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»Wer in das Auge des Zebras blickt, wird mit einer total sympathischen Ermittlerin, einer düster-faszinierenden Geschichte und an jedem Kapitelende mit einem überraschenden Twist belohnt!« Sebastian Fitzek Wie kann eine Person an mehreren Orten zugleich sein? Im Reihen-Auftakt »Im Auge des Zebras« von Bestsellerautor Vincent Kliesch muss Kommissarin Olivia Holzmann einen Fall lösen, den es gar nicht geben kann. Was physikalisch vollkommen unmöglich ist, geschieht in ganz Deutschland: Überall werden Teenager entführt, die Eltern kurz darauf ermordet. Und allen Beweisen nach wurden die Taten zur selben Zeit und von derselben Person verübt! Kommissarin Olivia Holzmann vom LKA Berlin tappt im Dunkeln und weiß nur, dass den Jugendlichen die Zeit davonläuft. Um diesen scheinbar übernatürlichen Fall zu lösen, bedarf es der Fähigkeiten dreier besonderer Ermittler: der Willensstärke von Olivia Holzmann, der genialen Beobachtungsgabe ihres Mentors Severin Boesherz und der Erfahrung der pensionierten Kommissarin Esther Wardy. Die drei ahnen nicht, wie leicht ihnen der Täter jederzeit das Liebste nehmen kann, das sie besitzen … Ein genialer Psychopath, ein unmöglicher Fall und unvorhersehbare Twists: Der deutsche Thriller-Autor Vincent Kliesch, der u .a. mit der »Auris«-Reihe zusammen mit Sebastian Fitzek immer wieder die Bestsellerliste stürmt, wird seinen Lesern mit der neuen Ermittlerin Olivia Holzmann viele schlaflose Nächte bescheren!
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Seitenzahl: 465
Vincent Kliesch
Thriller
Knaur eBooks
Wie kann eine Person an mehreren Orten zugleich sein? Was physikalisch vollkommen unmöglich ist, geschieht in ganz Deutschland: Überall werden Teenager entführt, die Eltern kurz darauf ermordet. Und allen Beweisen nach wurden die Taten zur selben Zeit und von derselben Person verübt! Kommissarin Olivia Holzmann vom LKA Berlin tappt im Dunkeln und weiß nur, dass den Jugendlichen die Zeit davonläuft. Um diesen scheinbar übernatürlichen Fall zu lösen, bedarf es der Fähigkeiten dreier besonderer Ermittler: der Willensstärke von Olivia Holzmann, der genialen Beobachtungsgabe ihres Mentors Severin Boesherz und der Erfahrung der pensionierten Kommissarin Esther Wardy. Die drei ahnen nicht, wie leicht ihnen der Täter jederzeit das Liebste nehmen kann, das sie besitzen …
Widmung
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
51. Kapitel
52. Kapitel
53. Kapitel
54. Kapitel
55. Kapitel
56. Kapitel
57. Kapitel
58. Kapitel
59. Kapitel
60. Kapitel
61. Kapitel
62. Kapitel
63. Kapitel
64. Kapitel
65. Kapitel
66. Kapitel
67. Kapitel
68. Kapitel
69. Kapitel
70. Kapitel
71. Kapitel
72. Kapitel
Danksagung
Leseprobe »Im Augenblick des Todes «
Für Andi, Dominik, Gunnar, Jana, Marco und Marvin
Okay, ich verwurste eure Namen, Berufe und Eigenschaften dauernd für meine Figuren, aber immerhin dürft ihr auf diese Weise alle mal Psychopathen oder ähnlich skurrile Gestalten sein. Wer träumt nicht davon?
Fjodor Sokolov
Wenn man will, dass etwas unbemerkt bleibt, dann sollte man es in aller Öffentlichkeit tun. Mit der größten Selbstverständlichkeit, unter aller Augen.« Fjodor Sokolov lehnte sich in dem schmuddeligen, abgenutzten Plastikstuhl zurück, schloss für einen Moment die Augen und faltete die Hände in seinem Schoß. »Das hat mein Vater mir beigebracht. Er war ein großer Zauberer beim Staatszirkus. Er hat mich alles über die Kunst der Täuschung gelehrt!«
Ein Lächeln huschte über Sokolovs Gesicht. So wie immer, wenn er sich an seinen Vater erinnerte. Mochten sie doch alle sagen, was sie wollten. Zu Hause in Russland, wo Sokolov als Teenager in den Zeiten des Kalten Krieges aufgewachsen war, nachdem er zuvor zehn Jahre in der DDR verbracht und dabei Deutsch gelernt hatte. Ein Spion sei sein Vater gewesen, ein Verräter, der seine eigenen Freunde und Kollegen hatte über die Klinge springen lassen. Damals, in der Zeit, in der man in der Sowjetunion gut daran getan hatte, sich für die richtige Seite zu entscheiden. Der KGB, so sagten sie, hatte ihn erschießen lassen. Während der Zeit der Entspannung zwischen Ost und West, als die Interessen sich plötzlich gewandelt hatten und die, die zuvor noch nützlich gewesen waren, plötzlich zum Problem zu werden drohten. Doch Fjodor Sokolov waren diese Gerüchte gleichgültig. Er bewertete seinen Vater nicht nach dem, was man ihm nachsagte. Auch wenn es mit großer Wahrscheinlichkeit alles stimmte. Für ihn war Artjom Sokolov der Mann, der ihn gelehrt hatte, was er brauchte, um in der Welt zu überleben. Ganz gleich, wie auch immer diese Welt sich wandeln würde. Und sein Vater war dabei nicht zimperlich gewesen. Nicht in den Tagen, an denen er den jungen Fjodor hatte hungern lassen, um ihn die Kunst der Selbstbeherrschung zu lehren. Nicht in den Nächten, die er ihn draußen im Schuppen den eisigen Temperaturen des russischen Winters ausgesetzt hatte, um ihn abzuhärten. Und nicht während der Kämpfe, in denen er seinen Sohn so lange verprügelt hatte, bis dieser es endlich verstand, sich zur Wehr zu setzen. Bestimmt hatte Artjom Sokolov während der Zeit, bevor der politische Wind sich gedreht hatte, noch so manch einen unliebsamen Zeugen seiner Machenschaften über die Klinge springen lassen. Doch am Ende war es auch für ihn gekommen, wie es kommen musste. Immerhin, der politische Wandel, der seinen Vater das Leben gekostet hatte, sollte seinen Sohn reich machen. Wenn auch nicht in der Spionage. Und das, obwohl Sokolov ein sehr aufmerksamer Spion war. Gerade dann, wenn er Menschen traf wie Marc Donder. Und diese Frau, die ihn begleitete, kein Wort sprach und sich ihm nicht vorgestellt hatte.
»Zaubern Sie uns jetzt ein Kaninchen aus dem Hut, oder kommen wir zum Geschäft?« Marc Donder zog ebenfalls einen Plastikstuhl zu sich heran und nahm Sokolov gegenüber Platz.
Seine Begleiterin blieb ebenso stehen wie Boris, Sokolovs Assistent, der ihm keine Sekunde lang von der Seite wich. Sokolov würdigte die Frau eines kurzen Blickes. Wie unglaublich gut sie sich darauf verstand, gleichzeitig grimmig und aufmerksam zu wirken. Sie wäre bestimmt eine tolle Sportlerin in der UdSSR gewesen. Schlank, trainiert, sogar Muskeln ließen sich durch ihr eng anliegendes Hemd hindurch ausmachen. Aber dennoch keine drogenverseuchte Amazone, eher eine natürliche Sportlerin. Eigentlich zu schade für einen Männerjob, aber die Welt hatte sich eben leider nicht nur dort verändert, wo es Sokolov gefiel.
»Was Sie mir vorschlagen, klingt unmöglich. Und mich interessieren Männer, die das Unmögliche wagen.« Sokolov wandte seinen Blick von der Frau ab und sah zu Donder. Was für ein beliebiger Typ das doch war. Normal groß, durchschnittliche Statur, mit diesem langweiligen Bart, den in Berlin offenbar alle Männer trugen, die älter als siebzehn waren. Gekleidet in einen Anzug, der vermutlich tausend Euro gekostet hatte und trotzdem nicht anders aussah als einer, den man für ein Taschengeld im Internet bestellen konnte. Ein weiteres Herdentier, das sich an den Versuch wagte, zu den großen Jungs aufzusteigen.
»Sie sind also an unserem Angebot interessiert?« Donder verzog keine Miene.
Der große weiße Wal glitt sanft über die ruhige Wasseroberfläche. Es war schon Nachmittag, aber die Temperaturen lagen immer noch über zwanzig Grad. Nicht der heißeste Sommer, den Berlin in den vergangenen Jahren erlebt hatte, doch die Ausflugsziele der Hauptstadt erfreuten sich dennoch großer Beliebtheit. So wie auch der etwas in die Jahre gekommene Dampfer, der in Design und Namen an den Roman Moby Dick von Herman Melville angelehnt war. Sokolov wandte seinen Blick von Donder ab und ließ ihn hinaus in Richtung Ufer schweifen. Während sich der Geruch des von der Sonne aufgeheizten Wassers zunehmend stärker mit dem von Bier und Bockwurst vermischte, entfernte sich das sichere Festland immer schneller von ihnen, während der Dampfer sie weiter und weiter auf den Tegeler See hinaustrug.
