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Ein hochspannendes Debüt aus Wuppertal! Drogen, Vergewaltigung und ein Sprengstoffanschlag – es geht heiß zu in der bergischen Metropole! Ein neuer Arbeitsplatz und neue Herausforderungen für die junge Ermittlerin Sandra Santori. Nachdem sie etliche Jahre in kleineren Dienststellen im Bergischen Land verbracht hat, führt ihr erster Fall in der Wuppertaler Mordkommission sie gleich an einen außergewöhnlichen Tatort. Bei der Explosion einer Autobombe sind drei Menschen ums Leben gekommen: der Musikagent Dieter Lamprecht, sein Fahrer und eine junge Frau. Alles deutet darauf hin, dass Lamprecht das Ziel dieses Anschlags war. Lamprechts Frau ist alles andere als traurig über seinen Tod, mehrere Musiker sind von ihm betrogen und ihrer Songs beraubt worden, und es stellt sich zudem heraus, dass er immer wieder junge Musikerinnen mit K.-o.-Tropfen betäubt und sie vergewaltigt hat. Dann ergibt sich jedoch eine neue Ermittlungsrichtung: Der für die Explosion verwendete Sprengstoff zeigt eine außergewöhnliche Zusammensetzung und ist in dieser Form bisher nur einmal zum Einsatz gekommen. Eine erste heiße Spur führt Sandra Santori zu einem Drogenbaron, der die Stadt im Tal fest im Griff zu haben scheint.
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Seitenzahl: 399
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Petra PallandtBittere Rache
Petra Pallandt, Jahrgang 1967, wuchs in einer hessischen Kleinstadt auf. Nach dem Abitur studierte sie zunächst Musik und absolvierte anschließend eine Ausbildung zur medizinisch-technischen Assistentin, gefolgt von einem Psychologiestudium in Marburg. Heute arbeitet sie als Psychotherapeutin in eigener Praxis. Petra Pallandt lebt mit ihrem Mann und drei Kindern in Wuppertal.
Petra Pallandt
Originalausgabe© 2016 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheimwww.kbv-verlag.deE-Mail: [email protected]: 0 65 93 - 998 96-0Fax: 0 65 93 - 998 96-20Umschlaggestaltung: Ralf Krampunter Verwendung von: © grapestock - www.fotolia.deLektorat: Volker Maria Neumann, KölnPrint-ISBN 978-3-95441-294-5E-Book-ISBN 978-3-95441-308-9
Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne«, klang es in Sandras Kopf, als sie über die Straße auf das große Gebäude zuging. Sie verzog die Lippen. Von allen dummen Sprüchen war das einer der dümmsten, wie sie fand. Worin sollte wohl der Zauber wohnen, wenn man sich zu seinem ersten Arbeitstag einfinden musste? In einer neuen Abteilung, einem neuen Team. In ihrem Fall: einem neuen Präsidium, denn sie stand vor dem Polizeipräsidium der Stadt Wuppertal. Und damit eigentlich am Ziel ihrer Wünsche, denn genau hier hatte sie stehen wollen, nachdem sie zuvor etliche Jahre in verschiedenen kleineren Dienststellen im Bergischen Land zugebracht hatte. Wenn nur der Einstand nicht wäre.
Das Präsidium ragte vier Stockwerke hoch vor ihr auf, massiv und dominant. Sie hätte es nicht als Beschuldigte eines Verbrechens betreten mögen. Sie mochte es allerdings auch nicht als Neue betreten, die sich in Kürze einer Gruppe von ganz bestimmt skeptischen Kollegen vorstellen musste. Aber daran ließ sich nichts ändern. Ihr war jedenfalls keine Methode bekannt, den Anfang zu überspringen und gleich mit der zweiten Woche zu beginnen. Oder dem zweiten Monat oder am besten gleich dem zweiten Jahr, wenn man sich an sie gewöhnt haben würde wie an die Büromöbel, die einen Tag für Tag umgaben.
Sandra spürte, wie es in ihren Beinen kribbelte. Wann immer sie innerlich unter Druck geriet, wollte sie laufen. Oder Gewichte stemmen oder auf Sandsäcke einschlagen. Auf jeden Fall sich bis an die Grenzen der Erschöpfung körperlich verausgaben. Das war die einzige Möglichkeit, sich wieder zu beruhigen. Sie hatte in ihrem Leben vermutlich schon mehrmals laufend die Welt umrundet und solche Mengen von Sand verprügelt, dass man damit ganze Traumstrände füllen konnte.
Aber jetzt ging das leider nicht. Sie wurde in zehn Minuten dort drinnen erwartet. Sandra seufzte und straffte die Schultern. Sie reckte den Hals, was ihren 1,63 Metern Körpergröße vielleicht noch einen weiteren Zentimeter hinzufügen würde. Dann betrat sie das Gebäude und ging als Erstes auf den Pförtner zu, der gerade unterhalb des Tresens nach etwas kramte. Er hob ruckartig den Kopf und setzte sich mit einer raschen, geübten Bewegung ein Fläschchen an den Mund.
»Guten Tag«, grüßte Sandra.
Der Mann zuckte zusammen und verbarg sofort die Flasche in seiner Hand. Er räusperte sich. »Medizin«, sagte er. »Gegen ... Asthma.« Er sprach mit zur Seite gedrehtem Kopf, vermutlich damit sie seine Fahne nicht roch.
Auch ein Blinder hätte gesehen, dass der Mann flunkerte. Aber das war sein Problem. Sandra mischte sich nicht in die Geheimnisse anderer Menschen ein. Jedenfalls nicht immer.
»Ich möchte zu Herrn Kriminalhauptkommissar Fladerer«, sagte sie.
»Haben Sie einen Termin?«
»Ja. Ich habe heute meinen ersten Arbeitstag hier. Sandra Santori ist mein Name.«
Nun schaute der Mann sie zum ersten Mal direkt an. Auf seiner Stirn konnte Sandra lesen: Die?
Sandra war klein, sie war dünn und hatte feuerrote Haare, die nie dort blieben, wo sie sie morgens hinkämmte. Anscheinend stellte sich der Mann eine Kommissarin anders vor.
Laut sagte er: »Ah ja, Frau Santori. Ich habe gehört, dass Sie heute kommen. Kriminalhauptkommissar Fladerers Büro befindet sich im zweiten Stock, Zimmer 217. Sie können den Fahrstuhl nehmen, dann rechts den Flur entlang, und dann sind Sie auch schon da.«
»Vielen Dank«, nickte Sandra. Eierlikörtorte, dachte sie im Weggehen unwillkürlich. Dieser Pförtner war weich, süßlich und voller Alkohol.
Sandra nickte ihm noch mal zu und wandte sich zur Treppe, nicht zum Fahrstuhl. Die 70 bis 80 Treppenstufen in den zweiten Stock waren immerhin besser als nichts, wenn sie schon nicht mehrere Kilometer laufen konnte. Sie nahm immer zwei Stufen auf einmal, ohne sich am Geländer hochzuziehen. Keine Minute später war sie oben, ohne außer Atem zu sein.
Sie wandte sich nach links, da der Fahrstuhl dem Treppenhaus gegenüberlag, fand das Zimmer 217 und klopfte genau eine Minute nach der vereinbarten Zeit an.
Anstelle eines »Herein« wurde Sekunden später die Tür aufgerissen, und eine Buttercremetorte schaute heraus. Fettmassen türmten sich in Ringen übereinander, das rote Gesicht glänzte wie poliert und wurde von einem Bart, der eines Walrosses würdig gewesen wäre, in eine obere und eine untere Hälfte geteilt. Der Kopf saß ohne den Umweg über einen Hals direkt auf den Schultern, das untere der beiden Kinne hing bis aufs Brustbein herab.
Unter dem Bart verzog sich der Mund zu einem Lächeln. Aber nicht nur der Mund, das ganze Gesicht lächelte. Eigentlich lächelte sogar der komplette Körper.
