portikus hatte ich ein kleines Schild aufgehängt.

AGENTUR LELAND CROWE PRIVATE ERMITTLUNGN

Ich ging die Treppe hoch und schob mit dem Fuß die Post vom Tag zuvor beiseite. Durch den Empfangsraum – der leer war, weil ich keine Sekretärin hatte – ging ich in mein Büro. Ich schob die Speicherkarte meiner Kamera in den Computer und brachte zehn Minuten damit zu, die Fotos zu sortieren und zu bearbeiten. Mein Kunde konnte einen Moment warten.

Die Selbstmord-Blondine war wunderschön, was auch für meine Aufnahmen galt.

Das Dach des Autos hatte ihren Flug aufgehalten und sie teilweise eingewickelt, wodurch Arme und Beine in einer natürlichen Position lagen. Weil sie nicht auf dem Bürgersteig ausgebreitet lag, wirkte sie nicht wie eine Leiche, sondern beinahe kunstvoll arrangiert. Eine Frau, die auf einem Bett aus Stahl schlief. Ich hatte verschiedene Belichtungszeiten und Perspektiven gewählt. Fotos, die das Blut an ihrem Fuß, das zersplitterte Glas und ihre Rundungen unter dem Kleid zur Geltung brachten und sich für den Fall, dass sie berühmt sein sollte, bestens in den Boulevardblättern machen würden. Für die seriöseren Zeitungen hatte ich Aufnahmen, die zwar die Szene einfingen, das Blut aber aussparten.

Ich griff zum Telefon und rief die Fotoredakteure an, mit denen ich zusammenarbeitete. Zum damaligen Zeitpunkt war ich nicht dringend auf zusätzliches Geld angewiesen. Dank meiner Sommerbeschäftigung im Westchester Hotel war ich vergleichsweise flüssig. Aber ein einziger knapper, hungriger Winter zieht lebenslange Gewohnheiten nach sich. Man lässt sich eine Chance nicht entgehen; man isst, was auf den Teller kommt.

Also rief ich die Redakteure an, beginnend mit denen, die das meiste Geld hatten. Und ich feilschte.

3

Eine Stunde später hatte ich einen vorformulierten Vertrag unterschrieben, gescannt und per E-Mail verschickt. Mein Foto würde um neun Uhr online sein und in drei Tagen in den Regalen der Lebensmittelläden. Das Just Now!-Magazin würde mir tausend Dollar zahlen, plus einen zweihundertprozentigen Aufschlag, falls es sich bei der Toten um eine »einflussreiche Persönlichkeit« handelte. Die sorgfältig formulierte Definition dieses Begriffs fand sich auf Seite drei des Vertrags und war höchstwahrscheinlich von einem Anwalt am Wilshire Boulevard aufgesetzt worden, der diese Aufgabe so selbstverständlich fand wie das Feilbieten eines Rolls-Royce vor der Kulisse eines heruntergekommenen Viertels. Darüber konnte ich spotten, so viel ich wollte, aber den Scheck würde ich natürlich einlösen.

Als das erledigt war, rief ich Jim Gardner an, den Strafverteidiger, der meine Arbeitszeit für den kompletten Sommer gebucht hatte. Er saß um zehn vor sieben bereits an seinem Schreibtisch und hob beim ersten Klingeln ab. Natürlich arbeitete er so früh schon, schließlich hatte gerade ein wichtiger Prozess begonnen, in dem die Aussage des Hauptzeugen der Anklage unmittelbar bevorstand.

»Guten Morgen«, sagte ich und kam seiner üblichen Begrüßung zuvor. »Perfektes Timing. Ich hab etwas.«

Einen Moment lang herrschte Stille. Wahrscheinlich überlegte er, welchen Ton er für den Fall anschlagen sollte, dass er vom FBI abgehört wurde. Was nicht ganz abwegig war. Jedenfalls nicht, wenn die Regierung eine ungefähre Vorstellung davon hatte, wofür Jim mich den Sommer über bezahlte.

»Rufen Sie dienstlich an, Mr Crowe?«

Wenn Jim Gardner im Prozessmodus war, klangen noch seine banalsten Fragen, als wären sie in Leder gebunden und bedeutungsvoll. Er hatte gestern sein Eröffnungsplädoyer gehalten, war also in Fahrt. Außerdem war ihm bewusst, dass er möglicherweise vor einem größeren Publikum sprach.

»Ja, Herr Anwalt«, sagte ich. »Dieser Anruf ist vertraulich und unterliegt der Schweigepflicht.«

»Das reicht mir nicht. Haben Sie schon Kaffee getrunken?«

Im dritten Stock des Westchester gab es einen Typen, der von seinem Zimmer aus Crack verkaufte. Er verpackte es in Kondome, die er beim API Wellness Center auf der Polk Street geschnorrt hatte. In meinem Hotel kam das noch am ehesten an einen Kaffee heran.

»Der Portier hat mir empfohlen, das Frühstück heute Morgen woanders einzunehmen.«

Ich legte auf. Ich musste nicht nach unserem Treffpunkt fragen. Der Ort stand längst fest.

»Gestern Abend hatten wir eine Besprechung in der Kanzlei«, sagte Jim. »Es lief nicht so, wie ich gehofft hatte.«

Wir saßen auf beiden Seiten eines Schreibtischs, der dem Geschäftsführer einer aufgegebenen Karosseriewerkstatt gehört hatte. Durch die von Spinnweben überzogenen Glaswände schaute man hinaus auf einen ölfleckigen Betonboden. Licht fiel nur durch ein Dachfenster herein. Dort oben lief eine Taube auf und ab. Tap tap tap, tap tap tap.

Jim hatte den Schlüssel zu diesem Laden, weil seine Kanzlei mit der Zwangsvollstreckung befasst gewesen war. Wir trafen uns hier so häufig, dass auch ich einen Schlüssel hatte.

»Nammar ruft heute Morgen als Erstes DeCanza in den Zeugenstand«, sagte Jim. »Er ist ein guter Ankläger, deshalb dachte ich, er würde ihn sich den ganzen Tag vorknöpfen. Aber er macht um drei Schluss.«

»Wirst du danach eine Vertagung beantragen?«

Jim fuhr sich durch die grauen Haare, die dazu neigten, sich zu kräuseln, sobald sie etwas länger wurden. Mit seiner tiefen Stimme, der schleppenden Sprechweise, den breiten Schultern und seinem schweren College-Ring konnte man ihn leicht für einen Football-Trainer halten.

»Die Richterin will ihren Zeitplan einhalten. Vielleicht will sie mir aber auch nur zeigen, wer der Boss ist. Ich kann sie nicht gut einschätzen. Wie auch immer, wenn Nammar fertig ist, muss ich mit dem Kreuzverhör anfangen. Keine Vertagung. Ich hoffe also, dass du wirklich etwas hast.«

Indem er um drei Schluss machte, zwang Nammar Jim dazu, sein Kreuzverhör auf zwei Prozesstage zu verteilen. Die Geschworenen würden zum Ende des Tages zwei Stunden zu hören bekommen, dann nach Hause gehen und alles vergessen. Jim würde die Nacht damit zubringen, sich zu fragen, ob er auf bestimmte Punkte noch einmal zurückkommen oder sie abschreiben und einfach weitermachen sollte. Für dieses Problem hatte ich eine Lösung.

