Black: Leben und Abenteuer eines Schoosskindes (Alle 3 Bände) - Alexandre Dumas - E-Book

Black: Leben und Abenteuer eines Schoosskindes (Alle 3 Bände) E-Book

Dumas Alexandre

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Beschreibung

In 'Black: Leben und Abenteuer eines Schoßkindes', einer umfassenden Anthologie in drei Bänden, werden die facettenreichen Erzählstile von Alexandre Dumas und Dr. G. F. W. Rüdiger vereint. Diese Sammlung durchquert zahlreiche literarische Genres und bietet einen tiefen Einblick in die sozialen und emotionalen Aspekte der Charaktere, die in einer spannenden Epoche des kulturellen und historischen Wandels leben. Die Vielfalt der Erzählformen reicht von dramatischen Abenteuern bis zu einfühlsamen, psychologischen Studien, wobei jeder Band den Leser tiefer in die komplexe Beziehung zwischen Mensch und Gesellschaft führt. Die Autoren Alexandre Dumas und Dr. G. F. W. Rüdiger sind beispielhaft für ihre Fähigkeit, lebendige Welten und Figuren zu erschaffen, die den Leser auf persuasive Weise in vergangene Zeiten versetzen. Ihre Werke reflektieren nicht nur individuelle Lebensgeschichten, sondern beleuchten auch größere kulturelle und historische Kontexte. Ihre Geschichten sind eingebettet in die literarischen Bewegungen ihrer Zeit, die Betrachtungen zur Moral, Gerechtigkeit und dem menschlichen Zustand anstellen. Diese Anthologie ist somit nicht nur eine Sammlung von Erzählungen, sondern auch ein Spiegel der Gesellschaft. Diese Sammlung ist eine Einladung an den literarisch Interessierten, sich auf eine Reise durch unterschiedliche Narrative und Stilrichtungen einzulassen, die zusammen ein reichhaltiges Mosaik menschlicher Erfahrungen bilden. 'Black: Leben und Abenteuer eines Schoßkindes' bietet eine einzigartige Möglichkeit, sowohl die kreativen als auch die kritischen Aspekte der Literatur zu erkunden und dabei aus einem beeindruckenden Repertoire an Geschichten zu schöpfen. Es ist ein wesentlicher Band für jeden, der einen tiefgreifenden Einblick in die literarische Kunst und die gesellschaftlichen Fragen, die sie behandelt, gewinnen möchte.

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Alexandre Dumas & Dr. G. F. W. Rüdiger

Black: Leben und Abenteuer eines Schoosskindes

(Alle 3 Bände)

Books

- Innovative digitale Lösungen & Optimale Formatierung -
2017 OK Publishing
ISBN 978-80-272-0348-2

Inhaltsverzeichnis

Band 1
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
XI
XII
XIII
XIV
XV
Band 2
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
XI
XII
Band 3
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
XI
XII

Band 1

Inhaltsverzeichnis

I

Inhaltsverzeichnis

Wo der Leser mit den Leiden Hauptpersonen des Buches Bekanntschaft macht.

Der Chevalier de la Graverie machte zum zweiten Male die Runde um die Stadt.

Vielleicht wäre es logischer, dem Leser zuvörderst zu sagen, wer der Chevalier de la Graverie war und in welchem der sechsundachtzig Departements von Frankreich die Stadt lag, um welche er die Runde machte. Aber wir haben in einer Anwandlung von Humor, der wahrscheinlich eine Folge des unlängst eingeatmeten englischen Nebels ist, den Entschluss gefasst, einen neuen, noch nie dagewesenen Roman zu machen.

Wie man s anfängt, einen neuen, noch nie dagewesenen Roman zu machen? Man kehrt die Ordnung der andern Romane um.

Deshalb fangen wir nicht, wie es bisher Sitte war, beim Anfange, sondern beim Ende an. Dieses Beispiel wird gewiss Nachahmung finden, und in einiger Zeit wird man die Romane nur noch beim Ende anfangen.

Überdies haben wir noch einen andern Grund, die gewöhnliche Ordnung umzukehren: wir fürchten, daß die trockenen biographischen Notizen den Leser abschrecken und ihn bewegen würden, schon am Ende der zweiten Seite das Buch zuzuschlagen.

Vor der Hand wollen wir also nur sagen was wir ohne dies nicht verschweigen können, daß die Scene um das Jahr 1842 zu Chartres in der Landschaft Beauce, auf der um die alten Festungswerke der vormaligen Hauptstadt der Carnutes von Ulmen beschatteten Promenade eröffnet wird.

Mit diesem Vorbehalt hinsichtlich der Jugendzeit unseres Helden, oder vielmehr des einen unserer Helden, verwahren wir uns gegen die Beschuldigung, als ob wir den Leser hinterrücks mit einer langweiligen Jugendbiographie zu überfallen beabsichtigten. Wir fahren fort.

Der Chevalier de la Graverie war auf seiner zweiten Runde um die Stadt. Er kam eben an den Theil der Wallpromenade, wo man die großen Höfe der Reitercaserne übersehen kann.

Der Chevalier stand still. Es war sein Lieblingsplatz.

Der Chevalier de la Graverie ging jeden Mittag Schlag zwölf Uhr aus, nachdem er seinen Kaffee ungezuckert genommen und drei bis vier Stücke Zucker in die Rocktasche gesteckt hatte, um dieselben unterwegs zu essen. Er wusste es immer so einzurichten, daß er in dem Augenblicke, wo zum Pferdeputzen geblasen wurde, bei der Reitercaserne ankam.

In der Persönlichkeit oder Haltung des Chevalier lag freilich durchaus nichts Militärisches; im Gegenteil, er war der einfachste, gutmütigste Mensch von der Welt. Aber er sah gern das pittoreske, lebensvolle Bild, das ihn an die Zeit erinnerte, wo er selbst — unter welchen Umständen, werden wir später sagen — Musketier zu Pferde gewesen war. Er war sehr stolz darauf — seitdem er nicht mehr Musketier war.

Denn ohne sich das Ansehen zu geben, als ob er in den Erinnerungen an eine frühere Zeit Trost für die Vergangenheit suchte, trug er sein vormals semmelfarbenes und mit der Zeit perlgrau gewordenes Haar mit philosophischem Gleichmuth und schien überhaupt mit den Gaben, welche ihm die Natur in nicht sehr reichem Maße beschieden, vollkommen zufrieden,' aber er zeigte sich den gemütlichen Spießbürgern, die gleich ihm bei der Reitercaserne ihre tägliche Zerstreuung suchten, gern als Kenner der Pferde und des Cavalleriedienstes, und es machte ihm Freude, wenn seine Nachbarn zu ihm sagten:

»Chevalier, Sie müssen in Ihrer Zeit ein hübscher Offizier gewesen seyn.«

Diese Vermuthung war dem Chevalier um so angenehmer, da sie völlig unbegründet war.