»Frau Santori, nicht wahr?«, kam es unter dem Schnurrbart hervor. Die Stimme klang etwas kurzatmig. »Kommen Sie doch herein. Ich freue mich, Sie kennenzulernen.«
»Ich ... ich auch«, stotterte Sandra, überrascht von so viel Herzlichkeit. Als sie dem Mann ins Büro folgte, überlegte sie, was sie gerade gesagt hatte. Freute sie sich auch, sich kennenzulernen?
Der Mann steuerte einige bequem aussehende Sessel an, die um einen Tisch vor dem Fenster gruppiert waren, und ließ sich in einen von ihnen hineinfallen. Anders konnte er sich mit seinem enormen Gewicht vermutlich nicht hinsetzen. Sandra nahm ihm gegenüber Platz.
»Kaffee?«, fragte Fladerer.
»Gerne.«
»Vermutlich schwarz, richtig? Keine Milch und keinen Zucker?«
Sandra nickte und bekam ihre Tasse gereicht. Ihr Vorgesetzter kippte ein halbes Kännchen Sahne in seinen eigenen Kaffee und gab anschließend vier Stück Süßstoff hinzu. Sandra musste die Lippen fest zusammenpressen, um nichts Schlaues zum Thema Kalorien von sich zu geben.
»Mögen Sie?«, fragte Fladerer als Nächstes und hielt ihr einen Teller mit englischem Teegebäck hin.
Sandra nahm ein Plätzchen und drehte es so lange zwischen den Fingern hin und her, bis diese vor Fett glänzten.
Kriminalhauptkommissar Fladerer griff selbst eine ganze Handvoll des Gebäcks und ließ sich ein Stück nach dem anderen mit geschlossenen Augen auf der Zunge zergehen. »Köstlich«, seufzte er, als nichts mehr übrig war, und spülte mit einem Schluck Kaffee nach. »Aber nun zu Ihnen. Ich bin sehr erfreut, Sie heute bei uns begrüßen zu dürfen. Sehr erfreut, wirklich.«
»Ach?«, murmelte Sandra.
»In der Tat. Ich habe hier Ihre Personalakte vorliegen und muss sagen, ich bin sehr angetan.«
»Ja?«, fragte Sandra vorsichtig. Sie hatte noch nie einen Blick in ihre Akte geworfen und hatte keine Vorstellung, was dort so alles eingetragen wurde. Ob darin ihre gelegentlichen Ausrutscher erwähnt wurden? Die immer dann geschehen waren, wenn sie keine Gelegenheit gehabt hatte, den inneren Druck sozialverträglich abzubauen? Aber hätte Fladerer dann gesagt, er wäre angetan? Hoffentlich wurde wenigstens die Geschichte mit dem Kollegen, der ihr vor einiger Zeit zu nahe gekommen war, nicht erwähnt. Ihr früherer Chef hatte ihr deswegen jedenfalls keinen Ärger gemacht.
»Sie haben ausgezeichnete Beurteilungen erhalten«, fuhr Fladerer fort. »Vielleicht nicht unbedingt, was alte Tugenden wie Pünktlichkeit und Ordnung angeht. Sondern vor allem, was die Ermittlungsarbeit betrifft.«
»So?« Vielleicht könnte sie bald mal etwas anderes als nur Einwortsätze von sich geben, dachte Sandra.
»Ja. So. Sie müssen wissen, Ihr vorheriger Chef ist ein alter Freund von mir. Wir waren zusammen auf der Polizeischule. Und daher habe ich nicht nur Ihre Akte hier vor mir, sondern bin auch im Besitz weiterer interessanter Informationen.«
»Hm«, machte Sandra, was streng genommen noch nicht mal ein Einwortsatz war.
»Wie mein Freund und Kollege mir mitteilte, haben Sie ein gutes Gespür für Menschen. Können hinter die Fassade blicken. Wenn Sie es genau wissen wollen: Er bezeichnete sie als fleischgewordenen Lügendetektor.«
»Also ...«, murmelte Sandra. Mehr fiel ihr nicht ein.
»Ich habe auch gehört, dass Sie ein sehr emotionaler Mensch sind«, fuhr Fladerer fort.
Sandra wurde rot und öffnete den Mund. Aber diesmal kam lediglich ein Keinwortsatz heraus. »Emotional« war genau das, was sie nicht sein wollte. Und aus dem Mund eines Polizisten war es nicht unbedingt ein Kompliment.
»Machen Sie sich keine Gedanken, ich sehe darin kein Problem«, lächelte Fladerer. »Im Gegenteil. Und wenn doch mal eines daraus entstehen sollte, kommen Sie bitte zu mir und reden darüber, ja?«
Nie im Leben, dachte Sandra und nickte vage mit dem Kopf.
»Ich hab mir schon gedacht, dass Sie das nicht wollen.« Ihr Vorgesetzter zwinkerte. »Aber das Angebot steht. Obwohl Sie sich gegen gewisse Probleme wie zum Beispiel zudringliche Kollegen ganz gut wehren können, wie ich erfahren habe.« Er grinste von Ohr zu Ohr. »Ist seine Nase denn wieder gut zusammengewachsen?«
»Also ...«
»Na, schon gut. Geht mich ja nichts an. Jetzt werde ich Sie erst mal Ihrem direkten Kollegen Herrn Bellers vorstellen. Anschließend findet eine Morgenbesprechung statt, bei der Sie die anderen aus dem Team kennenlernen werden. Kommen Sie.« Ächzend stemmte er sich aus dem Sessel hoch.
Sandra starrte fasziniert auf den ausladenden Körper, dessen Massen bei jeder Bewegung leicht vibrierten. Nachdem er sich erst mal in Gang gesetzt hatte, lief Fladerer dann aber so schnell über den Flur, dass Sandra sich beeilen musste, um Schritt zu halten. Schließlich hielt ihr Vorgesetzter vor dem Büro 224. Neben der Tür war ein Schild angebracht: Kriminaloberkommissar Markus Bellers, Kriminaloberkommissarin Sandra Santori. Direktion Kriminalität.
Fladerer klopfte und wartete auf das »Herein«.
»Hallo Herr Bellers. Hier ist Ihre neue Kollegin. Sandra Santori, Markus Bellers«, stellte Fladerer sie einander vor.
Markus Bellers stand auf. Er war sehr groß, weit über 1,90 Meter. Obwohl er um die Körpermitte ein wenig Fett angesetzt hatte, sahen seine Schultern aus, als hätte er Zeit seines Lebens Steine geschleppt. Die Oberarme waren dicker als Sandras Oberschenkel. Alte Narben im glatt rasierten Gesicht sowie ein Buckel in der Nase ließen auf eine bewegte Vergangenheit schließen. Trotzdem musste Sandra bei seinem Anblick an einen Baumkuchen denken, allerdings ohne Schokolade.
»Machen Sie sich keine Sorgen«, lächelte Fladerer. »Er war früher mal Deutscher Box-Vizemeister im Schwergewicht. Deshalb sieht er so aus. In Wirklichkeit ist er das reinste Lämmchen.«
Das Lämmchen verzog etwas gequält die Mundwinkel, sagte aber nichts.
Sandra nickte und versuchte ein Lächeln.
»Sie werden sich schon aneinander gewöhnen«, beruhigte Fladerer.
Markus Bellers reichte ihr seine Pranke, und Sandra hielt die Luft an. Aber er drückte ihre Hand nur ganz kurz und nicht sehr fest. Dabei sah er auf ihr rechtes Ohr und sagte: »Angenehm.« Was nicht stimmte.
Sie antwortete: »Freut mich.« Was ebenfalls nicht stimmte.
Sandra schaute sich im Büro um und sah zwei Schreibtische, ein Regal und einen Schrank. Alles wirkte, als handelte es sich bei diesem Büro um einen Ausstellungsraum. Hätte sie nicht gesehen, von welchem Tisch Bellers aufgestanden war, sie hätte nicht sagen können, welchen von beiden er benutzte. Die Schreibtischunterlage an seinem Platz lag genau parallel zur Tischkante, die Stifte waren ordentlich in einem Kästchen verstaut. Der Bildschirm bildete einen rechten Winkel zur Längsseite einiger Akten, die Ecke auf Ecke übereinandergestapelt waren. Lediglich ein Kugelschreiber, der schräg neben den Akten lag, störte die Reinheit der rechten Winkel. Noch während Sandra auf den Stift schaute, trat Bellers zurück an seinen Schreibtisch und legte den Kuli parallel zum Rand der Schreibtischunterlage.