»Berlin ist in der Hand der Libanesen, und die werden von den Kolumbianern beliefert.« Sokolov senkte seine Sprechlautstärke nicht, obwohl die vier von allerlei Menschen umgeben waren, die auf dem Dampfer hin und her liefen. »Sie haben meinem Assistenten Boris erzählt, dass die Libanesen ihre Ware trotzdem bald nur noch von mir kaufen werden. Da das praktisch unmöglich ist, wollte ich mir gern anhören, wie Sie zu dieser kühnen Behauptung kommen. Also bitte, erzählen Sie mehr.«
Von fern stieg das Grölen der Männer auf, die weiter hinten auf dem Deck des Dampfers versammelt waren, ganz in der Nähe der Schwanzflosse des Wals. Ihrer Kleidung nach gehörten sie einem Kegelverein an. Sokolov bemerkte in Donders Hintergrund, wie eine ältere Dame, die mit einer Freundin einen Cappuccino trank, mit genervtem Gesichtsausdruck zu den Kegelbrüdern hinübersah, bevor sie sich wieder ihrer Gesprächspartnerin zuwandte.
»Wir können es möglich machen, dass Sie den Libanesen wesentlich bessere Preise bieten. Und das für Ware von höherer Qualität!«
»Wie sollte das gehen? Unsere Preise sind am Limit kalkuliert, der Markt unterliegt ganz genauso den Gesetzen von Angebot und Nachfrage wie jeder andere auch. Wir können die Kolumbianer nicht unterbieten.«
Donder zuckte mit den Schultern. »Dank uns werden Sie das können. Und trotzdem viel mehr verdienen als vorher!«
Drei Teenager in kurzen Hosen polterten von unten auf das Deck und setzten sich laut lachend an den Tisch, der nur wenige Meter von Sokolov, Donder und deren Begleitern entfernt stand. Die Mädchen mochten vielleicht fünfzehn oder sechzehn sein, eine von ihnen hatte ein Eis in der Hand, die beiden anderen machten Fotos mit ihren Handys. Sokolov sah mit geringschätzigem Blick zu ihnen hinüber und sprach dann ungerührt weiter.
»Also gut, was können Sie mir anbieten?«
Donder lehnte sich zurück. »Wie Sie wissen, schafft es nur etwa die Hälfte der Ware, die in den Produktionsländern verschifft wird, durch die Kontrollen der deutschen Behörden bis in den Hamburger Hafen und somit zu den Abnehmern. Mit diesem Wert kalkulieren alle Beteiligten, und das hält den Verkaufspreis für den Endverbraucher stabil. Genau an diesem Punkt setzen wir mit unserer Organisation an. Wir verfügen über eine Infrastruktur, die es uns ermöglicht, bis zu siebzig Prozent der Ware durch die Kontrollen zu bringen. Und wir allein können entscheiden, welchem Händler wir diesen Service zuteilwerden lassen. Sie könnten durch uns also viel mehr Ware nach Deutschland bringen als die Kolumbianer, und Sie hätten dann entsprechend mehr zu verkaufen. Damit könnten Sie den Libanesen in Berlin bessere Qualität zu günstigeren Preisen bieten.«
Sokolov führte seinen rechten Zeigefinger vor den Mund und schloss die Augen. Ohne sie wieder zu öffnen, fragte er: »Und was wollen Sie für diesen Service haben?« Auch wenn er Donder jetzt nicht ansah, konnte er an dessen Stimmklang erkennen, dass er lächelte. Vermutlich siegessicher.
»Wir bekommen eine reine Erfolgsprämie. Zwei Prozent für jedes Kilo, das wir im Vergleich zum bisherigen Standard zusätzlich durch die Kontrollen bringen. Von den Libanesen bekommen wir noch mal ein Prozent auf das, was sie durch uns sparen.«
Sokolov öffnete die Augen. Er sah Donder an, als wäre dieser eines der Schulmädchen, die am Nebentisch noch immer lachten und mit ihren Smartphones herumspielten. Und das, obwohl dieser Deutsche mit dem langweiligen Bart alles andere als dumm zu sein schien. Nichts Bedrohliches hatte er an sich, keine sichtbaren Tattoos, Narben oder sonstige Anzeichen dafür, dass er ein raues Leben außerhalb der normalen Gesellschaft geführt hatte. Dieser aalglatte Kerl, der wie der Sohn eines Bankers wirkte. Einer, dem man beinahe vertrauen könnte. Wenn es nicht so wäre, dass Fjodor Sokolov absolut niemandem vertraute. Und schon gar keinem gelackten Fritzy mit einer anscheinend stummen, ernst dreinblickenden Amazone im Schlepp, der ihm gerade ein Angebot unterbreitet hatte, das zu gut klang, um wahr zu sein – und es gerade deswegen eigentlich sein musste. Immerhin, wer würde es schon wagen, Fjodor Sokolov mit einer derart unglaublichen Geschichte reinlegen zu wollen?
»Sie haben also Kontakte zum deutschen Zoll?« Sokolov sprach so ruhig, wie er konnte.
»Wir haben alle Kontakte, die wir brauchen.«
»Aber was werden die Kolumbianer dazu sagen, wenn sie ein paar ihrer besten Kunden an uns verlieren? Oder haben Sie mit denen auch schon verhandelt und wollen nur sehen, wer Ihnen das bessere Angebot macht?«
Donder zuckte nicht einmal mit der Wimper, als er entgegnete: »Wir reden zuerst mit Ihnen. Wenn Sie zuschlagen, dann sind wir im Geschäft. Um die Kolumbianer kümmern wir uns dann.«
Sokolov atmete durch. Die Mädchen am Nebentisch lachten laut auf, woraufhin er einen finsteren Blick zu ihnen hinüberwarf. Als eine der drei es bemerkte, stand sie auf und animierte ihre Freundinnen dazu, ihr nach weiter hinten auf das Deck zu folgen.
»Sie wollen sich um die Kolumbianer kümmern?« Sokolov beugte sich zu Donder vor. »Die sind nicht gerade bekannt dafür, dass man sich einfach so um sie kümmert.«
Der Angesprochene wirkte unbeeindruckt. »Ich gehe doch wohl davon aus, dass Sie sich eingehend über uns informiert haben?«
Boris, der bis dahin wie eine Wachsfigur dagestanden hatte, streckte sein Kreuz durch und spannte seinen Körper an. Sokolov bedeutete ihm mit einem Fingerzeig, dass er die Frage beantworten solle.
»Natürlich haben wir das!« Wie auch sein Chef sprach Boris gutes Deutsch, wenn auch im Gegensatz zu Sokolov mit starkem Akzent. »Sie sind sehr gut getarnt, Ihre Spuren sind schwer zu verfolgen. Es scheint, als ob Sie direkt von der Politik geschützt würden. Zumindest von den richtigen Stellen.«
Donder stieß ein schnaubendes Lachen aus.
»Deswegen operieren wir von Berlin aus. Kennen Sie den Berliner Senat? Die Stadt ist praktisch führungslos! Die Dealer bekommen von der Regierung Zonen zugewiesen, in denen sie ihre Drogen verkaufen können. Die Regierungskoalition betreibt hier eine so massive Klientelpolitik, dass sie schon allein aus ihrem latenten Polizeihass heraus die Exekutive praktisch lahmlegt. Berlin ist politisch ein Witz, und wir haben daraus ein Geschäftsmodell entwickelt! Natürlich reicht unser Arm auch bis nach Hamburg, wo die Ware eintrifft.«
»Also gut.« Sokolov ruckte seinen Mantel zurecht. »Unsere Lieferungen nach Deutschland werden also ab sofort von Ihnen geschützt. Sie arrangieren außerdem, dass wir in Zukunft auch Berlin beliefern, und Sie kümmern sich darum, dass die Kolumbianer Ruhe geben. Dafür bekommen Sie eine Erfolgsprovision.«
»Ganz genau so! Wann und wo trifft die nächste Fuhre ein?« Donder schlug die Beine übereinander.
»Darüber informiere ich Sie, sobald alle Zweifel aus der Welt geschafft sind.« Sokolov verzog sein Gesicht zu einem bitterbösen Grinsen.
»Welche Zweifel dürfen wir denn noch beseitigen?«
Eine sanfte Brise zog vom Wasser zu ihnen herüber.
