Bis in den Tod hinein - Vincent Kliesch - E-Book
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Bis in den Tod hinein E-Book

Vincent Kliesch

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Beschreibung

Drei Morde in vier Tagen – Fall 1 für Kommissar Severin Boesherz! »Bis in den Tod hinein« ist der erste harte Thriller mit dem genialen Kommissar Boesherz von Bestseller-Autor Vincent Kliesch.  Berlin wird von einem selbsternannten Racheengel terrorisiert: Ein polizeibekannter Brandstifter, der bei lebendigem Leib in einem Auto verbrennt, ist bereits das dritte Opfer innerhalb von nur vier Tagen. Der Serienkiller geht so kreativ wie sorgfältig vor, die Mord-Methode entspricht jeweils dem »Vergehen« seines Opfers, und er hinterlässt keine verwertbaren Spuren am Tatort – außer scheinbar zufällig gewählten Zahlen.Für das Team vom LKA um den neu nach Berlin gezogenen Kommissar Severin Boesherz tickt die Uhr, denn die Abstände zwischen den Morden werden immer kürzer. Als auch noch ein internationales Topmodel entführt wird, müssen Boesherz und seine junge Kollegin Olivia Holzmann alles aufs Spiel setzen, um den Code des Killers zu knacken.  Kommissar Severin Boesherz ist der leitende Ermittler in Vincent Klieschs Thrillern »Bis in den Tod hinein« und »Im Augenblick des Todes«. Mit »Im Auge des Zebras« hat der Bestseller-Autor (u. a. »Auris«) eine neue Thriller-Reihe gestartet, in der Boesherz den Staffelstab an Olivia Holzmann als leitende Kommissarin übergibt.

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Seitenzahl: 437

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Vincent Kliesch

Bis in den Tod hinein

Ein Bösherz-Thriller

Knaur eBooks

Inhaltsübersicht

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

64. Kapitel

65. Kapitel

66. Kapitel

67. Kapitel

68. Kapitel

69. Kapitel

70. Kapitel

71. Kapitel

72. Kapitel

Leseprobe »Im Augenblick des Todes «

Prolog

Wie gefällt es dir, tot zu sein?«, hauchte er leise.

Noch standen erst die Reifen des Autos in Flammen, doch in weniger als zehn Minuten würde das Feuer auch auf Motor- und Kofferraum übergegriffen haben. Dann würde Kohlenmonoxid in die Fahrerkabine eindringen, bevor schließlich das gesamte Fahrzeug in Flammen aufgehen sollte. Von Nils Rau, dem jungen Mann, der auf dem Fahrersitz kauerte, würde nicht mehr übrig bleiben als ein verkohltes Skelett.

»Hat es Ihnen denn niemals jemand beigebracht?«, fragte die düstere Gestalt im schwarzen Mantel, die so nah, wie es die immer drängender werdende Hitze erlaubte, an die geöffnete Fahrertür herangetreten war. »Hat Ihnen niemand erzählt, was passiert, wenn man sich nicht an die Regeln hält?«

Nils Rau hatte sich erst zwanzig Minuten zuvor aus dem Schutz seines scheinbar sicheren Verstecks hervorgewagt. Der abgelegene Parkplatz hinter dem Supermarkt war ihm für seine Zwecke optimal erschienen; irgendein Anwohner hatte dort über Nacht seinen Mercedes abgestellt. In seiner Deckung hatte Rau etwa eine Viertelstunde abgewartet, bis er schließlich davon überzeugt gewesen war, dass ihn niemand bemerken würde. Nicht, bevor sich das Feuer zu voller Größe ausgeweitet hätte. Er war an den Wagen herangeschlichen, hatte die Grillanzünder aus seinem Rucksack genommen, jeweils einen davon auf jeden der Reifen gelegt und sie dann vorsichtig entzündet. Es dauerte eine Weile, bis das Gummi zu brennen begann, bevor es schließlich das ganze Fahrzeug in Flammen würde aufgehen lassen. Der junge Mann hatte sich vorgenommen, dieses Spektakel aus sicherer Entfernung zu beobachten. So, wie er es jedes Mal tat.

»Ich werde Ihnen jetzt etwas vorlesen, und ich möchte, dass Sie aufmerksam zuhören«, erklärte der Unbekannte mit unheimlicher Ruhe und zog mit zittriger Hand einen ordentlich zusammengelegten Zettel aus seiner linken Innentasche. Er entfaltete ihn und begann in einem bizarren Singsang vorzulesen, was darauf geschrieben stand.

Rau war nicht imstande, den Worten zu folgen. Er konnte nicht einmal mehr schreien. Der Stromschlag, den der Fremde ihm kurz zuvor durch den Körper gejagt hatte, lähmte ihn noch immer. Zudem hatte das giftige Rauchgas, das von den brennenden Gummireifen her in seine Richtung zog, seinen Verstand bereits vernebelt. Rau wusste nicht, wer die dunkle Gestalt war, die nun, da sie den Zettel wieder zusammengelegt und in die dafür vorgesehene Tasche zurückgesteckt hatte, regungslos und Furcht einflößend zu ihm hinübersah. Er wusste auch nicht, weswegen seine Hände an das Lenkrad des Mercedes gekettet waren. Doch eines – so konfus ihm die Gedanken auch durch den Kopf schossen – begriff Nils Rau durchaus: Das Feuer, das er selbst gelegt hatte, würde ihn in wenigen Augenblicken verschlingen.

»Das noch«, hauchte der Unbekannte, bevor der Blitz einer Polaroidkamera zweimal kurz nacheinander für einen Sekundenbruchteil aufflackerte.

Der Apparat warf die Fotos aus, die der Mann in die rechte Brusttasche seines Hemdes steckte. Dann wandte er sich wieder an sein Opfer: »Und, war es das wert?«

Unter der Motorhaube schlugen nun die ersten Flammen hervor. Rau begann erbärmlich zu husten, nachdem er etwas von dem Qualm eingeatmet hatte, der durch die Lüftungsschlitze im Armaturenbrett hervorgetreten war. Er riss panisch seine Augen auf, rang um Orientierung und erkannte dabei, dass die unheimliche Gestalt allmählich von der Hitze des brennenden Fahrzeugs zurückgedrängt wurde.

»Helfen Sie mir«, brachte er mit letzten Kräften hervor.

»Ich bedaure«, erhielt er zur Antwort. »Nicht Ihnen.« Dann trat der Mann noch einmal etwas näher an den Mercedes heran, wippte, ohne es kontrollieren zu können, dreimal nacheinander mit dem Oberkörper nach vorn, griff dann in seine rechte äußere Manteltasche und zog etwas hervor, das wie ein Stein aussah. »Falls es Ihnen ein Trost ist«, sagte er und warf den Gegenstand mit einer eleganten Bewegung durch die offene Fahrertür auf den Schoß seines Opfers, »Sie werden vielen Menschen das Leben retten. Sehr vielen.«

Dann stieß der Unbekannte mit dem Fuß die Fahrertür zu, griff erneut nach der Kamera, die um seinen Hals hing, und machte zwei weitere Fotos, die er zu den anderen in seine rechte Hemdtasche steckte. Dann schließlich drehte er sich um, ließ Rau in den Flammen zurück und verließ mit geradlinigen Schritten den Parkplatz, während er dabei leise sang.

»Schlafe, mein Baby, hoch oben im Baum,

der Wind schüttelt die Äste wie im süßesten Traum.

Wenn die Äste dann brechen, fällt die Wiege hinab

und landet samt Baby im finsteren Grab.«

Aus der Ferne vernahm der Fremde noch ein paar verzweifelte Schreie, die aber kurz darauf abrupt abbrachen.

»Endlich«, stellte der Mann im dunklen Mantel erschöpft und um Luft ringend fest, als er seinen Kombi erreicht hatte, der in sicherer Entfernung geparkt war. Das Fahrzeug war zwischenzeitlich leicht mit Schnee bedeckt, der unaufhörlich auf die Hauptstadt niederfiel.

Dann zog der Mann seinen Fahrzeugschlüssel hervor, führte ihn ins Schloss des Kofferraums und öffnete dessen Klappe. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass darin noch alles so war, wie er es hinterlassen hatte, wippte er noch einmal unwillkürlich mit dem Oberkörper nach vorn und sagte dann schwermütig:

»Bald …«

Und während Rauch und Flammen am Horizont in den Berliner Nachthimmel emporstiegen, schlug er die Kofferraumklappe wieder zu, setzte sich ans Steuer, startete den Motor und verschwand, voll ungebremstem Tatendrang, in der eisigen Kälte der Nacht.