»Sie erklären ihr ein paar Dinge, ja?«, sagte Fladerer zu ihm. »Wir sehen uns dann in zwanzig Minuten im Besprechungsraum.«
Nachdem er gegangen war, schauten Bellers und Sandra umher, als hätten sie noch nie etwas Interessanteres als Metallschränke und klobige Schreibtische gesehen.
Schließlich fragte Bellers: »Tja. Wollen Sie irgendwas wissen?«
»Ich denke, das ergibt sich, wenn wir mit der Arbeit begonnen haben.«
»Ja.«
Das Gespräch versiegte.
»Gut. Dann werde ich mal wieder ...« Bellers murmelte irgendetwas Unverständliches und setzte sich. Er starrte wie gebannt auf den Bildschirm. Sandra konnte sehen, dass seine Schultern ebenso angespannt waren wie ihre eigenen.
Sie ging zu dem anderen Schreibtisch, der ja dann wohl ihrer war, und fuhr den Computer hoch. Sie räusperte sich: »Ähm, entschuldigen Sie. Kennen Sie das Passwort?«
»Hm? Ach so.« Bellers schaute auf, als hätte er vergessen, dass sie da war. Sandra hatte aber gemerkt, dass er jede ihrer Bewegungen verfolgt hatte. Jetzt sah sie, wie er mit dem Kugelschreiber spielte, während seine Ohren flammend rot wurden.
»Das Passwort ist ›Titten‹. Sie können es aber natürlich jederzeit ändern«, murmelte er.
»Titten?«
»Von Ihrem Vorgänger. Nicht meine Idee.«
»Verstehe.« Nur gut, dass sie nicht mit diesem Vorgänger zusammenarbeiten musste. Markus Bellers hatte bestimmt so etwas wie: »wqrz27« als Passwort gewählt und wechselte es vorschriftsmäßig einmal pro Woche.
Sandra gab also Titten ein und ging anschließend als Erstes auf Einstellungen, um ein neues Passwort zu vergeben. Sie wählte Inge03, wie immer. Und wie immer gab es ihr ein gutes Gefühl, den Namen zu schreiben und an die dazugehörige Person zu denken. Und an das Jahr, in dem sie sich kennengelernt hatten.
Dann klickte sie eine Weile herum, um sich einen Überblick über die Programme zu verschaffen. Der Computer war voller Dateien, anscheinend hatte man ihn einfach so gelassen, wie ihn ihr Vorgänger übergeben hatte.
Immer wieder schielte Sandra auf die Zeitangabe am unteren Bildschirmrand. Nur noch 17 Minuten bis neun, nur noch 16 Minuten, nur noch ... Zu diesem Zeitpunkt dachte Sandra noch, das gefürchtete Zusammentreffen mit den neuen Kollegen sei im Moment ihr größtes Problem. Nur wenig später verloren solche Nichtigkeiten jegliche Bedeutung, als Sandra hilflos miterleben musste, was über sie, das Präsidium und die ganze Stadt hereinbrach.
Sandra war noch immer damit beschäftigt, die Dateien ihres Vorgängers anzuschauen und über die ganzen Rechtschreibfehler zu staunen, als sie plötzlich unruhig wurde. Sie wusste erst nicht warum, aber auch Bellers hatte aufgeschaut und verharrte mit dem Kugelschreiber auf halbem Weg zu dem Notizblock, in dem er gerade etwas notieren wollte. Dann stand er wortlos auf und verließ einfach das Büro. Sandra starrte ihm hinterher. Was war jetzt? Es war doch noch Zeit bis neun Uhr? Und hätte er ihr nicht den Weg zu dem Besprechungsraum zeigen müssen?
Dann wurde ihr bewusst, dass die Geräuschkulisse im Präsidium sich verändert hatte. Fußgetrappel auf dem Flur, erregte Stimmen, die sich Sätze zubellten, von denen sie nur einzelne Wörter verstehen konnte. Türen wurden aufgerissen und offenbar gegen Wände geknallt, Sachen fielen zu Boden.
Sandra stand auf und schaute aus dem Fenster, von dem aus sie auf den Parkplatz des Präsidiums schauen konnte. Wie Ameisen, deren Hügel jemand mit einem Stock zerstört hat, rannten Menschen aus den verschiedenen Ausgängen und über den Platz. Im Gegensatz zu Ameisen ging es jedoch nicht zügig und geordnet zu, stattdessen prallten immer wieder Personen zusammen, standen sich im Weg oder wurden von den ersten bereits rollenden Fahrzeugen angehupt. Sandra sah, wie ein junger Beamter sich vergeblich bemühte, gegen den Strom ins Gebäude zurückzukehren. Vermutlich hatte er etwas vergessen. Eine Frau fiel zu Boden, sprang sofort wieder auf und rannte weiter, als hätte nichts ihren Lauf unterbrochen.
Irgendetwas musste geschehen sein. Eine Massenkarambolage auf der Autobahn?
In diesem Moment kehrte Bellers zurück, rannte zu seinem Schreibtisch, riss die oberste Schublade auf und holte einen Autoschlüssel heraus.
»Kommen Sie!«, rief er, hetzte zur Tür und dann wieder zurück zum Schreibtisch, wobei er Sandra fast umrannte. Am Schreibtisch schloss er die Schublade, dann wendete er sich wieder zur Tür und lief schließlich über den Flur zum Treppenhaus.
»Was ist denn los?«, fragte Sandra, die mühelos mit ihm Schritt halten konnte, obwohl seine Beine erheblich länger waren als ihre.
»Bombe«, keuchte Bellers und verfehlte die letzte Stufe, fing sich aber wieder.
»Wie, Bombe? Warum?«
Inzwischen rannten sie über den Parkplatz, und Bellers betätigte noch im Rennen die Fernbedienung seines Wagens.
»Steigen Sie ein«, rief er und stieß sich selbst seinen Kopf am Wagendach. »Eine Autobombe ist explodiert. Es gab Tote.«
In Sandras Ohren rauschte das Blut. Eine Bombe! Tote! Ein Terroranschlag? In Wuppertal? Vor ihrem inneren Auge spielten sich Szenen ab, wie sie sie im Zusammenhang mit den Anschlägen von Paris im Fernsehen gesehen hatte. Zerstörte Straßenzüge, tote Menschen. Andere Menschen, die in Panik flohen. Cafés und Restaurants, deren Fensterscheiben in Scherben auf dem Boden lagen und in denen sich Unsagbares abgespielt hatte. Aber doch nicht in Wuppertal?
»Ein Terroranschlag?«, fragte sie.
»Das ist nicht bekannt. Vorerst müssen wir alle Möglichkeiten berücksichtigen.«
Immer noch war Sandra wie betäubt. Die Zeit schien still zu stehen. Und nicht nur die Zeit, sondern auch Bellers’ Wagen.
»Warum fahren Sie nicht los?«
»Sie sind nicht angeschnallt.«
Sandra starrte ihn an. Machte er etwa in dieser Situation Witze? Nein, er schien es vollkommen ernst zu meinen. Kopfschüttelnd schnallte sich Sandra an, und Bellers rollte vom Parkplatz. Fast als Letzter in der Schar der Ameisen, und trotzdem nicht schneller als mit den auf dem Parkplatz vorgeschriebenen zehn Stundenkilometern, wie Sandra mit einem Blick auf den Tacho feststellen konnte.
Auf der Friedrich-Engels-Allee beschleunigte er auf fünfzig, und dabei blieb es. Sandra schüttelte erneut den Kopf.
»Wohin fahren wir?«, fragte sie schließlich.