»Nammar hat gestern Abend einen Besuch gemacht«, sagte ich. »Agent White hat ihn begleitet. Sie sind dreieinhalb Stunden bei DeCanza geblieben und haben ihn trainiert. Ihm gedroht. Ich habe Audio- und Video…«

»Das geht nicht. Ich will es nicht. Lösch es.«

»Okay.«

»Aber erzähl es mir auf jeden Fall.«

»DeCanza wird Lorcas Grab schaufeln.«

»Wer ist Lorca?«, fragte Jim. »Ich kenne keinen Lorca.«

»Wie du meinst.«

Mit ihm zu streiten hatte keinen Sinn. Jim hatte sich für dieses leerstehende Büro entschieden, weil es nicht verwanzt war und die Feds nichts von ihm wussten. Aber es gab rote Linien, die er nicht übertreten würde. Sein Klient hatte eine Story, und Jims Job bestand darin, sie zu verkaufen. Immer und überall.

»Erzähl mir von DeCanza«, sagte er.

»Er stand ziemlich weit oben. Nummer zwei in der Befehlskette. Er kannte Lorca – deinen Typ – nicht nur vom Telefon oder vom Hörensagen, sondern vom Sehen. Sie haben Seite an Seite gearbeitet. Also weiß er alles. Was dir schon klar war.«

Ich ging mit Jim die wichtigsten Punkte durch. DeCanza hatte so angefangen wie alle. Als Kurier, der Päckchen nach Norden über die Grenze brachte. Nach drei Reisen, bei denen er nicht hochgenommen wurde, vertrauten sie ihm Bargeld an. Aber er war belesen und benutzte seinen Verstand. Als die DEA anfing, Abhörstationen und Bodenradar einzusetzen, um die Tunnel unter der Grenze aufzuspüren, heuerte DeCanza Männer aus den Werften Baja Californias an. Das erste U-Boot war vierzehn Meter lang, ein zweites achtundzwanzig. Es machte drei Fahrten, bis die Besatzung es vor den Augen eines Kutters der Küstenwache versenkte. Aber bis dahin hatten DeCanza und Lorca so viele Zollbeamte bestochen, dass sie keine U-Boote mehr brauchten. Sie konnten ihre Produkte in Linienflugzeuge packen und direkt nach New York fliegen. Statt mit Bargeld operierten sie jetzt mit Kryptowährungen, die sich unsichtbar transferieren ließen.

Wäre es um eine amerikanische Firma gegangen statt um ein internationales Kartell, hätte DeCanza sicher einen eindrucksvollen Titel getragen. Finanzdirektor, Vizepräsident der operativen Abteilung – etwas in der Art. Aber das Kartell scherte sich nicht um förmliche Titel. Mit Ausnahme des einen, den er jetzt trug: Verräter.

Ohne DeCanza beruhte der Fall der Staatsanwaltschaft ausschließlich auf Indizien. Alles konnte wegerklärt werden. Jims Klient war ein Geschäftsmann. Der Name Lorca stand nicht auf seinem kalifornischen Führerschein. Er stand nirgends. Das bedeutete: Sobald DeCanza verschwand, war auch die Chance auf eine Verurteilung dahin. Menschen, die Lorca in die Quere kamen, waren schon häufiger verschwunden. Ich hatte den Sommer mit einem gefährlichen Spiel verbracht. Ich hatte einen abtrünnigen Verräter aufgespürt und sein Zimmer überwacht. Hätte Lorca vom Westchester erfahren, hätte die Anklage ihren Hauptzeugen verloren. Ich hatte nicht vor, zum Komplizen eines Mordes zu werden. Um mich – und Jim – zu schützen, erzählte ich ihm also nur das, was zu wissen er sich leisten konnte.

»Das ist alles schön und gut«, sagte Jim. »Aber bis jetzt hebst du nicht gerade meine Laune. Was hast du wirklich?«

Ich hatte es vor einer Woche erfahren und bis jetzt zurückgehalten. Aber ich hatte die ganze Zeit geplant, es ihm im richtigen Moment zu sagen.

»Du hättest es nicht zu früh wissen wollen«, sagte ich. »Also habe ich es für mich behalten und dir ein moralisches Dilemma erspart.«

»Darum kann ich mich schon selbst kümmern.«

»Wenn du mich im Boot hast, ist das nicht deine Entscheidung. Im Klartext: Bevor ich dich ins Bild setze, musst du dich bereit erklären, die Information auf eine bestimmte Weise zu nutzen.«

»Nämlich?«

»Entweder setzt du sie heute im Kreuzverhör ein. Oder du vergisst, was du gehört hast. Du nutzt es heute oder gar nicht. Setz es jetzt ein – ohne Vorwarnung, ohne deinen Klienten zu informieren –, dann verschafft es dir einen Vorteil. Wenn er nicht vor der Staatsanwaltschaft davon erfährt, hast du morgen nicht mehr Blut an deinen Händen als jetzt.«

»Einverstanden.«

Natürlich erklärte Jim sich einverstanden, auch wenn er keine Ahnung hatte, wovon ich redete. Er brauchte meine Informationen. Und wahrscheinlich war ihm klar, dass ich ihm etwas anbot, das er als Druckmittel nutzen konnte. Er musste kein Genie sein, um sich zusammenzureimen, worauf es hinauslief. Das wirksamste Druckmittel von allen war das Leben unschuldiger Menschen. Frauen waren Gold wert, Kinder Diamanten.

»Sie halten DeCanza wie einen Gefangenen«, sagte ich. »Er ist ihr Zeuge, aber das heißt längst nicht, dass sie ihn mögen.«

»Das ist nichts Neues.«

»Seit Mitte Mai hat er den Himmel nicht mehr gesehen. Er steckt in einem Drecksloch im Tenderloin. Von einem Safe House zu sprechen, wäre reichlich gewagt. Zweimal am Tag bringen sie ihm Essen, außerdem sehen sie alle zwei Stunden nach ihm. Er trägt einen GPS-Tracker am Fußgelenk, den sie aber abnehmen, wenn er heute zur Verhandlung geht. Wenn du fragst, wird er abstreiten, dass es ihn je gegeben hat. Sie haben ihm Immunität zugesagt, aber nur unter der Bedingung einer Verurteilung. Mit anderen Worten: Sie haben ihn richtig bei den Eiern. Wenn er so aussagt, wie sie es wollen, dein Klient aber trotzdem auf freien Fuß kommt, gibt es keinen Deal.«

Jim trommelte mit zwei Fingern auf die ramponierte Schreibtischplatte.

»Damit kann ich arbeiten«, sagte er. »Selbst wenn er es abstreitet und behauptet, man hätte ihn im Holiday Inn untergebracht, kratzt es seine Glaubwürdigkeit an. Aber du hast noch mehr.«

Natürlich hatte ich noch mehr. Wäre das alles gewesen, hätte ich mich geschämt, Jim meine Rechnungen zu schicken.

»Er hat um ein Handy gebettelt. Einen ganzen Monat lang hat er jeden Tag danach gefragt.«

»Wozu will er es haben?«

»Das hat er dem FBI nicht verraten. Mir allerdings schon, weil er Selbstgespräche führt. Er will mit seiner Frau sprechen.«

»Die ist doch angeblich tot.«

Ich ließ Jim ein bisschen zappeln, indem ich auf meinen Kaffee pustete und einen Schluck trank. Dann checkte ich mein Handy.