1

Ich werde mich kurzfassen.«

Carl vom Stein versuchte vergeblich, seine Fassungslosigkeit zu verbergen. Der Staatsanwalt hatte die Aufforderung seiner Gastgeberin, sich zu setzen, abgelehnt. Mit unterdrücktem Zorn stand er vorgebeugt, die Stirn leicht gegen das Glas gelehnt, am Fenster und starrte mit seinen dunklen Augen auf den schleppenden Verkehr des Tempelhofer Damms. Die Stimmung im Büro von Daniela Castella, Dezernatsleiterin der Abteilung 1 für Delikte am Menschen beim LKA Berlin, konnte kaum bedrückender sein.

»Dieser Kerl mordet schneller, als Sie die Tatortfotos an Ihre Flipcharts heften können. Drei Tote in vier Tagen, die Presse belagert uns rund um die Uhr, und alles, was wir haben, sind ein paar unscharfe Aufnahmen von Überwachungskameras.«

Castella kratzte sich verlegen am Hinterkopf. Sie saß angespannt in ihrem Chefsessel, als sei sie eine kleine Angestellte, die von ihrem Vorgesetzten beim Klauen erwischt worden war. Die entschlossene Frau war im LKA eigentlich dafür bekannt, in jeder noch so kritischen Lage die Kontrolle zu bewahren. Jetzt aber, im Hagel der unterschwelligen Vorwürfe des Staatsanwalts, wollten auch ihr die Ausflüchte nicht recht über die Lippen kommen.

»Wir werden …«, setzte sie vorsichtig an, wurde jedoch unverzüglich von Carl vom Stein unterbrochen.

»Wenn Sie mich bitte meine Anmerkungen machen lassen würden. Die Details können Sie ja dann mit Ihren Mitarbeitern besprechen.«

Er wandte sich von der Fensterfront ab und richtete seinen Blick nun auf die Fotos des jungen Mannes, dessen verbrannte Leiche noch in der Nacht in dem Autowrack gefunden worden war.

»Er hat diesen Halbwüchsigen gegrillt wie ein Steak!« Vom Stein ging mit zügigen Schritten zu der Tafel hinüber, an der auch die Fotos der beiden weiteren Opfer angebracht waren, welche die rätselhafte Mordserie bislang gefordert hatte. »Er hat sie alle drei brutal hingerichtet!«, stieß er aus, als er die erschreckenden Bilder der Leichen betrachtete.

Nils Rau war bis auf die Knochen verkohlt. Das Fleisch um seine Lippen herum war vollkommen verbrannt und hatte dadurch sein Gebiss freigelegt, mit dem er den Staatsanwalt von den Bildern her auf eine fürchterliche Weise anzugrinsen schien. Die Hitze hatte Raus Sehnen zusammengezogen, sodass der Tote zusammengekauert in einer Art Reiterstellung vorgefunden worden war. Das synthetische Material seiner Jacke war im Feuer regelrecht mit seiner Haut verschmolzen.

»Sie werden Ihre Bemühungen noch weiter verstärken, völlig egal, wie. Dieser Killer scheint es eilig zu haben, also haben Sie es noch eiliger. Gibt es nicht noch irgendeinen Experten, den Sie hinzuziehen können?« Vom Stein verbarg die Hände in seinen Hosentaschen. Castella bemerkte trotzdem, dass sie zu Fäusten geballt waren, als er hinzufügte: »Was immer dieser Irre da tut, es hat ein System. Knacken Sie es, verdammt!«

Die Dezernatsleiterin schien zu einem Einwand ausholen zu wollen. Vom Stein bemerkte es und kam ihr zuvor:

»Wie Sie das machen, ist mir völlig egal. Dieser Kerl mordet brutal, zielstrebig und schnell. Halten Sie ihn auf.« Der Staatsanwalt sah Castella durchdringend an, bevor er schloss: »Und jetzt entschuldigen Sie mich, ich habe zu tun.«

Noch ehe die Dezernatsleiterin etwas erwidern konnte, hatte der groß gewachsene Mann mit der Narbe auf der Wange ihr Büro auch schon verlassen.

Daniela Castella atmete erleichtert darüber aus, die Ansprache überstanden zu haben, denn üblicherweise war sie selbst es, die ihren Mitarbeitern den Kopf zurechtrückte. Dann sah auch sie zu den Bildern der Opfer hinüber und schüttelte ungläubig den Kopf, während sie hauchte: »Julius, das wäre genau Ihr Fall gewesen.«

Julius Kern, der kurz zuvor zum Ersten Kriminalhauptkommissar befördert worden war, galt in Castellas Team als einer der fähigsten Kriminalisten. Einige rätselhafte Mordserien hatte er bereits mit seiner besonderen Intuition und seinem beispiellosen Ehrgeiz aufklären können. Jetzt stand er Castella jedoch nicht zur Verfügung. Weit entfernt von Berlin verbrachte er mit Frau und Tochter seinen Urlaub in den USA.

»Ausgerechnet in dieser Lage …«

Castella hatte die Leitung der Untersuchungen einem anderen Mitarbeiter anvertraut, der erst seit wenigen Wochen im LKA Berlin tätig war.

»Neue Besen kehren ja angeblich gut«, sprach sie sich selbst Mut zu, während sie dabei ihr Adressbuch auf der Suche nach einem Spezialisten durchforstete, der in dem aufsehenerregenden Fall vielleicht doch noch zu neuen Erkenntnissen gelangen konnte. Und während sie dabei an den neuen Mitarbeiter in ihrem Team dachte, fügte sie unwillkürlich hinzu: »Hoffen wir, dass sich der Besen nicht als Handfeger entpuppt.«

2

Diese Geschichte mit dem Franzosen war im Grunde nur der Auftakt. Wenn auch zugegebenermaßen ein ziemlich spektakulärer«, berichtete Severin Boesherz der geschmackvoll gekleideten Dame, mit der er zu Mittag aß. Während er noch einmal den Sitz seiner Krawatte kontrollierte, sprach er weiter: »Ein Mann vom Sicherheitsdienst hat ihn bei seinem Routinerundgang entdeckt, in einem stillgelegten Lagerhaus in Reinickendorf. Der gute Mann hieß Pierre La Maire. Der Geschäfte wegen hat er schon seit ein paar Jahren in Berlin gewohnt, stammte aber aus dem Périgord.« Boesherz bemerkte den fragenden Blick seiner Begleitung. »Das liegt im Südwesten von Frankreich«, erklärte er daher. »La Maire hatte, wie in jedem Jahr, einen Stand auf der Grünen Woche. Mit seinem kleinen Familienbetrieb.«

Die Internationale Grüne Woche wurde seit vielen Jahrzehnten alljährlich in der Hauptstadt ausgerichtet. Als eine der größten Ausstellungen für landwirtschaftliche Erzeugnisse, Lebensmittel und Gartenbau erfreute sie sich großer Beliebtheit, nicht nur bei den Berlinern. La Maire, das erste Opfer der Mordserie, mit deren Aufklärung Severin Boesherz beauftragt war, hatte dort mit zwei Mitarbeitern Delikatessen aus seiner eigenen Erzeugung präsentiert.

»Ich kann Ihnen natürlich keine Interna erzählen, aber die öffentlichen Informationen reichen schon vollkommen aus«, fuhr er fort, während seine Begleiterin mit wachsender Anspannung an ihrem Weißwein nippte. »Im Anschluss an den dritten Messetag ist der arme Kerl zu einem angeblichen Kaufinteressenten gefahren. Die beiden hatten sich in der Lobby eines Hotels verabredet. Wir haben uns die Videos der Überwachungskameras angesehen, und die zeigen, dass La Maire in der Hotelhalle gewartet hat. Bis ein Anruf kam, auf den hin er in die Tiefgarage gegangen ist.«

»Den Anruf können Sie doch zurückverfolgen?«, warf die junge Frau ein.

»Das wäre schön, aber so einfach hat es uns der Täter nicht gemacht. Ein Prepaidhandy, ich hasse diese Dinger. Im Parkhaus hingen nicht viele Kameras, deswegen müssen wir da ein bisschen spekulieren, was passiert ist. Unser Pierre ist da unten jedenfalls überwältigt worden, so viel ist klar.« Dass der Täter ein Elektroschockgerät benutzt hatte, erzählte Boesherz seiner Begleiterin nicht. Diese Information gehörte zu den Details, die das LKA der Öffentlichkeit vorenthielt. Der Rechtsmediziner, Dr. Adrian Homann, hatte an der Leiche eindeutige Spuren des Gerätes gefunden, das in der vergangenen Nacht auch bei Nils Rau zum Einsatz gekommen war. »Das Auto des Franzosen haben wir auf einem Video aus dem Parkhaus fahren sehen. Zu dem Zeitpunkt lag der Gute aber schon im Kofferraum.«

»Dann haben Sie den Täter am Steuer gefilmt?«

»Nein, der Fahrer ist auf dem Video nicht zu erkennen. Wir sehen nur seine Arme und den Hinterkopf.«

Boesherz griff nach seinem Weinglas, das er im Gegensatz zu seiner Begleitung am Stiel, nicht am Kelch hielt. So, wie er es gewohnt war, schwenkte er dessen Inhalt, als ihm wieder bewusst wurde, dass sich lediglich Wasser darin befand.