»Nach Sonnborn. Genaues weiß ich auch noch nicht, aber ...« In diesem Moment klingelte sein Handy. Bellers fummelte eine Weile daran herum, bis es sich vorschriftsmäßig in der Freisprechanlage befand. »Ja? Bellers hier!«
»Fladerer. Wir planen um. Sie fahren zum Bayer Sportpark. Ich wiederhole: zum Bayer Sportpark.«
»Ist dort die Bombe ...«
»Nein, das war in der Kaiser-Wilhelm-Allee. Direkt neben dem Zoo. Die Anwohner werden derzeit zum Sportpark gebracht. Das ganze Gebiet ist abgesperrt. Sie und die anderen fahren bitte sofort zum Sportpark und sprechen mit den Menschen.«
»Gab es weitere Explosionen? Oder sonstige Attentate?«, rief Sandra dazwischen.
»Bis jetzt nicht. Auffallend ist, dass offenbar nur präzise dieses eine Auto gesprengt und nicht ein Schaden so groß wie möglich angerichtet werden sollte.«
»Was ist daran auffallend?«
»Nun, zumindest spricht das nicht unbedingt für einen terroristischen Anschlag. Aus der Luft waren bisher auch keine weiteren Attentate an anderen Orten zu entdecken.«
Jetzt erst wurde Sandra bewusst, dass der Ameisenhaufen durch fliegende Artgenossen unterstützt wurde. Über ihnen kreisten mehrere Hubschrauber und scannten vermutlich das Stadtgebiet ab.
»Ich melde mich wieder«, kam es aus dem Handy, dann hatte Fladerer aufgelegt.
»Warum können wir nicht zum Tatort, wenn er dorthin kann?«, fragte Sandra.
»Haben Sie nicht gehört? Es ist abgesperrt.«
»Mag sein. Aber das sind Tatorte doch immer. Und ich mache mir gerne selbst ein Bild.«
»Das können Sie ja bei Delikten wie Morden gerne tun. Aber nicht, wenn im Raume steht, dass ein terroristischer Anschlag verübt wurde. In einem solchen Fall kommt es durch die Leitstelle zur Erstbewertung ›Anschlag‹, und darauf folgt die entsprechende BAO. Sagt Ihnen das etwas?«
Das sagte Sandra überhaupt nichts. War wahrscheinlich eine der unzähligen Abkürzungen, die sie damals auf der Polizeischule als unwichtig abgetan hatte. »So ungefähr«, gab sie vage zurück.
»Also nicht. BAO steht für Besondere Aufbauorganisation. Am besten lassen Sie es gut sein und halten sich an die Anweisungen Ihres Dienstgruppenleiters, nämlich Fladerer. Wissen Sie, Regeln und Ablaufpläne werden nicht zum Spaß gemacht. Dabei hat sich jemand etwas gedacht. Und in diesem Fall bedeutet das, dass sich die einen um eine mögliche Terrorgefahr kümmern, während die anderen, nämlich wir, den Anschlag wie eine nicht-terroristische kriminelle Tat behandeln und ermitteln wie gewohnt. Indem sie in diesem Fall zuallererst die Opfer identifizieren und anschließend mit Zeugen sprechen.«
Sandra schaute angestrengt aus dem Fenster und zuckte mit den Schultern. Nachdem sie ein paar Mal geschluckt hatte, sagte sie: »›Wie gewohnt‹ heißt bei mir aber, ich verschaffe mir ein Bild vom Tatort.«
»In diesem Fall nicht. Die BAO ...«
Sandra schaltete ab. Dieser Mensch war unerträglich. Wenn sie doch bloß weiter mit ihrem früheren Kollegen Klaus zusammenarbeiten könnte. Mit dem war alles immer so unkompliziert gewesen.
Je näher sie dem Zooviertel kamen, um so größer wurde die Dichte der Fahrzeuge, die mit Blaulicht und Sirene durch die Straßen jagten. Andere, normale Autofahrer blieben am Rand stehen und beobachteten mit offenen Mündern das Geschehen. Hinter den Bayer-Werken waren die Straßen ins Zooviertel hinein abgesperrt. Vorbeifahrende Autos wurden weitergewunken, Autos, die durch die Absperrung wollten, angehalten, kontrolliert und dann ebenfalls weitergewunken. Niemand kam in das Zooviertel hinein. Aus der anderen Richtung dagegen, vom Zoo und aus den umliegenden Wohnstraßen, bewegten sich Menschen mit und ohne Autos aus dem abgesperrten Bereich heraus. Einige von ihnen wurden in Busse geleitet, andere fuhren mit ihren Pkws in Richtung Vohwinkel, zu dem Bayer Sportpark. Dies alles wurde sowohl von der Polizei, als auch von der Presse gefilmt.
Hinter der Absperrung sah Sandra etliche Beamte hin und her laufen, einige von ihnen mit Spürhunden. Am liebsten wäre sie ausgestiegen und zu ihnen gegangen, aber Bellers fuhr gerade am Zooviertel vorbei und bog schließlich in die Seitenstraße zu den Sporthallen ein.
Bellers fuhr auf den Parkplatz vor den Sporthallen und hielt zwischen zwei Streifenwagen. Sandra wollte schon aussteigen, da setzte er noch mal zurück, um anschließend exakt in die Mitte der Parklücke zu fahren.
Während sie zum Eingang gingen, meldete sich Fladerer erneut auf Bellers’ Handy. »So? Gut. Machen wir«, war alles, was Bellers antwortete.
»Was war denn?«, fragte Sandra.
»Fladerer. Er hat gesagt, dass es mindestens drei Tote gegeben hat. Und das Nummernschild des Wagens ist gefunden worden. Der Halter ist ein gewisser Dieter Lamprecht, wohnhaft in der Kaiser-Wilhelm-Allee 17. In dem Haus, vor dem die Bombe explodiert ist.«
»Also ist er vermutlich getötet worden«, murmelte Sandra.
»Das ist nicht sicher«, widersprach Bellers. »Bislang konnte keiner der Toten identifiziert werden. Eine der drei Personen im Auto scheint übrigens weiblich gewesen zu sein.«
»Seine Frau?«
»Wir wissen doch noch nicht mal, ob er eine Frau hatte.«
Sie kamen in ein Foyer, von dem aus mehrere Sporthallen, ein Kraftraum und ein kleines Schwimmbad abgingen. Im Foyer hatten sich bereits an die hundert Menschen versammelt, die sich um uniformierte Beamte scharten, durcheinanderredeten, wild gestikulierten und immer wieder ihre Handys checkten, vermutlich um im Life-Stream zu verfolgen, was gerade geschah.
Bellers wurde von einem der Beamten begrüßt, und sie gingen zu dritt in eine Nische etwas abseits der schnatternden Menge.
»Wie sieht’s aus?«, fragte der Beamte.
»Soweit man es bis jetzt beurteilen kann, gibt es keine Hinweise auf eine erhöhte Gefahrenlage«, gab Bellers zurück. »Keine weiteren Sprengstofffunde, kein Bekennerschreiben, keine sonstigen Attentate. Wie ist es hier?«
»Die Leute sind aufgebracht, siehst du ja.« Der Mann wies auf die Menschen im Foyer. »Einige stehen vermutlich unter Schock. Aber bislang haben wir keine Notfälle oder Probleme.«
»Gut. Ich müsste dann mit den Menschen sprechen, die etwas beobachtet haben, oder die den Halter des Wagens, Dieter Lamprecht, kennen.«
Der Beamte nickte. »Haben wir schon vorbereitet. Diejenigen, die glauben, etwas aussagen zu können, sind vorerst dort untergebracht.« Er wies auf den Kraftraum. »Es sind auch schon Kollegen von euch dort.«
Bellers nickte. »Danke. Und ihr stellt die Personalien dieser Menschen hier fest, ja?«
»Und schicken euch diejenigen, die etwas wissen, klar.«
Sandra und Bellers gingen in den Kraftraum. Dort wurden sie direkt von einem bulligen Mann in Trainingshose und weißem T-Shirt mit gelblichen Schweißflecken unter den Armen begrüßt.