»Ich habe diesen Dampfer nicht ohne Grund als Treffpunkt ausgewählt.« Sokolov lächelte Donders Assistentin zu, lehnte sich zurück und verschränkte die Hände im Nacken. »Moby Dick ist eine Geschichte, die mich schon als kleiner Junge fasziniert hat. Ein dummer, verbohrter Kapitän, der so blind vor Hass und Zorn ist, dass er sich auf einen ungleichen Kampf mit einem Gegner einlässt, den er gar nicht besiegen kann. Und der dafür sein Leben und das seiner ganzen Mannschaft opfert. Warum ist Ahab nicht mit kühlem Kopf an seinen Plan herangegangen? Dann hätte er erkannt, dass er mit dieser Mission in sein eigenes Verderben läuft. Ich habe viel aus dieser Geschichte gelernt. Und ich plane nicht, in mein eigenes Verderben zu laufen, weil ich blind in irgendeine Mission gehe. Sie werden mir beweisen müssen, dass ich Ihnen die Informationen über meine Lieferungen ruhigen Gewissens anvertrauen kann.«
Sokolov erhob sich von seinem Stuhl, drehte sich um und ließ seinen Blick über das Deck schweifen. Die Kegelbrüder hatten eine weitere Runde Bier bestellt, die Teenager tippten noch immer auf ihren Handys herum, sechs bunt gekleidete Frauen, die offenbar einen Junggesellenabschied feierten, lachten und tanzten, während ein Liebespaar händchenhaltend ganz vorn auf dem Deck saß und über den Kopf des Wals hinweg verträumt in die Ferne blickte.
»Also gut, was stellen Sie sich vor?«, fragte Donder.
Sokolov drehte sich wieder zu ihm herum.
»Lassen Sie mich noch einmal auf meinen Vater zurückkommen. Wie gesagt, er war Zauberkünstler. Er hat mir viele wichtige Dinge beigebracht. Auch darüber, wie man seine Geschäfte machen sollte, wenn man sie lange und erfolgreich machen möchte. Er hat mir nicht nur erklärt, dass man in die Öffentlichkeit gehen sollte, wenn man etwas unbemerkt tun will. Er hat mir auch beigebracht, dass es Dinge gibt, die man besser ohne Öffentlichkeit erledigt …«
»Das ist kein Problem. Wann und wo möchten Sie denn Ihren Vertrauensbeweis haben?«
Sokolov zwinkerte Donder zu, als ob er ihm einen Streich gespielt hätte. »Jetzt und hier!«
»Auf diesem Dampfer sind mindestens fünfzig Leute, hier kann man nirgendwo allein sein.«
»Es sind genau dreiundfünfzig! Aber das ist kein Problem, denn mein Vater hat auch mir das Zaubern beigebracht!« Sokolov drehte sich einmal um die eigene Achse und hob mit großer Geste seine Hände. »Passen Sie gut auf!«
Er klatschte. Nur ein Mal, aber klar und kräftig. Und mit einem Mal wurde es still. Die Mädchen legten gleichzeitig ihre Handys auf dem Tisch ab, an dem sie saßen. Die Kegelbrüder stellten ihre Biergläser ab und hörten auf zu singen, die Mädels vom Junggesellenabschied unterbrachen ihr Trinkspiel, der Kellner rührte sich schlagartig nicht mehr, und auch alle anderen Menschen auf dem Dampfer verfielen in eine Art Starre. So, als hätte man sie hypnotisiert.
»Was soll das denn jetzt?« Donder sah Sokolov verunsichert an.
Dieser winkte ab. »Nicht so eilig, es geht ja noch weiter!«
Damit drehte er sich ein weiteres Mal im Kreis, hob erneut die Hände an und klatschte ebenso klar und laut wie zuvor. Jetzt jedoch zwei Mal. Und augenblicklich zogen sich sämtliche Passagiere ihre Schuhe, Hosen und Oberteile aus, unter denen sie allesamt Badebekleidung trugen. Dann traten sie an die Reling des Dampfers, ohne Ausnahme. Die einen backbord, die anderen steuerbord. Je nachdem, wo sie gerade gestanden hatten.
»Jetzt kommt der beste Teil!« Sokolov hob die Hände und klatschte nun drei Mal.
Und dann sprangen sie von Bord. Alle. Die Männer, die Frauen, die Älteren und die Jüngeren. Die Besatzung und die Mitarbeiter. Sie alle sprangen einmütig in den Tegeler See und machten sich zügig daran, zur linken wie zur rechten Seite zu den Ufern zu schwimmen. Nur Sokolov, Boris, Donder und die Frau an dessen Seite waren jetzt noch an Deck.
»Faszinierend!« Donder versuchte offenbar, sich keine Regung anmerken zu lassen. »Sie sind wirklich ein echter Magier. Und wie geht es weiter? Jetzt, wo wir allein sind?«
Sokolov verneigte sich so, wie es sein Vater immer in der Manege getan hatte. Scheinbar demütig, doch in Wahrheit voll Stolz und mit einem Gefühl von Erhabenheit. Dann wandte er Donder den Rücken zu und gab seinem Assistenten einen Wink. Boris öffnete sein Jackett, zog eine Pistole hervor und richtete sie direkt auf den Kopf der Frau, die noch immer regungslos neben Donder stand. Dann sagte er klar und deutlich: »Jetzt werden Sie jemanden töten, der zu viel weiß!«
Olivia Holzmann
Olivia blickte direkt in den Lauf der Waffe. Ihre Atmung beschleunigte sich leicht, und auch ihr Herz schlug etwas schneller als zuvor. Fast schämte sie sich dafür, doch diese elementaren Körperreaktionen auf eine Bedrohung ihres Lebens ließen sich auch dadurch nicht unterdrücken, dass es wahrhaftig nicht das erste Mal war, dass sie in den Lauf einer Waffe blickte. Unter ihren Kollegen im LKA galt Olivia als furchtlos. Als eine, die handelte und erst danach über die Risiken nachdachte. Die klug, sportlich und effizient war. Aber eben oft auch stürmisch und impulsiv. Was für ein cleverer Hund er doch ist. Olivia wandte ihren Blick von der Waffe ab und sah mit hochgezogenen Augenbrauen zu Fjodor Sokolov, der mit auf dem Rücken verschränkten Armen über das Deck des Dampfers schritt, als wäre er ein Heerführer, der soeben die entscheidende Schlacht begonnen hatte.
Sokolov hatte Olivia und Marc Donder erst in letzter Sekunde zur Anlegestelle der Moby Dick bestellt. Entgegen jeder Absprache. Ich lande in Schönefeld, von da fahre ich direkt nach Berlin-Mitte. Seien Sie um Punkt sechzehn Uhr vor dem Starbucks am Bahnhof Hackescher Markt, hatte er gesagt. Als Olivia und Donder dort eingetroffen waren, hatte Sokolov sich erneut gemeldet. Gehen Sie zu Fuß zum Fernsehturm. Wenn Sie schnell sind, schaffen Sie es in sechs Minuten. Dort hatte ein augenscheinlich ahnungsloser Taxifahrer auf die beiden gewartet. Auch wenn man niemals wissen konnte, wer zu Sokolovs Leuten gehörte und wer nur eine austauschbare Spielfigur war. Der Fahrer war nacheinander zu drei verschiedenen Stationen gefahren. Zunächst hatten sie am Gesundbrunnen-Center gehalten. Nach kurzem Warten war es weiter nach Wittenau gegangen, wo sie mehrere Minuten lang nahe einem Park hatten warten müssen. Erst dann war der Wagen nach Tegel weitergefahren. Mindestens eine Stunde hatte das Umherfahren gedauert. Besteigen Sie die Moby Dick, hatte Sokolov sie telefonisch instruiert. Es gibt nur noch zwei Plätze, und wir legen in einer Minute ab. Man wird Sie an Bord lassen, außer Ihnen aber niemanden mehr.
Olivia musste anerkennen, dass Sokolov sein Handwerk verstand. Wie sonst hätte er es auch in einem Geschäft wie dem seinen schaffen können, einer der einflussreichsten Bosse zu werden? In einem Gewerbe, in dem nur ein einziger Fehler der letzte sein konnte, den man jemals begehen würde. In einem Gewerbe, in dem man hinter absolut jedem Menschen einen Verräter vermuten musste, um überleben zu können. In dem Misstrauen Pflicht war, und Versagen nicht selten tödlich. Ja, er hatte das alles wirklich gut durchdacht. Dieser Dampfer war wohl der einzige Ort, an dem Sokolov sicher sein konnte, dass niemand seinen beiden neuen Geschäftspartnern gefolgt war. Denn selbst nach der Irrfahrt durch Berlin wäre es mithilfe von GPS-Systemen noch immer möglich gewesen, dass Donder von verdeckten Ermittlern der Polizei verfolgt wurde. Wie sollten sie dies aber auf einem Dampfer anstellen, der bereits voll besetzt war, bevor Sokolov überhaupt preisgegeben hatte, dass dies der Treffpunkt sein würde? Sicher, mitten auf dem Tegeler See waren auch die Fluchtmöglichkeiten für Sokolov beschränkt, doch Olivia konnte darin keine Schwachstelle in seinem Plan ausmachen. Vor wem hätte er schließlich flüchten sollen? Es war nicht möglich, der Moby Dick mit Booten oder gar einem Hubschrauber zu folgen, ohne dass Sokolov es bemerkt hätte. Außerdem hatte Boris sie und Donder vor dem Betreten des Dampfers gründlich abgesucht. Dieser kahl rasierte, bis zu den Ohren tätowierte Mann in seinem blaugrauen Anzug, der offenbar maßgeschneidert und außerordentlich teuer gewesen war. Und der ihn wirken ließ, als hätte das Team eines überambitionierten Modedesigners ihn im Rahmen einer Makeover-Show für die Hochzeit seiner Mutter eingekleidet. Natürlich waren Olivia und Donder unbewaffnet und ohne GPS oder Abhörsysteme zu dem Treffen erschienen. Alles andere hätte an Selbstmord gegrenzt.