»Und woher wissen Sie dann, dass dieser … äh …«

»Pierre La Maire.«

»Genau. Also, dass der nicht am Steuer saß?«

Severin Boesherz lächelte verschmitzt. Er hatte auf diese Frage gehofft.

»Zum einen war der Fahrersitz sehr weit nach vorn gestellt, als wir das Auto gefunden haben. La Maire war einen Meter neunzig groß, so würde er seinen Sitz nicht eingestellt haben. Wichtiger ist aber der Moment, in dem das Auto an der Schranke hält. Der Wagen stoppt, dann geht die Hand des Fahrers kurz an die Tür, erst danach in Richtung Mittelkonsole. Zwei Sekunden später geht die Scheibe runter, und der Fahrer führt das Ausfahrticket in den Schlitz.« Boesherz’ Begleitung sah ihn fragend an. »Der Fahrer hat nach dem Fensterheber gesucht«, erklärte er daher. »Die sind bei französischen Autos manchmal ziemlich originell versteckt. La Maire besaß seinen Wagen seit vier Jahren. Zwischenzeitlich sollte er sich also daran gewöhnt haben, wo er hingreifen musste. Außerdem haben wir Hautschuppen, Blut und Haare von La Maire im Kofferraum gefunden.«

In diesem Augenblick trat der Kellner an den Tisch und servierte einen Caesar’s Salad für die Dame und einen Tafelspitz für den Kommissar. Boesherz hatte sich mit seiner Internetbekanntschaft an diesem Tag zu einem zwanglosen Kennenlernen verabredet. Während der Mittagspause seiner Begleiterin wollten sie in einem kleinen Lokal am Berliner Gendarmenmarkt gemeinsam essen. Während die beiden sich ihren Speisen zuwandten, fuhr Boesherz ungerührt fort.

»So richtig interessant wird die Geschichte aber eigentlich erst ab jetzt«, versprach er und schnitt sein Fleisch an. Es war zu seiner Erleichterung zart wie Butter. Schon oft war der Rheingauer, der erst vor Kurzem in die Hauptstadt umgezogen war, von der Qualität der Berliner Restaurants enttäuscht worden. »Der Entführer hat sein Opfer an Händen und Füßen fixiert, und zwar mit Handschellen, um die er reißfeste Seile gewunden hat. Die hat er dann ziemlich straff um zwei Betonpfeiler gewickelt. Als unser Franzose sich dann kaum noch bewegen konnte, hat ihm sein Entführer ein engmaschiges Metallgehäuse auf den nackten Bauch geschnallt und zwei Ratten hineingesetzt.«

Während Boesherz sich sein Essen schmecken ließ, bemerkte er, dass seine Begleitung auf die bloße Erwähnung des Wortes Ratten hin ihre Gabel auf dem Teller abgelegt hatte. Unbeirrt berichtete er dennoch weiter.

»Der Täter hat auf einem kleinen Gartengrill ein Kohlebrikett zum Glühen gebracht. Sie kennen diese Dinger, die werden noch in manchen Altbauwohnungen zum Heizen von Kachelöfen benutzt. Als das Brikett vollständig geglüht hat, hat er es mit einer Grillzange auf den Metallkäfig gelegt. Der ist natürlich wahnsinnig heiß geworden.«

»Mein Gott, der arme Mann!«, stieß die Frau aus. »Der muss ja total in Panik geraten sein.« Ihr eigentlich attraktives Gesicht war jetzt in tiefe Sorgenfalten gelegt.

»Der Mann?«, entgegnete Boesherz erstaunt. »Die Ratten sind in Panik geraten. Die wollten sofort aus dem Käfig raus! Zu den Seiten ging das aber nicht. Die armen Tiere hatten also nur einen einzigen möglichen Fluchtweg: durch den Bauch von Pierre La Maire.«

Spätestens ab jetzt war von Boesherz’ Begleitung kein weiteres Wort mehr zu erwarten. Wie paralysiert folgte sie mit offenem Mund den Worten des Ermittlers, während ihr eigentlich köstlicher Salat vollkommen in Vergessenheit geraten war.

»Unser Rechtsmediziner hat das Ganze rekonstruiert: Die Ratten haben angefangen, sich zuerst durch die Haut, kurz danach dann durch die Bauchmuskulatur des Opfers zu nagen. Dadurch hatten die Tiere den Dünndarm freigelegt und konnten sich erst mal mühelos durch das Geflecht der Schlingen bis zum Dickdarm vorwühlen. In den haben die Ratten dann ein Loch genagt, durch das sie schließlich über den Anus des Franzosen in die Freiheit entkommen sind. Liberté! Man nennt das Ganze übrigens Rattenfolter, darüber gibt es ganze Abhandlungen.« Boesherz griff eine Scheibe Brot, riss ein Stück davon ab und zog es durch die Meerrettichsoße. »Die Ratten haben das Ganze erstaunlich unbeschadet überstanden, wir haben sie noch in der Lagerhalle gefunden. Sogar der Mann war noch am Leben, ganz bemerkenswert. Er konnte uns seinen Mörder aber leider nicht mehr beschreiben. Er war völlig verwirrt, hatte unfassbare Schmerzen und eine Infektion von den Tieren. Er hat immer nur Les rats, les rats! gerufen. Am nächsten Tag ist er dann gestorben, multiples Organversagen. Möchten Sie noch einen Schluck?«

Während Boesherz nach der Flasche mit dem stillen Bergquellwasser griff, klingelte auf einmal ein Handy. Obwohl die Begleiterin des Kommissars den Klingelton nicht kannte, griff sie spontan nach ihrer Handtasche in der stillen Hoffnung, ein rettender Anruf würde sie von ihrem Blind Date erlösen. Erleichtert stellte sie fest, dass es, wenn schon nicht ihres, so doch immerhin das Handy von Severin Boesherz war, das geklingelt hatte. Auch auf diese Weise konnte sich eine Chance ergeben, das missglückte Kennenlernen abzubrechen.

»Das ist ja nicht zu glauben«, stellte der Kommissar fest, nachdem er einige Sekunden lang zugehört hatte. »Ich bin in dreiundvierzig Minuten da.«

Während der jungen Frau ein Stein vom Herzen zu fallen schien, beendete Boesherz das Telefonat, wischte sich den Mund ab und sah enttäuscht zu seiner Begleitung hinüber.

»Das ist mir ganz furchtbar peinlich«, entschuldigte er sich. »Es gibt schon wieder eine neue Leiche, unser Mörder ist zurzeit ziemlich aktiv. Ich muss Sie leider sofort verlassen. Schlimm?«

Die Frau sah Boesherz an, als wisse sie nicht, was sie darauf erwidern solle. Schließlich brachte sie doch noch eine Antwort hervor.

»Es ist zwar sehr schade, aber wenn es sich absolut nicht vermeiden lässt – gehen Sie ruhig.«

3

Es war Ende Januar, und der Winter hielt Berlin fest in seiner Umklammerung. Severin Boesherz, der sich noch immer nicht ganz an die Verkehrsverhältnisse in der Hauptstadt gewöhnt hatte, erkannte zu seiner Zufriedenheit, dass er die Strecke vom Gendarmenmarkt bis nach Berlin-Köpenick in den von ihm berechneten dreiundvierzig Minuten würde zurücklegen können. Während er die Hauptstraßen dabei noch einigermaßen zügig befahren konnte, lag der Schnee in den Nebenstraßen mittlerweile so hoch, dass sich in der Fahrbahnmitte regelrechte Loipen gebildet hatten. Die Streufahrzeuge der Berliner Stadtreinigung kamen mit der Arbeit kaum hinterher, zudem behinderte das durch die Glätte erhöhte Unfallaufkommen immer wieder den ohnehin schon schleppenden Verkehrsfluss. Boesherz lehnte sich dennoch entspannt in den bequemen Ledersitz seines grauen VW-Phaeton zurück, stellte die Sitzheizung etwas höher ein, betätigte die Massagefunktion und aktivierte schließlich den CD-Wechsler. Genüsslich lauschte er nun den Klängen von Bizets Oper Carmen, die über seine Musikanlage so brillant klang, dass er meinte, direkt im Opernhaus zu sitzen.