»Hallo, sind Sie von der Polizei?«, fragte er. »Kann ich vielleicht endlich mal eine Aussage machen?«
»Ich bitte darum«, gab Bellers zurück.
»Also, ich wohne in direkter Nachbarschaft zu dem Auto. Gesehen hab ich zwar nichts, außer dass Lamprechts Auto völlig zerstört ist. Und den Knall habe ich gehört, natürlich. Ich habe auch die Polizei angerufen.« Er wartete kurz, aber Bellers reagierte nicht. Erst als Sandra sagte: »Das haben Sie gut gemacht, und weiter?«, fuhr er fort. »Ich wollte nur sagen, dass bei uns vorne an der Ecke so Islamisten wohnen. Die sind vor ein paar Monaten eingezogen. Und prompt geht hier eine Bombe hoch. Das ist ja wohl kein Zufall.«
Eine ähnlich beleibte Frau neben ihm nickte heftig mit dem Kopf. »Ganz genau. Die reden mit niemandem. Und der Mann hat manchmal so ein Käppi auf dem Kopf. Und einen schwarzen Bart. Das sind Radikale, das sieht man sofort.«
»Aha«, sagte Sandra. »Haben Sie denn etwas beobachtet? Nur weil diese Menschen vielleicht Muslime sind ...«
»Das sind doch alles Terroristen«, blaffte der Mann.
»Sie müssten nur mal sehen, wie die uns immer anstarren«, stimmte die Frau zu. »Mit so einem stechenden Blick. Wie Verbrecher.«
»Vielleicht würden die nicht so finster schauen, wenn Sie nicht immer so unfreundlich zu Ihnen wären«, mischte sich ein anderer Mann ein. Er trug einen Anzug und einen Aktenkoffer in der Hand und hatte vermutlich eigentlich zur Arbeit gehen wollen.
»Herr Özal ist ein Kollege von mir«, erklärte er dann Sandra. »Er ist Elektroingenieur. Lebt mit seiner Frau, die Lehrerin am Schulzentrum Süd ist, und drei Kindern, die alle das Gymnasium besuchen, seit einigen Monaten hier im Viertel. Ich gehe nicht davon aus, dass er Bomben legt, bloß weil er einen Vollbart trägt.«
Sandra nickte. »Gibt es sonst irgendwelche Beobachtungen? Wichtige, meine ich.«
Der Mann in der Trainingshose schnaubte und wandte sich ab. Er griff nach dem Arm der dicken Frau: »Komm, Bettina. Die Polizei will ja scheinbar unsere Hinweise nicht anhören.«
»Einen Moment bitte«, rief ihm Sandra hinterher. »Ich brauche Namen und Adressen von Ihnen.«
»Warum? Wir haben nichts getan. Wir sind anständige Leute, die ihre Steuern zahlen und ...«
»Und die seit Jahren arbeitslos sind und eben keine Steuern zahlen«, warf der Anzugträger ein, ohne ihn anzuschauen.
»Das ist ja wohl ...«, begann der Mann, aber diesmal unterbrach ihn Sandra: »Darf ich um Namen und Adresse bitten? Damit wir uns mit Ihnen in Verbindung setzen können, wenn wir mehr wissen wollen.«
Vor sich hinmurmelnd schrieb der Mann seinen Namen und die Adresse in Bellers’ Notizbuch. Es stellte sich heraus, dass er und seine Frau in einer der Villen in dieser Straße wohnten, dort allerdings im Souterrain. Als Beruf gab der Mann Hausmeister und für seine Frau Hausfrau an.
Der Reihe nach schrieben alle Anwesenden ihre Namen und Adressen in das Notizbuch. Danach verteilten sie sich auf die anwesenden Polizeibeamten und erzählten ihnen, was sie wussten oder zu wissen glaubten.
Die Letzte, die ihre Adresse in Bellers’ Notizbuch schrieb, war eine alte Dame mit zerknittertem Gesicht, die kaum den Stift zwischen den verkrümmten Fingern halten konnte. Sie gab schließlich den ersten brauchbaren Hinweis: »Ist der Dieter ums Leben gekommen?«, nuschelte sie, mit einer Zigarette zwischen den Lippen, die hier drinnen natürlich nicht erlaubt war. Aber alle hatten gerade andere Sorgen.
Außer Bellers: »Entschuldigung. Aber hier ist Rauchverbot«, mahnte er, und nach kurzem Zögern drückte die alte Dame ihre Zigarette in einem kleinen Taschenaschenbecher aus.
»Sie kennen ihn?«, fragte Sandra.
Die alte Dame nickte, während sie mit zittrigen Fingern in altdeutscher Schrift ihren Namen schrieb. Dann wandte sie sich zum Gehen. Sie neigte jedenfalls nicht zu Klatsch und Tratsch.
»Moment, bitte. Können Sie mir mehr über ihn erzählen?«
»Schon. Ich kenne ihn schon, seit er auf der Welt ist.« Pause. Nein, sie neigte wirklich nicht zum Tratsch.
»Was können Sie mir denn über ihn erzählen? Und sollen wir uns vielleicht dort drüben hinsetzen?« Sandra zeigte auf eine Hantelbank. Möglicherweise war die Frau ja gesprächiger, wenn nicht mindestens zehn Personen drum herum standen und zuhörten.
Die alte Dame folgte ihr. »Was wollen Sie denn wissen?«
»Alles, was Sie wissen, am besten.«
»Womit fange ich an? Also, der Dieter hat irgendwas mit Musik gemacht. Aber nicht selbst. Er hat irgendwelche Musiker gemanagt, wie das heute immer heißt. Hat denen Konzerttermine besorgt oder Plattenverträge und so. Heißt das eigentlich immer noch Plattenverträge? Es gibt doch gar keine Schallplatten mehr.«
»Also ist er Musikagent?«
»Ja, genau. So hat er sich bezeichnet.«
»Und können Sie sich vorstellen, was passiert sein könnte? Und warum?«
»Nein.«
»Hatte er vielleicht Feinde? Oder haben Sie mitbekommen, ob jemand Streit mit ihm hatte?«
»Es heißt zwar: über die Toten nichts Böses«, antwortete die alte Dame. »Aber das hilft Ihnen ja nicht weiter. Dieter hat leider mit vielen Menschen im Streit gelegen. Mit sehr vielen. Aber Genaueres weiß ich nicht.«
Genaueres weißt du doch, du willst es nur nicht sagen, dachte Sandra.
Laut fragte sie: »Können Sie mir nicht wenigstens einen Namen sagen? Vielleicht von der Person, mit der er den schlimmsten Ärger hatte?«
Die alte Dame schürzte die Lippen. Dann sagte sie: »Na gut. Den größten Ärger hatte er mit seiner Frau. Aber die ist ja wohl mit ihm in die Luft geflogen, hm? Die ganzen Leute mit ihren Handys sagen jedenfalls, es habe drei Tote gegeben. Also würde ich es an Ihrer Stelle mal bei seinen diversen Exfrauen versuchen. Die feiern bestimmt eine Party, wenn sie hören, was passiert ist.«
»Gab es Probleme zwischen Lamprecht und seinen früheren Partnerinnen?«
»Probleme ist gar kein Ausdruck. Aber das müssen Sie jetzt wirklich selbst herausfinden.« Damit drehte sie sich um und ging zu den anderen zurück.
»Nun gut. Lamprecht scheint also schon mal kein Engel gewesen zu sein, bei dem sich niemand auch nur die leiseste Vorstellung machen kann, weshalb ihn jemand töten sollte.«
»Sie sind zu voreilig, Frau Santori«, ermahnte Bellers. »Noch wissen wir nicht mal, ob er überhaupt ums Leben gekommen ist.«
»Es ist aber doch sehr wahrscheinlich, oder nicht? Wäre er sonst nicht hier aufgetaucht und hätte sich gemeldet? Inzwischen dürfte es niemanden mehr in Wuppertal geben, der nicht von den Ereignissen gehört hat.«
»Es könnte doch sein, dass er auf Reisen ist. Oder stellen Sie sich vor ...«
Bellers dozierte noch lange darüber, was Sandra sich vorstellen sollte, aber sie hörte nicht mehr zu. Schließlich ließ sie ihn einfach stehen und sprach mit der nächsten Zeugin, einer Nachbarin des Opfers. Des mutmaßlichen Opfers, verbesserte sie sich im Stillen.