»Was soll das?« Donder hob seine Stimme nicht.
Sokolov blieb stehen und drehte sich langsam um.
»Mir ist bewusst, dass Ihre Organisation Verbindungen zur Polizei pflegt. Das ist okay. Ich selbst pflege Verbindungen zur Polizei. Das ist sehr nützlich, es erleichtert die Arbeit und erhöht die Sicherheit. Boris hat Sie sehr genau abgeklopft, und er hat mir letztlich zu Verhandlungen mit Ihnen geraten. Allerdings benötige ich noch eine Absicherung. Man kann ja heute niemandem mehr trauen.«
Noch immer hielt Sokolovs bulliger Assistent seine Waffe ausgestreckt auf Olivias Kopf gerichtet.
»Was für eine Absicherung?«
»Ihre Organisation scheint vertrauenswürdig zu sein. Aber mit dem Vertrauen ist das eben so eine Sache. Hat man es nur ein einziges Mal zu Unrecht, dann bekommt man deswegen sehr schnell sehr große Probleme. Deswegen werden Sie jetzt jeden Zweifel daran ausräumen, dass unser geselliges Treffen auf diesem schönen alten Dampfer eine verdeckte Aktion der Berliner Polizei ist.«
»Warum sollte es das sein?«
»Sie haben diese Frau mitgebracht, und wir kennen sie nicht. Das ist nicht üblich, wir müssen jetzt also sicherstellen, dass Sie nichts Dummes planen. Boris, erzähle Herrn Donder doch bitte, was jetzt passieren wird. Ich genieße inzwischen die Aussicht.«
Damit drehte sich Sokolov um und ging bis ganz nach vorn auf das Deck, wo er sich gegen das Geländer lehnte und seinen Blick von den drei anderen abwandte.
»Können wir absolut sicher sein, dass es in Ihrer Organisation keinen Verräter gibt?« Boris sah zu Donder, senkte seine Waffe aber nicht.
»Natürlich können Sie das. Was denken Sie, mit wem Sie reden?«
»Ich denke nicht, ich weiß! Wir treffen niemanden, den wir vorher nicht genau gecheckt haben.« Boris spannte den Hahn seiner Waffe und richtete den Blick wieder auf Olivia. »Deswegen mussten Sie leider eine längere Rundfahrt durch Ihre eigene Stadt hinter sich bringen, bevor wir Sie an Bord lassen konnten. Der Chauffeur, mit dem Sie durch Berlin gefahren sind, gehört zu uns. Er hat uns Bilder von der Frau zugeschickt, und unsere Sicherheitsleute haben sie überprüft. Das ist Olivia Holzmann, und sie arbeitet für das LKA Berlin!«
Olivia regte sich nicht. Sie hatte seit Beginn der Unterredung kaum eine Veränderung an ihrer Körperhaltung vorgenommen, und auch jetzt spannte sie keinen Muskel an, der nicht bereits angespannt gewesen war, bevor dieser Kerl mit dem groben russischen Akzent seine Waffe auf sie gerichtet hatte.
»Na und?« Donder schien unbesorgt, keine Nervosität war ihm anzumerken. »Sie wissen, dass wir unsere Leistung nur anbieten können, weil wir überall bei Zoll, Politik und Polizei unsere Leute haben.«
»Ja, das kann schon sein. Aber Ihnen muss klar sein, dass wir nichts riskieren können. Frau Holzmann ist von der Mordkommission.« Boris umklammerte den Griff seiner Waffe fester. »Das ist lustig!«
»Warum ist das lustig?« Donder wurde etwas lauter, wenn auch nicht viel.
Boris lachte auf. Laut, schmutzig, Speichel flog dabei aus seinem Mund, fast hätte er sich verschluckt. Dann fasste er sich wieder und sagte klar und deutlich: »Eine Kommissarin der Mordkommission wird jetzt beweisen, dass sie auf unserer Seite steht, indem sie selbst einen Mord begeht. Blanke Ironie!« Boris drehte sich um und rief in Richtung des Unterdecks: »Bringt den Typen rauf, es geht los!«
Keine Sorge, es ist niemand Wichtiges.«
Unmittelbar, nachdem Boris gerufen hatte, war ein Deck tiefer etwas in Gang geraten. Türen waren geöffnet und geschlossen worden, irgendetwas Schweres wurde offenbar unter großer Kraftaufwendung und von mehreren Männern umhergewuchtet. Etwas? Oder jemand? Olivia sah ebenso gebannt wie Donder zu der kleinen Treppe, die von unten zu ihnen auf das Deck hinaufführte. Schließlich bemerkte sie die beiden Männer, die in schwarze Overalls gekleidet waren und aussahen, als seien sie übellaunige Holzfäller, die sich aufs Wasser verirrt hatten. Und sie bemerkte auch, was die Männer schleppten.
»Was soll das?« Es war das erste Mal, dass Olivia etwas sagte.
Die beiden bulligen Männer schleiften einen menschlichen Körper auf das Deck, der vollständig in große Müllsäcke aus Plastik eingehüllt war, die sie mit zahlreichen Bahnen Klebeband fixiert hatten. Das Opfer ächzte und reckte sich, doch gegen die beiden Holzfäller kam es nicht an.
»Dieser Mann hat uns heute einen kleinen Gefallen getan.« Boris senkte seine Waffe. »Aber jetzt brauchen wir ihn nicht mehr. Und er weiß zu viel, das ist nicht gut.«
Die beiden groben Kolosse hatten den Gefesselten an die Reling des Dampfers geschleppt und ihn dort ruppig zu Boden gestoßen. Der Mann in dem Sack wand sich, und sein Keuchen war zu hören.
»Was soll der Unsinn? Wir sind Geschäftsleute, keine Barbaren.« Donder war noch immer nicht von seinem Stuhl aufgestanden.
»Das hier ist unser Geschäft. Es gibt nur eine Möglichkeit, wie wir Ihnen trauen können. Verstehen Sie uns bitte. Sie kommen hier mit einer Polizistin an und wollen von uns wissen, wann und auf welchen Schiffen wir unsere Ware verschicken. Von mir aus. Aber zuvor müssen Sie beweisen, dass das hier kein getarnter Einsatz ist.« Boris verzog das Gesicht zu einem Grinsen, bevor er sich an Olivia wandte: »Töten Sie den Mann in dem Sack, und Ihre Loyalität zu uns ist über alle Zweifel erhaben.«
»Wer ist das?« Olivia klang so rational, als kaufe sie Eier auf einem Wochenmarkt.
Boris wirkte ratlos.
»Irgendjemand, völlig egal. Ein winziges Rädchen im Getriebe. Wissen Sie, Herr Donder, wären Sie nicht plötzlich mit dieser Frau Holzmann aufgekreuzt, hätten wir diese Prüfung von Ihnen verlangt. Aber so ist es noch viel besser! Kein Polizist könnte einen Menschen töten, nur um seine Tarnung aufrechtzuerhalten. Schon gar nicht in Deutschland. Das ist ein sehr, sehr sicherer Test. Also los, Frau Holzmann, stoßen Sie den Mann über Bord!«
Die beiden bulligen Handlanger richteten den am Boden liegenden Kerl in seinen verschnürten Müllsäcken wieder auf. Einer von ihnen schlug ihm zwei Mal kräftig in den Magen, dann lehnten sie ihn gegen das Geländer.
»Wir töten niemanden, den wir nicht kennen.« Donder erhob sich und trat einen Schritt auf Boris zu.
Dieser wandte sich zu Sokolov um, der noch immer keinen einzigen Blick auf das morbide Schauspiel geworfen hatte. Er rief irgendetwas auf Russisch, woraufhin Sokolov, ebenfalls auf Russisch, antwortete, ohne sich dabei umzudrehen. Dann sah Boris wieder Donder an.
»Entweder der Typ in dem Sack geht über Bord – oder Sie beide! Und ich fürchte, ich kann Ihnen keine lange Bedenkzeit einräumen. Zehn!«
Auf ein Nicken des Russen hin zogen die beiden Handlanger ebenfalls Pistolen hervor. Olivia sah über die Reling hinaus zum Ufer.