Boesherz hatte seiner Mittagsverabredung nicht alles über den Mord an Pierre La Maire erzählt. Das wichtigste Detail der Mordserie unterlag strenger Geheimhaltung. Am Tatort hatte sich neben dem Grill, der Zange und dem Fahrzeug des Opfers nämlich noch etwas anderes gefunden: Der Täter hatte eine Kerze, wie man sie zur Dekoration von Geburtstagstorten verwendet, neben sein Opfer auf den Boden gelegt. Sie stellte die Zahl Sieben dar. Und auch aus dem Wrack des Autos, in dem Nils Rau ums Leben gekommen war, hatte der Erkennungsdienst etwas geborgen. Einen Stein, in den die Zahl Sechs eingeritzt worden war.

 

Schon einen Tag nachdem der französische Feinkostproduzent verstorben war, hatte man die Leiche des zweiten Opfers gefunden. Ein älteres Ehepaar war in der Nähe des im Sommer sehr beliebten Strandbad Wannsee mit einem Tretboot auf dem kalten Wasser umhergefahren, als ihnen aufgefallen war, dass ein Stück Stoff, vielleicht auch ein Müllsack, auf dem Wasser zu treiben schien. Bei näherem Hinsehen hatten sie zu ihrem Entsetzen feststellen müssen, dass es sich dabei um die Leiche eines Mannes handelte, der später als Ole Steinmetz identifiziert werden konnte. Der arbeitslose Klempner war im gerade einmal vier Grad kalten Wasser zu Tode gekommen. Die niedrigen Temperaturen hatten den Kreislauf des Opfers überfordert, was dazu geführt hatte, dass Steinmetz, dem sein Mörder eine Rettungsweste angezogen hatte, bewusstlos geworden und nach etwa einer Viertelstunde erfroren war. Die Leiche zeigte Verletzungen, die auf den Einsatz eines Elektroschockgerätes zurückzuführen waren. Weiterhin fanden sich Spuren von Handschellen, die der Mörder seinem Opfer aber vor dem Sturz ins Wasser wieder abgenommen hatte. Und nicht nur diese Indizien wiesen darauf hin, dass Steinmetz von demselben Mann ermordet worden sein musste wie zwei Tage zuvor Pierre La Maire. Auf der Rettungsweste hatte der Täter zudem nämlich mit einem schwarzen Lackstift eine Zahl hinterlassen: die Vier.

 

Während Boesherz in die kraftvollen Melodien Bizets vertieft war, erreichte er schließlich den Tatort, an dem kurz zuvor das mittlerweile vierte Opfer der Mordserie aufgefunden worden war. Die Schutzpolizei hatte das Gebäude, vor dem der Tote lag, bereits weiträumig abgesperrt, und auch die ersten Journalisten waren längst eingetroffen. Boesherz wartete noch einen Augenblick, bis die Arie Habanera verklungen war, bevor er schließlich die Lenkradheizung abschaltete, den Motor seines Phaeton durch Betätigung des Stopp-Knopfes ausschaltete und schließlich in die Kälte ausstieg, um sich voll Neugier dem Tatort zu nähern.

4

Du bist ja heute noch schicker als sonst«, begrüßte Olivia ihren Kollegen. »Gibt es einen besonderen Grund?«

Olivia Holzmann war Oberkommissarin beim LKA Berlin. Sie war eine sportliche Frau, etwas burschikos, dabei aber niemals unweiblich. Ihr dunkles, schulterlanges Haar trug sie meist offen, und ihre wachen, hellbraunen Augen schminkte sie ebenso unaufdringlich wie den Rest ihres markanten Gesichts. Bis vor Kurzem hatte sie stets einen leichten schwarzen Seidenschal um den Hals getragen, seit einigen Tagen tat sie dies aber nicht mehr. Nachdem Severin seine Stelle in der Hauptstadt angetreten hatte, war die ehrgeizige Olivia gleich bei dessen erstem Einsatz an der Seite des Neuen gewesen. Die nüchtern analytische, oft befremdlich wirkende Art des Rheingauers war ihr dabei immer wieder aufgestoßen. Sie hatte sich jedoch vorgenommen, die Eigenheiten ihres kultivierten, stets Krawatte tragenden Kollegen zunächst nur still im Auge zu behalten, bevor sie sich ein Urteil darüber bilden wollte. Schnell hatte sie erkannt, dass Boesherz ihre Geduld dabei auf eine harte Probe stellen würde.

»Was würdest du denn annehmen?«, antwortete Boesherz ihr trocken, während er dabei über das Absperrband kletterte und zügig auf die Plane zuging, mit der die Leiche des Opfers abgedeckt war.

»Du hattest ein Date«, schlussfolgerte Holzmann mit einem Ausdruck von Freude, der aber schnell Gewissensbissen wich. »Sag bloß nicht, ich habe es dir kaputt gemacht.«

»Im Gegenteil. Du hast mich gerettet!«

Olivia war enttäuscht.

»Wieder nichts? Die Wievielte war das jetzt, seit du in Berlin bist?«

»Die Fünfte. Sah gut aus, war aber geizig. Mit knauserigen Frauen hat man keinen Spaß.«

»Dieses Mal also Geiz«, resümierte Olivia. »Ich nehme an, sie hat sich wieder mit irgendwas verraten?«

»Sie hatte eine gefälschte Prada-Tasche.«

»Sie hat dir erzählt, dass ihre Tasche gefälscht ist?«

»Die Nähte haben es mir erzählt. Schlecht verarbeitet, würde bei einem Original niemals vorkommen. Außerdem hat sie die Speisekarte von rechts nach links gelesen. Erst die Preise, dann das Gericht dazu.« Boesherz schmunzelte mit unterdrücktem Stolz, als er hinzufügte: »Ich habe ihr die Geschichte von dem Franzosen und den Ratten erzählt. Ich glaube nicht, dass sie sich noch mal mit mir verabreden möchte.«

»Das hast du nicht getan«, setzte Olivia nach, während Boesherz sich jetzt der Leiche unter der Plane zuwandte. Anstatt weiter auf seine missglückte Verabredung einzugehen, fragte er: »Wen haben wir denn hier?«

Das Haus, von dem das Opfer in den Tod gestürzt war, hatte acht Stockwerke, lag abseits vom Großstadttrubel in einem ruhigen Randgebiet und war zu jeder Tageszeit problemlos zugänglich. Es schien dem Mörder für seine Pläne hervorragend geeignet gewesen zu sein.

»Das ist Gereon Voss, ein alter Bekannter«, begann Olivia, die den Personalausweis des Toten bereits hatte überprüfen lassen. »Eigentlich ist er Immobilienmakler, hat eine ziemlich große Firma.«

»Ein Immobilienmakler?«, wiederholte Boesherz. »Dann ist es ja nicht so schade um ihn. Die braucht sowieso kein Mensch. Was meinst du mit eigentlich?«

»Die Kollegen nennen ihn den Kletteraffen«, berichtete Olivia. »Er steigt jedes Jahr mindestens einmal auf irgendein hohes Gebäude. Ungesichert, und natürlich ohne Genehmigung. Zuletzt haben wir ihn festgenommen, als er am Turm neben der Gedächtniskirche hochgestiegen ist. Das war im vergangenen Sommer.«

»Die Gedächtniskirche«, wiederholte Boesherz kopfschüttelnd, als ihn Olivias Worte an einen seiner ersten Eindrücke von der Hauptstadt erinnerten. »Ein Sinnbild für Berlin: Sie ist eines der Wahrzeichen der Stadt, aber seit Jahren für niemanden zu sehen, weil sie mit einer Plane verdeckt ist, hinter der sie saniert werden soll. Was aber nicht passiert, weil da niemals irgendjemand am Arbeiten ist. Und um dieses einzigartige historische Denkmal herum stehen unzählige nach Fett riechende Stände, an denen Chinapfanne und Crêpes verkauft werden. Ich war schon am Eiffelturm, am Kolosseum und vor den Pyramiden von Gizeh. Die waren nicht verdeckt, und es gab auch keine Stände mit Chinapfanne und Crêpes drum herum. Berlin eben! Wie dem auch sei …«

Jetzt nahm Boesherz noch einen kräftigen Atemzug von der kalten Luft und hob schließlich die Plane an.

»Wie tief ist er gefallen?«, fragte er, ohne eine Reaktion auf den Anblick der Leiche zu zeigen.

