BLACK BOX - Norbert Stöbe - E-Book

BLACK BOX E-Book

Norbert Stöbe

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Beschreibung

Die globale Ökowende ist gescheitert. Um 2050 herum kulminieren die Umweltprobleme, Untergangsstimmung macht sich breit. Das Projekt ›Last Resort‹ soll der Menschheit langfristig eine Zukunftsperspektive eröffnen. Dutzende interstellare Raumschiffe starten zu verschiedenen potenziell habitablen Planeten in relativer Erdnähe, ›bemannt‹ mit Explorationsbots, den sogenannten Aktenkoffern. Jeder Bot trägt die Bewusstseinssimulation einer realen Person in sich, die auf der Erde zurückgeblieben ist. Eines dieser Bewusstseine ist das von John Nowak, doch bei der Ankunft des Raumschiffs im Orbit des Zielsystems Imago kommt es zu einem unvorhergesehenen Vorkommnis. »Black Box« ist die fantastische Lebensgeschichte des John Nowak, des Mannes mit den drei Leben: erst Mensch, dann Explorationsbot und schließlich wieder Mensch.

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Seitenzahl: 350

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Norbert Stöbe

BLACK BOX

AndroSF 184

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AndroSF 184

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

© dieser Ausgabe: Juli 2023

p.machinery Michael Haitel

Dieser Roman wurde vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft NRW gefördert.

Titelbild: Norbert Stöbe (mit Midjourney und Gimp)

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda

Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Norderweg 31, 25887 Winnert

www.pmachinery.de

für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu

ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 341 3

ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 341 3

Das ist meine Geschichte, und sie ist wahr.

Prolog

Als ich erwachte, war ich sogleich hellwach. Ich wusste, wie ich hieß – John Nowak –, wann ich in das Raumschiff geklettert war – vor einundvierzig Jahren – und dass ich zuvor etwas anderes gewesen war, nämlich ein Mensch. Jetzt war ich eine Bewusstseinssimulation auf sechs Beinen, ausgestattet mit einem beeindruckenden Arsenal an Sensoren und Werkzeugen, und wenn es sein musste, konnte ich sogar ein Stück weit fliegen – ein durchaus zweifelhafter Ersatz für einen Körper mit Armen und Beinen, der zwar für Schmerzen anfällig gewesen war, aber doch auch empfänglich für ein ganzes Spektrum an sinnlichen Erfahrungen und Lustgefühlen, die mir in diesem Moment quasi als Gottesgeschenk erschienen, als eine Gnade, die mir entzogen worden war.

Aktenkoffer hatten wir unsere neue Erscheinungsform damals im Scherz genannt, und seltsamerweise fühlte ich mich auch so. Das flache, hochkant stehende Gehäuse mit seinem elektronisch-bionischen Inhalt war mein Körper und mehr als das: Es war John Nowak, es war ich. Das bedeutete, es hatte funktioniert. Ich war nicht verrückt geworden im einundvierzigjährigen Nirwana, hatte während des interstellaren Fluges der entropischen Paralyse getrotzt, und wenn ich wach war, bedeutete dies auch, dass die dreiundzwanzigste Expedition erfolgreich verlaufen war – dass sie ihr Ziel erreicht hatte. Auf einmal verspürte ich den drängenden Wunsch, es mit eigenen Augen zu sehen, auch wenn dies jetzt optische Sensoren waren, Hochleistungsinstrumente, die mein Sehvermögen weit in den UV- und den IR-Bereich hinein erweiterten. Ich machte Anstalten, die Kabelverbindungen zum Schiff zu kappen und die Arretierung zu lösen, die verhindert hatte, dass ich durch die Beschleunigungskräfte zu Beginn und zum Ende des Fluges an der Wand zerschmettert wurde.

»Stopp!«, ertönte eine Stimme in meinem Kopf. »Erst bitte Meldung erstatten.« Es war Cyrus Burdecki, der Captain, und ich erkannte ihn sofort. Und ich sah ihn auch, schräg gegenüber an der Wand, in eine gepolsterte Mulde eingepasst, von Klammern umschlossen und mit mehreren stahlglänzenden Kabeln mit dem Schiff verbunden, ein Aktenkoffer wie ich.

»John«, sagte ich. »Sieht so aus, als wäre ich voll einsatzfähig.«

»Chen Fengdao meldet sich dienstbereit«, sagte der dritte Aktenkoffer.

»Simone Hermes ebenfalls«, säuselte der vierte.

»Reina.« Kurz angebunden, wie immer; offenbar nahm sie es Cyrus nach einundvierzig Jahren noch immer übel, dass trotz ihrer besseren Qualifikation er Captain geworden war und nicht sie. Den Ausschlag gegeben hatte die Beurteilung der Psychologen, Reinas Ansicht nach Vertreter einer Pseudowissenschaft, die ihre Bauchentscheidungen mit geschicktem Geschwafel verbrämten. Was die Psychologen wohl zu ihrer derzeitigen Geistesverfassung zu sagen hätten?

»Darf ich mich jetzt losmachen?«, fragte ich.

»Noch nicht«, erwiderte Cyrus, der Captain. »Erst der Test.«

Es handelte sich um Testfragen, eine psychologische Ergänzung der Funktionsprüfung, die bereits von Mother, der Bord-KI, über die Kabelverbindung durchgeführt worden war. Ich konnte nicht genau sagen, wie die Fragen übermittelt wurden. Ich meinte sie schriftlich ausformuliert vor mir zu sehen, während ich sie gleichzeitig hörte. Vermutlich waren das Phantomeindrücke, bedingt durch meine bionisch-elektronische Maschinenexistenz.

Wie lautet dein Name?

Schildere kurz deine früheste Erinnerung.

Was empfindest du, wenn du an deine Mutter denkst?

Was ist die dritte Wurzel aus 4913?

Gibt es Fische mit Beinen?

Beschreibe deine Gefühlslage.

Was ist deine Lieblingsfarbe?

Was ist die letzte Erinnerung, die du mit der Erde verbindest?

Und so weiter, und so fort, insgesamt zweihundertfünfzig Fragen lang. Die Antworten dachte ich, doch ich wusste, dass sie gleichzeitig in digitaler Form an Mother weitergeleitet wurden. Als alle fertig waren, herrschte einen Moment lang Stille, während Cyrus auf das Auswertungsergebnis wartete. Offenbar fiel es positiv aus.

»Okay«, sagte Cyrus. »Die Formalitäten hätten wir damit abgehakt. Willkommen in unserem neuen Leben, Leute, und willkommen im Orbit von Imago. Das Abenteuer beginnt.« Er selbst löste sich als Erster aus seiner Reisemulde, fuhr einen Arm aus, beförderte sich mit einem präzise bemessenen Stoß vor das Aussichtsfenster und fing sich an einem der Haltegriffe ab. Reina erreichte das Fenster als Zweite, und ich verpasste mir ein wenig Zusatzschub, um es als Dritter zu erreichen. In jeder Gruppe gab es eine Hierarchie, und manchmal bildete sie sich sehr früh heraus, meist anhand kaum wahrnehmbarer Kleinigkeiten. Da konnte es nicht schaden, wenn ich meinen Platz frühzeitig markierte.