»Wir sind hier nicht auf dem Atlantik. Überall sind Menschen, und dieser Wal-Dampfer ist nicht gerade unauffällig. Jemand würde es sehen, wenn wir hier jemanden ins Wasser werfen.«
Der Mann in den Müllsäcken keuchte und flehte, es war aber kein Wort zu verstehen, er war offenkundig geknebelt.
»Ihre Zeit läuft ab! Neun, acht, sieben, sechs!« Boris hob seine Waffe wieder, richtete sie dieses Mal aber auf Donder. »Zuerst erledige ich dich, danach die Frau. Fünf!«
»Die Brücke!«, rief Olivia.
»Was für eine Brücke?«
Sie drehte sich in Fahrtrichtung und deutete einige Hundert Meter in die Ferne.
»Wir fahren gleich unter einer Brücke durch. Da haben wir einen guten Sichtschutz. Ich vermute, einer Ihrer Männer steuert diesen Dampfer gerade?«
»Natürlich.«
»Sagen Sie ihm, dass er unter der Brücke zum Stehen kommen soll. Dann stoße ich diesen Typen über Bord, damit wir hier endlich zum Geschäft kommen können.« Noch immer ließ Olivia sich keine emotionale Regung anmerken.
Boris unterbrach seinen Countdown.
»Von mir aus.« Er sagte zu seinen beiden Helfern etwas auf Russisch, woraufhin sich einer von ihnen offenbar zum Bootsführer aufmachte. Bald bemerkte Olivia, dass sich die Fahrt des weißen Wals verlangsamte.
»Der kleine Zaubertrick Ihres Chefs dürfte für einige Aufmerksamkeit am Ufer gesorgt haben.« Donder sprach sehr ruhig, keine Nervosität schwang in seiner Stimme mit. »Es gibt sehr viele Zeugen für unser Treffen.«
»Aber keine für die Anwesenheit dieses Mannes in dem Sack. Frau Holzmann ist doch bei der Mordkommission. Irgendwem wird sie das schon anhängen können. Oder?«
Olivia signalisierte Zustimmung. »Da findet sich schon wer!«
Ein Stück legte der Dampfer noch mit sinkender Geschwindigkeit zurück, bis er schließlich an seinem Ziel zum Stehen gekommen war. Vorn und hinten ragte der Wal noch unter der schmalen Brücke hervor, doch im mittleren Bereich des Decks würden sie von Land aus unbeobachtet sein.
»Also dann!« Boris hob seine Waffe wieder. »Vier, drei!«
Der Mann in den Säcken schien zu spüren, was ihm bevorstand. Sein Flehen und Schreien verstärkten sich, doch gegen die Kräfte der beiden Holzfäller hatte er keine Chance. Sie pressten ihn wieder gegen die Reling.
»Los jetzt! Zwei!«
»Olivia, jetzt mach schon!« Donders Stimme hob sich, während nun auch er in den Lauf einer Waffe sah, die einer der Handlanger auf ihn richtete. »Beseitige endlich diesen Typen, das wird mir hier langsam zu blöd. Wir wollen Geschäfte machen, nicht spielen!«
Olivia sah sich noch einmal um. Sokolov verharrte in seiner Position, ihnen den Rücken zugewandt am anderen Ende des Decks. Boris zielte auf ihren Kopf, einer der Schläger richtete seine Waffe auf Donder. Der zweite Handlanger hielt den Mann in den Müllsäcken an die Reling gedrückt.
»Eins!« Boris schloss sein linkes Auge und zielte direkt auf Olivias Stirn.
»Ist ja schon gut!«
Sie drehte sich zu dem Mann in dem Sack um, trat zügigen Schrittes auf ihn zu, packte den Müllsack an der Stelle, unter der dessen Gesicht war, riss ihn auf und nahm mit ungerührter Miene zur Kenntnis, wer da keuchend und mit Panik im Blick gefesselt vor ihr stand.
»Wer ist das?«, fragte Donder, dessen Sicht von Olivias Rücken verdeckt war.
»Der Fahrer, der uns durch Berlin chauffiert hat.« Sie drehte sich zu Boris um. »Sagen Sie das doch gleich.«
Dann packte sie den Mann am Kragen, wuchtete ihn über die Reling und ließ ihn wie einen Sack voll Müll ins Wasser fallen. Sie sah noch einige Sekunden lang dabei zu, wie der Körper versank, bis schließlich nichts mehr von ihm zu sehen war. Kurz stiegen noch Blasen auf, dann wurde die Wasseroberfläche wieder still. Olivia strich sich die Kleidung glatt und rückte ihren Kragen zurecht. Dann drehte sie sich zu Boris um und fragte so, als gehe es um den Abschluss eines Zeitungsabonnements: »Trauen Sie uns jetzt?«
Aus einigen Metern Entfernung erklang der Applaus einer einzelnen Person.
»Sehr gut, Frau Holzmann, sehr gut!« Fjodor Sokolov hatte sich von seinem Geländer abgewandt und kehrte lässigen Schrittes zu der Gruppe zurück. »Entschuldigen Sie bitte meine Zweifel.«
»Die waren unangebracht.« Olivia sah noch einmal über die Reling. Dahin, wo die Gestalt in den Müllsäcken versunken war. »Also, kommen wir jetzt ins Geschäft?«
»Nicht so schnell.« Sokolov war bei der Gruppe angekommen und blieb neben Boris stehen. »Sie haben uns bewiesen, dass wir Ihnen trauen können. Das bedeutet noch lange nicht, dass ich auch Geschäfte mit Ihnen mache.«
Wie er das offenbar genoss. Dieser großkotzige Macker, geschützt von drei bewaffneten Leuten und vermutlich noch weiteren unter Deck. Seinen großen Auftritt als Gangsterboss, der vermutlich von irgendwelchen alten Gangsterfilmen inspiriert war, die er als Junge gesehen hatte. Als kleiner, geprügelter Fjodor, dessen Vater kein großer Magier, sondern ein großes Arschloch gewesen war. Ein opportunistischer Widerling, über den es selbst in den Archiven des BKA ganze Aktenordner gab. Sogar mit Fotos darin. Wie jämmerlich er darauf aussah, Artjom Sokolov, der große Magier. Ein besserer Zirkusclown mit einem Zylinder, aus dem er allem Anschein nach Kaninchen und Tauben hervorgezaubert hatte. So wie einer dieser Typen, die in der Vorweihnachtszeit in Einkaufscentern umherliefen, um für wenig Geld Kinder zu beeindrucken, die in einem Alter waren, in dem sie ohnehin alles glaubten.
»Vergeuden wir hier unsere Zeit?« Olivia öffnete den oberen Knopf ihres Hemdes.
»Das ist egal. Es kommt nämlich nicht mehr darauf an.« Sokolov sah zu Marc Donder.
»Was wollen Sie damit sagen?« Donders Augen weiteten sich, und er trat einen Schritt näher auf Sokolov zu.
»Damit will ich sagen, dass ich kein Interesse daran habe, mit Ihnen überhaupt irgendwelche Geschäfte zu machen.«
»Bitte?« Donder hatte anscheinend Probleme, ruhig zu bleiben.
»Sie haben zu viele Kontakte zu den deutschen Behörden. Ich habe da keine Lust drauf. Ich meine, wo soll das hinführen? Heute erzähle ich Ihnen von meinen Lieferungen, und morgen kommt man Ihnen auf die Schliche, und Sie verraten Ihren Freunden alles, was Sie über mich und meine Geschäfte wissen.«
»Für wen halten Sie sich eigentlich?« Donder klang, als wolle er jeden Augenblick an Sokolovs Kehle springen. »Wir arbeiten verlässlicher und präziser als jeder andere.«
Der Russe verneigte sich so altmodisch und gestelzt, wie er es vermutlich als Kind bei seinem Vater im Zirkus gesehen hatte. »Und doch muss ich Ihnen leider mitteilen, dass ich mich gegen eine Kooperation entschieden habe. Obwohl mich Frau Holzmanns Einsatz sehr beeindruckt hat. Davon könnten Sie sich noch eine Scheibe abschneiden.«
»Lassen Sie uns sofort von diesem Dampfer runter. Wir reden jetzt mit den Kolumbianern.«
Donder trat auf Sokolov zu, als Boris ihn packte und ihn mit spielender Leichtigkeit zu Boden rang. Boris winkte die beiden Handlanger mit den Holzfällerbärten heran und wies sie an, Donder auf dem Boden zu fixieren. Dann zog er wieder seine Waffe und richtete sie auf Olivia.