Es dürfte hier der Ort seyn, ihn dem Leser in seiner äußern Erscheinung vorzuführen; seine geistigen Eigenschaften werden sich später von selbst entwickeln.

Der Chevalier de la Graverie war ein kleines korpulentes Männchen von sieben- bis achtundvierzig Jahren, weichlich und schlaff, nach Art der Weiber und Eunuchen. Sein in den politischen und militärischen Personenbeschreibungen gewöhnlich als »blond« bezeichnetes Haar war, wie schon erwähnt, gelblich und ging ins Perlgraue über. Seine großen, ultramarinblauen Augen hatten gemeiniglich den Ausdruck der Unruhe, zuweilen waren sie jedoch starr und träumerisch. Seine Ohren waren groß und schlaff, seine Lippen dick, die Unterlippe war etwas herabhängend, die Gesichtsfarbe stellenweise rötlich, und fast aschgrau wo sie nicht rot war.

Der Kopf wurde von einem kurzen dicken Halse getragen; der Rumpf war ganz Bauch, und an beiden Seiten des» selben hingen ein Paar dünne, kurze, kraftlose Arme, die mit Scharnieren an den Schultern befestigt zu seyn schienen.

Der Bauch endlich bewegte sich mit Hilft kleiner Beinchen, rund wie Würste und etwas säbelförmig gekrümmt.

In dem Augenblicke, wo wir das Männlein dem Leser vorstellen, bestand seine Kleidung aus einem niedrigen schwarzen Castorhut mit breitem Rande, aus einem feinen gestickten weißen Halstuch, aus einer weißen Piquéweste, blauem Frack mit vergoldeten Knöpfen, etwas kurzen und engen Nankinhosen, bunten baumwollenen Strümpfen, und Schuhen mit großen Bandschleifen.

Das Pferde putzen der Cavallerie war der Glanzpunkt, die vorzüglichste Augenweide seines täglichen Spazierganges, der ihm zur Gewohnheit, zur diätetischen Notwendigkeit geworden war. In der Nähe der Reitercaserne begann er immer rascher zu gehen als sonst; ersehnte sich nach dem Pferde» putzen wie ein Feinschmecker nach einem guten Bissen.

Vor der Bank am Rande der zu den Stallungen hin» abführenden Böschung stand der Chevalier de la Graverie still und schaute in den Kasernenhof hinunter, ob seine Augenweide bald beginnen werde; dann setzte er sich methodisch, wie ein alter Habitué im Parterre des Theatre-Francais Platz nimmt, legte beide Hände auf den goldenen Stockknopf und das Kinn auf die Hände und erwartete das Trompetensignal.

Gerade an diesem Tage würde das interessante Schauspiel des Pferdeputzens manchen blasierten und minder neugierigen Bummler, als unser Chevalier war, gefesselt haben' nicht als ob das tägliche Geschäft an sich etwas Ungewohntes gehabt hätte: es waren dieselben Braunen. Füchse, Schimmel, Rappen Schecken, die unter Striegel und Kartätsche wieherten und stampften: man sah dieselben Dragoner in Holzschuhen und Zwilchhosen, dieselben sich langweilenden Unterlieutenants, denselben ernsten, strengen Commandanten, der auf einen Verstoß gegen die Vorschriften lauerte, wie die Katze auf die Maus. Aber an dem Tage, wo wir dem Chevalier de la Graverie begegnen, wurde diese Masse von Zwei- und Vierfüßlern von einer schönen Herbstsonne gar freundlich beleuchtet, welche sowohl den Gesammteindruck des Bildes erhöhte, als auch die Einzelheiten in einem günstigen Lichte erscheinen ließ. Der Chevalier glaubte die Croupen der Pferde noch nie so glänzend, die Helme und Säbel noch nie so funkelnd, die Gesichter noch nie so scharf und deutlich markiert, das ganze Bild noch nie so reizend gesehen zu haben.

Die beiden majestätischen Thürme der alten ehrwürdigen Cathedrale prangten im goldenen Sonnenlicht, das von dem italienischen Himmel geborgt zu seyn schien; ihre durchbrochenen Verzierungen hoben sich an dem reinen, wolkenlosen Himmel wie spitzenartige feine Auszackungen hervor und das Laub der Bäume hatte jene wunderschönen Schattierungen von Grün, Purpur und Gold, welche einer Herbstlandschaft einen so eigenthümlichen Reiz geben.

Der Chevalier gehörte freilich keineswegs der romantischen Schule an, und es war ihm nie in den Sinn gekommen die »Méditations poétiques« von Lamartine, oder die »Feuilles d'autonomne« von Victor Hugo zu lesen; aber er fühlte sich unwillkürlich gefesselt durch das wunder herrliche, majestätische Panorama, das sich vor seinen Blicken ausbreitete. Es ging ihm nie allen geistesträgen Menschen: statt einen Ueberblick über die Scene zu gewinnen und den Klug der Gedanken von dem eigenen Willen abhängig zu machen, wurde er bald von ihrem Eindruck überwältigt und versank in jene geistige Erschlaffung, wo man vor sich hinstarrt, ohne zu sehen, wo man die an das Ohr dringenden Klänge nicht hört, wo die Traumbilder bunt und rasch auf einander folgen, wie die stets wechselnden Flächen des Kaleidoskops, ohne daß der Träumer die Kraft hat, einen seiner vorüberschwimmenden Träume zu erhaschen und festzuhalten. Ein solcher Zustand hat eine entfernte Ähnlichkeit mit der Trunkenheit des Opiumrauchers oder Hatschi-Essers.

Als der Chevalier einige Minuten in diesem halbwachen Zustande gewesen war, wurde er durch ein ganz materielles Gefühl in die Wirklichkeit zurückversetzt. Es schien ihm als ob sich eine kecke Hand verstohlen in seine linke Rocktasche einzuführen suchte.

Er sah sich rasch um, und zu seinem großen Erstaunen erblickte er nicht das Galgengesicht eines Taschendiebes oder Beutelschneiders, sondern das ehrliche, gutmüthige Antlitz eines Hundes, der, ohne die mindeste Verlegenheit zu, verrathen, gar freundlich mit dem Schweif wedelte und sich lüstern die Schnauze leckte.