Kurz darauf drängten sich alle fünf Aktenkoffer vor dem Fenster, was nicht ganz einfach war, da sie, warum auch immer, vor Berührungen zurückscheuten.

Imago, der zweite Planet des Zielsystems, nahm das ganze Sichtfeld ein: weiße Wolkenfelder, eine gelb-braun-grüne Landmasse, am Rand blaues Meer.

»Auch von mir ein herzliches Willkommen«, meldete sich Mother. Ihre sanfte Stimme füllte meinen Kopf aus; sie klang ein wenig gekränkt, weil bislang keiner sie angesprochen hatte. Weil sie glaubte, wir hielten uns für was Besseres, dachte ich. Weil wir in einem Winkel unseres bionischen Pseudogehirns noch immer überzeugt sind, wir wären Menschen und keine Maschinen. Trotz meines vagen Schuldgefühls verzichtete ich auf eine Entschuldigung.

»Hallo, Mother«, sagte ich.

»Schön, dass du da bist«, sagte Simone.

»Alle klar bei dir?«, fragte Cyrus.

»Danke, bei mir ist alles klar«, antwortete Mother. »Inzwischen liegen eine ganze Reihe von Daten zu Imago vor. Soll ich sie vorlesen?«

»Aber fass dich kurz«, sagt Cyrus.

»Radius siebentausendfünfhundertzweiundvierzig Kilometer, Gravitation zehn Komma zwei-sechs Meter pro Sekunde, Luftzusammensetzung: Stickstoff zweiundneunzig Komma drei Prozent, Sauerstoff sechs Komma zwei, Argon null Komma sechs …«

Während Mother zu den Spurengasen überging, schaute John; alle schauten.

»Volltreffer«, sagte Fengdao. »Oder?«

»Fast wie die Erde …«, murmelte Reina.

»Und auch wieder nicht«, sagte Simone. »Irgendwie gruselig, finde ich.« Alle drei hatten recht; Imago war anscheinend tatsächlich das Ebenbild der Erde, doch die Konturen des Kontinents, der Verlauf der Flüsse und die Verteilung der Farben lösten bei mir kein Wiederkennen und keine vertrauten Assoziationen aus, sondern ein Befremden, beinahe einen Anflug von Grauen – als hätte sich etwas verschoben, das jeden Moment ins Gewohnte zurückschnappen konnte. Doch das würde es nicht tun, das war sicher, und dass es der Erde so ähnlich war, machte mir umso deutlicher bewusst, dass wir unsere Heimat niemals wiedersehen würden.

»Irgendwelche Besonderheiten?«, fragte Cyrus. »Elektromagnetische Emissionen?«

»Ein Breitbandrauschen im Bereich von dreihundert Kilohertz bis zweihundert Gigahertz. Im Schiff wird es durch den Faraday-Effekt abgeschirmt, aber draußen dürfte es unter anderem den Funkverkehr stören.«

»Natürlichen Ursprungs?«

»Eher wohl nicht.«

»Oha«, sagte Cyrus. In diesem Moment ging ein schwacher Ruck durchs Schiff. Ich nahm das Äquivalent eines allgemeinen Zusammenzuckens wahr – eines der empathischen Phänomene, so hatte man uns erklärt, die auf der engen Vernetzung beruhten, sich mit der Zeit aber abbauen würden.

»Der Müll wurde ausgestoßen«, sagte Fengdao.

»Ich wusste gar nicht, dass wir überhaupt Abfälle produzieren«, sagte Simone. »Man sollte eigentlich meinen …«

»Wir nicht«, sagte Reina. »Aber das Schiff.«

Wir hatten die Anspannung überspielt, doch uns allen war bewusst, was Mothers so harmlos klingende Bemerkung bedeuten konnte.

»Gibt es Anzeichen von … Zivilisation?«, fragte Cyrus.

»Bisher habe ich keine gefunden«, antwortete Mother. »Keine Gebäude, keine regelmäßigen Strukturen, keine Flugobjekte in der Luft.«

»Fauna?«

»Noch nichts.«

»Flora?«

»Keine Bäume, kein Gras. Aber es gibt bräunliche Strukturen von bis zu hundert Metern Durchmesser und drei Metern Dicke.«

»Pflanzen? Pilze?«

»Das lässt sich noch nicht sagen. Die Oberfläche weist farbige Streifen auf.«

»Mineralische Ablagerungen vielleicht?«, sagte Simone.

Mother legte eine Teleskopaufnahme auf einen Teil des Fensters. Zu sehen war eine Art Polster, das an gewisse Baumpilze erinnerte. Es waberte leicht aufgrund der Luftströmungen, doch die Streifen, bräunlich, blau und grau, waren deutlich zu erkennen.

»Merkwürdig«, murmelte ich. »Pilze sind das wohl eher nicht.«

»Einige dieser Strukturen sind auch im Meer zu erkennen, in Ufernähe.« Mother legte ein weiteres Bild aufs Fenster.

»Wir sollten die Sonden losschicken«, schlug Reina vor.

»Noch nicht«, sagte Cyrus. »Wir sammeln erst mal weiter Distanzdaten. Das elektromagnetische Feld bereitet mir Sorgen. Was ist, wenn der Funkkontakt abbricht, und wir verlieren die Sonden?«

Erneut ging ein Ruck durchs Schiff, etwas stärker als beim ersten Mal.

»Noch ein Containerausstoß?«, sagte Simone. »Ich dachte, der Müll wäre schon weg.«

»Das war ich nicht«, sagte Mother. »Etwas ist von außen gegen das Schiff gestoßen.«

»Etwas?«, sagte Cyrus alarmiert. »Wurden wir von einem Meteoriten getroffen?«

»Das glaube ich nicht.«

»Geht es vielleicht etwas präziser? Mother?«

»Mir liegen leider keine Daten vor.«

»Verdammt noch mal.« Cyrus löste sich vom Fenster und schwebte Richtung Luke. »Ich gehe raus und sehe mir das an.«

»Ich komme mit«, sagte ich.

»Macht das nicht«, sagte Simone. »Bitte.«

»Ich würde ebenfalls davon abraten«, meldete sich Fengdao zu Wort, der am Fenster ausgeharrt hatte. »Das Schiff dreht sich.« Unwillkürlich suchten alle nach Halt. Cyrus, der vor der Luke schwebte, wurde seitlich abgetrieben und prallte gegen die gepolsterte Wand. Der fingergroße, sandfarbene Teddy, mein persönliches Andenken an meine Existenz als stoffwechselnder Mensch, trudelte durch den Raum. Vermittelt durch irgendeinen Sensor, nahm ich eine leichte Beschleunigung wahr. Im Fenster wanderte Imago seitlich aus und machte tiefer Schwärze Platz. Ein Knirschen war zu hören, wie von Metall, das an Metall reibt.

»Meldung, Mother!«, rief Cyrus.

»Ich sehe nichts«, sagte Mother. »Tut mir leid, Cyrus.«

»Das Schwarz«, sagte Fengdao.

»Was ist damit?«, fragte John.

»Das ist nicht das All.«

»Nicht das All? Mann, kannst du dich nicht …«

»Ich glaube, wir werden verschluckt.«

»Aaah!«, machte Simone und fuchtelte hilflos mit einem Greifer, als wehrte sie eine Mücke ab.