Die Befragungen zogen sich bis zum späten Nachmittag hin. Immer wieder wurde Bellers von Fladerer telefonisch auf dem Laufenden gehalten, vor allem mit der Information, dass es nach wie vor keine Hinweise auf einen terroristischen Anschlag gebe. Um 13.00 und um 16.00 Uhr schauten sie sich jeweils die Pressekonferenzen aus Düsseldorf an, an denen unter anderem der nordrhein-westfälische Innenminister teilnahm. In der ersten informierte er die Öffentlichkeit, dass es bislang keine konkreten Hinweise auf eine terroristische Tat gebe. In der späteren hieß es, man gehe von einem Verbrechen mit kriminellem Hintergrund aus, ermittle aber zunächst weiter in alle Richtungen. Am späten Nachmittag durften die Anwohner des Zooviertels in ihre Häuser zurückkehren, die Mitarbeiter der Kriminalpolizei wurden zu einer Besprechung ins Präsidium beordert. Das hieß, Sandra würde jetzt, mit mehrstündiger Verspätung, ihre übrigen Kollegen kennen lernen.
Sie und Bellers kamen als Erste in den Besprechungsraum, was sie vor das Problem stellte, ob sie sich entweder direkt neben Bellers setzen und möglicherweise aufdringlich wirken, oder ein oder zwei Stühle frei lassen und gehemmt oder abweisend wirken sollte. Sie löste das Problem, indem sie selbst auf einen Stuhl zustürzte und sich als Erste setzte. Jetzt musste Bellers sehen, was er tun wollte. Er entschied sich für einen Stuhl Abstand.
Nach und nach kamen die anderen in den Raum. Zuerst eine Kollegin um die dreißig. Oder bei näherem Hinsehen vielleicht um die vierzig. Mit Absätzen war sie an die 1,80 Meter groß, und die glatten, blonden Haare berührten den Bund ihrer hautengen Jeans. Als sie Sandra sah, runzelte sie die Stirn, verzog aber sofort den Mund zu einem breiten Lächeln, als hinter ihr ein Kollege etwa Mitte dreißig eintrat. Er war drahtig wie ein Langläufer.
Die Frau sagte: »Schau mal, Luk. Unsere neue Kollegin ist da.«
Der Langläufer kam auf Sandra zu und sagte: »Angenehm. Sehr angenehm! Ich bin Lukas Mann. Luk, für meine Freunde. Den Namen solltest du dir merken.« Er lächelte ein Lächeln, das er vermutlich als diabolisch bezeichnet hätte. »Und du?«
»Sandra Santori«, antwortete Sandra und wartete auf den Kommentar. Der auch prompt kam: »Sandra Santori? Oder vielleicht San-San für deine Freunde?«
»Nein, einfach nur Sandra.«
Die Kollegin hatte sich bereits hingesetzt, ohne sich vorzustellen, und nun kamen zwei weitere Kollegen in den Raum, die sich als Bernd Bongarz und Michael Schweizer vorstellten. Bongarz war um die fünfzig, trug einen sauber gestutzten Vollbart und vollständig knitterfreie Jeans und Hemd. Als ob er die Sachen unmittelbar vor der Besprechung aus der Wäscherei geholt hätte. Sandra war sich sicher, dass er schwul war. Und sie war sich ebenfalls sicher, dass er das verbergen wollte, jedenfalls hier bei den Kollegen. Schweizer war höchstens dreißig und wischte, während er sich vorstellte, auf seinem Tablet herum. Vielleicht hätte er Sandra seinen Namen lieber per Mail geschickt.
Als Letzter betrat Fladerer den Raum und schloss die Tür. »So, schön dass alle hier versammelt sind. Und schön, dass wir eine neue Kollegin begrüßen können. Haben Sie sich schon bekannt gemacht?«
Allgemeines Gemurmel war die Antwort.
»Schön. Dann lassen Sie mich damit beginnen, dass bezüglich der heutigen Ereignisse alles darauf hindeutet, dass wir es nicht mit einem Terroranschlag, sondern sozusagen mit einem normalen Verbrechen zu tun haben.«
»Na ja. Normal?«, warf Lukas Mann ein.
»Warum deutet alles darauf hin?«, fragte Bongarz.
»Da ist zunächst die Tatsache, dass bislang kein Bekennerschreiben aufgetaucht ist. Weiterhin ist mit Ausnahme des Autos und der drei getöteten Personen so gut wie kein Schaden entstanden. Noch nicht mal Fensterscheiben sind zerbrochen. Lediglich ein paar in der Nähe parkende Autos sind beschädigt worden. Bei einem Terroranschlag hätte man doch versucht, so viel Schaden wie möglich zu verursachen.«
»Und das wäre in dieser Gegend ganz einfach gewesen«, stimmte die Kollegin zu, die sich noch nicht vorgestellt hatte. Bellers raunte Sandra zu, dass es sich um Imke Hellweg handele. »Ganz in der Nähe ist der Zoo, in dem an Wochenenden Tausende von Menschen sind.«
»Und ein paar Hundert Meter weiter das Stadion«, ergänzte Lukas Mann. »Das hätte sich auch gelohnt. Aus Sicht eines Terroristen, meine ich.«
»Lassen Sie uns also vorerst davon ausgehen, dass tatsächlich eine oder mehrere Personen, die sich in dem Wagen befanden, gezielt getötet werden sollten. Was wissen wir bisher?«
Die Ermittler trugen zusammen, was sie bislang über den Halter des Wagens, Dieter Lamprecht, erfahren hatten. Mehrere Nachbarn hatten bestätigt, dass sie gelegentlich beobachtet hatten, wie Lamprecht heftig mit verschiedenen Personen gestritten habe. Dabei sei es zum einen offensichtlich um diverse begonnene, laufende oder beendete Liebschaften gegangen, zum anderen um Konflikte, die mit seiner Tätigkeit als Musikagent zu tun gehabt hatten.
»Als Musikagent hat er sich übrigens Dino Lambardo genannt«, erklärte Bongarz.
»Ach, der?«, fragte Schweizer.
»Kennst du den?«
»Ich habe von ihm gelesen. Der hat die Master Stars ganz groß herausgebracht. Diese Boygroup aus dem Bergischen Land.«
»Gibt es irgendwelche Hinweise, wo Lamprecht alias Lambardo sich aufhalten könnte? Sofern er nicht im Auto gesessen hat?«, fragte Fladerer.
»Keine«, antwortete Schweizer. »Niemand wusste etwas über ihn, telefonisch war er nicht zu erreichen. Weder per Handy noch in seiner Agentur. Das Gleiche gilt für seine Ehefrau. In den Nachrichten ist das Nummernschild seines Wagens genannt worden, und der Halter wurde aufgerufen, sich bei der Polizei zu melden. Dass weder er noch seine Frau es bisher getan haben, lässt nichts Gutes für sie vermuten.«
»Gibt es irgendwelche Erkenntnisse über die dritte Person im Wagen?«, fragte Imke.
»Bislang nicht«, antwortete Fladerer. »Außer dass es sich um einen Mann handelt.«
»Aber es gibt Vermutungen«, ergänzte Lukas Mann. »Ein Nachbar hat uns erzählt, dass Lamprecht seinen Wagen nie selbst gefahren hat. Stattdessen hat er einen Fahrer beschäftigt, der gleichzeitig als sein Bodyguard fungierte. Er wusste nur, dass sein Vorname Marvin ist.«
»Gut. Gehen Sie dem weiter nach«, nickte Fladerer. »Es gibt erste Erkenntnisse der KTU. Und zwar hat sich gezeigt, dass die Bombe mit Klebeband an der Unterseite des Autos befestigt war. Der Zünder war mit dem Anlasser verbunden, sodass der Sprengsatz in dem Moment explodierte, als der Schlüssel gedreht wurde.«
»Wie gehen wir weiter vor?«, fragte Lukas Mann.