»Du redest von der Sache in Mexico City«, sagte ich. »Vor dem Apartmentgebäude, das explodiert ist.«

»Zwei Spitzel haben sie auf dem Balkon gesehen.«

»Die Frau war im siebten Stock und die Spitzel zwei Blocks entfernt. Hast du irgendetwas von einem DNA-Test gehört?«

Jim starrte mich an, er musste die Information verdauen.

»Weiß Nammar davon?«, fragte er schließlich.

»Nicht die Spur.«

Jetzt hielt er die Finger still.

»Woher weißt du das alles?«

»Ich hab DeCanza gegeben, was er wollte«, sagte ich. »Ein Telefon.«

Es war eine ziemlich unkomplizierte Operation gewesen. Ein Kinderspiel und doch das Schmutzigste, was ich je getan hatte.

DeCanza bekam regelmäßig Besuche von einem halben Dutzend FBI-Agenten und drei stellvertretenden Bundesanwälten, darunter Nammar. Jeden einzelnen Besucher hatte er wegen eines Handys angesprochen, alle hatten ihn abblitzen lassen. Aber wenn einer von ihnen aus der Reihe getanzt wäre und ihm heimlich ein Telefon gegeben hätte, wäre es für denjenigen wegen des ständigen Kommens und Gehens ein Leichtes gewesen, alles abzustreiten. Also wartete ich, bis er zur Toilette am Ende des Flurs musste, ging runter, öffnete seine Tür mit einem Schlagschlüssel und einem Schraubenzieher und legte ihm ein Handy aufs Bett.

Als ich wieder oben war, zog ich die Latexhandschuhe aus und beobachtete DeCanzas Zimmer durch die Kamera in der Decke. Es war so winzig wie meins. Als er von der Toilette zurückkam, brauchte er gerade mal drei Sekunden, um das Handy zu entdecken. Er schaute sich im Zimmer um und ging ans Fenster, wo er eine ganze Minute reglos und mit gesenktem Kopf stehen blieb. Dann versteckte er das Telefon unter seiner Matratze.

Drei Tage später hatte er es immer noch nicht benutzt. Also wartete ich, bis er duschen ging, öffnete noch einmal seine Tür und stellte ihm eine Flasche Whiskey hin. Als ich wieder oben war, konnte ich in klarstem Schwarz-Weiß dabei zuschauen, wie er die Flasche entdeckte und den Verschluss inspizierte. Er kippte ihn weder weg noch versteckte er ihn oder ging konsterniert im Zimmer auf und ab. Er machte die Flasche einfach auf, roch einmal kurz daran und fing an zu trinken.

Zwei Stunden später hob er die Matratze an und nahm sich das Telefon. Ich sah, wie er es in den Händen hin und her drehte. Wie er es einschaltete und dann lange anstarrte. Schließlich wählte er aus dem Gedächtnis eine Nummer.

Natürlich war es eine Falle.

Das Handy war eins von zweien, die ich in Chinatown gekauft hatte, bei ein paar Drinks in einer Nische der San-Lung-Lounge. Ich bat einen freischaffenden Hacker, sie zu synchronisieren. Damit war er schneller fertig als mit seinem Mai Tai. Ich reichte ihm einen Umschlag mit Zwanzig-Dollar-Scheinen, das war’s.

Als DeCanza seine Frau anrief, konnte ich also live zuschauen und zuhören. Er hätte es besser wissen müssen. Niemand, der im Zeugenschutzprogramm längere Zeit überlebt hat, würde je ein Smartphone in die Hand nehmen. DeCanza war für so etwas nicht gemacht. Ich ersparte ihm nur Zeit und anhaltendes Elend.

»Ich hab die Nummer nachverfolgt und ein bisschen recherchiert«, sagte ich zu Jim. »Er hat eine Festnetznummer gewählt, in der Gegend von Eagle Pass in Texas. Eine Zweitausend-Hektar-Ranch, die auf ein Unternehmen mit Sitz auf den Cayman Islands eingetragen ist. Die wiederum gehört ausländischen Kapitalgesellschaften mit dämlichen Namen und Briefkastenadressen – du darfst raten, wer sie in Wirklichkeit besitzt. Die Immobilie ist unbelastet und wurde bar bezahlt. Vor fünf Jahren, als DeCanza ganz oben war.«

Ich schob ihm eine Kopie der Urkunde aus dem Landregister hinüber.

»Und die Frau, die das Gespräch angenommen hat?«, fragte Jim.

»Maria Lucinda DeCanza«, sagte ich. »Sie wohnt dort mit ihrem neunzehn Monate alten Sohn.«

»Er ist auch noch am Leben?«

»Ich konnte ihn im Hintergrund hören.«

Jim Gardner starrte auf die Urkunde. Er nahm sie in die Hand, blätterte sie durch und steckte sie in seinen Aktenkoffer. Jim war kein guter Mensch, sonst hätte er sich eine andere Beschäftigung gesucht. Auch ich konnte kein Engel sein, wenn ich einfach darauf vertraute, dass er mit der Information, die ich ihm gerade gegeben hatte, anständig umging.

»Komm vorbei, wenn du dir das Kreuzverhör ansehen willst«, sagte Jim.

Er nahm seinen Aktenkoffer und verließ die heruntergekommene Werkstatt. Fünf Minuten später folgte ich ihm nach draußen.

Ich fuhr ins Westchester zurück. Meine Arbeit dort war erledigt. Sollte im Kreuzverhör heute Nachmittag die Bombe platzen, würden Nammar und das FBI sich fragen, wer DeCanza im Auge behalten hatte. Und wie. Also wollte ich mein Zimmer ausräumen. Die Überwachungsausrüstung abbauen, von sämtlichen Oberflächen die Fingerabdrücke abwischen und das Zimmer so hinterlassen, wie es aussehen sollte – leere Schnapsflaschen, zerknautschte Bierdosen, an Schneewehen erinnernde Stapel von Takeaway-Verpackungen in den Ecken und unter dem Bett. Dafür hatte ich schon einen Rucksack voll Müll bereitstehen.

Auf dem Weg zum Hotel kam ich am Refugio vorbei. Ich zählte zehn schwarz-weiße Streifenwagen, einen im Leerlauf bereitstehenden Rettungswagen und zwei zivile Fords, die wahrscheinlich den Detectives der Mordkommission gehörten. Gerade verließ ein Wagen der Gerichtsmedizin den Ort des Geschehens. Die Blondine war eingesackt und mit einem Anhänger versehen, aber der Wraith stand immer noch am Straßenrand. Jemand hatte Verkehrskegel aufgestellt und sie mit Absperrband verbunden. Ich hob die Kamera, schaute durch die Linse und löste aus. Ein Mann trat aus der Haustür des Refugio heraus. Schlank, dunkelhaarig und mit einem vom häufigen Tragen glänzenden Anzug. Ein Mordermittler. Er schob sich durch eine Ansammlung von Beamten und sah zu mir herüber. Ich ließ die Kamera sinken und ging weiter.