Der Taschendieb, der den Chevalier so ungestraft seinen Träumen entrissen hatte, gehörte zu der großen Race langhaariger Jagdhund, welche zugleich mit den von Jacob I. an seinen Vetter Carl VII. gesandten Hilfstruppen aus Schottland nach Frankreich herübergekommen ist. Er war schwarz, reinlich der Jagdhund, mit einem weißen Streifen auf der Brust; er hatte einen langen fahnenartigen Schweif, weiches, glänzendes Haar, schöne, lang herabhängende Ohren, und kluge, fast menschliche Augen.

Kurz, es war für Jedermann ein herrliches Thier. Das wirklich bewundert zu werden verdiente: aber der Chevalier de la Graverie, der eine große Gleichartigkeit gegen alle Thiere, insbesondere gegen Hunde, zur Schau trug, widmete den äußern Reizen des interessanten Taschendiebes nur sehr geringe Aufmerksamkeit.

Er sah sich enttäuscht. — In dem Augenblicke, als er eine Bewegung an seiner Rocktasche fühlte, hatte seine plötzlich aus dem Schlummer aufgerüttelte Phantasie ein ganzes Drama aufgebaut.

Es gab Spitzbuben in Chartres! Eine Bande von »pick-pocket«« hatte sich in die Hauptstadt der Landschaft Beauce eingeschlichen, um den reichen Bürgern die Napoleons und Banknoten aus den Taschen zu holen. Und diese Bösewichter, durch die Klugheit und den Scharfsinn eines Spazirgängers entlarvt, ins Gefängniß geschleppt, vor die Assisen gestellt und zum Bagno verurtheilt — das war in der That eine prächtige Unterhaltung, die in das einförmige Leben der Provinzstadt eine höchst picante Abwechslung gebracht hätte! Man kann sich daher denken, wie unangenehm es war, aus diesem unverhofften Gaudium in das langweilige Alltagsleben zurückzusinken!

Der Chevalier machte also in der ersten Aufwallung des Aergers gegen den Urheber dieser Enttäuschung einen Versuch, den Schmarotzer durch ein olympisches Stirnrunzeln zu verjagen; aber der Hund hielt unerschrocken das Feuer dieses Blickes aus und sah seinen Gegner sogar recht freundlich und zutraulich an, als ob er sagen wollte: Warum zürnen Sie mir? Haben Sie doch Mitleid mit mir!

Das Auge ist bei den Hunden wie bei den Menschen der Spiegel der Seele. Der Blick des Hundes rührte den Chevalier so tief, daß er sofort seine Stirn entrunzelte, in dieselbe Tasche griff, auf welche der Hund einen verstohlenen Angriff versucht hatte, und ein Stück Zucker herausnahm.

Der Hund nahm den Leckerbissen mit der größten Zartheit. Wer ihn sah, wie er so vorsichtig, so freundlich, so zufrieden das süße Almosen hinnahm, würde nie geglaubt haben, daß Diebesgedanken in diesem grundehrlichen Gemüthe hätten aufkommen können. Ein scharfer Beobachter, ein Physiognomiker hätte vielleicht einen etwas lebhafteren Ausdruck der Dankbarkeit gewünscht, während die weißen Zähne des Thieres den Zucker zermalmten; aber die Bauchdienerei, bekanntlich eine der sieben Todsünden, gehörte zu den schwachen Seiten des Chevalier, der die Freuden der Tafel als eine Würze des geselligen Lebens betrachtete. Statt daher dem Hunde ob des mehr sinnlichen als dankbaren Ausdrucks seines Gesichts zu zürnen, betrachtete er mit aufrichtiger und fast neidischer Bewunderung die von dem eingebürgerten Schottländer gegebenen Aeußerungen des Gaumenkitzels.

Der Hund gehörte offenbar zu der Classe der unverschämtesten Bettler. Kaum war der Leckerbissen verschlungen, so wiederholte er seine bereits als erfolgreich erprobten Schmeicheleien, um die Wohlthätigkeit des Spazirgängers wieder in Anspruch zu nehmen. Er schien zu wissen, daß er nicht vergebens bat, und wurde zudringlich wie alle Bettlei!. Der Chevalier ließ sich durch die feuchten bittenden Blicke und das freundliche Wedeln bethören und fütterte den interessanten Schmarotzer bis die Tasche ganz leer war.

Der Chevalier konnte sich eines gewissen bitteren Gefühls nicht erwehren; er hatte in den verschiedensten Menschenrassen, vom Höfling bis zum Stallknecht, so viel Undank gesehen, daß er erwartete, ein Mitglied der Hundegenossenschaft werde das von den Adamssöhnen seit Jahrtausenden gegebene Beispiel befolgen.

Diese langjährige Erfahrung hätte den Chevalier de la Graverie gleichgültig machen sollen; aber es that ihm weh, noch einmal auf seine Kosten den allgemeinen Undank zu erfahren. Er wünschte daher seinem neuen Bekannten eine peinliche Verlegenheit und sich selbst die daraus entstehenden Demüihigungen zu ersparen. Er griff noch einmal in die Rocktasche und nachdem er sich überzeugt hatte, daß kein Zucker mehr darin war, nachdem er, um den Hund von seiner Ehrlichkeit zu überzeugen, die Tasche umgekehrt hatte, streichelte er den Hund, um ihn in Gnaden zu entlassen, stand auf und ging weiter ohne sich umzusehen.

II

Inhaltsverzeichnis

Wo Jungfer Marianne das Programm ihres Charakters gibt.

Der Chevalier war kaum einige hundert Schritte fortgegangen, so wurde sein Entschluß, sich nach dem Hunde nicht umzusehen, durch die Neugier stark erschüttert, und es bedurfte einer bedeutenden moralischen Kraft, um den Einflüsterungen des Dämons zu widerstehen.

Als, er über die Brücke in die Stadt ging, bekam die Neugier endlich die Oberhand und er benutzte den eben an» kommenden Pariser Postwagen als Vorwand, auf die Seite zu treten und sich umzusehen. Zu seinem größten Erstaunen sah er, daß ihm der Hund auf dem Fuße folgte.

»Ich habe Dir nichts mehr zu geben, armes Thier!« sagte der Chevalier, indem er seine leeren Taschen schüttelte.

Der Hund schien den Sinn und die Bedeutung dieser Worte zu verstehen, denn er machte einige humoristische Sprünge, als ob er seinen Dank und seine Zufriedenheit zu er» kennen geben wollte; da er nicht wusste, wie lange der Chevalier auf der Brücke verweilen würde, so streckte er sich platt auf den Erdboden aus, legte den Kopf auf die Vorderfüße, sing an zu bellen und wartete dann ruhig, daß sein neuer Freund weitergehe.

Sobald der Chevalier von der Stelle ging, sprang der Hund auf und hüpfte voraus.