»Sofern wir aus Düsseldorf nichts anderes hören, behandeln wir das Ganze jetzt als einen Mordfall. Vorrang hat die Identifizierung der drei Opfer. Die DNA-Analyse läuft. Dann möchte ich Sie bitten, sich morgen erneut in der Nachbarschaft und dem Freundeskreis der Lamprechts umzuhören. Oder im Feindeskreis, je nachdem. Bellers und Santori, gehen Sie bitte morgen zuerst zu Lamprechts Haus und schauen sich dort um. Wir haben die Haushälterin ausfindig gemacht, die wird um acht Uhr dort sein und Sie und die Spurensicherung ins Haus lassen. Außerdem wird sie für Fragen zur Verfügung stehen. Die KTU hatte heute dort schon mit der Arbeit begonnen, hat aber im Haus noch nichts Bemerkenswertes entdeckt.«
»Eine richterliche Genehmigung, das Haus zu betreten, liegt vor?«, fragte Bellers.
»Aber sicher, Herr Kollege. Anschließend gehen Sie bitte in Lamprechts oder vielmehr Lambardos Musikagentur und schauen, was Sie dort in Erfahrung bringen können. Erstatten Sie mir Bericht, wenn Sie etwas herausfinden, was Ihnen wichtig erscheint. Ansonsten treffen wir uns morgen Abend, zur selben Zeit am selben Ort.«
* * *
Sandra atmete auf, als sie gegen sieben das Präsidium verließ. Es war ein langer Tag gewesen. Und er war ganz anders verlaufen, als sie erwartet hatte. Was sie jetzt ganz dringend brauchte, war Bewegung. Und danach brauchte sie Inge.
Sandra fuhr nach Hause, rannte eine Stunde wie von Höllenhunden gehetzt durch den Park, sprang rasch unter die Dusche und fuhr anschließend zu Inge. Bei ihr konnte sie auftauchen, wann immer sie wollte, sie war stets willkommen.
Kaum hatte sie geklingelt, zog ihre Freundin sie ins Haus und küsste sie rechts-links-rechts auf die Wangen. Inge war die Einzige, die das durfte. Aus der Küche duftete es nach Tomatensoße und Käse. Wahrscheinlich gab es die Gemüselasagne, die Sandra so liebte.
»Komm in die Küche. Und dann erzähl. Alles. Aber erst mal bekommst du etwas zu trinken.«
Inge ging voran in die Küche, und Sandra betrachtete ihre kleine, hagere Gestalt. Man sah ihr ihre 61 Jahre nicht an. Gut, die kurz geschnittenen Haare waren inzwischen weiß geworden, und die Haut im Gesicht und am Hals war längst nicht mehr glatt. Inge behauptete gerne, sie werde Orpheus und Eurydike, ihren Schildkröten, immer ähnlicher. Danach wartete sie dann auf Sandras Protest. Und wehe, der kam nicht! Aber es war nicht schwierig, ihr in diesem Punkt zu widersprechen. Inge war so voller Energie, dass sie alterslos wirkte. Außerdem war sie stets hellwach. Was, wie Sandra wusste, ein Überbleibsel aus ihrer Jugend war, die sie in den Straßen eines sogenannten Problemviertels verbracht hatte. Dort hatte sie die Augen überall haben und stets als Erste zuschlagen müssen, alles andere wäre ihr nicht gut bekommen. Zahlreiche Narben zeugten davon, dass sie sich jedenfalls nicht kampflos ergeben hatte.
Mit vierzehn war sie in die wichtigste Gang ihres Viertels aufgenommen worden, mit sechzehn hatte sie eine eigene Gang gegründet, mit siebzehn gab es im ganzen Viertel niemanden mehr, der es gewagt hätte, sich mit ihr anzulegen. Außer einer Richterin, die sie mit achtzehn zu acht Jahren Jugendhaft verdonnerte, weil Inge ihren Vater halb tot geschlagen hatte, nachdem der sich an ihrer jüngeren Schwester vergriffen hatte. Trotz der mildernden Umstände bestand die Richterin auf der harten Strafe. Denn sie hatte einen Plan: Nachdem Inge einige Wochen im Gefängnis rebelliert hatte und Dauergast in der Isolationszelle gewesen war, bekam sie Besuch von eben dieser Richterin, die ihr klarmachte, dass sie zwei Möglichkeiten habe: Entweder sie machte so weiter wie bisher und verbrachte ein kurzes und aufreibendes Leben als Kriminelle. Oder sie kniff den Hintern zusammen und stellte endlich etwas Vernünftiges auf die Beine.
Nachdem Inge der Richterin gesagt hatte, sie solle sich verpissen, war sie still sitzen geblieben, hatte lange nachgedacht und dann einen Entschluss gefasst. Schon am nächsten Tag besuchte sie die gefängniseigene Schule und legte der Reihe nach den Haupt-, den Realschulabschluss und dann das Abitur hin. Anschließend studierte sie Philosophie, Politik und Psychologie an einer Fernuni. Genauso exzessiv, wie sie vorher Drogen konsumiert hatte, konsumierte sie nun Wissen. Sie konnte nicht genug davon bekommen, und dieser Hunger war ihr bis heute geblieben.
Nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis absolvierte Inge in Rekordzeit ihre Promotion und Habilitation und wurde anschließend zu einer der jüngsten Professorinnen für Psychologie, die die Uni je gesehen hatte. Zu der Richterin hielt sie bis zu deren Tod Kontakt. Sie wurde zu dem wichtigsten Menschen in ihrem Leben. Zu einer echten Mentorin, im besten Sinne des Wortes.
Und genauso eine Mentorin war Inge Sterzel nun für Sandra geworden. Seit sie sie dreizehn Jahre zuvor als Sechzehnjährige von der Straße aufgelesen hatte, wohin Sandra geflohen war, nachdem sie es mit ihrem zynischen Vater nicht mehr ausgehalten hatte.
»Also dann. Erzähl«, forderte Inge, nachdem sie Sandra ein Glas verdünnten Johannisbeersaft eingeschenkt hatte. Die Lasagne brutzelte im Ofen vor sich hin, die Käsekruste würde erst in einigen Minuten perfekt sein. Und was nicht perfekt war, das kam nicht auf Inges Tisch. »Ich hab’s in den Nachrichten gesehen. Mitten in unserem Wuppertal. Aber es heißt, man gehe davon aus, dass das keine Terroristen waren.«
Sandra nickte und berichtete von ihrem ersten Tag, an dem bereits so viel passiert war, dass es eigentlich für eine ganze Woche reichte. Sie erzählte außerdem von der freundlichen Begrüßung durch Fladerer und der weder freundlichen noch unfreundlichen durch Bellers.
»Was ist er für einer?«, fragte Inge.
Sandra zuckte mit den Schultern.
»Na los, sag schon.«
»Ich weiß nicht. Ist noch zu früh.«
»Ach was! Welches Gebäck ist er?«
»Ein Baumkuchen ohne Schokolade. Aber nur scheinbar.«
»Was soll das heißen?«
»Dass er nichtssagend wirkt. Steif, unbeweglich. Langweilig. Und überkorrekt. Zum Beispiel war er der Einzige, der mich gesiezt hat. Außer Fladerer, aber der ist ja der Chef und siezt alle.«
»Und warum nur scheinbar?«
»Ich glaube, er hält etwas zurück. Deswegen braucht er auch so viel Distanz. Damit niemand etwas mitbekommt. Ich glaube, er leidet unter irgendetwas.«
»Na bitte. Das ist doch schon eine ganze Menge. Nutze immer deine Fähigkeiten, Sandra. Habe ich dir das schon mal gesagt?«
»Ich denke doch«, seufzte sie. »Einige Millionen Male.«
Inge gab ihr einen liebevollen Klaps auf die Wange. Auch das durfte nur sie tun.