4

Morgens um zehn ging ich zum ersten Mal seit fünf Wochen wieder nach Hause. Zu Fuß vom Tenderloin mit seinen Absteigen und Schnapsläden bis zum Union Square, wo Luxusgeschäfte und Weinlokale vorherrschten, dann weiter über die Grant Avenue nach Chinatown. Mein Zuhause war eine Zweizimmerwohnung im dritten Stock eines Hauses ohne Aufzug, mit einem Fischrestaurant im Erdgeschoss. Mit dem Sender an meinem Schlüsselbund schaltete ich die Alarmanlage aus, dann ging ich hinein. Auch dieses Zuhause – mein Neuanfang – war von der Vergangenheit befleckt. Alles war Teil eines Kontinuums. Es gab keine klaren Linien, keine festen Grenzen.

Vor sechs Jahren, als meine Ehe in Stücke brach, war ich mit nichts als der Kleidung, die ich am Leib trug, drei gebrochenen Fingern und einem Brief der kalifornischen Anwaltskammer, der meine Streichung von der Anwaltsliste bestätigte, hinausgeworfen worden. Es hätte viel schlimmer laufen können. Ich hatte einem Richter des Obersten Gerichtshofs von Kalifornien den überwiegenden Teil seiner Zähne ausgeschlagen. Als ich eine Stunde später auf der Rückbank eines Streifenwagens saß, schienen mir unausweichlich eine Gefängnisstrafe und die Zahlung eines hohen Schmerzensgelds bevorzustehen. Aber sowohl Juliettes Vater als auch ihr zukünftiger Ehemann hielten es für zweckdienlicher, wenn ich den Mund hielt. Statt im Knast zu sitzen und bankrott zu gehen, verdiente ich tatsächlich Geld. Fünfzig Riesen pro Zahn. Am selben Tag, als die Scheidungsrichterin ihr Urteil in die elektronische Prozessakte einfügte, erhielt ich einen Barscheck meines früheren Schwiegervaters. Der Chauffeur, der Juliette schon als kleines Mädchen gefahren hatte, lieferte ihn mir in der Lobby des Oakland Marriott ab und ließ schweigend und humorlos über sich ergehen, dass ich seinen Rücken als Unterlage zum Unterschreiben der Quittung benutzte. Vielleicht begriffen es die Umherstehenden im Marriott nicht, aber die Gäste des Westchester hätten den Scheck sofort als das gesehen, was er war. Schweigegeld.

Die Abmachung war problemlos über die Bühne gegangen. Juliettes neuer Ehemann musste für die kalifornischen Wähler glaubwürdig bleiben. Vermutlich hatte seine Ex-Frau noch mehr bekommen als ich. Was mich anging, war mir das Geld lieber als das Recht, über Juliette zu reden. Ich wollte nicht mal an sie denken. Dabei half das Geld. Ich legte mit einer zweimonatigen Sauftour im mexikanischen La Paz los. Heute erinnere ich mich vor allem daran, dass ich auf dem Rücken lag und die von einem Ventilator geworfenen Schatten an der Zimmerdecke musterte. Ich trank Mezcal, bis ich erst nichts mehr fühlte und mich dann – irgendwann – nur noch gut fühlte. In einem Motel in der Wüste nüchterte ich aus und fuhr zurück nach Norden.

Von dem Geld war noch einiges übrig. Ich hatte keinen Job, sodass ich keine Hypothek aufnehmen konnte, aber niemand hielt mich davon ab, eine Wohnung mit Bargeld zu bezahlen. Ich hatte fünf Fenster zur Grant Avenue hinaus. Meine Aussicht wurde zum Teil von einer Neonreklame des South Seas Golden King Seafood Restaurant eingeschränkt. Sie blinkte die ganze Nacht durch, in Rot und Gold.

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Ich konnte die Schriftzeichen in meinen Träumen summen hören. Wenn ich woanders als zu Hause die Augen schloss, riss mich die Stille aus dem Schlaf.

Weil es sonst nichts zu tun gab, ließ ich mir Badewasser ein. Ich musste das rostige Wasser von fünf Wochen aus der Leitung ablassen, bevor ich den Gummistöpsel in den Abfluss drücken konnte. Von Würzsaucen und einer einzigen Flasche Tsingtao abgesehen, war der Kühlschrank leer. Ich öffnete das Bier und setzte mich in die Wanne. Im Westchester hatte ich mir meine Angst nie eingestanden. Aber jetzt, zu Hause, holte ich das nach. Ich hatte schon früher das Gesetz gebrochen, meist für Jim Gardner. Aber derart weit hatte ich die Grenzen noch nie überschritten. Ich hatte nie etwas getan, was das FBI oder die Bundesanwälte gegen mich aufbringen konnte, ich hatte niemals einen Zeugen der Anklage ausgetrickst, um ihn das Versteck seiner Frau verraten zu lassen. Diese letzte Information hätte ich für mich behalten und eine Frau schützen können, deren einziger Fehler wahrscheinlich darin bestanden hatte, den falschen Mann zu heiraten. Das wäre anständig gewesen. Meine Rechnung hätte Jim trotzdem bezahlt. Aber ich hatte es ihm erzählt. Ich hatte nicht mal mit mir gerungen.

Bisher war mir nie die Idee gekommen, dass man sich ehrlich und gleichzeitig unmoralisch verhalten kann. Jetzt war ich mir nicht mehr sicher, ob beides sich gegenseitig ausschloss. Und ich wusste nicht mehr, zu welcher Seite die Waage sich neigen würde, wenn ich meinen Charakter einer genaueren Prüfung unterzog.

Als das Wasser kalt wurde, trocknete ich mich ab, machte das Licht an und rasierte mich am Waschbecken. Ich sah wieder aus wie ich selbst, fühlte mich aber nicht anders als beim Aufwachen vor meinem letzten frühen Spaziergang. Das rief mir die Blondine wieder in Erinnerung, das sich in ihren Augenhöhlen sammelnde und in die Haare rinnende Regenwasser.

Bis drei Uhr nachmittags, als Jim Gardner mit seinem Kreuzverhör begann, dachte ich immer wieder an sie. Dann musste ich mich mit dringenderen Sorgen und selbstgemachten Problemen beschäftigen.

Ich traf zu früh ein.

In Gerichtssaal fünf im sechzehnten Stock des Phillip Burton Building herrschte bei meinem Eintreten Stille. Ich rechnete mit vollen Besucherreihen und wurde nicht enttäuscht. Der Prozess war ein Ereignis. Die Leichen stapelten sich so hoch wie das Geld, und die einzigen Politiker, die nicht mit dem Finger auf den Angeklagten zeigten, hatten seltsamerweise die Stadt verlassen. Ich erkannte einen Journalisten von KTVU und den Gerichtsreporter des Chronicle. Unter den Zuschauern fanden sich auch die üblichen Gerichtsstammgäste. Jurastudenten und Rentner, die nichts Besseres vorhatten. Unterbeschäftigte Anwälte, die hofften, für sie könne etwas abfallen. In der ersten Reihe hinter Nammars Tisch saßen außerdem sechs Männer nebeneinander. Ich konnte die Gesichter nicht sehen, hatte ihre Hinterköpfe aber den ganzen Sommer lang vor Augen gehabt. Es waren DeCanzas Aufpasser vom FBI.

Einer von ihnen, Agent White, drehte sich um. Ich hatte den Saal lautlos betreten, aber er musste den Luftzug gespürt haben. Unsere Blicke trafen sich. Hinter ihm, auf der anderen Seite der Absperrung, stand Nammar am Pult zwischen den beiden Tischen. DeCanza saß rechts vom Richter im Zeugenstand, Jim zur Linken seines Klienten, sein Kinn auf die Hand gestützt.