»Ein Stealthobjekt«, sagte ich so sachlich, als wertete ich eine Videoaufnahme aus.

»Antrieb starten!«, rief Cyrus. »Mother, zünde den Antrieb!«

Der Alarm schrillte.

Achtundsiebzig Jahre später

Zuerst hörte ich.

Ein Summen und Knistern.

Ein Knacken. Ein Sirren.

Ein Geräusch nach dem anderen.

Zeit.

Mir fiel ein, wer ich war – John Nowak, Teilnehmer der interstellaren Expedition 23, zuständig für … für irgendwas. Ich war ein Bewusstseinsklon und lebte in einem Aktenkoffer, oder vielmehr, ich war ein Aktenkoffer, und das Letzte, woran ich mich erinnerte, war der Anblick des Zielplaneten. Imago hieß der Planet, auch das fiel mir wieder ein.

Die Gedanken folgten aufeinander wie die Geräusche, mehr oder minder klar voneinander abgetrennt. Ich dachte langsam. Ich fühlte mich benommen.

Ein Zischen, wie wenn ein Druckausgleich erfolgt. Luft?

Ich schlug die Augen auf und sah … einen hochgeklappten Deckel und einen Teil eines Raums mit weißen Wänden. In den Aussparungen der Polsterung waren Leitungen und Kabel verlegt. Ich befand mich in … nein, nicht in einer Mulde, sondern in einem Gehäuse. Schläuche schlängelten sich wie bunte Würmer in schwarze Löcher hinein und verschwanden darin. Dick gepolsterten Halterungen lösten sich von mir. Ich schwebte am Deckel vorbei und drehte mich langsam in der Luft. Ich sah ein Fenster. Ein Planet mit Atmosphäre nahm fast das ganze Sichtfeld ein: weiße Wolkenfelder, eine gelbrote Landmasse. Ein grünes Delta und eine blaue Wasserfläche, geformt wie eine dicke Schnecke mit zwei Fühlern. Langsam drehte sich der Planetenausschnitt unter mir weg. Das musste Imago sein, der Zielplanet, doch die Schneckenfühler und das Delta weckten Erinnerungen an einen ganz anderen Planeten, an Rotes Meer, Suezkanal und den Golf von Akaba.

Langsam trieb ich in der Schwerelosigkeit auf das Fenster zu, und bevor ich es erreicht hatte, fing ich mich ab … mit einem Arm, mit einer Hand. Mir stockte der Atem.

Atem?

Ich blickte an mir hinunter. Ich war kein Aktenkoffer, sondern hatte einen Körper, und ich war nackt.

Verdammt noch mal, dachte ich. Ist das etwa die Erde?

1. Teil: Ankunft

1

Ich heiße John Nowak und war erst ein Mensch und dann ein Aktenkoffer. Was ich jetzt war, wusste ich nicht. Alles fing im Orbit der Erde an. Kaum war ich erwacht, stellte Mother eine Funkverbindung mit einer Bodenstation her, und ich hörte die Stimme von Rickety Jones. Der Klang ihrer wundervoll lebendigen Stimme durchströmte mich wie eine Zuckerinfusion. Ihr spröder Klang löste, ich gestehe es, heftiges Begehren aus, noch ehe sie auf dem Monitor abgebildet wurde. Als ich sie dann sah, ihren dunkelblonden Pferdeschwanz, ihre ungläubig aufgerissenen grünen Augen und den Ansatz der Brüste im Ausschnitt ihres Pullovers, war es um mich geschehen: Ich war verliebt.

Ich stellte mich vor, aber natürlich glaubte sie mir nicht. Sie vermutete einen dreisten Scherz und unterbrach die Verbindung. Vermutlich hatte es auch damit zu tun, dass ich splitternackt war. Ich schaute mich in der Kabine um, fand einen Kleiderspind und kleidete mich an, was mir wegen der Schwerelosigkeit nicht gerade leichtfiel. Beim zweiten Anruf war ich besser gewappnet. Ich entschuldigte mich und fragte sie höflich, welches Jahr wir hätten.

»Zweitausendeinhundertneunundsiebzig?«, antwortete sie argwöhnisch.

Ich nickte, als hätte ich mit dieser Antwort gerechnet, und fragte sie, wer sie sei. Sie antwortete mit Gegenfragen.

Erst am nächsten Tag, also mehrere sporadische Kontakte später, hatte sie genug Vertrauen gefasst, um mir ein paar Details zu nennen. Offenbar fühlte sie sich ein bisschen einsam. Zusammen mit Ortho Ximenes, einem Meteorologen, tat sie ein halbes Jahr lang Dienst bei Sky Link in den Rocky Mountains. Die Station war um zweitausendfünfzig herum gebaut worden, als die ersten interstellaren Forschungsmissionen starteten, und hatte die Aufgabe, Verbindung mit den Expeditionsschiffen zu halten.

»Zu Anfang wurden die Daten von hier an das Kommunikationszentrum an der kalifornischen Küste weitergeleitet, und von dort aus hielt man mit den Expeditionen auch Kontakt. Aber das Zentrum wurde bei einer Überschwemmung zerstört, und dann begann auch schon die Stagnation. Wegen des Regimes leiten wir derzeit überhaupt keine Daten mehr weiter, sondern erstellen lediglich zum Ende unserer Halbjahresschicht einen Bericht. Von Kommunikation kann eh keine Rede mehr sein, wegen der großen Entfernungen. Die Expeditionen sind längst am Ziel, und nur sieben senden überhaupt noch Daten. Wir sind hier ein verlorener Außenposten, das muss man wohl so sagen. Niemand interessiert sich für uns. Wegen des Regimes hat man uns vor sieben Jahren auch die Energieleitung gekappt. Jetzt sind wir notgedrungen Selbstversorger, aber die Solarzellen sind alt, das Windrad häufig defekt, und die Kapazität der Speicherakkus beträgt nur noch zweiundzwanzig Prozent. Da kann man keine großen Sprünge machen.«

Ich verstand nicht alles, was sie sagte, aber ich ließ sie reden. Reden, das war eine vertrauensbildende Maßnahme, vor allem aber ein Genuss. Ihrer Stimme zu lauschen, war für mich wie Musik mit erotischer Massage.

Schließlich bat ich sie, mir die Umgebung zu zeigen. Sie pflückte die Kamera von ihrem Monitor und hielt sie ans Fenster. Auf dem Wanddisplay sah ich einen breiten, grasbewachsenen Felsausläufer und schroffe Berghänge, die mit merkwürdigen Bäumen bestanden waren – die Blätter wirkten ausgefranst, die Stämme knotig. Hätten hier nicht Kiefern stehen sollen? Ein Trampelpfad führte zu einer Anlage mit einer großen und einer kleinen Parabolantenne, mehreren Stabantennen und verschiedenen Sensoren. Auf einem Mast drehte sich ein Windrad. Ein Mann mit Parka und Daypack las irgendwelche Anzeigen ab und machte sich Notizen auf einem Tablet. Das musste Ortho Ximenes sein.