Voss hatte bei seinem Aufprall vielfache Brüche der Rippen und Wirbelkörper erlitten. Sein Unterschenkel stand auf unnatürliche Weise im rechten Winkel auf Höhe des Kniegelenks ab, und aufgrund seines Aufpralls auf dem Hinterkopf waren große Mengen Blut und Hirnmasse ausgetreten, die unterdessen jedoch auf dem Boden festgefroren waren. Boesherz ließ die Plane leidenschaftslos auf den Toten zurücksinken.

»Er trägt Straßenschuhe, hat keine Handschuhe an, und dieses Gebäude ist vollkommen unspektakulär und fernab von jeder Öffentlichkeit. Als Fassadenkletterer war er nicht im Einsatz. Zumindest nicht freiwillig.«

»Wir hätten schon früher hier sein können, aber die Kollegen von der Streife haben es zuerst für einen Selbstmord gehalten.«

»Er liegt auf dem Rücken«, entgegnete Boesherz. »Wie viele Selbstmörder springen denn rückwärts in den Tod?«

Olivia nickte nur und reichte Boesherz dann eine Plastiktüte, in der sich eine Glückwunschkarte befand.

»Hier haben wir die Verbindung zu unserem Serienmörder.«

Auf der Karte war ein kleiner Junge dargestellt, der bunte Luftballons in der Hand hielt. Unter dem Bild war eine große Fünf zu sehen.

»Vielleicht wollte er zu einem Kindergeburtstag?«, überprüfte Boesherz die Theorie seiner Kollegin.

»Er hat keine Kinder, keine Neffen, Nichten oder sonst irgendwen, der in den kommenden Tagen fünf wird. Und nein, auch kein fünfjähriges Jubiläum von irgendwas«, berichtete Olivia von den Ergebnissen ihrer ersten telefonischen Recherchen. »Guck dir mal seine Hände an.«

Boesherz ging jetzt vorsichtig vor der Leiche in die Hocke, bedacht darauf, nicht mit seiner Anzughose die Lache aus Blut und Eis zu berühren, und hob die Plane noch einmal leicht an. Als er die unnatürlich verkrampften Hände des Toten näher betrachtete, stellte er fest, dass sie glänzten.

»Öl?«, fragte er.

»Beide Hände waren damit eingeschmiert. Unser Mörder wollte absolut sichergehen, dass er nicht oben ankommt.«

»Unten«, korrigierte Boesherz seine Kollegin. »Er ist nicht raufgeklettert, sondern runter.«

Der Kommissar erhob sich wieder und sah an dem Gebäude hoch. Es war für einen Fassadenkletterer gut geeignet, die Architektur bot zahlreiche Möglichkeiten, an der steilen Vorderseite Halt zu finden. Boesherz sah sich das Haus noch etwas näher an und deutete dann auf die Vorsprünge, die ein Fassadenkletterer zweifellos genutzt hätte.

»Hier sind nirgendwo Ölspuren an der Wand. Ich gehe mal davon aus, dass auf dem Dach und der oberen Außenwand welche sind. Mit denen können wir dann auch feststellen, an welcher Stelle er abgestürzt ist.« Noch einmal sah Boesherz zu der Leiche und stellte dabei fest: »Besonders weit runter kann er nicht gekommen sein.«

Mit einem Wink gab er den Kollegen der Rechtsmedizin zu verstehen, dass sie den Toten nun fortbringen konnten. Während diese sich daranmachten, das Bein der Leiche für den Transport wieder einzurenken, fragte Boesherz Olivia: »Hast du dir wegen der Zahlen schon Gedanken gemacht?«

»Klar«, gab sie zur Antwort. »Wir haben jetzt vier Tote, die bisher höchste Zahl war die Sieben.« Olivia sah zu dem Transportsarg hinüber, der nun in den Leichenwagen der Rechtsmedizin geschoben wurde. Mit besorgtem Blick sagte sie: »Wir haben bisher die Vier, Fünf, Sechs und Sieben. Wenn der Killer, wovon wir ausgehen müssen, eine Liste abarbeitet …«

Während sich der Leichenwagen auf den Weg in die Rechtsmedizin machte, beendete Boesherz den Gedanken seiner Kollegin: »… dann erwarten uns mindestens noch die Eins, die Zwei und die Drei.«

5

Erstens: Der Schlüssel zu allem sind die Zahlen«, eröffnete Boesherz die Teamsitzung. »Sie dokumentieren das Muster, nach dem er vorgeht. Wenn wir dieses Muster erkennen, können wir ihm vielleicht zuvorkommen.«

Severin duftete wie immer nach edlem Herrenparfum und trug sein an den Geheimratsecken immer schütterer werdendes aschblondes Haar stets zu einem wallenden Scheitel frisiert. Wie immer war er akkurat mit einem Dreiteiler gekleidet und trug dazu Krawatte, Manschettenknöpfe und eine silberne Taschenuhr, die an einer Kette in seiner Westentasche steckte.

Der Hauptkommissar blickte nun mit einer Ernsthaftigkeit in die Runde, der ein Hauch von Ironie beigemischt war, als er zum nächsten Punkt kam. »Zweitens: Unser Mörder hat noch keinen Spitznamen, was ich äußerst unpraktisch finde. Vorschläge?«

Dezernatsleiterin Daniela Castella hatte auf einem Stuhl weiter hinten im Konferenzraum Platz genommen. Sie beteiligte sich jedoch nicht an der Besprechung, sondern hielt lediglich einen kleinen Block in der Hand, in dem sie sich vereinzelt Notizen machte. Nur selten hob sie dabei ihren Blick.

Bereits seit Tagen ermittelte die Sonderkommission fieberhaft im Umfeld der Opfer, suchte nach verwertbaren Spuren, Kalendereinträgen, verdächtigen Telefonaten oder sonst irgendetwas, das einen brauchbaren Hinweis auf die Identität des Mörders geben konnte. Sehr bald hatte sich dabei jedoch herausgestellt, dass der Gesuchte nicht nur mit auffallend großer Aufmerksamkeit gehandelt hatte, sondern dass zwischen ihm und seinen Opfern allem Anschein nach auch keine persönliche Verbindung bestanden hatte. Der Täter handelte minutiös geplant, mit großer Fachkenntnis und höchst umsichtig, was die Arbeit der Ermittler erheblich erschwerte.

»Graf Zahl?«, schlug ein Kollege vor.

»Zu despektierlich«, wiegelte Boesherz ab und fuhr ohne Überleitung fort: »Wir alle fragen uns, was der Mörder mit seinen Zahlen zum Ausdruck bringen möchte. Es könnten Punkte sein, die er an seine Opfer vergibt. Vielleicht auch eine Rangordnung, die er ihnen verleiht. Vielleicht ergeben die Zahlen in der richtigen Reihenfolge auch eine Kombination oder eine Telefonnummer. Es könnte genauso gut auch etwas vollkommen Privates sein, eine Insidergeschichte zwischen dem Täter und den Opfern.« Boesherz ließ seine Blicke prüfend durch den Raum schweifen. Die Kollegen folgten seinen Ausführungen aufmerksam, was insgeheim seiner Eitelkeit schmeichelte. »Davon kommt aber nichts infrage. Warum?«

»Weil das alles zu verworren und unwahrscheinlich ist«, antwortete Judith Beer, die eine erfahrene Ermittlerin war.

»Danke«, erwiderte Boesherz zufrieden. »Unser Täter will sich klar ausdrücken. Wir sollen ihn verstehen. Wenn es für einen Sachverhalt mehrere mögliche Erklärungen gibt, dann ist in aller Regel die Erklärung zutreffend, die am wahrscheinlichsten ist. Es handelt sich also um eine Reihenfolge. Er hat eine Liste gemacht, die er jetzt fleißig abarbeitet – was uns direkt zur nächsten Frage führt. Zu welcher?«

Die Art, mit der Severin Boesherz seine Sitzungen leitete, konnte auf einen Außenstehenden absonderlich wirken. Die Ermittler im LKA hatten sich jedoch schnell an den eigenwilligen Stil ihres neuen Kollegen gewöhnt. Mittlerweile mochten die meisten ihn sogar.

»Wenn es eine Liste ist, ergibt sich die Frage, warum er sie nicht chronologisch abarbeitet«, gab Olivia zur Antwort. »Bisher haben wir die Reihenfolge: Sieben, Vier, Sechs, Fünf.«

Sie saß in der ersten Reihe und hatte vor sich auf dem Tisch Aktenkopien und Tatortfotos ausgebreitet. Boesherz blickte kurz über ihre Schulter, konnte in dem Chaos von Vernehmungsprotokollen, Detailfotos und Notizen aber keine innere Logik erkennen.

»Richtig, Olivia«, bestätigte er seine Kollegin. »Wie gefällt dir der Spitzname Quentin?«

»Warum das denn?«, erwiderte diese verwundert.