»Der Mann, den Sie als Lorca kannten, der Mann, über den wir den ganzen Tag geredet haben – ist er hier im Gerichtssaal?«, fragte Nammar.

»Ja, Sir.«

»Könnten Sie bitte für die Geschworenen auf ihn zeigen?«

Endlich drehte Agent White sich wieder nach vorn. Diesen Teil wollte er nicht verpassen. Schließlich hatten sie ihren Zeugen den ganzen Sommer lang für diesen Augenblick trainiert.

»Da vorn.« DeCanza streckte den Finger aus. »Im schwarzen Anzug. Das ist Lorca.«

»Sind Sie sicher?«

»Absolut. Ich habe ihn fünfzehn Jahre lang täglich gesehen. Er war auf meiner Hochzeit. Ich war bei ihm, als sein Kind gestorben ist.«

»Fällt es Ihnen leicht, auf ihn zu zeigen?«

»Sie meinen, ob es mir gefällt?«

»Gefällt es Ihnen?«

»Ich komme mir wie ein Verräter vor.«

»Haben Sie Angst vor ihm?«

Ich rechnete mit Jims Einspruch, aber er blickte nicht mal auf.

»Er ist kein netter Mann, falls Sie das meinen. Er hat es nicht gern, wenn man ihn verärgert.«

»Dann ist es mutig von Ihnen, dort zu sitzen und den Mund aufzumachen.«

»Vielleicht will ich auch einfach sterben. Ich weiß, wie er reagiert.«

»Auf Leute wie Sie, die die Wahrheit sagen?«

»Auf Leute wie mich, ja.«

Während seiner Fragen hatte Nammar die Geschworenen angesehen, aber jetzt wandte er sich an die Richterin.

»Keine weiteren Fragen, Euer Ehren«, sagte er. »Ich überlasse den Zeugen der Verteidigung.«

Richterin Linda Kim schaute Jim über den Rand ihrer schwarz gefassten Brille hinweg an.

»Herr Verteidiger?«

»Vielen Dank, Euer Ehren«, sagte er.

Er stand auf, verschränkte die Hände hinter dem Rücken und drückte die Arme durch, um seine Schultern zu straffen. Bei Jim stellte jedes Detail ein Signal an die Geschworenen dar. Ich konnte mir denken, was er vermitteln wollte: Er hatte sich gelangweilt, als er DeCanza fünf Stunden lang bei seinen Lügen zuhören musste. Lügen, die er wie Brotkrumen im Handumdrehen vom Tisch wischen würde. Seine einzige Sorge bestand darin, möglicherweise zu spät zum Abendessen zu kommen.

Er trat ohne irgendwelche Unterlagen an das Pult.

»Guten Tag, Sir.«

Jim Gardner war nach dem Jurastudium nach San Francisco gezogen. Vorher hatte er in Mississippi gewohnt, irgendwo in der tiefsten Provinz. Schon mit sechzehn hatte ihm sein Bariton einen Job als Sprecher in Radiowerbespots für Unternehmen aus der Region eingebracht. Autohändler und Bowlinganlagen in Tupelo. Ein Striplokal in Slidell. Schließlich war es auch seine Stimme gewesen, die ihn aus Mississippi hinausbrachte. Drei Worte beim Kreuzverhör, und die Geschworenen beugten sich aufmerksam vor.

»Wissen Sie, wer ich bin?«

»Lorcas Anwalt.«

»Ich repräsentiere Mr Alba«, sagte Jim und deutete auf seinen Klienten. »Er kennt niemanden mit Namen Lorca.«

»Einspruch«, sagte Nammar. »Wenn er das aussagen will, soll Lorca selbst in den Zeugenstand treten.«

»Mr Gardner«, sagte Richterin Kim. »Stellen Sie Ihre erste Frage, damit wir weiterkommen.«

»Danke, Euer Ehren. Und falls ich auf Mr Nammar eingehen darf … Ich habe Lorca im Zeugenstand. In diesem Moment.«

»Einspruch!« Nammar war aufgesprungen.

»Das haben Sie sich selbst eingebrockt«, sagte Richterin Kim. Dann wandte sie sich wieder Jim zu. »Stellen Sie Ihre erste Frage.«

Jim nickte und drehte sich zu den Geschworenen um.

»Sie heißen Albert DeCanza. Ja oder nein?«

»Ja.«

»Hatten Sie je einen Decknamen?«

»Meine Freunde nennen mich Al.«

Jim fiel in das Lachen der Geschworenen ein. Dann trat er vor das Pult, was in einem Bundesgericht nicht üblich war. Aber die Richterin hielt ihn nicht davon ab, Nammar erhob keinen Einspruch.

»Ist es korrekt, dass Sie sämtliche Aktien der Aguila Holding Corporation halten?«

DeCanzas Grinsen dauerte noch eine Sekunde an. Vielleicht zwei. Er hatte die Frage gehört, brauchte aber einen Moment, um sie zu verarbeiten. Dann wurde seine Miene ausdruckslos. Zehn Sekunden verstrichen. In einem Gerichtssaal eine Ewigkeit. Noch immer antwortete er nicht.

»Soll ich die Frage wiederholen?«, fragte Jim.

»Von der Firma habe ich nie gehört.«

»Lassen Sie mich das klarstellen: Sie haben nie von der Aguila Holding Corporation gehört? Ich spreche von einer Firma auf den Bahamas, die in Texas vor fünf Jahren als ausländisches Unternehmen registriert wurde. Haben Sie nie davon gehört?«

DeCanza konnte nur den Kopf schütteln.

»Sie müssen laut antworten«, sagte Jim. »Unsere Gerichtsstenografin, die reizende Dame dort vor Ihnen, bekommt Sodbrennen, wenn sie Sie nicht versteht.«

»Ich habe nie von der Firma gehört«, sagte DeCanza und starrte auf das vor ihm stehende Glas Wasser. Er nahm die Hände vom Tisch und faltete sie außer Sichtweite.

»Wo waren sie am 23. März 2014?«

»Das weiß ich nicht.«

»Seltsam. Während der letzten fünf Stunden hatten Sie ein ausgezeichnetes Gedächtnis«, stellte Jim fest. »Lassen Sie mich noch etwas fragen: Welcher Flughafen liegt Eagle Pass in Texas am nächsten?«

»Das weiß ich nicht«, sagte DeCanza und suchte Blickkontakt zu Nammar, aber der hatte sich umgedreht und flüsterte über die Absperrung hinweg mit zweien der FBI-Agenten in der ersten Reihe.

»Sie wissen es nicht«, sagte Jim. »Okay, versuchen wir es so: Wer sind die Direktoren der Ranch IV Corporation? Falls es zu Ihrer Erinnerung beiträgt, ich spreche von einer Firma auf den Cayman Islands. Sie wurde am 23. März 2014 in Texas als ausländisches Unternehmen registriert.«

Jetzt stand Nammar auf.

»Euer Ehren«, sagte er. »Dürfen wir vortreten?«

»Ich habe eine Frage gestellt«, sagte Jim. »Und ich hätte sie gern beantwortet.«

Die Richterin schaute zwischen Jim und Nammar hin und her. Dann nahm sie DeCanza ins Visier, auf dessen Stirn inzwischen ein Schweißfilm glänzte.