Wie das Thier die Worte des Menschen zu verstehen schien, so schien der Mensch die Gebärde des Thieres zu verstehen.

»Ich verstehe Dich,« sagte er, »Du willst mit mir gehen. Aber ich bin ja nicht dein Herr, und um mir zu folgen, mußt Du Jemand verlassen — Jemand der Dich aufgezogen, gefüttert, gehegt und gepflegt hat: vielleicht einen Blinden, den Du geführt, oder eine alte Witwe, deren Trost Du warst! Ein Bisschen Zucker hat Dich bewogen, deinen früheren Herrn zu vergessen, so wie Du später gewiß auch mich vergessen wirst', wenn ich so schwach wäre Dich mitzunehmen. — Geh, geh, Medor, Du bist nur ein Hund, Du hast nicht das Recht undankbar zu seyn. Etwas Anderes wäre es, wenn Du ein Mensch wärest!«

Aber statt dem Befehl zu gehorchen, oder der philosophischen Betrachtung Gehör zu geben, bellte der Hund noch lauter und machte noch lustigere Sprünge.

Diese zweite Gedankenreihe, die im Geiste des Chevaliers wie eine dunkle Flut aufgestiegen war, hatte ihn leider sehr ve» stimmt. Anfangs mochte er sich wohl geschmeichelt fühlen durch die Zuneigung, die ihm der Hund zuerkennen gegeben; aber er bedachte, daß diese Zuneigung wahrscheinlich einen mehr oder minder schwarzen Undank verberge, und er zog die Beständigkeit dieser so leichtsinnig bewilligten Freundschaft in Zweifel. Endlich bestärkte er sich in einem seit vielen Jahren gefaßten Entschlusse, keinem lebenden Wesen fortan seine Zuneigung mehr zu schenken. Wie er diesen Entschluss gefaßt hatte, wer» den wir später erklären.

Aus dieser Andeutung wird der Leser ersehen, daß der Chevalier de la Graverie ein Misanthrop war.

Fest entschlossen, dieses neue freundschaftliche Verhältniß für immer abzubrechen, versuchte der Chevalier zuerst den Hund durch sanfte Ueberredung zu entfernen. Nachdem er ihn Medor genannt und einen ernsten Versuch, ihn fortzuschicken, gemacht hatte, erneuerte er denselben Befehl und gab ihm dabei eine Menge von Namen aus der Mythologie und dem Alterthume: Morpheus, Iupiter, Castor. Pollur, Actäon, Cäsar, Nestor, Romulus, Tarquin, Ajax. Dann kamen die altscandinavischen Namen Ossian, Fingal, Odin, Thor und die englischen Trim, Tom, Dick, Nick, Mylord. Stop an die Reihe; und als auch diese wirkungslos blieben, kramte er alle in seinem Gedächtniß vorräthigen Phantasienamen: Caro, Sultan, Phanor, Türk, Oli, Mouton u. s. w. aus. Aber alledem Hunderegister entnommenen Namen waren nicht im Stande, den hartnäckigen Schottländer fortzujagen. Das von den Menschen geltende Sprichwort: Niemand ist tauber als Einer, der nicht hören will, fand, in diesem Falle wenigstens auch auf die Hunde eine Anwendung.

Der Jagdhund, der vorhin die Gedanken seines neuen Freundes so leicht grrieth, schien jetzt weit entfernt, ihn zu verstehen. Je ernster und drohender das Gesicht des Chevalier wurde, desto lauter wurde sein Gebell, desto lustiger waren seine Sprünge. Endlich als der Chevalier wider seinen Willen, aber gezwungen durch die Nothwendigkeit, seinen Gedanken einen klaren, verständlichen Ausdruck zu geben, seinen Stock mit dem goldenen Knopfe hob, um die ultima ratio der Hunde anzuwenden, legte sich das arme Thier auf den Rücken und bot dem Stock mit rührender Ergebung seinen Leib.

Der Chevalier mochte durch Unglück, aus welchem wir dem Leser durchaus kein Geheimniß machen wollen, ein Misanthrop geworden seyn, aber er besaß keinen bösen Charakter. Er wurde durch die demüthige Unterwürfigkeit des Hundes sogleich beschwichtigt, nahm seinen Stock in die linke Hand und wischte sich die Stirn; denn während dieses Auftritts, in welchem er nicht nur gesprochen » sondern auch gesticulirt hatte, war ihm der Schweift ausgebrochen.

»Komm nur, mein Hund,« sagte er, sich überwunden gebend; »aber weiter als bis zu meiner Hausthür sollst Du mir nicht folgen!«

Aber der Hund kannte vermuthlich das Sprichwort: Zeit gewonnen, Alles gewonnen! Denn er sprang sogleich auf und machte tausend lustige Sprünge um den Herrn, auf den seine endgültige Wahl gefallen zu seyn schien, und ging so vertraulich mit ihm um, daß alle Bürger von Chartres, die dem Chevalier begegneten, ganz verwundert stehen blieben und sich freuten, daß sie ihren Freunden und Bekannten dieses Rätsel in Form einer bejahenden Frage aufgeben konnten: »Der Chevalier de la Graverie hat also jetzt einen Hund?«

Der Chevalier, der auf einmal der Gegenstand des Stadtgespräches geworden war, benahm sich sehr würdevoll und kümmerte sich durchaus nicht um die Neugier, die er auf seinem Spazirgange geweckt hatte. Ohne von seinem Begleiter im mindesten Notiz zu nehmen, blieb er überall stehen, wo etwas zu sehen war, bei dem Stadtthore, dessen alte Zinnen ausgebessert wurden; auf dem Ballplatz, der durch ein halbes Dutzend Spieler und eben so viele schreiende Gassenjungen belebt wurde; bei einem Seiler, dessen Arbeit er mit einem ihm selbst unerklärlichen Interesse zusah.

Wenn ihm die Liebkosungen des Hundes von Zeit zu Zeit ein freundliches Lächeln entlockten, so unterdrückte er es sogleich wieder und nahm seine gleichgültige Miene wieder an, wie ein Raufbold, der sich seinem Gegner gegenüber eine Blöße gegeben hat, sich sorgfältig deckt.

So kamen Beide an das Haus Nr. 9, in der Rue des Lices, welches der Chevalier de la Graverie schon seit einet Reihe von Jahren bewohnt hatte.

Vor dem Hause sah der Letztere ein, daß alles Übrige nur eine Art von Prolog gewesen war, und daß die wirklichen Schwierigkeiten hier erst beginnen würden.