»Wenn man die Leiche des Fahrers findet, wird man viele Fragen stellen.« Sokolov klang beinahe besorgt. »Sie werden verstehen, dass ich nicht zulassen kann, dass Sie darauf antworten könnten. Ich danke Ihnen für die Demonstration Ihrer Loyalität, leider kann ich Ihnen diese aber nicht erwidern. Es hätte sowieso nicht funktioniert. Ich kenne die Kolumbianer, mit denen möchte man keinen Krieg. Und seien Sie froh! Die hätten nämlich nicht nur Sie beseitigt, sondern Ihre Familien gleich noch dazu.« Sokolov hob seine rechte Hand und schnipste Boris zu. »Erledige das, solange wir noch unter dieser Brücke stehen. Und danach versenken wir am besten gleich noch diesen Dampfer. Zu viele Spuren.«
»Wissen Sie, Sokolov, Ihr Vater war nicht der Einzige!« Olivia klang noch immer unbeeindruckt.
Der Russe atmete genervt aus. »Was meinen Sie?«
»Er war nicht der einzige große Magier!«
Sokolov fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht, warf einen flüchtigen Blick auf seine lächerlich pompöse Armbanduhr und streckte die Hände aus, als rede er mit einem Teenager, der irgendetwas ganz Simples einfach nicht begreifen wollte.
»Frau Holzmann, was soll das? Wollen Sie Zeit gewinnen? Das ist unwürdig, bitte lassen Sie das.« Er wandte sich wieder Boris zu. »Du weißt, was zu tun ist!«
»Abrakadabra!« Olivia hob ihre rechte Hand und deutete mit dem Zeigefinger auf Boris’ Pistole.
Die Augen des bulligen Kerls mit den Tattoos auf dem Hals weiteten sich. Donder schnaubte und wand sich noch immer heftig auf dem Boden, die beiden Holzfäller hatten alle Hände voll damit zu tun, ihn festzuhalten.
»Was soll der Mist?« Sokolov sah zwischen Olivia und Boris hin und her.
»Meine Mutter konnte auch zaubern. Sie hat es mir beigebracht.« Olivia bewegte ihren Zeigefinger nach oben, und Boris folgte der Bewegung mit dem Lauf seiner Waffe.
»Was …« Zum ersten Mal schien Sokolov unsicher zu werden.
Olivia senkte ihren Finger, und der Lauf von Boris’ Waffe folgte dem. Dann bewegte sie ihren Finger ganz langsam nach links. So lange, bis sie mit ihrem Zeigefinger exakt auf den Kopf von Fjodor Sokolov deutete. Dieser erstarrte für eine Sekunde, bevor er seinen Blick langsam und bedächtig zu Boris wandte. Er war Olivias Finger weiter gefolgt und hielt seine Pistole jetzt direkt auf Sokolovs Stirn gerichtet.
»Was soll der Scheiß?« Fjodor Sokolov sprach zum ersten Mal fast flüsternd.
»Nicht so eilig, es geht ja noch weiter!« Olivia lächelte ihrem Gegenüber zu. »Jetzt kommt der beste Teil!«
Damit drehte sie sich im Kreis, hob die Hände und klatschte drei Mal klar und laut. Und schon fielen Seile von beiden Seiten der Brücke zum Dampfer hinunter, gefolgt von Beamten eines SEK, die sich so schnell auf das Deck hinunterließen, dass Sokolov und seine Handlanger nicht einmal mehr zu ihren Waffen greifen konnten. Schreiend und mit Pistolen im Anschlag rückten die Beamten von beiden Seiten auf die Gruppe zu, brachten die Russen unter Kontrolle, entwaffneten sie und legten ihnen unter lautem Gerassel Handschellen an. Donder sprang vom Boden auf und lief, gefolgt von Olivia, zur Reling. Es dauerte nicht lange, bis kräftige Blasen von unten aus dem See aufstiegen und ein Polizeitaucher an die Oberfläche kam. Er nahm seine Maske ab.
»Ist alles gut gegangen?«
»Ja!« Der Taucher winkte Olivia und Donder zu. »Der Fahrer ist wohlauf, wir haben ihn am Grund des Sees gesichert und ihn sofort mit Sauerstoff versorgt!«
Donder dankte seinem Kollegen und sah zu Olivia.
»Das war gute Arbeit! Wir haben Sokolov an den Eiern. Endlich!«
Olivia nickte nur knapp, bevor sie an Fjodor Sokolov herantrat, der von zwei maskierten Beamten des SEK fest im Griff gehalten wurde.
»Das mit den bezahlten Komparsen-Passagieren war clever. Aufwendig, ein bisschen riskant – aber beeindruckend! Wenn auch nicht so beeindruckend wie Ihr Trick mit den Jungs. Wie haben Sie das gemacht?«
Sokolov sah Olivia an, als verstehe er plötzlich kein Deutsch mehr.
»Welcher Trick? Was für Jungs?«
Olivia kam Sokolov so nah, dass sich beinahe ihre Nasenspitzen berührten. »Stellen Sie sich nicht dumm, das passt nicht zu Ihnen! Wo sind die Kinder, und wie haben Sie das hinbekommen?«
Sokolov schien vollkommen unbeeindruckt, und das, obwohl sich immer mehr SEK-Beamte an Seilen auf den Dampfer hinunterließen und zwischenzeitlich auch seine Leute vom Unterdeck festgenommen hatten. »Liebe Frau Holzmann, von welchen Jungs reden Sie? Und was für einen Zaubertrick habe ich hinbekommen?«
Olivia trat einen Schritt zurück und sah mit durchdringendem Blick an dem Russen auf und ab. »Sie werden reden, das versichere ich Ihnen! Sie haben sieben Jungs einfach so weggezaubert, Simsalabim. Und ich schwöre Ihnen, wenn Sie die nicht gesund und munter wieder erscheinen lassen, dann hilft Ihnen alle Zauberkunst der Welt nicht mehr!«
Ihr Anwalt wird in wenigen Minuten hier sein.« Der Beamte wandte sich von Fjodor Sokolov ab und verließ den Vernehmungsraum so schnell wieder, wie er ihn betreten hatte.
»Möchten Sie nicht auch einen Kaffee?« Sokolov zwinkerte Olivia zu, während er den Inhalt seines Bechers umrührte. »Er schmeckt schrecklich, aber mit ein bisschen Humor kann man ihn zumindest ironisch trinken.«
Olivia erhob sich von ihrem Stuhl. »Wir wissen beide, dass Ihr Anwalt hier gleich alle Register ziehen wird, um uns das Leben schwer zu machen.« Sie stützte sich mit beiden Armen auf die Kante des Tisches, an dem Sokolov saß, als befinde er sich in seinem Wohnzimmer. »Also, solange wir hier nur unverbindlich plaudern: Wie haben Sie diese Sache hinbekommen? Und was bezwecken Sie damit? Sie lassen auf magische Weise Kinder entführen und töten zwei Tage später deren Eltern. Warum? Was ist der Sinn dahinter? Und wo verdammt sind die Jungs?«
Sokolov lächelte milde, hob den Plastikbecher an und trank mit überheblichem Blick von seinem Kaffee. »Sie reden Unsinn!«
»Also gut.« Olivia drehte sich um und klopfte gegen die Tür. »Dann müssen wir das Gespräch wohl in der JVA weiterführen. Bis dahin!«
Ihr wurde geöffnet. Grußlos ging Olivia nach nebenan, wo ihre Kollegen bereits auf sie warteten.
»Was denkst du, haben wir ihn wirklich an den Eiern?« Marc Donder hatte Sokolov bislang nur durch den einseitigen Spiegel zum Vernehmungsraum hindurch beobachtet und war den bisherigen Gesprächen mit ihm über Lautsprecher gefolgt. »Zu seinen Transportwegen hat er ja leider nichts preisgegeben. Aber er hat vor unseren Augen einen Mord in Auftrag gegeben, und er hat dafür einen Menschen entführen lassen. Das sollte wohl reichen, um ihn einzusacken. Aber das hilft deinen entführten Jungs nicht. Was denkst du, Olivia, wirst du ihn noch dazu bringen, über die Sache zu reden?«
»Er könnte das als Druckmittel gegen uns einsetzen.« Olivia ließ sich erschöpft auf einen Stuhl sinken. »Er hat die Eltern der Jungs ja nicht persönlich ermordet, das hat er irgendeinen seiner Handlanger erledigen lassen. Die Staatsanwaltschaft könnte ihm also bestimmt kleine Zugeständnisse machen, falls er uns die Kinder lebend übergibt.«
Donders Blick verfinsterte sich. »Olivia, das ist hier alles kein Spaß! Wir haben wegen deiner Ermittlung unsere ganze Operation beschleunigt. Wir mussten eine ganze Menge unvorsichtiger Dinge tun, und wenn das jetzt nicht zum Erfolg führt, dann wäre das ein absolutes Desaster!«
Olivia senkte den Blick. Das war alles ganz sicher nicht optimal gelaufen. Doch was hätten sie anderes tun sollen? Donder und seine Kollegen von der Drogenfahndung hatten ihre Angel schon vor Jahren nach Sokolov ausgeworfen. Mit enormem Aufwand, Millionen an Steuergeldern, viel Zeit und Akribie hatte das BKA diese angebliche Organisation ins Leben gerufen, die Sokolov plausibel und nachvollziehbar eine Zusammenarbeit vorschlagen sollte, in deren Verlauf dieser sein Netzwerk des organisierten Drogenschmuggels preisgeben würde. Über die sie seinen Schmugglerring von innen heraus sprengen wollten. Die gesamte Operation war darauf ausgerichtet gewesen, langsam und stetig das Vertrauen des Russen zu gewinnen. Doch dann waren plötzlich diese Kinder entführt worden. Zwei davon in Berlin, fünf weitere in München, Erfurt, Premnitz, Affalterbach und Riedrode. Sokolovs Drogenring war die einzige feststellbare Verbindung zwischen den Eltern gewesen, die allesamt zwei Tage nach der Entführung ihrer Söhne auf brutale Weise ermordet worden waren. Jedes der Opfer hatte in irgendeiner Weise Geschäfte mit Sokolovs Leuten gemacht, es konnte einfach kein Zufall gewesen sein. Und so musste dann plötzlich alles schnell gehen: Ein übereiltes Treffen mit Sokolov in Berlin wurde angesetzt, halbherzig begründet mit angeblich günstigen politischen Verhältnissen, die schnell ausgenutzt werden sollten. Und Olivia musste dabei sein, die Frau von der Mordkommission, die mit dieser Drogenoperation so gar nichts zu tun hatte, niemals zuvor aufgetaucht war und nur deswegen lebend auf diesen verfluchten Dampfer hatte kommen können, weil Donder mit Sokolovs Bodyguard Boris seinen wichtigsten V-Mann geopfert hatte. Einzig in der Hoffnung, dass Olivia es schaffen würde, Sokolov wegen Mordes und Entführung dranzubekommen und ihn dadurch in eine Situation zu bringen, in der nur noch das Eingeständnis seiner Drogengeschäfte ihm helfen konnte.