»Beantworten Sie die Frage.«

DeCanza schaute sie an. Mit glasigen, weit aufgerissenen Augen schüttelte er den Kopf.

»Wie war … Ich meine …« Er deutete auf die Stenografin. »Kann sie die Frage noch einmal vorlesen?«

Ohne die Antwort der Richterin abzuwarten, las die Frau Jims letzte Frage noch einmal vor. Jim lehnte an der Vorderseite des Pults. Nammar hatte sich wieder gesetzt und beriet sich flüsternd mit den FBI-Leuten.

DeCanza schüttelte immer noch den Kopf.

»Keine Ahnung«, sagte er. »Ich habe nie davon gehört. Also weiß ich auch nichts über die Direktoren.«

»Dann würde ich gern wissen …«

Nammar stand auf und fiel Jim ins Wort.

»Euer Ehren, dürfen wir jetzt vortreten?«

»Gut.«

Die Richterin griff an ihrem Hammer vorbei und drückte einen Schalter. Aus den Lautsprechern über der Geschworenenbank und der Besuchertribüne drang weißes Rauschen. Als Jim und Nammar vor die Richterin traten, waren ihre Worte nicht zu verstehen, aber leicht zu erraten. Nammar wollte wissen: Worauf zum Teufel will er eigentlich hinaus? Und Jim sagte: Ich muss ihm meine Strategie nicht erklären. Es ist sein verdammter Zeuge. Wenn er nicht weiß, worauf ich hinauswill, ist das sein Problem. Der Wortwechsel ging noch eine Minute lang weiter. DeCanza, der allein und vergessen im Zeugenstand saß, sah aus, als wolle er zum nächsten Fenster laufen und sich hinausstürzen, sechzehnter Stock hin oder her.

Als die Richterin das weiße Rauschen ausschaltete und die beiden Anwälte zurück auf ihre Plätze gingen, wusste ich nicht, wie sie entschieden hatte. Die Anwälte stellten gleichmütige Mienen zur Schau. Jim stellte sich wieder vor das Pult, Nammar setzte sich und wandte sich an den jüngeren Bundesanwalt an seiner Seite.

»Mr DeCanza«, setzte Jim sein Kreuzverhör fort. »Hat Ihre Ranch bei Eagle Pass eine Flugpiste?«

Sofort sprang Nammar wieder auf.

»Einspruch!« Dann fügte er mit leiserer Stimme hinzu: »Der Frage fehlt jede Grundlage. Außerdem hat der Verteidiger erklärt, er wolle nach ausländischen Firmen fragen.«

»Und ihren Beteiligungen«, sagte Jim. »Ich habe die Beteiligungen ausdrücklich erwähnt.«

»Der Zeuge soll die Frage beantworten.«

»Eine Flugpiste? Ich weiß nicht mal von der Ranch.«

»Keine Ranch in der Gegend von Eagle Pass?«

»Nein.«

Jim kehrte an seinen Tisch zurück und griff nach einem dünnen Ordner. Er nahm ihn mit ans Pult und schlug ihn auf. Dabei ließ er sich Zeit. Es ging darum, dass die Geschworenen sich fragten, welche belastenden Dokumente er zum Vorschein bringen würde. Und, was vielleicht noch wichtiger war, DeCanza zappeln zu lassen.

»Sie behaupten also, nichts von einer Ranch bei Eagle Pass zu wissen – einer zweitausendeinhundertdreiundzwanzig Hektar großen Farm?«

An dieser Stelle schaute Jim in seinen Ordner und fuhr mit einem Finger über die erste Seite.

»Drei bewohnbare Gebäude, eine Flugpiste und ein Hangar. Letzter Besitzerwechsel am 23. März 2014?«

DeCanza hatte zu Nammar hinübergestarrt, der aber abwechselnd mit seinen Kollegen sprach und den FBI-Agenten etwas zuflüsterte. Er sah nicht zu, als sein Zeuge ins Schwimmen geriet. Also versuchte es DeCanza bei seinem einzigen möglichen Rettungsanker. Bei Jims Klienten. Von hinten bekam ich die Reaktion des Mannes nicht mit. Vielleicht nickte er leicht. Vielleicht bildete ich es mir auch nur ein.

»Ich … weiß einfach nicht … Ich meine …«

Jim trat drei Schritte vor.

»Gehen wir noch einmal zurück«, hakte er nach. »Als wir vor einigen Minuten angefangen haben, habe ich Sie nach Decknamen gefragt. Haben Sie je einen benutzt, Sir?«

DeCanza schaute auf seine Handgelenke. Sie waren bleich. Er war in letzter Zeit kaum vor die Tür gekommen. Und dabei würde es für lange Zeit bleiben.

»Ja.«

»Sie hatten einen Decknamen?«

»Ja.«

Jim trat noch einen Schritt vor.

»Welchen Decknamen, Sir?«

Wieder sah DeCanza zum Tisch des Verteidigers, dann konzentrierte er sich auf sein Wasserglas. Wenn seine Aussage beim Verhör durch Nammar auf der Linie seiner Aussagen im Westchester geblieben war, musste er einen großen Teil des Vormittags damit zugebracht haben, der Jury zu erklären, wie Lorca mit seinen Feinden umging. Lorcas Kommunikationsmethoden trugen barocke Züge. Er fing mit elektrischen Werkzeugen und Klebeband an und arbeitete sich zu Säcken mit Skorpionen und einer großen Truhe vor. Aber seine sämtlichen Nachrichten endeten auf dieselbe Weise: mit einem brennenden Torso in einem Ölfass. Irgendein Fußsoldat hielt die Flammen am Brennen und goss so lange Benzin hinein, bis nichts mehr übrig war. DeCanza wusste Bescheid, weil er in jedem Stadium dabei gewesen war.

Jetzt konnte ich DeCanza beim Denken zuschauen. Nammar wusste nicht, dass seine Frau und sein Sohn lebten. Niemand beschützte die beiden. Er konnte bei seiner Geschichte bleiben, dann würde es ein Wettrennen nach Eagle Pass geben – Lorcas Männer gegen die Feds. Auf seine leutselige Südstaatlerart bot Jim DeCanza eine Alternative. Er konnte sich hier und jetzt hinknien und seinen Hals aufs Schafott legen, dann würde seiner Frau und seinem Kind nichts passieren. Oder er blieb bei der Wahrheit und ging das Risiko ein.

Sein Leben für ihres.

»Welchen Decknamen haben Sie benutzt, Sir?«, wiederholte Jim.

»Lorca.«

»Könnten Sie das noch einmal sagen?«, forderte Jim ihn auf. »Sie haben so leise gesprochen, dass ich nicht sicher bin, ob unsere reizende Stenografin Sie gehört hat.«

DeCanza blickte nicht auf. Nammar wollte er nicht sehen, und niemand sollte beobachten, wie er zum Tisch der Verteidigung hinüberschaute.

»Lorca«, sagte er, diesmal ein wenig lauter.

Als ich DeCanzas letzte Antwort hörte, war ich schon auf dem Weg nach draußen. Sofort ergriff Jim wieder das Wort. Ich zog die Tür des Gerichtssaals auf. Aus dem Gang kam mir ein Schwall kalter Luft entgegen.