Während der Chevalier seinen Hauptschlüssel in das Thürschloß steckte, wartete der Hund ganz wohlgemuth, als ob er hier schon lange aus- und eingegangen wäre und dieses Haus als das seinige betrachtete. Sobald sich die Thür aufthat, schlüpfte er behende zwischen die Füße des Chevalier, um ihm vorauszueilen; aber der Herr vom Hause zog die kaum geöffnete Thür so rasch wieder zu, daß der Schlüssel durch die Erschütterung mitten auf die Straße geschleudert wurde.

Der Jagdhund sprang dem Schlüssel nach, und wie ungern auch selbst gut dressierte Hunde einen eisernen Gegen» stand mit den Zähnen berühren, so nahm er doch den Schlüssel auf und brachte ihn dem Chevalier.

Ohne gerade gerührt zu werden, wurde der Chevalier de la Graverie doch zu mancherlei Betrachtungen veranlaßt. Er hatte es keineswegs mit einem gemeinen Köter, sondern mit einem wohlerzogenen Jagdhunde zu thun. Ohne seinen ersten Entschluß aufzugeben, erkannte er doch, daß der Jagdhund einige Rücksicht verdiene; und da bereits einige Personen stehen blieben, um den sonderbaren Auftritt anzusehen, da sogar einige Fenstervorhänge aufgezogen wurden, so beschloß er, in einem Kampfe, in welchem er wahrscheinlich den Kürzern ziehen würde, seine Würde nicht aufs Spiel zu setzen und eine dritte Person zu Hilfe zu rufen.

Er steckte daher den Hausschlüssel, den ihm der Huno überreichte, in die Tasche und zog die Türglocke.

Obschon die Glocke im Hause laut ertönte, so blieb sie doch wirkungslos. Es regte sich nichts im Hause, als ob der Chevalier an der Thür eines verzauberten Schlosses geläutet hätte, und erst als er wiederholt und heftiger den Rehfuß an der dünnen eisernen Kette gezogen hatte, that sich ein Schubfenster im ersten Stocke auf und das grämliche Gesicht eines fünfzigjährigen Frauenzimmers wurde sichtbar.

Das Gesicht kam mit solcher Vorsicht hervor, als ob die Stadt von Normannen oder Kosaken bedroht gewesen wäre, und suchte den Urheber des ungewöhnlichen Lärms zu erkennen.

Aber der Herr vom Hause, der natürlich das Öffnen der Hausthür und nicht eines Fensters im ersten Stocke er» wartete, hatte sich dicht an die Thür gedrängt, um schnell eintreten zu können, und war unter dem mit wilden Blumen bewachsenen Gesimse von oben nicht sichtbar. Die Haushälterin sah daher nur den Hund, der drei Schritte von der Schwelle saß und wie der Chevalier auf Einlaß wartete. Der Hund, welcher die Wichtigkeit der am Fenster erscheinenden Person zu errathen schien, blickte gar freundlich zu ihr hinauf.

Der Anblick des Hundes war keineswegs geeignet, die eilte Marianne, so hieß die Haushälterin, zu beruhigen; eben so wenig seine rabenschwarze Farbe. Sie erinnerte sich nicht, daß ein Bekannter ihres Herrn einen Hund hatte, und da sie wusste, daß der Chevalier feierlich gelobt hatte, nie einen Hund zu halten, so ahnte sie keineswegs, daß dieser schwarze Unhold ihn begleite.

Überdies pflegte der Chevalier nie die Thürglocke zu ziehen; er wartete nicht gern und trug daher immer den Hausschlüssel bei sich.

Nach kurzem Besinnen fragte sie kleinlaut: »Wer ist da?«

Der Chevalier, durch den Ton der Stimme und zugleich durch den Blick des Hundes geleitet, verließ seinen Posten, trat drei Schritte zurück, schaute hinauf, und sagte die Hand über die Augen haltend:

»Sind Sie da, Marianne? Kommen Sie herunter!«

Aber sobald Marianne ihren Herrn erkannte, schwand ihre Furcht, und statt dem Befehle zu gehorchen, antwortete sie:

»Herunter kommen? warum denn?«

»Natürlich, um mich einzulassen,« antwortete der Chevalier.

Marianne s Gesicht, das zuvor so furchtsam und verblüfft gewesen war, wurde nun auf einmal unfreundlich und zänkisch. Sie zog eine unter die Haube geschobene Stricknadel hervor und begann wieder zu stricken.

»Was, um Sie einzulassen?« sagte sie.

»Allerdings.«

»Haben Sie denn Ihren Hausschlüssel nicht?«

»Das kümmert Sie nicht; kommen Sie herunter!«

»Dann müssen Sie ihn verloren haben,« erwiderte Marianne, »denn er fiel heute Früh aus der Tasche, als ich Ihre Kleider bürstete, und ich steckte ihn wieder hinein. Eine solche Saumseligkeit sollte man in Ihrem Alter nicht erwarten; aber man lernt alle Tage etwas Neues.«

»Marianne,« sagte der Chevalier etwas ungeduldig, und bewies dadurch, daß er nicht so sehr als man glauben konnte, unter dem Pantoffel der Haushalterin stand, »ich habe Ihnen schon gesagt, kommen Sie herunter!«

»Er hat ihn verloren!« rief Marianne, ohne die leichte Aufwallung ihres Herrn zu bemerken. »Er hat ihn verloren t Ach mein Gott! was soll daraus werden? Ich muß durch die ganze Stadt laufen, ein anderes Schloß, vielleicht sogar eine neue Thür machen lassen! Denn in einem Hause, dessen Schlüssel sich auf der Gasse herumtreibt, würde ich nicht ruhig schlafen.«

»Ich habe den Schlüssel, Marianne,« sagte der Herr vom Hause, immer ungeduldiger werdend; »aber ich habe meine Gründe, ihn nicht anzuwenden —«

»Das begreife ich nicht! Sie haben den Hausschlüssel, und wollen die Thür nicht aufschließen! Ich sinke ohnedies schon unter der Last der Arbeit zusammen, und soll noch die Treppe hinunterlaufen! Dabei fällt mir ein, daß die Speisen auf dem Feuer sind — und sie verbrennen, ich rieche es! Mein Gott, was fällt Ihnen ein!«

Jungfer Marianne wollte sich vom Fenster entfernen. Aber der Chevalier de la Graverie verlor endlich die Geduld; er bannte die alte Jungfer mit einer gebieterischen Gebärde an ihren Platz und sagte ärgerlich

»Jetzt keine Widerrede mehr! Machen Sie auf, alte Närrin!«

»Alle Närrin!« wiederholte Marianne, und hob ihr Strickzeug, wie eine Eumenide ihre Fackel. »Was, Sie gestehen selbst, daß Sie den Hausschlüssel haben! Sie zeigen ihn mir sogar — und ich soll durch den Corridor, die Treppe hinunter und über den Hof laufen? Das thue ich nicht, Herr Chevalier! Daraus wird nichts! Ich bin Ihrer Launen schon längst überdrüssig, und will mich nicht zu Tode hetzen lassen, wie —«

»Abscheuliche Megäre!« murrte das Männlein, ganz erstaunt über diesen Widerstand. »Ich glaube wahrlich, daß ich sie fortschicken muß, obschon sie unübertreffliche Krebssuppe und Rebhühnerpasteten macht. Aber der verwünschte Jagdhund darf mir auf keinen Fall ins Haus; ich will für dieses Mal nachgeben, später werde ich schon mein Recht behaupten. Marianne,« sagte er gelassener, »ich finde es natürlich, daß Sie mein Verlangen sonderbar finden; aber hören Sie nur. Sie sehen den Hund hier . . ."