»Und dieser Boris weiß wirklich nichts über die Kinder?«
Donder schüttelte den Kopf. »Nein, gar nichts. Ich habe ihn schon gefragt, er hat von der Sache nichts gehört. Wir haben ihn jetzt erst mal im Safehouse untergebracht. Nach dem Prozess kommt er ins Zeugenschutzprogramm, danach sehen wir ihn dann nie wieder.«
Olivia ballte die Hände zu Fäusten. »Ich muss diesen Sokolov irgendwie zum Reden bringen!« Sie schloss die Augen und fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht. »Ich gehe da jetzt noch mal rein!«
Olivia öffnete die Tür zum Nebenraum, trat ein und setzte sich Sokolov direkt gegenüber an den Tisch. Nur eine Holzplatte trennte die beiden noch voneinander.
»Ihr Assistent Boris hat bei seiner Vernehmung ausgesagt, dass Sie sehr wohl …«
In diesem Moment ging die Tür erneut auf. Jemand trat festen Schrittes in den Raum, und bereits am Duft seines Aftershaves konnte Olivia erkennen, wer es war.
»Herr Dr. Schliek, wie angenehm!« Sie drehte sich zu Sokolovs Rechtsanwalt um. »Immer eine Freude, Sie zu sehen!«
»Ich komme gerade vom Staatsanwalt.« Der drahtige Mann mit den grauen Augen, der wie immer einen eleganten Anzug trug, reichte Sokolov die Hand, zog einen Stuhl zu sich heran und nahm Platz. »Herr Sokolov wird keine Angaben machen. Schon gar nicht in dieser Sache mit den entführten Jungen. Ich sehe auch Nachrichten, und mir ist bekannt, dass Sie in dieser Angelegenheit vor der Öffentlichkeit mit dem Rücken zur Wand stehen. Deswegen sollten Sie aber nicht damit anfangen, wahllos Menschen zu beschuldigen. Was bringt Sie überhaupt auf den Einfall, dass mein Mandant damit auch nur irgendetwas zu tun haben könnte?«
Olivia hatte mit dieser Frage gerechnet. Es gab zwar einen sehr starken Verdacht, jedoch keinen einzigen objektiven Beweis dafür, dass Sokolov in die Angelegenheit verstrickt war. Und das weiß sein Anwalt auch sehr genau.
»Die getöteten Eltern der Kinder waren allesamt, nun ja, nicht gerade besonders ehrenwerte Mitglieder der Gesellschaft.« Olivia ließ sich von Schlieks strengem Blick nicht beeindrucken, zumindest nicht so, dass er es bemerkt hätte. »Die Eltern von vier der Kinder haben für Sokolovs Organisation mit Drogen gehandelt, ein Vater war jahrelang Zellengenosse von einem von Sokolovs Männern, und die beiden anderen hatten enge Kontakte zu Geschäften, die Herr Sokolov nach unseren Erkenntnissen für Geldwäsche nutzt. Ihr Mandant ist das einzige Bindeglied zwischen den Opfern, und die äußerst kreative Vorgehensweise des Täters entspricht Herrn Sokolovs Neigung dazu, sich als großer Magier zu inszenieren.«
Dr. Marco Schliek verzog keine Miene. Er war immerhin einer der besten Strafverteidiger Berlins. Keine Emotionen, kein Streiten, kein Drohen. Nichts von dem ganzen Kasperltheater dieser langweiligen Durchschnittsanwälte, die zwar billiger waren, ihre Mandanten dafür jedoch vor Gericht teurer zu stehen kamen.
Er verschafft sich einen Überblick, wertet aus, entwickelt eine Strategie und beruhigt die Lage für seinen Mandanten. Ein echter Profi.
»Frau Kommissarin Holzmann, ich habe mir gerade einen flüchtigen Eindruck von der Akte in dieser Entführungsangelegenheit gemacht. Wenn ich es richtig verstanden habe, beweist die an den Tatorten sichergestellte DNA, dass es sich bei Ihrem Gesuchten eben explizit nicht um Herrn Sokolov handelt. Sollten Sie der Presse also unter Nennung meines Mandanten zuspielen, dass Sie einen Ermittlungserfolg vorzuweisen hätten, werde ich Ihnen die Hölle heißmachen.«
Olivia verschränkte die Arme vor der Brust. »Wir gehen davon aus, dass Ihr Mandant einen Auftragsmörder eingesetzt hat.«
Schliek lächelte, wenn auch nicht freundlich. »Und ich gehe davon aus, dass Elvis noch lebt! Fakt ist: Es gibt nicht einen einzigen Beweis dafür, dass Herr Sokolov auch nur irgendetwas mit Ihrem Fall zu tun hat. Alles, was Sie vorweisen, ist die unbewiesene Behauptung, mein Mandant betreibe Geschäfte, mit denen Ihre Mordopfer zu tun hatten. Frau Holzmann, darf ich Sie etwas Persönliches fragen?«
»Nur zu!«
»Sind Sie mit dem Papst bekannt?«
»Nein.«
»Kennen Sie denn vielleicht einen praktizierenden Katholiken?«
»Ja, natürlich.«
Schliek blieb gelassen, seine Stimme klang weich und angenehm. Alles an ihm strahlte Ruhe und Sicherheit aus, doch leider stand er ihrer Ermittlung im Weg. Und ganz offenkundig wusste er ebenso gut wie sie, dass sie nicht besonders viel gegen Sokolov in der Hand hatte.
»Also gut, Frau Kommissarin Holzmann. Dieser Katholik, den Sie persönlich kennen, ist vermutlich seinerseits mit einem Pastor bekannt. Dieser Pastor kennt wiederum einen Bischof. Dieser Bischof kennt mit Gewissheit einen Kardinal. Und dieser Kardinal ist persönlich mit dem Papst bekannt. Sie sehen also, dass Sie – wenn man es so will – über gerade einmal fünf Schritte persönlich mit dem Papst bekannt sind.« Schliek deutete auf seinen Mandanten. »Herr Sokolov kennt niemanden dieser getöteten Menschen persönlich. Dass Sie von Ihren Opfern ausgehend über verschiedene Schritte zu Herrn Sokolov gelangt sein wollen, ist vollkommen ohne jede Bedeutung. Mit derselben Energie hätten Sie auch Seine Heiligkeit, den Papst, wegen dieser schrecklichen Angelegenheit als Verdächtigen ermitteln können.«
Dr. Schliek erhob sich, ohne eine Antwort einzufordern, während Sokolov dasaß, als warte er gerade darauf, den dritten Gang eines Sternemenüs serviert zu bekommen. Der Russe atmete so ruhig, als schliefe er, während der Duft seines Rasierwassers, das vermutlich ein Vermögen gekostet hatte, wie eine sanfte Meeresbrise zu Olivia hinüberzog.