Und dann war endlich die Lasagne fertig. Während des Essens erzählte Sandra von den ersten Ermittlungsergebnissen. Inge stürzte sich begeistert auf die Informationen. Sie liebte es, Theorien und Spekulationen zu Sandras Fällen aufzustellen. Bis nach zwölf saßen sie noch zusammen, anschließend war Sandra zum ersten Mal an diesem Tag entspannt.
Am nächsten Morgen stand Sandra schon um Viertel vor acht vor dem Haus der Lamprechts. Die Absperrungen waren entfernt worden, die Reste des Autos abtransportiert und Scherben und andere Überbleibsel des Anschlags waren offensichtlich eingesammelt worden.
Die Villa von Dieter Lamprecht war prächtig. Aber nur auf den ersten Blick. Sehr groß, drei Stockwerke hoch, mit Erkern und Türmchen. Inmitten eines großen Gartens, der ebenfalls vordergründig gepflegt war. Der Rasen war penibel gestutzt, Büsche zu Pyramiden und Kugeln geschnitten. Aber wenn man genauer hinsah, entdeckte man überall Spuren der Vernachlässigung. An den Rosensträuchern hingen verwelkte Blüten, die Regenrinne wies mehrere Löcher auf, von den grün gestrichenen Fensterrahmen blätterte die Farbe.
Das Grundstück war von einem schmiedeeisernen Zaun umgeben, der nach oben in mörderischen Spitzen auslief. Gartentor und Haustüre waren durch Kameras gesichert.
Sandra schaute noch durch die Gitterstäbe, als sie hinter sich ein unangenehmes Quietschen hörte. Sie drehte sich um und sah eine etwa vierzigjährige, rundliche Frau, die einen silbernen Rollkoffer hinter sich herzog. Hinter ihr gingen zwei junge Beamte, und alle drei trugen die dünnen, weißen Plastikanzüge der Spurensicherung. Die Frau sah darin aus wie ein Heißluftballon.
»Hallo!«, begrüßte sie Sandra. »Bist du die Neue? Ich bin Petra Oberrath. Spurensicherung.« Sie reichte Sandra eine weiche und sehr warme Hand und schaute sie mit einem noch wärmeren Blick an. Ein Kirschkuchen mit Streuseln.
»Hallo. Ich bin Sandra Santori.«
»Und du arbeitest mit Bellers zusammen?«
»Genau.«
»Dann lass dich mal nicht verdrießen«, lächelte Petra. »So, wann kommt denn wohl diese Haushälterin?«
Sandra sah auf die Uhr. Schon fast acht. Wo blieb Bellers? Der würde doch nie und nimmer zu spät kommen?
In diesem Moment klingelte ihr Telefon. »Frau Santori? Bellers hier. Ich werde mich ein paar Minuten verspäten, tut mir leid. Gehen Sie doch bitte schon ohne mich ins Haus.« Bevor Sandra etwas entgegnen konnte, legte er auf.
»Bellers kommt später? Das streiche ich mir rot im Kalender an«, sagte Petra, die dicht neben Sandra gestanden und dem Gespräch ungeniert zugehört hatte.
Endlich kam eine ältere Frau, die sich als Katharina Wienholdt, die Haushälterin der Lamprechts vorstellte. Sie war nicht größer als Sandra und trug einen knöchellangen Rock, eine Bluse und sehr vernünftige Schuhe. Ihre Haare hatte sie zu einem straffen Knoten gebunden. Vermutlich gehörte sie einer der unzähligen Wuppertaler Freikirchen an, deren weibliche Mitglieder fast alle so aussahen. Sie begrüßte die Ermittler, ohne vom Boden aufzuschauen, und ließ sie in den Garten und dann ins Haus.
»Bleibt ihr bitte auf der unteren Ebene, du und Bellers?«, bat Petra. »Da sind wir gestern schon gewesen. Wir gehen nach oben.« Sie nickte Sandra freundlich zu und verschwand auf der Treppe.
Sandra folgte Katharina Wienholdt in ein kombiniertes Wohn- und Esszimmer, das fast die gesamte untere Ebene einnahm. Kurz darauf folgte Bellers, der inzwischen eingetroffen war und sich ebenfalls vorstellte. Sandra schaute sich um. In einer Ecke sah sie einen offenen Kamin, vor dem vier Ledersessel standen. In einer anderen Ecke befand sich eine Couchgarnitur, ebenfalls aus Leder, die auf einen Fernseher von der Größe einer kleinen Kinoleinwand ausgerichtet war. In einer Vitrine konnte Sandra Urkunden und Pokale sehen. Als sie nähertrat, sah sie, dass sie nicht etwa Dino Lambardo beziehungsweise Dieter Lamprecht, sondern einer Frau namens Sofia Oliewski verliehen worden waren. Und zwar für ihre Erfolge im Wrestling.
Sandra wollte Bellers darauf hinweisen, aber der hatte sich abgewandt und studierte die Rücken mehrerer sehr alt aussehender Bücher. Auch Minuten später war er noch so darin versunken, dass Sandra ihn dreimal ansprechen musste, bevor er mit einem »Hm?« antwortete.
»Haben Sie was entdeckt?«, fragte Sandra.
»Ja, schauen Sie mal.« Bellers entfaltete sein Taschentuch und zog vorsichtig eines der Bücher aus dem Regal. »Erstausgabe. Ulysses. Ich wette ...« Seine Stimme verlor sich, und er öffnete behutsam das Buch auf der ersten Seite. »Hab ich’s doch gewusst. Hier, sehen Sie. Eine persönliche Widmung des Autors. Handschriftlich. Für einen Wilhelm Lamprecht.« Bellers strich mit sanften Fingern über die Seite wie über den Rücken einer Geliebten.
»Ähm, und glauben Sie, das hat etwas mit dem Anschlag zu tun?«, fragte Sandra.
»Was?« Bellers wirkte, als tauchte er aus einem tiefen Brunnen herauf ans Tageslicht. »Nein. Natürlich nicht. Ich fand es nur ... interessant.«
Er stellte das Buch zurück ins Regal und ging zu einem anderen Regal, in dem etwa fünfzig Aktenordner standen. Sandra konnte seinem Rücken die Enttäuschung ansehen. Hatte er also doch wenigstens eine kleine, unkorrekte Macke. Denn sicher stand in keinem Lehrbuch für Ermittler, dass man sich von der Büchersammlung eines mutmaßlichen Mordopfers begeistern lassen sollte.
Während Bellers die Beschriftungen der Aktenordner studierte, schaute sich Sandra weiter um. An einer Schmalseite des Raums befand sich ein Esstisch, an dem zwölf Personen bequem Platz gefunden hätten. Durch eine Durchreiche konnte Sandra einen Blick in eine topmodern eingerichtete und unbenutzt aussehende Küche werfen.
Sandra wandte sich an Katharina Wienholdt, die inzwischen mit der Wand verschmolzen war und sie mit großen Augen beobachtete. »Meinen Sie, Sie können uns ein paar Fragen beantworten?«,
Die Frau nickte, und sie, Sandra und Bellers setzten sich an den Tisch.
»Sie arbeiten also hier im Haus?«, begann Sandra.
Die Frau nickte wieder.
»Und was machen Sie?«
»Alles, was anfällt«, murmelte die andere.
»Putzen, Kochen, Wäsche waschen. Solche Dinge?«
Die Frau nickte ein drittes Mal.
»Sind Sie jeden Tag hier?«
Ein viertes Nicken.
»Erzählen Sie doch ein bisschen von Ihrer Arbeit. Was hatten Sie sich gestern zum Beispiel vorgenommen?«
»Gestern wollte ich zuerst die Betten neu beziehen«, begann die Frau mit tonloser Stimme. »Das mache ich alle zwei Wochen. Die Herrschaften wollen das so. Obwohl nach zwei Wochen die Bettwäsche noch nicht wirklich schmutzig ist, wenn Sie mich fragen. Na ja, manchmal schon. Wenn sie ... also ... Aber das ist ja jetzt egal. Dann hätte ich Wäsche gewaschen ...«
Je länger sie redete, desto mehr entspannte sie sich.