»Vielleicht sollten wir einen Schritt zurückgehen«, sagte Jim. »Vor ein paar Minuten haben Sie auf meinen Klienten gezeigt …«

In der Tür drehte ich mich noch einmal an. Agent White sah wieder zu mir herüber. Kurzgeschorene weiße Haare, Whiskeytrinkernase, wache, schwarze Augen. Er wandte den Blick nicht ab, bis die Tür sich hinter mir schloss.

5

Bei der Sicherheitskontrolle im Erdgeschoss gab ich den Besucherausweis zurück und wartete auf mein Handy. Ich rechnete damit, dass White jeden Moment aus dem Aufzug treten und hinter mir herrufen würde. In Sicherheit würde ich mich erst fühlen, wenn ich das Gebäude verlassen hatte.

Die Staatsanwaltschaft hatte zwei Jahre und Millionen von Dollar in die Vorbereitung eines Falls investiert, den Jim Gardner binnen zehn Minuten vom Tisch gewischt hatte. Es war nicht mal Viertel nach drei. Ich trat ins Freie und sah zu, dass ich möglichst schnell verschwand. Links von mir parkten Homeland-Security-SUVs, also hielt ich mich nach rechts. Für das, was gerade passiert war, würde jemand bezahlen müssen. Sie würden so viel wie möglich auf DeCanza abladen, aber am Ende würde genügend Wut übrigbleiben, um jemand anderen darunter zu begraben. Zum Beispiel jemanden wie mich.

Ich überquerte die Larkin Street und betrat Harry Harringtons Pub. Am Eingang blieb ich kurz stehen und schaute mich um. Zwanzig Personen, darunter die beiden Barkeeper. Die Kundschaft bestand zu gleichen Teilen aus ernsthaften Trinkern, die ihre Barhocker gleich hätten mieten können, und Regierungsangestellten, die freitags ein paar Stunden früher Schluss machten. Auf den sieben Fernsehern liefen Baseball und Cricket. Ich nahm an dem vom Eingang entfernteren Ende des Tresens Platz und bestellte bei der ersten sich bietenden Gelegenheit einen Wild Turkey pur.

Bis ich das zweite Glas bestellte, dachte ich an nichts. Für meinen Aufenthalt im Westchester hatte ich mich äußerlich angepasst – keine Rasur mehr und nur gelegentlich eine Dusche. Meine Kleidung hatte ich kein einziges Mal gewaschen. Über fünfunddreißig Tage hinweg war ich mit zwei Sweatshirts und einer einzigen Jeans ausgekommen. Am Ende hätte mein Second-Hand-Mantel auch aus der Beute eines Grabräubers stammen können.

Ich nahm einen Schluck Bourbon. Ohne das Glas abzustellen, strich ich mir mit den Fingerknöcheln über die Wange. Die Haut war noch glatt von der morgendlichen Rasur. Ich betrachtete mich im Spiegel hinter den Schnapsflaschen. In meinem gebügelten Hemd und dem gereinigten Anzug hätte ich als Anwalt durchgehen können. Als richtiger Anwalt, der im Gerichtssaal auftauchen und einen Klienten vertreten konnte, ohne festgenommen zu werden. Jim hätte mich niemals zu seinem Kreuzverhör einladen sollen.

Vielleicht wurde ich einfach nur paranoid. Im Westchester hatte ich achtgegeben und über die äußere Erscheinung hinaus weitere Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Agent White hatte sich umgedreht und mich angestarrt, aber das konnte alles Mögliche bedeuten. Er musste mich nicht notwendigerweise mit dem DeCanza-Desaster in Verbindung bringen. Als der Barkeeper vorbeikam, bestellte ich einen dritten Wild Turkey. Er goss ihn ein, stellte aber erst ein Glas Eiswasser vor mich hin – eine deutliche Aufforderung, es entweder ruhiger angehen zu lassen oder woanders weiterzutrinken. Ich leerte beide Gläser und ging hinaus.

Ich überquerte die Van Ness Avenue, betrat den Buchladen dort und entdeckte eine Ausgabe des Chronicle, die jemand auf einem Tisch des Cafébereichs hatte liegen lassen. Ich fand nichts über die Blondine, die ich fotografiert hatte, aber das war nicht weiter überraschend. Wahrscheinlich war sie etwa zu der Zeit auf dem Wraith gelandet, als die Zeitung gerade aus der Druckerpresse kam. Es gab einen kurzen Artikel zum Lorca-Prozess, den ich aber nicht las. Kein Journalist hätte vorhersehen können, welche Wendung der Prozess nehmen würde.

Ich verließ den Buchladen und ging weiter Richtung Westen. Seit Mitte Mai hatte ich keine ausreichende Bewegung mehr gehabt. Dass es regnete, machte mir nichts aus. Zur Not konnte ich den Anzug noch einmal reinigen lassen, wenn Jim die letzte Rechnung bezahlte. Ich konnte ihn auch einfach wegwerfen und mir sämtliche Anzüge kaufen, auf die ich Lust hatte. Ganz egal. Im Weitergehen hielt ich mich an die städtischen Grünflächen. Ich durchquerte den Alamo Square und folgte den Fußwegen durch den Panhandle in den Golden Gate Park. Es war Sommer und würde bis mindestens halb neun hell bleiben. Aber das Licht war gräulich. Nebellicht.

DeCanza würde die Nacht vermutlich nicht im Westchester verbringen. Wenn Nammar und White etwas an dem Fall und an ihren Karrieren lag, würden sie ihn in einem betonierten Raum an einem Stuhl festbinden und abwechselnd mit einem Baseballschläger bearbeiten. Verdammt, was ist da gelaufen, Al? Was hat Gardner gegen Sie in der Hand? Aber das war nicht Nammars Stil. Ich kannte nur einen Menschen, der so vorging, nämlich den Mann, der letztlich meine Rechnungen bezahlte.

Der auf die Eukalyptusbäume fallende Regen machte ein sanftes Geräusch. Ich beschloss, den ganzen Weg bis Ocean Beach zu gehen und dort ein Taxi nach Hause zu nehmen. Was dann kommen würde, war mir noch nicht klar. Vielleicht noch einmal La Paz. Oder noch weiter weg. Thailand oder Vietnam. Aber als ich den Strand erreichte und mich hinsetzte, vibrierte mein Telefon. Ich nahm es heraus und las die frisch eingetroffene Nachricht von Jim Gardner.

Wir treffen uns in deinem Büro. Sofort.

»Lee«, sagte er. »Das hat ja ewig gedauert.«

Er war die Stufen von der Straße bis zu meiner verschlossenen Tür hochgegangen und wartete dort im Schatten.

Als er mein Chef gewesen war, hatte ich ihn Mr Gardner genannt, ich war Mr Crowe. Ich hatte mich immer noch nicht richtig daran gewöhnt, meinen Vornamen aus seinem Mund zu hören, obwohl meine kurze Anstellung bei ihm vor sechs Jahren geendet hatte. Als ich aus La Paz zurückgekommen war, hatte ich zwei Monate praktisch nur in meiner neuen Wohnung gehockt. Irgendwann gelangte ich zu dem Schluss, dass ich wieder etwas tun musste. Von meiner alten Stelle und den sommerlichen Ferienjobs für einen Strafverteidiger konnte ich genügend Stunden Ermittlungsarbeit vorweisen, um die Anforderungen für eine Lizenz als Privatdetektiv zu erfüllen. Also machte ich den Test und bestand. Ich ließ mir Visitenkarten drucken, zog los und sprach Jim an. Während der ersten Jahre blieb er mein hauptsächlicher Auftraggeber, aber im Laufe der Zeit taten sich auch andere Möglichkeiten auf. Inzwischen lief es so gut, dass ich ein eigenes Büro brauchte.