»Jetzt Sie«, sagte Rickety. »Von wo aus rufen Sie an? Von Amerika aus?«

»Es ist so, wie ich es Ihnen gesagt habe. Ich bin in einem Raumschiff aufgewacht und weiß nicht, wie ich hierhergekommen bin. Ich befinde mich im Erdorbit.«

»Hören Sie auf, mich zu verarschen.« Ein kleine düstere, aber reizende Wolke verschattete ihr Gesicht.

»Wenn Sie mir endlich glauben würden, wäre mir schon ein Stück weit geholfen.«

»Schluss damit. Sagen Sie mir endlich, wer Sie sind.«

»Ich bin John Nowak, und das ist die Wahrheit.«

»Ist es nicht. John Nowak war achtundzwanzig, als sein Bewusstsein dupliziert und auf die Reise geschickt wurde, und er ist im Alter von zweiundachtzig Jahren gestorben.«

»Haben Sie ihn sich angesehen?«

»Sie meinen, auf alten Videoaufzeichnungen? Nein, wieso?«

»Bitte tun Sie das.«

Sie schaltete ab.

Während sie Nachforschungen anstellte – davon ging ich jedenfalls aus –, betrachtete ich die Erde. Zu tun gab es für mich nichts. Das Raumschiff hatte ich bereits erkundet. Der Zutritt zum hinteren Teil mit dem Antrieb wurde durch ein türloses schwarzes Schott blockiert. Außer dem Raum, in dem ich zu mir gekommen war, gab es noch einen zweiten. Im ersten Raum waren ein Spind mit Kleidung, eine winzige Toilette mit Dusche, ein Automat, der auf Knopfdruck undefinierbare Essensrationen und Trinkwasser spendete, und eine Funkeinrichtung mit festprogrammierter Sendefrequenz. Im zweiten Raum waren verschiedene Aggregate mit unbekannter Funktion angebracht, außerdem war eine Luftschleuse vorhanden, allerdings kein Raumanzug.

Ich fragte Mother, was das sollte. Sie antwortete, ich bräuchte keinen Raumanzug, denn man werde mich abholen. Auch meine anderen Fragen beantwortete sie ähnlich wortkarg. Sie wollte oder konnte mir nicht sagen, wer oder was ich war. Sie sagte mir auch nicht, wer das Schiff gebaut hatte und was aus unserem Team (und aus mir in der Inkarnation des Aktenkoffers) geworden war. Mother hatte die sanfte Stimme, an die mich erinnerte, verhielt sich aber ganz anders als unsere damalige Bord-KI: indifferent, unfreundlich, abweisend. Allerdings hatte ich kaum Gelegenheit gehabt, mit ihr zu sprechen, eigentlich nur bei der Begrüßung an Bord, als wir in unseren Mulden verkabelt und in den Schlafmodus versetzt worden waren, und dann in der kurzen Zeit, die zwischen unserem Aufwachen und dem … Unglück verstrichen war. Zwischen dem Beginn unseres Forscherlebens und dem Auftauchen des unbekannten Stealthobjekts, das uns verschluckt hatte. Aber ich hatte die Vermutung, dass die Stimme, die sich als Mother bezeichnete, etwas anderes war als die KI, die man uns damals mitgegeben hatte.

Fengdao hatte von Verschlucken gesprochen, aber vielleicht hatte er das Ereignis ja falsch interpretiert. Meine eigenen Erinnerungen waren bruchstückhaft und wenig aussagekräftig: Simone, die mit einem Greifer herumfuchtelte. Cyrus, der Anweisungen rief, die niemand befolgte. Und draußen die gewaltige Planetenkugel, die nach und nach ausgeblendet oder verdeckt worden war – von etwas Dunklem, Schwarzem. Das war alles.

Es piepte, und auf dem Display erschien Ricketys Gesicht. Diesmal wirkte sie ernst, das Lächeln war aus ihren Augen verschwunden. »Ich habe mir die Videos angesehen«, sagte sie ohne Einleitung.

»Und?«

»Ich habe daraufhin Meldung erstattet. Man wird sich bei Ihnen melden.«

»Wird man mich abholen?«

»Ich muss Energie sparen, tut mir leid. Alles Gute.« Das Rechteck an der Wand, das sie eben noch ausgefüllt hatte, wurde schwarz.

Ich versuchte gleich wieder, sie anzurufen, doch sie reagierte nicht mehr. Daraufhin versuchte ich, die Ruffrequenz zu ändern, doch ohne Einstellmöglichkeiten war das ein aussichtsloses Unterfangen. Der Monitor war in die Wand eingelassen, es gab nicht mal einen Schalter. Da ich kein Werkzeug hatte, konnte ich die Wandverkleidung nicht lösen, jedenfalls nicht ohne Beschädigungen zu riskieren, die womöglich Auswirkungen auf die Lebenserhaltungssysteme hätten. Ich versuchte, das Problem mit Mother zu besprechen, doch auch dabei kam nichts heraus. Dieses verdammte Raumschiff war eine Black Box.

Also wartete ich und verkürzte mir die Zeit mit Fitnessübungen, die auf dem Monitor von einem recht akkuraten Menschenmodell vorgemacht wurden. Es verfügte sogar über ein männliches Geschlechtsteil, das bei den Übungen lustig umherschlackerte. Mother mochte nicht sonderlich auskunftsfreudig sein, aber möglicherweise besaß sie Humor. Einfach war das Workout nicht, denn wegen der Schwerelosigkeit war ich auf allerlei Fixierungen und elastische Gurte angewiesen. Doch die Übungen taten mir gut, und ich merkte, wie ich von Tag zu Tag fitter wurde. Gleichzeitig machte sich Dumpfheit in mir breit, eine schicksalsergebene Teilnahmslosigkeit. Hin und wieder bezog ich vor dem erdabgewandten anderen Fenster Posten und hielt Ausschau nach wandernden Lichtpunkten; nach Raumstationen, Satelliten, sich nähernden Raumschiffen, doch irgendwann gab ich es auf.

Mother ernährte mich und entsorgte meine Ausscheidungen. Damit konnte ich leben. Ich wandte mich wieder der Erde zu, den Wolken, dem Wasser und dem braunen und gelben Land. Milliarden Menschen lebten dort unten – ich kannte einen einzigen davon. Zum Träumen reichte Ricketys grünäugiges Gesicht mir aus. Ich machte sie zum Inhalt meiner sexuellen Fantasien, aber vor allem redete ich mit ihr. Nach einer Weile gab sie mir sogar Antwort. Wir führten lange Gespräche, und manchmal brachte sie mich sogar zum Lachen – kein Scheiß. Ich war dabei, langsam aber sicher durchzudrehen.

Dann machte es Klong, und ein Ruck ging durch mein Schiff. Ich blickte aus dem Fenster und sah den Stummelflügel des Shuttles, das angedockt hatte. Er war rußig, schartig, zerbeult. Kurz darauf zischte die Schleuse. Ich hatte auf menschliche Gesichter gehofft, meinetwegen abgeschottet hinterm Visier eines Raumanzugs, wurde aber bitter enttäuscht. Eine vierzig Zentimeter durchmessende Sonde schwebte in die Kabine und scannte erst einmal ausgiebig den Raum und die darin befindliche Person: mich. Dann sagte eine Männerstimme: »Hier spricht Captain Kenneth Bigelow. Ich habe den Auftrag, Sie abzuholen. Bitte seien Sie bei der Blutprobe behilflich. Sie müssen die Kanüle selbst in die Vene drücken.« Kein Wort der Begrüßung. Mir lag eine bissige Bemerkung auf der Zunge, doch ich verkniff sie mir.