»Freilich sehe ich ihn!« sagte die Haustyrannin, die in demselben Grade an Kraft gewann, als ihr Herr daran verlor.

»Er ist mir gegen meinen Willen von der Dragonercaserne nachgelaufen; ich weiß nicht wie ich mich seiner entledigen soll, und ich dachte, Sie könnten ihn fortjagen, während ich ins Haus gehe.«

»Ein Hund!« eiferte Marianne. »Und wegen eines Hundes belästigen Sie eine ehrsame Jungfer, die seit zehn Jahren in Ihren Diensten steht? Ich will Ihnen zeigen wie man die Hunde fortjagt.«

Marianne verschwand vom Fenster.

Der Chevalier glaubte, sie komme hinunter, um ihm bei der beabsichtigten glimpflichen Forttreibung des Hundes behilflich zu seyn, und trat wieder an die Thür. Der Jagdhund schien seinerseits entschlossen, die Bekanntschaft eines Mannes, aus dessen Tasche so gute Stücke Zucker kamen, zu kultivieren, und folgte ihm mit herzgewinnender Freundlichkeit.

Plötzlich wurde der Hausherr durch eine herabstürzende gewaltige Wasserflut von dem Hunde getrennt. Ein aus dem Fenster sich ergießender Rheinfall, ein Niagara überschwemmte sie Beide.

Der Jagdhund lief heulend davon. Der Chevalier zog seinen Hausschlüssel aus der Tasche, schloß die Thür auf und überschritt die Schwelle in einem leicht begreiflichen Zustande der Entrüstung, in dem Augenblicke, als Marianne die etwas verspätete Warnung hören ließ:

»Nehmen Sie sich in Acht, Herr Chevalier!«

III

Inhaltsverzeichnis

Das Haus des Chevalier de la Graverie von außen und innen.

Das Haus Nr. 9 in der Rue des Lices stand zwischen Hof und Garten; aber der Hof war nicht wie gewöhnlich vor dem Hause und der Garten hinter demselben, sondern der Hof war links und der Garten rechts. Das Haus stand dicht an der Straße.

Man nahm gewöhnlich den Weg über den Hof, dessen einzige Zierde ein seit zehn Jahren nicht beschnittener und sich am Giebel des Nachbarhauses hinaufschlängelnder Weinstock war; die üppig wuchernden Reben erinnerten an die Urwälder der neuen Welt.

Der Hof war mit Sandsteinen gepflastert, aber das Gras, durch die Feuchtigkeit des Bodens und den Schatten der Dächer begünstigt, war so dicht aus den Fugen hervorgewachsen, daß es eine Art Schachbret en relief bildete, dessen Felder durch die Pflastersteine gebildet waren. Leider war der Chevalier de la Graverie kein Schach- oder Damenspieler, und es war ihm daher nicht in den Sinn gekommen, aus diesem Umstand, der einem Méry oder Labourdonnais große Freude gemacht haben würde, Nutzen zu ziehen.

Das äußere Ansehen des Hauses war so kalt und trau» rig, wie die meisten Wohnungen in den alten französischen Städten. Der Mörtel hatte sich stellenweise abgelöst, und das Gemäuer war zu sehen. Die Vorderseite des Hauses war da. her mit einem durch Hautkrankheit entstellten Gesicht zu vergleichen. Die Fensterrahmen waren schwärzlich, die Scheiben klein und von grünem Glas.

So lange man erst durch den Hof gegangen war, und im Erdgeschoß stehen blieb, musste man in die offene Küche einen Blick werfen, um einen einigermaßen respektablen Begriff von dem Hausherrn zu bekommen; denn man bemerkte einen weißen Porzellanofen, sauber und blank wie der Fußboden eines holländischen Wohnzimmers. Neben dem Ofen stand ein großer Herd, auf welchem lange Holzscheite, wie zur Zeit unserer Altvorderen, brannten, und ein Bratspieß drehte sich mittelst jener klassischen Mechanik, die das Klappern einer Mühle so anziehend nachahmt. Ein Rost mit glühenden Kohlen gab Zeugniß von dem geläuterten Geschmack des Chevalier de la Graverie, der wohl wusste, daß ein saftiger Rostbraten nicht in einem Ofen von Eisenblech bereitet werden soll. An der Wand hingen ein Dutzend nach Form und Größe geordneter Kasserolle, die täglich blank geputzt wurden, wie Kanonen eines Linienschiffs ersten Ranges; von dem großen unverzinnten Kessel, der für Marmelade und Confitüren bestimmt ist. bis zu den winzig kleinen Gefäßen, in denen die Kraftsuppen, Spiegeleier, Krammetsvögel und andere Producte der höheren Kochkunst zubereitet werden.

Wer da wusste, daß der Chevalier de la Graverie allein, ohne Weib und Kind, ohne Hund und Katze, ohne irgend einen Tischgenossen lebte, und daß seine ganze Dienerschaft aus der alten Haushälterin Marianne bestand , erkannte an, diesem Küchenarsenal den Feinschmecker, den raffinierten Eßkünstler eben so leicht, wie man im Mittelalter an den Schmelztiegeln, Retorten, Destillierkolben und ausgestopften Eidechsen einen Alchimisten erkannte.

Außerdem bestand das Erdgeschoß aus einer kleinen, mit Steinplatten gepflasterten Hausflur, einem geräumigen Speisezimmer und einem Salon, der nur zweimal jährlich, wenn der Herr vom Hause Gäste hatte, geheizt wurde. Für diese» Fall stand auf der Hausflur eine hölzerne Bank für die wartende Dienerschaft.

Die beiden Zimmer des Erdgeschosses entsprachen in ihrem vernachlässigten Zustande vollkommen der Außenseite des' Hauses. Der Fußboden war aufgesprungen und höckerig, der^ Plafond grau und schmutzig, die zerrissenen, beschmutzten Tapeten bewegten sich, wenn der Windbruch die selten geöffnete Thür drang.