»Nach Quentin Tarantino. Pulp Fiction. Der Film ist auch nicht chronologisch erzählt.«

Olivia schüttelte schmunzelnd den Kopf.

»Geht’s noch komplizierter?«

»Also gut«, fuhr Boesherz fort. »Warum mordet er nicht in der richtigen Reihenfolge? Die wahrscheinlichste Antwort lautet: weil es ihm nicht möglich ist. Er kann nicht nach der Chronologie vorgehen, er muss sich nach günstigen Gelegenheiten richten. Er hat es ja offenbar sehr eilig. Es würde ihn also aufhalten, wenn er seine Liste strikt von oben nach unten abarbeiten müsste. Interessant daran ist, dass uns diese Erkenntnis wieder etwas Entscheidendes verrät. Was?«

»Es erzählt uns, dass er ein skrupelloser Soziopath ist, der einen total irren Plan erarbeitet hat und es bei allem Wahnsinn tatsächlich schafft, sich so zu beherrschen, dass er keine Fehler dabei macht«, antwortete ein Kollege. »Nennen wir ihn doch den Nummernkiller.«

»Warum nicht gleich den Mönch mit den Zahlen? Gäbe einen tollen Edgar-Wallace-Roman.« Dann ging Boesherz zu seinem Kollegen hinüber und hockte sich vor ihm nieder, wie es ein Grundschullehrer tun würde, wenn er einem seiner Zöglinge etwas erklären wollte.

»Abstraktion, mein lieber Herr Oberkommissar«, mahnte er mit väterlichem Ton. »Natürlich ist er ein Soziopath, das würden wir auch ohne seine unchronologische Zahlenfolge wissen.« Dann richtete er sich wieder auf und ging an seinen Teamkollegen vorbei in den hinteren Teil des Raumes. Er stellte sich direkt neben den Stuhl von Castella und sagte, ohne seine Vorgesetzte dabei anzusehen: »Indem er auf die korrekte Reihenfolge seiner Liste verzichtet, verrät er uns, dass er nicht irgendwelche Opfer wählt, sondern ganz bestimmte. Aber für wen hinterlässt er die Nummern an den Tatorten? Für die Toten?«

»Für die Lebenden«, gab Beer zur Antwort.

Boesherz schien zufrieden.

»Indem er durch die Zahlen eine codierte Botschaft an die Lebenden hinterlässt, erzählt er uns, dass seine Opfer nur das Mittel sind, nicht der Zweck. Führen wir jetzt also diese beiden Erkenntnisse zusammen: Er wählt ganz bestimmte Opfer und sendet mit deren Ermordung eine Botschaft an die Lebenden. Was erkennen wir daraus?«

Olivia drehte sich zu Boesherz um, bevor sie antwortete.

»Was immer er durch seine Morde mitteilen möchte, muss so offensichtlich sein, dass wir es verstehen. Er kennt seine Opfer nicht oder kaum. Er hat sie ausgewählt, weil sie in seinen Augen ein Symbol für etwas sind. Sie stehen für eine Eigenschaft, die jeder Außenstehende unmissverständlich erkennen kann.«

Anstatt zu antworten, applaudierte Boesherz, verließ die Position neben Castella und ging nach vorn zu seinem Laptop, den er an einen Beamer angeschlossen hatte. Er hatte Fotos der vier Menschen vorbereitet, die dem Serienmörder bislang zum Opfer gefallen waren. Zunächst warf er ein Bild des Franzosen Pierre La Maire an die Wand.

»Man kann jedem der vier Opfer eine offensichtliche Verfehlung zuordnen. Beginnen wir mit dem ersten: La Maire hat Gänsestopfleber produziert. Barbarischer kann man mit Lebewesen kaum umgehen, und dafür ist er auf der Messe in den vergangenen Jahren auch immer wieder heftig kritisiert worden. Für unseren Mörder ist er offenkundig ein Symbol für Tierquälerei. Das wird auch durch die Tatsache gestützt, dass er ihn durch Tiere hat zu Tode kommen lassen.« Ohne auf Fragen oder Reaktionen zu warten, projizierte Boesherz jetzt ein Foto des zweiten Opfers an die Wand. »Ole Steinmetz. Auf den ersten Blick ein einfacher Hartz-IV-Empfänger. Bis man seinen Namen in eine Suchmaschine eingibt. Unser lieber Ole war in den vergangenen zwei Jahren mindestens achtmal in der Zeitung, zudem mehrmals in Talkshows zu Gast. Weswegen?«

Natürlich war den Kollegen die Antwort bekannt. Ole Steinmetz war kein unbeschriebenes Blatt. Die Staatsanwaltschaft hatte mehrmals gegen ihn ermittelt.

»Ein Sozialschmarotzer«, erklärte einer der Kollegen. »Hat jeden Monat Höchstsätze vom Amt kassiert, nebenher schwarzgearbeitet, Vermögenswerte auf seine Freundin überschrieben und im Fernsehen noch über die blöden Steuerzahler gelacht.«

Boesherz stimmte dem zu, bevor er die nächste Frage in die Runde warf.

»Damit steht Steinmetz in unserer Reihe für …?«

»Gier«, gab Olivia zur Antwort.

»Ganz meine Meinung. Worauf ich aber noch keine Antwort habe, ist, warum der Mörder ihn ausgerechnet hat ertrinken lassen.«

»Hat er nicht«, widersprach ein anderes Teammitglied. »Steinmetz ist im Wasser erfroren.«

Der Blick, den er erntete, ließ Widerspruch erwarten.

»Die Schwimmweste war für den Täter nur ein notwendiges Übel«, begann Boesherz auch sogleich. »Ohne sie wäre die Leiche untergegangen und bei den niedrigen Wassertemperaturen eine ganze Weile verschwunden. Wir sollen die Toten aber finden, und das schnell!«

»Er hätte also eigentlich von vornherein eine andere Todesart wählen müssen«, überlegte Olivia. »Hat er aber nicht.«

»Hervorragend, Frau Holzmann«, stimmte Boesherz zu. »Wir wissen jetzt also: Nicht nur die Opfer sind für seine Botschaft wichtig, sondern auch die Art, wie sie zu Tode kommen. Und schon wieder musste der Täter einen Kompromiss eingehen: Das Opfer sollte eigentlich ertrinken. Weil wir es dann aber zu spät gefunden hätten, musste er sich mit Erfrieren zufriedengeben. Sein Todessymbol ist in diesem Fall das Wasser, nicht die Kälte.«

Boesherz projizierte jetzt ein Bild des dritten Opfers an die Wand.

»Nils Rau, der Brandstifter.« Der Kommissar musste sich ein Gähnen verkneifen, denn er hatte in dieser Nacht kaum geschlafen. Noch in den frühen Morgenstunden war er an den Tatort gerufen worden, an dem die Leiche des jungen Mannes aufgefunden worden war. »Unser Feuerteufel war vollkommen verbrannt«, fuhr er dennoch fort. »Wir würden noch gar nicht wissen, wer der Tote war, wenn sein Mörder uns nicht dessen Rucksack in der Nähe des Autos hinterlassen hätte.«

»Rau war ein Autozünder. Einer der wenigen, die wir bisher erwischt haben«, fügte Olivia hinzu.

Es war in den vergangenen Monaten immer öfter dazu gekommen, dass Unbekannte in Berlin wahllos Autos in Brand gesetzt hatten. Waren diese Straftaten zunächst noch politisch motiviert und vorwiegend gegen Fahrzeuge der Oberklasse gerichtet gewesen, waren viele der Kriminellen bald dazu übergegangen, aus reinem Vergnügen an der Zerstörung zu handeln. Nicht nur Fahrzeugbesitzer und Versicherungen hatte dies bereits um Millionen geschädigt. Die Brände, von denen bislang glücklicherweise noch keiner auf umliegende Gebäude übergegriffen hatte, brachten immer wieder auch Menschenleben in Gefahr. Nur selten war es der Berliner Polizei gelungen, einen der Brandstifter festzunehmen. Nils Rau war einer davon gewesen.

»Das Gericht hat ihm Bewährung gegeben«, stellte ein Kollege fest.

Boesherz warf ein Foto der verkohlten Leiche an die Wand und stellte mit nüchternem Ton fest: »So kulant war sein Mörder nicht. Im Rucksack von Nils Rau haben wir alles gefunden, was der Junge gebraucht hätte, um den Mercedes selbst anzuzünden. Wenn ihr mich fragt: Sein Mörder musste das gar nicht für ihn übernehmen. Der Brandstifter, der in seinem eigenen Feuer verbrennt. Eine klare Botschaft!«

»Bleibt Gereon Voss«, stellte Olivia fest.