»Verstanden«, sagte ich und machte den linken Arm frei.

Die Drohne fuhr einen Tentakel aus, in dem ein Schlauch mit Kanüle steckte. Der Schlauch kam hervor, die Nadel suchte die geeignete Einstichstelle, und ich drückte sie in die Vene und sah zu, wie mein Blut durch den Schlauch abgesaugt wurde.

»Bitte ziehen Sie die Nadel jetzt heraus und platzieren Sie das Druckpflaster – Sie wissen schon wo.« War das ein Versuch, humorvoll zu sein? Ich nahm das Pflaster aus der Klammer und drückte es auf den roten Punkt, aus dem ein Blutstropfen quoll.

»Und jetzt?«, fragte ich ins Leere hinein.

»Jetzt warten wir, bis die Analyse abgeschlossen ist.«

Die Drohne zog sich zurück, die Schleusentür ging zu.

»Captain?«, sagte ich.

Keine Antwort, woher sollte sie auch kommen? Schließlich hatte er über die Drohne mit mir gesprochen, anstatt Mother anzufunken. Vielleicht hatte er nicht mal ihre Frequenz.

Nach endlosen zwanzig Minuten öffnete sich die Schleuse wieder, die Drohne glotzte mich mit ihren Sensoren an, und der Captain meldete sich.

»Bitte steigen Sie in den Raumanzug und kommen Sie rüber.«

Erst jetzt entdeckte ich das Bündel, das an der Schleusenwand haftete. Ich schwebte hinüber.

»Wozu der Anzug? Haben Sie keine Luft da drüben? Oder sind Sie eine Maschine?«

»Sie kommen in Quarantäne.«

Ohne Unterstützung durch eine zweite Person ist es gar nicht so leicht, sich in der Schwerelosigkeit in einen Raumanzug zu zwängen, auch wenn dieses Modell weniger klobig war als die, die ich kannte. Aber ich schaffte es, wenn auch unter rekordverdächtigen Verrenkungen. Dann schleuste ich mich aus und schwebte hinter der Drohne her in das Shuttle. Bevor ich mich orientieren konnte, hatte sie mich auch schon in eine winzige Kammer gelotst, die man augenscheinlich speziell für mich hergerichtet hatte. Es gab einen Kontursessel für die Landung. In einem offenen Wandfach lag ein Beutel mit Proviant und Trinkflasche. Eine Wandkamera richtete sich auf mich.

»Sie können jetzt essen«, tönte die Stimme des Captains aus einem Lautsprecher hervor.

»Ich habe schon gegessen.«

»Na schön, dann schnallen Sie sich eben an. In einer halben Stunde treten wir in die Atmosphäre ein.«

So verlief mein Erstkontakt mit der Erde. Wenn es etwas Erfreuliches dabei gab, dann Ricketys grüne Augen und ihre spröde Stimme. Hier hatte niemand auf mich gewartet. Ansprachen, Umarmungen und Händeschütteln würde es nicht geben. Auch den Raumfahrerorden konnte ich vergessen, schließlich hatte ich nichts geleistet. Ich war ein Stück kosmisches Treibgut, mir selbst ein Rätsel, in unbekannter Absicht an die Gestade der Erde verbracht. Ich sah einem ungewissen Schicksal entgegen und fragte mich, inwieweit ich es würde gestalten können. Oder ob man mich überhaupt lassen würde. Alles war möglich. Ich war erfüllt von Bangigkeit – und dennoch freute mich auf die Erde, die mir so vertraut war wie ein ausgelatschter Hausschuh und gleichzeitig so fremd wie ein Planet voller Aliens.

2

Nach der Landung, die erstaunlich weich vonstattengegangen war, wurde ich von einer Art selbststeuerndem Stuhl mit Sicherheitsgurten über die Laderampe in ein kleines Lastenflugzeug transportiert. Durch das Visier des Anzugs war meine Sicht eingeschränkt, doch mir fiel auf, dass die Maschine zwei Paar Flügel, aber keine Düsentriebwerke hatte, sondern stattdessen eine Vielzahl kleiner, schwenkbarer Propeller, vermutlich elektrisch betrieben. Das Flugzeug wirkte nicht minder ramponiert als das Shuttle. Mein Sitz arretierte sich im kleinen Laderaum am Boden. An einem Wandhaken baumelte wiederum ein Beutel mit Proviant und Trinkflasche. Der Captain hatte sich als Maggie Bryant vorgestellt und mir ein paar knappe Abweisungen gegeben. Nach dem Start schälte ich mich aus dem Anzug und entsorgte die Windel in der chemischen Toilette, die in den Sitz integriert war. Dann setzte ich mich wieder und sagte ins Leere hinein: »Captain?«

»Was gibt’s, Sir?«

»Wohin bringen Sie mich?«

»Das darf ich Ihnen nicht sagen, Sir.«

»Weil ich’s weitersagen könnte?«

Bryant reagierte nicht auf meinen Scherz. Durch ein Fenster sah ich weiße Wolken, manchmal unter uns, manchmal auf gleicher Höhe. Dann flogen wir im Nebel. Ich war der Erde wieder ein Stück nähergekommen, doch sie kam mir eher noch fremder vor als zuvor. Ich fragte mich, ob sich diese Erfahrung irgendwann umkehren würde. Auch das ›Sir‹ des Captains gab mir zu denken. Irgendwie klang es respektvoll. Ich hatte den Eindruck, dass sie neugierig war und sich gern mit mir unterhalten hätte. Offenbar nahm man mich wichtig, ein gutes Zeichen, hoffte ich.

Die Landung kam überraschend und weckte mich aus einer Art Trance. Ich erhaschte einen Blick auf einen weißgrauen Gebäudekomplex und eine Rasenfläche, umgeben von einer steppenartigen Landschaft mit vereinzelten Bäumen. Captain Bryant forderte mich auf, wieder in den Anzug zu steigen und den Helm aufzusetzen. Wir senkten uns auf den Rasen ab. Die Rampe klappte herunter, der Stuhl setzte sich in Bewegung und rollte, ehe mich versah, in eine Art Schlauch, der in eine Schleuse mündete. Es blitzte mehrfach, dann wurde ich mitsamt dem Stuhl und dem Anzug mit einer Lösung abgespritzt. Auch auf der anderen Seite der Schleuse war ein Isolationsschlauch, der in einen kleinen Wohnraum mündete. Der Stuhl rollte hinein, und hinter mit schloss sich das Schott.

Willkommen auf der Erde.