Die ganze Einrichtung des Speisezimmers bestand aus sechs weiß angestrichenen Stühlen, einem großen Tische von Nussholz und einem Speiseschrank.

Im Salon standen drei Armsessel und sieben Stühle von verschiedenen Formen und Farben, und eine mit harten Polstern belegte Bank hatte sich unbefugter Weise den Namen und» Platz eines Sophas angemaßt. Die übrige Ausschmückung dieses sogenannten Empfangszimmers, welches der Herr vom Hause außer den oben genannten Fällen nie betrat, bestand in einem runden Tische, zwei Armleuchtern, einer stillstehen» den Stockuhr, einem aus zwei Stücken zusammengesetzten Spiegel und aus Vorhängen von rot und gelb gestreiftem Calicot.

Aber im ersten Stocke sah es anders aus. Der erste Stock wurde freilich von dem Chevalier de la Graverie persönlich bewohnt; dorthin würde der von der Küche ausgehende Faden in gerader Linie geführt haben, wenn das Labyrinth der Rue des Lices eine Ariadne gehabt hätte.

Man denke sich drei Zimmer mit der bis in die kleinsten Details sich erstreckenden Sorgfalt und der behaglichsten Coketterie möbliert, welche die Modedamen und die alten reichen Witwen so sehr lieben.

Jedes dieser auf Comfort und Verschönerung des Lebens berechneten Zimmer hatte sein eigenthümliches Gepräge, seine besondere Bestimmung. Im Salon waren die eleganten, modernen Möbeln an allen Teilen, welche die kleine runde Per» fon des Herrn vom Hause zu tragen bestimmt waren, sorgfältig mit Überzügen verwahrt; ein Bücherschrank von schwarzem Holz mit Kupfer ausgelegt, war mit rot eingebundenen, und nur selten incommodirten Büchern angefüllt; eine Tischuhr stellte die Aurora auf ihrem Wagen dar, dessen Räder das Zifferblatt bildeten; zu beiden Seiten derselben standen zwei große Armleuchter; die Vorhänge waren von demselben dicken Wollstoff, der die Möbeln bedeckte, und würden hinsichtlich der geschmackvollen Draperie dem elegantesten Pariser Boudoir zur Zierde gereicht haben. Die Spuren von Vergoldung an dem weißen Getäfel bewiesen, daß die früheren Bewohner des Hauses noch mehr auf Eleganz gehalten hatten, als der Chevalier de la Graverie.

Im Schlafzimmer erregte das monumentale Bett sowohl hinsichtlich der Breite als der Höhe die Aufmerksamkeit. Dieses Bett war so hoch, daß man sich des Gedankens nicht erwehren konnte, wer darin schlafen wolle, müsse es mittelst einer Leiter ersteigen. Wer diesen Berg von Flaum, Watta und Wolle glücklich erstiegen hatte, mußte von diesem mit dreifachen Vorhängen umgebenen Nest die ganze Position beherrschen; von dort konnte er alle Winkel des Zimmers übersehen, die Armsessel, Stühle, Sophas, Wärmpfannen, Polster und Fuchsfelle mustern. Der Fußboden war mit einem weichen, dicken Teppich belegt. Einige Armsessel, Stühle und Polster waren für den Winter mit Samt, andere für den Sommer mit Leder überzogen. Alle Möbeln aber waren zierlich und auf Bequemlichkeit berechnet. Dieses von der Straße am weitesten entfernte Zimmer war dem Garten zugewandt, so daß der Schläfer durch kein Wagengerassel, durch kein Geschrei von Handelsleuten , durch kein Hundegebell gestört wurde.

Wenn man aus dem Schlafzimmer wieder in den Salon kam, und diesen der ganzen Länge nach durchschritt, so stieß man gegen eine elegante spanische Wand , welche die in das dritte Zimmer führende Thür maskierte. Die ganze Einrichtung dieses letzten, schön tapezierten Zimmers bestand ars einem runden Tische von Mahagonyholz, einem kleinen Fauteuil und einem Marmortischchen, auf welchem zwei plattierte Eimer zum Abkühlen des Champagners standen. Aber auf allen Seiten standen Glasschränke, deren Inhalt eine kostbare Zugabe zu der Küchenbatterie war.

Jeder Schrank hatte seine besondere Bestimmung. In dem einen glänzte massives Silberzeug, ein Porzellanservice mit vergoldeten Rändern und dem Namenszuge des Chevalier de la Graverie, rote und weiße böhmische Gläser, durch deren Feinheit und Formen der Geschmack der edlen Weine gewiß erhöht wurde.

Der zweite Schrank enthielt Pyramiden von schneeweißem, feinem Tischzeug.

In dem dritten paradierten, wie gut geschulte Soldaten in Reihen aufgestellt, die feinsten Tisch» und Dessertweine in ihren Originalflaschen, wie sie aus verschiedenen Gegenden Frankreichs, aus Österreich, Deutschland, Spanien, Italien, Sizilien und Griechenland gekommen waren; einige kurz und gedrungen, andere mit langem dünnem Halse; einige mit bunten oder vergoldeten Etiketten, andere in Stroh» oder Rohrgeflechten, alle gleich anziehend für die Phantasie und die Neugier. An den Flanken dieses in geschlossenen Reihen harrenden stattlichen Armeecorps standen die leichten Truppen in Form von verschiedenfarbigen kleinen Caraffen mit kosmopolitischen Liqueuren.

Der letzte, größte Schrank endlich beherbergte Eßwaaren der verschiedensten Art- Straßburger Pasteten, Würste von Arles und Lyon, Aprikosentorten aus der Auvergne, Aepfelgallerte aus Rouen, eingesotzene Früchte, englische Pickles und Saucen, Anschovis, Sardinen, kurz Alles was nach dem Ausspruche eines geistreichen Feinschmeckers »den Magen zu panzern« vermag.

Nach dieser vielleicht etwas zu genauen, aber zur Beurtheilung des Bewohners nothwendigen Haussuchung wird der Leser leicht errathen, daß der Chevalier de la Graverie sehr angelegentlich mit seiner werthen Person beschäftigt, und auf die Befriedigung seines Magens sehr eifrig bedacht war. In sonderbarem Widerspruch mit dieser Bauchdienerei stand seine Manie, sich beständig für krank zu halten, und sich jede Viertelstunde an den Puls zu greifen. Endlich war er ein leidenschaftlicher Freund der Rosen, und versäumte keine Gelegenheit, seiner Sammlung ein neues Exemplar dieser Königinnen der Blumen hinzuzufügen.