»So tauchst du also in deinem Büro auf«, stellte er mit einem Blick auf meinen durchnässten Anzug fest.

»Nur wenn ich von einem Klienten erwartet werde.«

Ich entledigte mich meines Sakkos und wrang es aus, sodass Wasser auf den Boden tropfte. Wir reichten uns die Hände, dann trat er einen Schritt zurück.

»Du riechst nach Bourbon, Lee.«

»Mein Büro«, sagte ich. »Meine Entscheidung.«

Ich zog den Schlüsselbund aus der Tasche, öffnete die Tür und ließ Jim den Vortritt. Er setzte sich auf einen der beiden Stühle vor meinen Schreibtisch, nahm ein Taschentuch aus der Brusttasche seines Wollanzugs und tupfte sich den Regen aus dem Gesicht.

»Nett hier«, sagte er.

Ich bezweifelte, dass er es so meinte. Er selbst hatte ein Eckbüro auf einer der oberen Etagen des One Market Street mit Blick auf das Ferry Building und die Bay. Normalerweise setzte er sich noch im Dunkeln an seinen Schreibtisch und sah die Sonne über den Hügeln von Oakland aufgehen. Auf drei mit Marmor ausgekleideten Etagen arbeiteten zweihundert Anwälte für ihn. Vierundzwanzig Stunden am Tag strömte Geld in seine Kasse. Ich hatte nie Zweifel daran gehegt, wie ich meinen Fuß in die Tür bekommen hatte. Er hatte gründliche Erkundigungen über mich eingezogen und ließ mich das spüren. Ich war ein staatlich beglaubigter Niemand, einer von zahllosen Bewerbern. Es ging ihm nicht um meinen Namen oder meine sympathische Art. Er wollte Juliettes Vater als Klienten. Eine großartige Strategie, bis meine Scheidung und die Streichung von der Anwaltsliste mich nutzlos machten. Um das Gesicht zu wahren, setzte er mich öffentlichkeitswirksam vor die Tür. Damit hatte ich gerechnet. Aber – und damit hätte ich niemals gerechnet – unsere Beziehung blieb bestehen und entwickelte sich weiter.

»Ich hätte gleich vorbeikommen sollen, als du den Mietvertrag unterschrieben hast«, sagte er. »Wann war das, letzten Monat?«

»Ich hab keine Einweihungsparty gefeiert. Wie ist es mit DeCanza weitergegangen? Ich bin nicht bis zum Ende geblieben.«

Ich wollte kein Wort über Agent White verlieren, bis ich sicher war, dass es ein Problem gab.

»Hast du noch gesehen, wie er umgefallen ist?«, fragte Jim. Als ich nickte, fuhr er fort: »Danach ist er mir gefolgt, wo immer ich ihn hinhaben wollte. Alles, was er bei Nammars Verhör gesagt hatte, war gelogen. Er ist Lorca. Er hat die ganze Organisation geleitet.«

»Bist du fertig mit ihm?«

»Ja, aber das weiß Nammar noch nicht. Morgen früh befrage ich DeCanza weiter. Nur bis ich sicher bin, dass er nicht über Nacht seine Meinung geändert hat. Dann überlasse ich ihn wieder Nammar.«

»Werden sie ihn umstimmen?«

Jim sah sich im Büro um. Sicher schätzte er die Wahrscheinlichkeit ab, dass es verwanzt war. Aber anscheinend beantwortete er sich die Frage mit Nein.

»Würdest du dich umstimmen lassen, wenn es bedeutet, dass deine Frau deswegen unerwarteten Besuch bekommt?«

Ich schüttelte den Kopf. Wie auch immer Jim die Frage genau meinte, die Antwort lautete Nein. Ich würde mich nicht umstimmen lassen, egal ob es um eine hypothetische zukünftige Ehefrau oder um Juliette ging. Auch wenn ich keine liebevollen Gefühle mehr für sie hegte, hatte sie es nicht verdient, in einem von Lorcas Ölfässern zu enden.

»Wird die Staatsanwaltschaft ein Gerichtsurteil anstreben?«, fragte ich.

»Wir reden über Lorca. Den Mann an der Spitze. Da werden sie keinen Freispruch riskieren. Jemand, der noch über Nammar steht, wird heute Abend zum Hörer greifen. Wahrscheinlich werden sie eine Einstellung wegen Verfahrensfehlern anstreben. Wenn das nicht funktioniert, werden sie es mit einem Deal versuchen – warum auch nicht? Sie haben ihn schon wegen Steuerhinterziehung am Wickel, er muss also auf jeden Fall in den Knast.«

»Aber du gewinnst«, stelle ich fest.

»Ich gewinne.«

Ich zog die Schreibtischschublade auf und nahm eine Flasche heraus.

»Den hab ich extra aufgehoben.«

»Heb ihn weiter auf, Lee.«

Ich wollte schon den Korken ziehen, aber sein Ton ließ mich innehalten.

»Ich bin nicht wegen des Prozesses hier«, sagte Jim. »Ich habe einen anderen Job für dich – eine Klientin, die einen Privatdetektiv braucht. Sie ist eine gute Klientin, und das schon seit langer Zeit. Also würde ich ihr lieber einen nüchternen Mann präsentieren. Und einen trockenen, falls du hier irgendwo Ersatzkleidung herumliegen hast.«

»Worum geht’s?«

»Claire Gravesend.«

Er beobachtete, wie ich reagierte, aber der Name sagte mir nichts.

»Sollte ich sie kennen?«

»Du hast heute Morgen ein Foto von ihr an ein Boulevardblatt verkauft. Man findet es überall im Internet.«

Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, wovon er sprach. Ich war immer noch auf Lorca und Agent White konzentriert. Dann fiel mir mein Morgenspaziergang wieder ein. Sicher hatte mein Name neben dem Foto gestanden. Die ganze Welt würde wissen, dass ich es aufgenommen hatte.

»Die Selbstmörderin meinst du … Was hat sie damit zu tun?«

»Meine Klientin ist Olivia Gravesend. Claire Gravesends Mutter.«

»Sprichst du von der Olivia Gravesend?«

»Ja.«

»Die junge Frau heute Morgen … Das ist ihre Tochter?«

»Habe ich das nicht gerade gesagt?«

»Und wozu will deine Klientin mich engagieren?«

»Ihre Tochter ist tot. Sie will wissen, wie und warum.«

»Erfährt sie das nicht von der Polizei?«

Jim wischte ein wenig Zigarrenasche von seinem Revers.

»Sie traut niemandem. Die junge Frau wurde durch ihre Fingerabdrücke identifiziert, dann hat man jemanden mit Fotos zum Haus ihrer Mutter geschickt, damit sie die Identität der Toten offiziell bestätigen konnte. Bei der Gelegenheit hat er ihr gesagt, sie habe Selbstmord begangen.«

»Dann hat deine Klientin Angst, dass die Polizei zu voreiligen Schlüssen kommt?«

Jim nickte.

»Es lief tatsächlich ziemlich rasant«, sagte er. »Wenn sie so vorschnell loslegen, könnte es sein, dass sie den Fall mit Scheuklappen angehen.«