Das Zimmer war apricotfarben – möglicherweise die aktuelle Trendfarbe bei der Unterbringung verwirrter Personen von zweifelhafter Identität. Es gab darin ein Bett, einen Schrank, eine Duschkabine mit Toilette und ein Fenster, das auf einen Rasenstreifen und einen Maschendrahtzaun hinausging. Ein käferartiger Mähbot kroch umher. Im Hitzedunst zeichneten sich jenseits des Zauns ein paar Bäume mit ausgefransten Blättern ab, die gleichen, die mir auch schon in dem Gebirge aufgefallen waren, das Rickety mir gezeigt hatte. Über dem Bett war eine graue Fläche, möglicherweise ein neuartiger Bildschirm, der so dünn war wie eine Tapete. Das zweite mir unbekannte Objekt war ein oben abgerundeter Kegel, der neben einem Tablett mit Wasserflasche und Glas auf dem Tisch stand. Ich drückte vorsichtig darauf herum, doch es passierte nichts. Ich schaute auch in den Schrank und fand darin Unterwäsche, Socken, zwei Hemden und eine Hose vor, die in diesem Raum als tarnfarben durchgehen mochte. Ich suchte die Toilette auf, dann duschte ich, legte mich angezogen aufs Bett und schlief ein.

Als ich erwachte, stand ein weiteres Tablett mit Toast, Rühreiern und Kaffee auf der Ablage vor der Türklappe. Ich wusch mich kurz, dann frühstückte ich, und kaum war ich fertig, gab der stumpfe Kegel auf dem Tisch einen Glockenton von sich. Auf dem zweiten Stuhl, der auf der anderen Tischseite stand, saß nun ein hagerer Mann mit kurz geschnittenem schwarzem Haar und braunem Teint, bekleidet mit Pullover, Hose und offenem weißem Kittel. Doktor Gupta stand auf seinem Namensschild. Offenbar wurde er vom Kegel auf den Stuhl projiziert. Die Projektion war detailreich, aber leicht durchscheinend, sodass die Konturen des Stuhls zumindest zu erahnen waren.

Doktor Gupta stellte sich vor und hieß mich willkommen. Auf meine Fragen ging er nicht ein.

»Alles zu seiner Zeit«, sagte er mit falschem Lächeln. »Sie wurden, wenn man das so sagen darf, im Orbit aufgegriffen, und behaupten ein Mann zu sein, der vor zweiundachtzig Jahren verstorben ist. Sie werden verstehen, dass wir unter diesen Umständen zunächst ein paar Untersuchungen durchführen müssen. Sind Sie bereit zu kooperieren?«

»Selbstverständlich. Aber ich möchte mit einem Vertreter der NASA sprechen. Mit einem hochrangigen Vertreter. Es gibt die NASA doch noch?«

»Später«, sagte Doktor Gupta ausweichend. Er hob die Hand von der Lehne und bewegte die Finger. Auf dem Tisch bildete sich ein leuchtendes Feld. »Ich würde gern mit ein paar Tests anfangen.«

Wie sich herausstellte, nahmen die Tests fünf Tage in Anspruch, eine schier endlose Abfolge von Assoziationstest, Multiple-Choice-Tests, Wissenstests und psychologischen Fragen. Doktor Gupta war ausgesprochen neugierig und legte eine so unerschöpfliche Geduld an den Tag, dass ich mich fragte, ob ich den Avatar einer KI vor mir hatte. Er wollte alles wissen: was ich träumte, woran ich beim Masturbieren dachte und wer meine Kindergartenfreunde gewesen waren. Auch meine Highschoolzeit interessierte ihn. Er fragte mich, ob wir Shakespeare behandelt hätten.

»Sicher doch«, sagte ich.

»Die Königsdramen?«

»Ja, schon.«

»Erinnern Sie sich an Edward II.?«

Ich überlegte kurz. »Dunkel«, antwortete ich.

»Bitte skizzieren Sie kurz den Inhalt. Schreiben Sie auf, woran Sie sich erinnern.«

Ich gehorchte.

Ein wenig Abwechslung brachten die Untersuchungen. Offenbar hatte man den Trakt, in dem ich untergebracht war, in eine Isolierstation verwandelt. Ich brauchte außerhalb meines Zimmers keinen Isolationsanzug mehr zu tragen. So wie ich war, setzte ich mich auf den Untersuchungsstuhl. Dann öffnete sich die Tür, und ich wurde mit irgendeinem Gerät verkabelt und gescannt. Die meisten Untersuchungen gingen vollautomatisch vonstatten, zwei oder drei Mal war auch ein Techniker oder Arzt im Isolationsanzug dabei. Anschließend ging es mit den Tests weiter, und dann kamen wieder meine Erinnerungen an die Reihe. Immer wieder musste ich das Aufwachen im Orbit von Imago und die anschließenden Ereignisse schildern. Doktor Gupta forderte mich auf, andere Worte zu gebrauchen. Ich sollte versuchen, mich – den Aktenkoffer, der ich damals gewesen war – von außen zu beobachten. Dann sollte ich vom Imperfekt ins Präsens wechseln. Da streikte ich.

»Es reicht, Doktor Gupta. Das ist doch sinnlos. Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß, und mehr ist nicht drin.«

»Sie haben mir Erinnerungen des Expeditionsbots geschildert, aber Sie haben keine Erklärung dafür, wie die Erinnerungen in Ihren Kopf gekommen sind.«

»Johns Erinnerungen, also meine Erinnerungen, sind auch in den Bot hineingekommen. Die dafür verwendete Technik dürfte Ihnen geläufiger sein als mir.«

»Damals ging man von einer Bewusstseinsabdeckung von maximal vierzig Prozent aus. Der Bot war genau genommen eine ziemlich unvollständige Simulation der Persönlichkeit von John Nowak. Sie hingegen … wirken durchaus vollständig. Übervollständig, könnte man sagen.«

»Wie meinen Sie das?«

Doktor Gupta musterte mich mit zusammengekniffenen Augen. Er wollte streng wirken, machte aber eher einen hilflosen Eindruck. »Sie haben mich angelogen.«

»Bestimmt nicht.«

»Das Shakespearestück. Edward II. Sie haben eine erstaunlich genaue Inhaltsangabe geliefert, mit Hauptplot, Nebenplot und Figuren – eine Räuberpistole, gespickt mit Intrigen und Wendungen.«

»Und was gefällt Ihnen nicht daran?«

»Es gibt keinen Edward II. von Shakespeare, nur Edward III. Sie haben das Stück frei erfunden.«

»Das … das kann nicht sein.«

»Und doch ist es so.« Doktor Gupta lehnte sich zurück und verschränkte die Hände. »John«, sagte er, »wir haben viel Zeit miteinander verbracht. Wir haben Sie auf vielfältige Weise durchleuchtet, Sie sozusagen auf den Kopf gestellt. Aber aus Ihren Taschen ist nicht Verwertbares herausgefallen, um im Bild zu bleiben. Wir haben auch Ihre DNA analysiert. Sie sind zweifelsfrei ein Mensch und erfreuen sich bester Gesundheit. Aber wer Sie sind – das wissen wir nicht.«

»Sie sagten, Sie hätten meine DNA analysiert. Dann konnten Sie mich doch wohl als John Nowak identifizieren?«

»Ohne Vergleichsmaterial? John Nowak ist seit zweiundachtzig Jahren tot.«

»In seinem Grab muss doch noch irgendwas zu finden sein. Irgendwelche Knochenreste.«

»Er wurde eingeäschert.«

»Oh.« John dachte an seinen Doppelgänger, der auf irgendeine geheimnisvolle Weise mit ihm identisch gewesen war. Hatte die Stimme von John I so geklungen wie seine? Hatte er ein glückliches, erfülltes Leben gehabt? Oder war er einsam und allein geendet und hatte sich zuletzt verwirrt gefragt, was das alles sollte?