»Und dann ist da noch was!« Schliek sah Olivia an, als wäre sie eine Schülerin, die ihm seine Zeit stahl. »Ihren Ermittlungen zufolge hat der Täter, den Sie suchen, diese sieben Kinder in sechs verschiedenen Städten entführt. Und das unter Umständen, die absolut unmöglich sind. Ihre eigenen Ermittlungsergebnisse verschaffen dem Unbekannten, den Sie suchen, für jede seiner angeblichen Taten gleich mehrere Alibis. Welcher Staatsanwalt sollte in dieser Sache irgendjemanden anklagen, ohne sich dabei zu einem kompletten Idioten zu machen?« Schliek reichte Olivia die Hand. »Das sollte für heute reichen. Lassen Sie meinen Mandanten jetzt bitte bis zum Haftprüfungstermin in seine Zelle bringen. Herr Sokolov wird bis auf Weiteres keine Angaben machen. Und Sie, liebe Frau Holzmann, sollten sich sehr genau überlegen, was Sie meinem Mandanten vorwerfen. Denn, um ganz ehrlich zu sein, wenn Sie bei Ihrer Version von diesen Entführungen bleiben, könnte möglicherweise jemand auf den Einfall kommen, dass Sie geisteskrank sind. Guten Tag!«
Was für eine Scheiße!«
Olivia war unachtsam mit dem Fuß gegen eine der Kisten gestoßen, unmittelbar nachdem sie hastig in den Flur ihres Hauses gestürmt war. Sie riss sich die Jacke vom Körper, warf sie in die Ecke und ließ ihre Hausschlüssel scheppernd auf den Schuhschrank neben der Eingangstür fallen. Warum standen hier bloß immer noch diese dämlichen Umzugskartons herum? Warum hatte sie die sperrigen Dinger nicht schon längst ausgeräumt? Ist das wirklich so schwer? An der neuen Adresse angemeldet habe ich mich bisher auch noch nicht, nicht mal meinen Namen habe ich ans Tor geschrieben. Streng genommen wohne ich hier überhaupt noch nicht! Es war mittlerweile schon sechs Wochen her, dass Olivia ihr neues Domizil in Berlin-Friedenau bezogen hatte. Von ihrer Wohnung hatte sie sich auf ein Haus verbessert. Es war zwar nicht besonders groß, dafür aber gut gelegen, wenn auch um einiges teurer als ihr früheres Zuhause. Immerhin, mit ihrer Beförderung zur Kriminalhauptkommissarin im vergangenen Jahr war es nicht sonderlich schwer gewesen, den Zuschlag für das gemütliche Häuschen in der ruhigen, bürgerlichen Ecke Berlins zu bekommen. Und das, obwohl sich etliche Bewerber darum bemüht hatten. Aber eine Polizistin ist natürlich ein verlässlicher Mieter, mit dem man keinen Ärger befürchten muss. Im Gegenteil, die Wohnlage wird sogar noch sicherer. Wenigstens hat mir dieser Job auch mal einen Vorteil eingebracht … Okay, es war vielleicht nicht nur Olivias Beruf gewesen, der ihr zum Mietvertrag verholfen hatte. Dieser ätzende Makler hatte schon auch ziemlich vielsagende Blicke auf sie geworfen, vor allem dann, wenn er geglaubt hatte, Olivia bekomme es nicht mit. Als wäre sie die einzige Frau Mitte dreißig, die sich mit Sport fit hielt und auf ihr Äußeres achtete. Aber wenn Olivias Beruf und Aussehen ihr dabei halfen, eine begehrte und zudem noch halbwegs bezahlbare Immobilie in guter Lage zu bekommen, dann sollte der Makler sich doch vor dem Einschlafen vorstellen, was er wollte. Wenigstens dachte er dann mal an etwas anderes als daran, hohe Provisionen für überflüssige Leistungen zu kassieren.
»Bist du da, Muffi?«
Natürlich war er da. Das Licht war eingeschaltet, Musik klang aus den Boxen im Wohnzimmer, und es duftete nach gebratenem Fleisch und Gewürzen. Gut, dass sie ihrem neuen Freund Marvin den Zweitschlüssel zu ihrem Haus gegeben hatte. Normalerweise hätte Olivia so etwas nicht getan, aber in diesem Fall war das in Ordnung. Er war so verlässlich, vertrauenswürdig und vor allem umwerfend attraktiv, dass Olivia alle ihre berufsbedingten Vorbehalte kurzerhand über Bord geworfen hatte. Der Zweitschlüssel ermöglichte es ihm außerdem, Olivia immer mal wieder mit einem Abendessen zu überraschen, wenn sie von der Arbeit nach Hause kam. Vielleicht würde Muffi, wie sie ihn liebevoll nannte, irgendwann ganz bei ihr einziehen. Aber noch nicht jetzt, das wäre wohl zu früh. Immerhin kannten sie einander erst seit wenigen Wochen, und der Sturm des ersten Verliebtseins dauerte ja leider selten lange an. Erst wenn er abgeflaut war, konnte Olivia wirklich wissen, ob Marvin der Richtige war. Wenn es den überhaupt gibt.
»Ich hatte einen richtigen Scheißtag!« Sie ließ sich schwer atmend auf den Stuhl sinken, der ihr eigentlich beim Anziehen der Schuhe helfen sollte, meist aber als Ablagefläche für Müllbeutel diente, die noch mit zu den Tonnen vor dem Haus genommen werden mussten. Da vernahm sie auch schon das Geräusch von Schritten, die sich von der Küche her auf sie zubewegten.
»Puh, das klingt aber nicht nach einem erfolgreichen Arbeitstag!« Marvin verzog mitleidsvoll das Gesicht.
Olivia lächelte, zum ersten Mal seit Stunden. Da war sie wieder, diese seidige Stimme, die nicht zu hoch und nicht zu tief war. Bestimmt und mit klarer Betonung, so warm und klangvoll, dass jedes seiner Worte beinahe wie ein Liebeslied klang.
»Dieser Penner tut so, als ob er keine Ahnung hätte! Dabei haben wir ihn wegen Entführung und Mord an den Eiern, er hätte wirklich allen Grund zu kooperieren. Stattdessen haut mir sein Anwalt die Akte meines Falles um die Ohren und lässt mich wie einen Idioten dastehen, der wirres Zeug redet, das er beim Mittagsschlaf geträumt hat. Und das auch noch zu Recht. Dieser Fall ist komplett absurd und unmöglich!« Olivia senkte den Kopf, atmete tief aus, erhob sich von ihrem Stuhl und trat an Marvin heran, der jetzt im Flur neben den Kisten voll Bettdecken und Handtüchern stand.
»Du darfst mir immer noch keine Details erzählen, oder?« Er breitete seine Arme aus.
Olivia nahm die Einladung an und ließ sich von Muffi an seinen warmen, trainierten Körper heranziehen. »Nein, darf ich nicht.« Wie wunderbar sicher es sich anfühlte, von ihm umschlungen zu werden und mit dem Luftzug der Berührung seinen Sehnsüchte weckenden Duft aufzuwirbeln. »Aber du bekommst ja in den Nachrichten genug mit. Was für ein verschissener Fall, warum muss gerade ich den bekommen?«
»Weil du der beste Ermittler in deiner Abteilung bist, warum denn sonst?« Muffi drückte Olivia einen sanften Kuss in den Nacken.
Sie schwieg einen Augenblick lang, bevor sie sagte: »Dieser Fall ist total mysteriös, und ich bin mittlerweile selbst nicht mehr sicher, ob der Typ, den wir hochgenommen haben, da wirklich was mit zu tun hat. Nicht mehr, seit ich weiß, dass ich den Papst kenne. Zumindest irgendwie.«
Olivia sah an ihrem Muffi hoch, während sie dabei die Hände um seine Hüfte legte. Und da war es wieder, dieses Lächeln. Genau so hatte er sie angestrahlt, als er sie ein paar Wochen zuvor in dieser Cocktailbar am Ku’damm gefragt hatte, ob sie sich von ihm auf einen Gin Tonic einladen lassen würde. Und dabei hatte er genau so gelächelt, wie er es jetzt tat. Ganz dezent, mit kleinen Grübchen auf den Wangen. Schon seltsam, dachte Olivia, wie er sie mit seinen blauen Augen und dem weichen Klang seiner Stimme erwischt hatte, als wäre sie wieder vierzehn.
»Aber ich hoffe doch, der Papst kommt heute nicht zum Abendessen vorbei.« Marvin deutete auf die Küchentür. »Ich habe nur für zwei gekocht.«
Endlich lachte Olivia. Wie er das wieder geschafft hatte! Die Welt allein mit seiner Gegenwart aufzuhellen und ihr zu zeigen, dass es kein Problem gab, das so schlimm sein konnte, dass man deswegen das Lachen verlernen würde. Sie führte ihre Nase ganz nah an Marvins Nacken, genoss noch einmal seinen Duft und löste sich schließlich wieder aus der Umarmung. »Nicht mal der Papst könnte mir noch helfen! Der, den ich suche, hat nämlich nicht nur die Jungs entführt, die kein Suchtrupp finden kann. Er hat auch etwas hinbekommen, das physikalisch überhaupt nicht möglich ist. Und es findet sich bislang auch absolut kein Motiv für seine Taten. Stattdessen sind diese sieben Jungs weiterhin verschwunden, und pausenlos stehen Journalisten und aufgebrachte Bürger vor dem LKA