Selbstverständlich hatte Boesherz auch ein Foto des vierten Opfers vorbereitet.

»Ein Fassadenkletterer, der gezwungen wird, mit eingeölten Händen von einem Hochhaus hinabzusteigen.«

»Genauso eindeutig«, befand ein Kollege. »Er steigt hoch – und fällt tief.«

Anstatt den Einwurf mit Worten zu kommentieren, imitierte Boesherz das Geräusch, das in einer Quizshow ertönen würde, wenn ein Kandidat eine falsche Antwort gegeben hatte.

»Was hast du übersehen?«, fragte er dann.

Das ganze Team war sichtlich angeschlagen. Zwei Morde waren in nur einer Nacht geschehen, zudem hatte der Staatsanwalt den Druck auf Castella erhöht, die keinen Zweifel daran gelassen hatte, dass sie zeitnah greifbare Ergebnisse würde sehen wollen. Anstatt sich also an Theorien zu versuchen, warteten die Kollegen lieber ab, bis Boesherz seine Idee selbst vortrug.

»Mit Opfer Nummer vier haben wir die erste deutliche Abweichung von seinem bisherigen Muster«, erklärte dieser schließlich. »La Maire hat Tiere gequält, Steinmetz hat die Gesellschaft betrogen, Rau hat fremdes Eigentum zerstört. Und Voss?«

Sekundenlang herrschte Stille, bis Olivia das Schweigen brach.

»Er hat niemanden geschädigt«, stellte sie fest. »Seine Kletterei war dumm, leichtsinnig, riskant – aber er hat nur sich selbst damit in Gefahr gebracht.«

»Was bedeutet, dass wir es nicht mit einem Täter zu tun haben, der im Sinne des Gesetzes bestrafen will, sondern …?«

Wieder war es Olivia, die antwortete.

»Im Dienste einer gesellschaftlichen Moral.«

Boesherz räusperte sich, schaltete den Beamer aus, setzte sich auf einen Stuhl, zog seine Taschenuhr aus der Weste, klappte sie auf und schloss die Sitzung mit den Worten: »Die Zeit läuft uns davon. Also, aus welchem Grund hat er so plötzlich mit seiner Mordserie angefangen? Was war der Auslöser? Warum hat er es so verdammt eilig? Was hetzt ihn? Wonach sucht er seine Opfer aus, was für Vergehen stehen noch auf seiner Liste?«

Erst jetzt erhob sich Castella, schlug ihr Notizbuch zu und rief von hinten durch den Konferenzraum: »Wenn es Ihnen möglich ist, würde ich mich sehr darüber freuen, wenn Sie diese Fragen schon beantworten und den Täter fassen könnten, bevor die nächste Leiche auftaucht.« Daraufhin ging sie mit festen Schritten nach vorn und sprach Boesherz persönlich an: »Kommen Sie bitte gleich in mein Büro.« Dann richtete sie sich wieder an alle Mitglieder der Sonderkommission: »Wir nennen ihn ab jetzt Jack. Nach Jack the Ripper. Aber unser Ripper, meine Herrschaften, wird nicht entkommen. Haben wir uns verstanden?«

6

Im letzten Jahr!«, rief Anselm seinem Vater zu und wippte dabei zweimal mit dem Oberkörper nach vorn. »Sie hat es schon wieder übersehen!«

Er konnte auf dem Esstisch endlich keine Putzschlieren mehr erkennen. Jetzt, zur Mittagszeit, wenn das Sonnenlicht durch die Fenster direkt ins Zimmer fiel, waren die Streifen am besten zu sehen. Für die Reinigung glatter Oberflächen verwendete Anselm zwei verschiedene Mikrofasertücher. Eines, das er vor dem Wischen mit warmem Wasser befeuchtete, und ein zweites, mit dem er trocken nachwischte. Die Tücher, die er im Internet entdeckt hatte, empfand er als die zuverlässigsten. Während er sich jetzt daranmachte, die Platzteller auszurichten, sprach er weiter zu seinem Vater.

»Das Letzte bezeichnet das Ende einer vorgegebenen Reihe. Von den Beatles gibt es dreizehn Studioalben. Das letzte, das davon veröffentlicht wurde, war Let It Be.«

Die Platzteller standen nun im richtigen Abstand zueinander, doch Anselm hatte noch nicht überprüft, ob die Beschriftung auf deren Unterseiten auch so ausgerichtet war, dass sie in Richtung des Gastes zeigte.

»Wenn es um etwas geht, das in dem Jahr vor dem aktuellen Jahr geschehen ist, dann reden wir vom vergangenen Jahr. So wie es auch nicht um das nächste Jahr geht, sondern um das kommende. Warum verstehen die Leute das denn nicht?«

Anselm glaubte kurz, sein Vater habe eine Form von Zustimmung verlauten lassen. Sofort fiel ihm aber wieder ein, dass dies gar nicht möglich war. Und obwohl die Dochte der Teelichter noch nicht gleichmäßig nach oben gebogen waren, ließ er vorübergehend von der Arbeit am Esstisch ab und ging stattdessen in das Schlafzimmer das alten Herrn.

Anselm Drexler war einundvierzig Jahre alt und lebte allein mit seinem Vater im Haus der Familie. Er trug meist Pullover, bevorzugt in den Farben Gelb oder Blau, sein halblanges Haar war jederzeit frisch gewaschen und fiel zu den Seiten. Er war nicht besonders groß, etwas übergewichtig und trug eine auffällige schwarze Brille, die stets blitzsauber poliert war.

»Ich habe es bald geschafft«, versprach Anselm, während er die Liegeposition seines Vaters korrigierte. »Heute Abend geht es weiter, gegen acht kommt Jurek nach Hause.«

Dann gähnte Anselm. Seine Nacht war kurz und anstrengend gewesen. Später, vor seinem Besuch bei Kai Jurek, würde er trotzdem noch einmal in der Redaktion vorbeischauen, um seinen Vorgesetzten auf die Fehler hinzuweisen, die seine Kollegin Sonja schon wieder übersehen hatte. Er selbst arbeitete seit einiger Zeit von zu Hause aus, so konnte er den größten Teil des Tages in der Nähe seines Vaters verbringen. Für Anselms Vorgesetzten war es ohnehin nicht von Wichtigkeit, von welchem Ort aus dieser seine Arbeit erledigte. Nach Meinung der meisten Kollegen war dessen Stelle ohnehin überflüssig, auch wenn sie ihm dies niemals offen ins Gesicht gesagt hätten. Die Mitarbeiter in der Redaktion wussten sehr genau, welchen Stellenwert Anselm seiner Arbeit beimaß, und keiner von ihnen hätte sich jemals auf eine Debatte mit dem eigenartigen Mann eingelassen.

»Ich habe es ihr sogar schon gesagt, aber sie ignoriert es einfach«, sprach Anselm nun weiter, während er den Beutel neben dem Bett noch einmal kontrollierte. »Und nicht genug mit diesem letzten Jahr! Vier Sätze weiter steht dann auch noch scheinbar. Im Ernst: scheinbar!«

Anselm musste die Zeitung nicht zur Hand nehmen, um den Satz zu zitieren: »Die Kinder hatten scheinbar Spaß.«

Paul Drexler rührte sich nicht, während sein Sohn damit fortfuhr, seinem Ärger Luft zu machen. »Wenn sie scheinbar Spaß hatten, dann hatten sie eben keinen Spaß. Es schien nur so! Was der Autor aber sagen wollte, war, dass die Kinder anscheinend Spaß hatten. Es hatte also den Anschein, auch wenn wir es nicht genau wissen. Das erklärt sich doch von selbst!«

Während er ein weiteres Mal unwillkürlich mit dem Oberkörper wippte, kam Anselm plötzlich wieder in Erinnerung, dass der Esstisch noch nicht fertig war. Nicht nur die Kerzendochte, auch die Stühle mussten noch ausgerichtet werden.

»Ach, Vater«, besann er sich deshalb und strich dem alten Herrn liebevoll durch das weiße Haar. »Du wirst dich über dein Geschenk freuen, das verspreche ich dir.«

Und während er wieder ins Esszimmer zurückging, flüsterte Anselm:

»Scheinbar. Die Regeln der Väter sind Recht ganz und gar.«

7

Das war eine sehr beeindruckende Ansprache«, begann Castella, nachdem Boesherz sich ihr gegenüber auf einen der unbequemen Besucherstühle mit den knarrenden Lehnen gesetzt hatte. »Ich frage mich nur, ob Ihre Erkenntnisse wirklich die Ermittlungsarbeit vorantreiben oder eher dazu dienen, Ihren neuen Kollegen zu imponieren.«

Boesherz kontrollierte demonstrativ seine Manschettenknöpfe, um zu signalisieren, dass er auf diese Frage nicht eingehen würde.