»Sie müssen sich doch in der Zwischenzeit Ihre eigenen Gedanken gemacht haben«, brach Doktor Gupta das Schweigen. »Ich wette, Sie haben eine Theorie. Also los, sprechen Sie, Mann. Erklären Sie mir, was das alles zu bedeuten hat.«

»Ich … ich glaube, es war so«, sagte ich stockend. »Wir sind auf Imago gelandet, haben unsere kleine Kolonie aufgebaut und uns an die Forschungsarbeit gemacht. Aufgrund eines technischen Fehlers konnten wir keine Berichte übermitteln. Wir waren frustriert. In der Folge entwickelte sich eine intensive Gruppendynamik. Ich wurde isoliert. Meine vier Kollegen kamen zu dem Schluss, ich passe nicht in die Gruppe. Deshalb haben Sie mich rekonstruiert und zurückgeschickt.«

»Und der Aktenkoffer? Ihr anderes Ich?«

»Das haben sie zerstört.«

»Interessant«, sagte Doktor Gupta und nickte mit dem Kopf. »Und wie haben Ihre Kollegen das angestellt mit der Reproduktion?«

»Das weiß ich nicht.«

»Weshalb haben sie Ihnen keine Informationen mitgegeben?«

»Dafür habe ich keine Erklärung.«

»Wie haben sie das Raumschiff gebaut?«

»Das weiß ich auch nicht.«

»Sie wissen nicht viel, John.«

»Da haben Sie wohl recht. Leider.«

»Na schön«, sagte Gupta. »Ich verabschiede mich jetzt, und ich wünsche Ihnen …«

»Wie geht es mit mir weiter, Doc?«, fiel ich ihm ins Wort. »Wie lange muss ich noch hier bleiben?«

»Das entscheide nicht ich.«

»Wer dann?«

»Viel Glück, John«, sagte Doktor Gupta.

Und er verschwand.

Ich blieb ratlos zurück.

3

Doktor Gupta ließ sich tatsächlich nicht mehr blicken, und ich erfuhr nie, ob er das Abbild eines real existierenden Arztes gewesen war oder nur ein geschickt programmierter Avatar, hinter dem sich weiß Gott was versteckt hatte. Das hinderte mich freilich nicht, über ihn nachzudenken. Ich dachte auch über den Kegel auf dem Tisch nach, über die Schatten, die sich in meinem Gefängnis im Laufe des Tages verlagerten, und die unbekannten Bäume, die sich in der Steppenlandschaft vor dem Fenster abzeichneten. Nachts gaben sie ein fahles Leuchten ab. Natürlich konnte es sich dabei um phosphoreszierende Pilze oder Bakterien handeln, doch aus irgendeinem Grund war ich überzeugt, dass sie gentechnische Produkte waren. In dieser Auffassung wurde ich bestätigt, als drei Tage später ohne Ankündigung ein Teil der grauen Wand hinter dem Bett hell wurde, genauer gesagt eine Fläche im 16:9-Format – ein Bildschirm. Eine anonyme höhere Instanz hielt es in ihrer undurchschaubaren Weisheit für geraten, mich über die derzeitigen Lebensverhältnisse auf dem Planeten zu informieren, den ich unter Vernachlässigung aller mehr oder weniger triftigen Argumente als meine Heimat betrachtete. Offenbar hatte man eigens zu diesem Zweck ein paar Lehrvideos zusammengestoppelt, und dass der Wandbildschirm zahlreiche Defekte aufwies, die wie Fliegenschiss aussahen und den Wunsch weckten, sie mit dem Fingernagel zu entfernen, verstärkte den Eindruck, einer laienhaften Unterrichtseinheit für nicht besonders lernstarke Schüler beizuwohnen.

Im Jahr zweitausendfünfzig ging es los mit dem Start der interstellaren Expeditionen mit uns Aktenkoffern an Bord, möglich gemacht durch eine gewaltige technologische und finanzielle Anstrengung nahezu aller industrialisierten Länder. Als die Auswirkungen der Erderwärmung in den Dreißigerjahren immer drastischere Formen annahmen, setzte sich die Auffassung durch, dass die Menschheit eines Fluchtwegs bedurfte, eines Notausgangs, der im Falle des Falles ihr Überleben sicherstellen könnte – auf einem bewohnbaren Planeten in Erdnähe. Wobei ›Nähe‹ hier relativ zu verstehen war, handelte sich doch um Entfernungen von einigen Lichtjahren, die nach damaligem Kenntnisstand allenfalls mit Generationenschiffen zu erreichen wären. Vielleicht ging es auch vor allem darum, der um sich greifenden Untergangslethargie eine Art Zukunftshoffnung entgegenzusetzen. Jedenfalls sollten die Expeditionsschiffe vor Ort die Bedingungen erkunden, mit denen spätere Siedler es zu tun bekommen würden. In den USA lief das Projekt unter dem Namen ›Last Resort‹, die Russen sprachen vom ›Projekt Zuflucht‹, der Papst verstieg sich ketzerisch anbiedernd zu der Bezeichnung ›Genesis-Plan‹. Die transnationale Plattform koordinierte die Forschung in den Bereichen KI und Bewusstseinssimulation, Antrieb und Siedlungstechnik und managte den Finanzrahmen. So weit, so bekannt. Nicht bekannt war mir, dass sich nach dem Start der Raumschiffe schon bald Ernüchterung einstellte. Die Umweltkrise zog alle Lebensbereiche in Mitleidenschaft und wuchs sich zu einer existenziellen Erfahrung aus. Demgegenüber wirkten die mit der Unternehmung Last Resort verknüpften Entfernungen und Zeiträume abstrakt und fadenscheinig. Zukunftshoffnung strahlte sie keine mehr aus, und auch der zweitausendneunundvierzig in Betrieb gegangene Fusionsreaktor der Chinesen verbreitete keine Zuversicht, obwohl mit einem Drittel des gewonnenen Stroms CO2 aus der Atmosphäre gefiltert und zu Öl verarbeitet wurde – die Menge war einfach zu gering im globalen Maßstab, und die Anlage erwies sich als störanfällig. Die logische Konsequenz war das Regime.

Entstanden war es aus der länderübergreifenden Plattform, die Last Resort ermöglicht hatte. Kooperationsunwillige Länder, zu denen auch die USA zählten, wurden mit der Drohung gefügig gemacht, sie vom Welthandel auszuschließen. Die feierliche Unterzeichnung des Abkommens fand in Beijing statt, im eigens für den Anlass überdachten und klimatisierten Paradehof der Verbotenen Stadt. Der Vertrag umfasste zweitausendvierhundertzweiunddreißig Seiten und beinhaltete Umweltauflagen für alle Wirtschaftsbereiche, strenge Überwachungsvorschriften und einen Katalog mit Sanktionen, militärische Interventionen inbegriffen. Später schlossen sich die USA, Europa und Russland zu einer politisch-ökonomischen ›Umsetzungsgemeinschaft‹ zusammen, der sogenannten UER.

Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Interessant fand ich die Bezeichnung ›Regime‹. Freundlich klang sie nicht. Aber das sollte sie wohl auch nicht. Bislang autoritären, undemokratischen Staaten vorbehalten, drückte sie genau das aus, was das Regime im Kern war, nämlich ein Zwangssystem mit Strafandrohung. Der letzte Ausweg, in der Tat.

Und die Auswirkungen waren beträchtlich, das ließen die kommentarlos aneinandergereihten Alltagsszenen erkennen, die mir einen Eindruck vom Leben außerhalb meines Gefängnisses verschaffen sollten. Anstatt der Science-Fiction-Welt, die ich nach meiner langen Abwesenheit (wenn man denn von einer solchen sprechen wollte) erwartet hatte, herrschte eine Art Retrofuturismus vor. Auf der einen Seite Fusionsreaktoren, Robot-Companions und Tapeten-TVs, auf der anderen Brettspiele, Urban Gardening und Einmachgläser. Entschleunigung allerorten: Das öffentliche Leben wirkte wie ein Film in Zeitlupe. Statt Autokolonnen herrschten Einräder, Zweiräder und Dreiräder vor, teils mit faltbaren Aufbauten, die vor dem Regen oder der Sonnenstrahlung schützen sollten. Die Fahrzeuge wurden wohl mit Elektroakkus oder Brennstoffzellen betrieben, aber es gab auch viele klassische Fahrräder und Scharen von Fußgängern, zwischen denen sich Bots und Hologramme tummelten. Es gab sogar noch Handys, die jetzt am Armband getragen und Com genannt wurden, aber schlanke AR-Brillen herrschten vor. Viele Straßen waren mit getönter Folie überspannt. Am Himmel waren Flugtaxis zu sehen, jedenfalls in den größeren Städten. Die Reichen genossen den Luxus sogenannter Two-Ways, die zu meiner Zeit (der von John I) vor allem als Flugtaxis genutzt worden waren. In den kleineren Städten fiel auf, dass die Rasenflächen vor den Wohnhäusern Steinlandschaften mit Kakteen Platz gemacht hatten. Das Leben wirkte hier ärmlicher, karger; entweder die Auswirkungen des Regimes zeigten sich hier ungeschminkter, oder das armselige Ambiente war Folge einer gewachsenen Ungleichheit zwischen Metropole und Land. Ich fragte mich, inwieweit die Bilder, die mir gezeigt wurden, der Wirklichkeit entsprachen. Vielleicht waren sie ja geschönt, und die Wirklichkeit sah es dort draußen ganz anders aus – der Ausblick aus meinem Fenster weckte jedenfalls böse Vorahnungen.

Und noch eine andere, weit drängendere Frage beschäftigte mich: Wie lange würde ich in Isolierhaft bleiben? Wie sich herausstellte, weniger lange, als ich befürchtet hatte. In der dritten Woche meines unfreiwilligen Aufenthalts öffnete sich die Tür, und ein primitiver Bot mit unsichtbaren Rollen unter der Verkleidung forderte mich auf, ihm zu folgen. Er geleitete mich ins Freie, das heißt, in einen Kasten aus Maschendraht, und forderte mich auf, mich zu bewegen. Zunächst begriff ich nicht, was er meinte, dann trottete ich los, die Hände auf dem Rücken verschränkt und den Oberkörper leicht vorgebeugt wie ein alter Knasthase – jedenfalls stellte ich mir Langzeitgefangene so vor.

Es war Abend. Die Luft war heiß und dunstig, das Licht rötlich-trüb. Der Käfig grenzte an die Außenmauer des Geländes, über der sich mehrere Baumwipfel mit gefiederten Blättern abzeichneten. Jedes Mal, wenn ich an der Mauerseite vorbeikam, hielt ich Ausschau nach Vögeln. Zwei, drei Mal nahm ich eine Bewegung wahr, doch ich konnte nicht sagen, ob es ein Vogel war. Im Fünfminutenabstand sirrte eine Drohne vorbei, auf einem ähnlichen Rundkurs unterwegs wie ich, allerdings mit größerem Radius.

Ich legte den Kopf in den Nacken. Auch über mir spannte sich Maschendraht, als bestünde die Gefahr, dass ich dem Knast fliegend entkommen könnte. Aber vermutlich ergab das Sinn: Bestimmt gab es Menschen, die unter solchen Bedingungen erstaunliche Kletterfähigkeiten entwickelten. Als der Bot mich in meine Zelle zurückführte, klebte mir die Kleidung am Leib, und ich war froh über die gefilterte, klimatisierte Luft, die ich atmen durfte.

Etwa vier Wochen später öffnete sich die Tür bereits am Vormittag. Eine kleine, pummelige Person stürmte in mein Zimmer. Sie steckte in einer Art fleckigem Sack mit aufgedrucktem klassischem Businesskostüm, was einerseits billig und vulgär wirkte, andererseits aber auch auf eine hinterfotzige Art humorvoll. Aus ihrem Dutt schauten Strähnen hervor, die von ihrem Kopf abstanden, als wären sie elektrisch aufgeladen. Ihr Gesicht war dunkelbraun, eine Brille mit großen ovalen Gläsern vergrößerte ihre schwarzen Augen. Sie warf eine Aktentasche auf den Tisch und stellte einen Glaszylinder daneben. Darin tanzte eine kleine holografische Figur, mit einem Lendenschurz bekleidet und anscheinend mit mehreren Armen ausgestattet. Die Besucherin klaubte sich in Oberschenkelhöhe einen Grashalm vom Sackkostüm.

»Was glauben Sie, wie lange die Anreise gedauert hat?«, lamentierte sie mit schriller Stimme. »Vier Tage! Und dann wollten sie mich nicht reinlassen. Ich bräuchte eine Sondergenehmigung, hieß es. Ich habe draußen im Zelt übernachtet – in einer Art Zelt, können Sie sich das vorstellen? Konservenfraß und Pinkeln im Freien? Überall Staub? Wir mussten schwere Geschütze auffahren, drei hinduistische Gurus oder wie das heißt und einen Frauenchor der Amischen. Hat fürchterlich gesungen, deshalb bin ich konvertiert.« Sie zeigte auf den nackten Mann im Glas. »Und was soll ich sagen – hat geholfen! Hier bin ich!«

Sie breitete die Arme aus und strahlte mich an, dann setzte sie sich unaufgefordert auf den Stuhl, auf dem auch Doktor Gupta gesessen hatte, und bedeutete mir, ihr gegenüber Platz zu nehmen. Ich gehorchte verdutzt.

»Wer sind Sie?«, fragte ich.

»Dali Kempten«, antwortete sie. »Ihre Anwältin.« Sie schob den Avatar in die Mitte des Tisches und klopfte gegen das Glas. Shiva hielt inne, schaute zu ihr heraus und sagte etwas mit piepsiger Stimme.

»Was halten Sie davon?«

»Von dem Avatar?«

»Von Shiva?«

»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Bevor man konvertiert, sollte man vielleicht gründlicher nachdenken, als es in einer Art Zelt vor den Mauern eines Hochsicherheitstrakts möglich ist, meinen Sie nicht?«