»Sicher, Sie sehen sehr viele Dinge«, fuhr Castella ungerührt fort. »Einen Täter wie unseren finden Sie aber nicht, indem Sie über Moral und Todeslisten philosophieren. Der Innensenator ruft jeden Tag bei mir an, und die Pressestelle rotiert von früh bis spät. Wir müssen das Tempo noch weiter erhöhen. Ich habe mir deshalb erlaubt, Ihrem Team ab morgen eine weitere Verstärkung zur Seite zu stellen.«

»Eine Frau«, stellte Boesherz nüchtern fest. »Eine Sachverständige, aber sie kommt nicht aus Berlin.«

Castellas Blick drückte Neugier aus.

»Eine weitere Polizistin brauchen wir nicht, die Sonderkommission ist gut besetzt«, erklärte Boesherz daher. »Also muss es eine Sachverständige sein, weil man die immer gern hinzuzieht, wenn man der Staatsanwaltschaft demonstrieren möchte, dass man seine Bemühungen verstärkt. In Deutschland gibt es nur wenige weibliche Expertinnen für solche Fälle, aus Berlin stammt keine davon.«

Castella widersprach nicht. Selbst den Seitenhieb ihres Mitarbeiters übersah sie geschickt.

»Und woher wissen Sie, dass es eine Frau ist?«, fragte sie stattdessen.

Boesherz schmunzelte, bevor er antwortete.

»Ich dachte, wenn es ein Mann wäre, hätten sie Ihren Satz anders formuliert. So was wie: Ich habe einen Sachverständigen hinzugezogen. Das Wort Verstärkung klang so, als seien Sie um Geschlechtsneutralität bemüht.«

»Gut, Severin«, fuhr Castella fort. »Frau Dr. Bartholy kommt aus Neuruppin, und sie ist tatsächlich Serienmörderexpertin. Die renommierteste, die es in Deutschland gibt. Sie hat deren Geschichten studiert, viele von ihnen in ihren Haftzellen besucht und Gespräche mit ihnen geführt. Sie ist außerdem Psychologin und wird uns mit ihrem geballten Wissen hoffentlich zu neuen Erkenntnissen verhelfen.«

»Warum ich da nicht selbst drauf gekommen bin«, hielt Boesherz dem entgegen. »Ich höre mir von einer Expertin an, warum Ted Bundy damals all diese Frauen ermordet hat, und schon haben wir unseren Jack in null Komma nichts in der Zelle sitzen.«

»Im Rheingau mögen ja eigene Verhältnisse herrschen«, begann Castella nun ruhig und ohne eine Spur von Sarkasmus. »Hier in der Hauptstadt ticken die Menschen aber anders. Die Berliner nennen auf ihren Anrufbeantwortern nicht ihre Namen, weil sie denken, man würde sonst ihre Wohnungen ausrauben, wenn sie nicht zu Hause sind. Wenn man sie auf der Straße nach dem Weg fragt, umklammern sie sofort ihre Geldbörsen, und wenn ein einzelner Mann auf dem Spielplatz ein paar Kindern beim Schaukeln zuguckt, ruft sofort irgendeine Mutter die Polizei. Wir sind hier alle sehr aufgeregt, paranoid und fest davon überzeugt, dass jeder, außer uns selbst, ein Krimineller ist.« Castella schien sich nicht mit Boesherz anlegen zu wollen. Er hatte eher das Gefühl, dass sie ihn auf ihre Seite ziehen wollte. »Brutale Morde, ausgeschlachtet von der Presse – was glauben Sie, was das mit den Menschen in dieser Stadt macht?«

»Sie haben recht«, antwortete Boesherz. »Im Rheingau ist das anders. Wir halten mit dem Auto an, um Fußgänger über die Straße zu lassen. Wenn uns jemand, den wir nicht kennen, freundlich grüßt, vermuten wir nicht, dass er uns umbringen will, und unsere Kinder schicken wir morgens einfach in die Schule – ohne dass wir sie vorher Selbstverteidigungskurse besuchen lassen. Jack bestätigt die Menschen in dieser Stadt einfach nur in ihrer ohnehin schon unerschütterlichen Überzeugung, dass wir alle sowieso längst verloren sind. Und wie wird diese Episode ausgehen? Wir werden ihn schnappen, man wird ihn wegsperren, und alle werden ihn vergessen.«

»Was ist mit den Toten?«

Boesherz zuckte mit den Schultern.

»Die sind schon vergessen, bevor wir ihn gefasst haben. Oder wissen Sie noch, wie die Opfer von Ted Bundy hießen?«

Castella stutzte. Dass Boesherz im LKA nicht gerade für seine Sentimentalität bekannt war, wusste sie durchaus. Dennoch erschien ihr diese Bemerkung selbst für einen sachlichen Analytiker wie ihn etwas zu gleichgültig.

»Was haben Sie vor?«, wollte sie daher wissen.

»Ich werde mich mit Jacks Erfolgserlebnissen befassen. Mit dem, wofür er das hier alles macht. Und wenn ich Glück habe, erfahre ich dabei etwas über ihn, das ich noch nicht weiß.« Castella sah ihren neuen Hauptkommissar erwartungsvoll an. »Er statuiert Exempel, und alle sollen es wissen«, fuhr Boesherz daher fort, und ohne dass er dazu aufgefordert worden wäre, erhob er sich dabei und ging zu dem Fenster, an dem noch am Morgen Staatsanwalt Carl vom Stein gestanden hatte. »Es geht ihm um die Presse, um das Feedback. Darum, dass so viele Menschen wie möglich ihm dabei zusehen, wie er Tierquäler bestraft oder etwas Grausames mit Menschen anstellt, die in seinen Augen asozial sind. Sie können sicher sein, dass Jack jeden einzelnen Bericht über seine Mordserie liest. Und wer sind die Menschen, die diese Berichte schreiben?«

»Sie werden es mir verraten.«

»Dieselben Journalisten, die auch schon über die Opfer geschrieben haben. Lange, bevor sie zu Opfern geworden sind.«

Castellas sorgenvolle Miene entspannte sich etwas, als sie zu verstehen begann, worauf Boesherz hinauswollte.

»Jeder, den Jack bisher ermordet hat, war mit seinen Vergehen irgendwann mal in den Medien präsent. Oft nur in kleinen Artikeln, aber jedes der Opfer stand irgendwann mal in der Zeitung oder war im Fernsehen.«

»Ganz genau«, bestätigte Boesherz seine Vorgesetzte. »Wenn diejenigen, die Jack überhaupt erst auf seine Opfer gebracht haben, jetzt über ihn selbst schreiben, dann könnte es doch sein, dass der eine oder andere unseren Serienkiller dabei auf Ideen bringt.«

»Wie sollte das denn aussehen?«

»Der Staatsanwalt ist ziemlich groß«, wechselte Boesherz plötzlich das Thema. Während seiner erst kurzen Zeit beim LKA Berlin war ihm Carl vom Stein noch nicht persönlich begegnet.

»Wie bitte?«, stutzte Castella.

»Seit die Putzfrauen gestern Nacht da waren, hatten Sie nur von ihm Besuch. Und jetzt ist da ein Fettfleck von einer Stirn auf der Scheibe. Der liegt ziemlich weit oben, von Ihnen kann er nicht sein«, gab Boesherz zur Antwort und fügte unvermittelt an: »Vielleicht erwähnt einer der Reporter ja Menschen, die noch in Jacks Plan von der Rache an der Gesellschaft passen könnten.«

»Sie meinen, er könnte sich indirekt Vorschläge machen lassen, wer es noch verdient hätte, auf seine Liste zu kommen?«, hakte Castella nach.

»Seine Liste steht schon längst fest. Aber vielleicht sucht er noch nach Repräsentanten für die einzelnen Verfehlungen.«

Boesherz bemerkte, dass kurz hinter dem Foto von Castellas Ehemann, das seit Jahren auf ihrem Schreibtisch stand, eine schmale Linie verlief, auf der sich kein Staub gebildet hatte. Sie hatte es offenbar von seinem Platz entfernt, es bald darauf aber wieder zurückgestellt, wenn auch nicht ganz exakt an dieselbe Stelle. Er schloss daraus, dass die beiden kurz zuvor miteinander gestritten, sich bald darauf aber wieder versöhnt haben mussten.

»Vielleicht kann Frau Dr. Bartholy uns ja mehr dazu verraten«, spekulierte Boesherz dann spöttisch. »Ab wann steht uns ihre fachliche Kompetenz denn zur Verfügung?«