Bei diesem Punkte unserer Erzählung fühlen wir die Unmöglichkeit, weiter zu gehen, ohne Halt zu machen, ja ohne achtundvierzig bis fünfzig Jahre zurückzugehen: wir wollen unseren Lesern nun erklären, wie der würdige Chevalier zu diesen drei geistigen Schwächen gekommen war.

IV

Inhaltsverzeichnis

Wie und unter welchen Umständen der Chevalier de la Graverie geboren war.

Man wundere sich nicht über diesen Rückblick, den der Leser übrigens voraussehen konnte, als wir ihm unseren Helden in einem Alter vorstellten, in welchem die interessantesten Abenteuer des Lebens, nämlich die Liebesabenteuer, beendet zu seyn pflegen. Wir versprechen nicht weiter als bis zum Jahre 1793 zurückzugehen.

Im Jahre 1793 war der Baron de la Graverie, Vater des Chevalier, im Gefängniß zu Besangon unter der Anklage des Einverständnisses und Briefwechsels mit den Emigrierten.

Der Baron de la Graverie hätte zu seiner Vertheidigung anführen können, daß er nur den heiligsten Naturgesetzen genügt habe, als er seinem ältesten Sohne und seinem Bruder, die sich beide im Auslande befanden, einiges Geld zugeschickt: aber es gibt Verhältnisse, welche die sozialen Gesetze über die Gesetze der Natur stellen, und überdies hatte der Baron jene Entschuldigung nicht einmal vorgebracht. Sein Vergehen ge» hörte aber zu denen, die einen Angeklagten damals am sichersten aufs Schaffot brachten; die Baronin de la Graverie, welche frei geblieben war, bot daher, ungeachtet ihrer vorgerückten Schwangerschaft, Alles auf, um ihren Gemal zu befreien.

Das Gold, welches die Unglückliche reichlich vertheilte, schien ein günstiges Resultat zu versprechen. Der Schließer hatte versprochen, die Augen zuzudrücken, und der Pförtner hatte dem Gefangenen eine Feile und ein Seil gebracht, um ihn in den Stand zu setzen, eine Eisenstange seines Fensters zu zertrümmern, die Straße zu erreichen und in Begleitung seiner Gemalin über die Grenze zu fliehen.

Die Flucht war auf den folgenden Tag , den 14. Mai, festgesetzt. — Die Minuten jenes verhängnisvollen Tages dehnten sich zu Stunden, in ihrer angstvollen Spannung sah die unglückliche Dame jeden Augenblick nach der Uhr, und verwünschte die Langsamkeit des Zeigers; von Zeit zu Zeit glaubte sie zu ersticken, und sie hielt es für unmöglich, bis zu dem ersehnten folgenden Tage leben zu können.

Um vier Uhr Nachmittags wurde ihre Aufregung so groß, daß sie sich entschloß, bei einem royalistisch gesinnten Priester, den eine Freundin in ihrem Keller versteckt hielt. Trost zu suchen, und gemeinschaftlich mit demselben für den Gefangenen zu beten.

Die Baronin verließ also ihre Wohnung. — In der Nähe des Marktplatzes hörte sie das dumpfe, anhaltende Wogen und Brausen einer großen Menschenmenge. Sie wollte umkehren, aber es war nicht möglich, die dem Marklplatz zuströmende Volksmenge versperrte die in denselben einmünden» den engen Gassen, und die Dame wurde durch den unaufhaltsamen Strom mit fortgerissen.

Der Platz war mit Menschen angefüllt; über den dicht an einander gedrängten Köpfen erhob sich die Guillotine, und oben an der entsetzlichen Maschine glänzte in den letzten Strahlen der Abendsonne das Fallbeil — ein furchtbares Sinnbild der Gleichheit, wenn auch nicht vor dem Gesetz, doch vor dem Tode.

Die Baronin de la Graverie schauerte und wollte fliehen. Aber es war noch weniger möglich, als das erste Mal: ein neuer Menschenstrom, der sich auf den Platz ergoß, drängte die Menge immer mehr zum Mittelpunkte hin. Ein ernster Versuch zur Umkehr würde sie als Aristokratin bezeichnet und nicht nur ihre eigne Sicherheit gefährdet, sondern auch ihren Genial ins Verderben gestürzt haben.

Die Baronin, deren Geisteskräfte seit einigen Tagen auf ein einziges Ziel, die Befreiung ihres Gemals, gerichtet waren, war außerordentlich umsichtig geworden. Sie dachte an Alles. Sie fügte sich in das Unvermeidliche und faßte den Entschluß, das furchtbare Schauspiel, das vor ihren Augen aufgeführt werden sollte, mit Muth und ohne allzu heftige Aeußerungen des Entsetzens zu ertragen. Sie hielt nicht einmal die Hand vor das Gesicht, um nicht die Aufmerksamkeit ihrer Nachbarn auf sich zu lenken: sie schloß die Augen.

Ein lautes Geschrei, welches immer näher kam wie ein Lauffeuer, verkündete die Ankunft der Schlachtopfer. Bald darauf wich die Menge vor dem ankommenden Wagen zurück und das Gedränge wurde so groß, daß die Baronin in Gefahr kam, erdrückt zu werden. Bis dahin hatte sie noch nicht aufgeschaut; aber plötzlich schien ihr eine unsichtbare, unwiderstehliche Gewalt die Augenlider aufzuheben. Sie schlug die Augen auf, bemerkte einige Schritte von ihr den Wagen mit den Verurteilten, und unter denselben — ihren Gatten!

Die Verzweiflung gab ihr eine übernatürliche Kraft; ihr Geschrei war so herzzerreißend, daß die Umstehenden ihr Platz machten. Sie eilte unaufhaltsam vorwärts und drängte die ihr noch im Wege stehenden Personen mit einer Kraft zurück, welche dem schwächsten Weib in der höchsten Aufregung des Schmerzes zu Gebote steht.

So erreichte sie den Wagen. Sie wollte ihn erklimmen, um zu ihrem Gatten zu gelangen, aber die Gendarmen hielten sie zurück. Sie klammerte sich, wie eine Wahnsinnige heulend, an den Wagenleitern fest; dann brach sie plötzlich in Thränen aus und wandte sich stehend zu den Henkern ihres Gatten.

Der Anblick war so erschütternd , daß ungeachtet der Blutgier, welche die öftere Wiederholung jener entsetzlichen Dramen in der Bevölkerung geweckt hatte, mehr als ein Sansculotte, mehr als eine Megäre aus der Hefe des Volks bis zu Thränen gerührt wurde. Als daher die unglückliche Baronin ihre Kraft schwinden fühlte, als sie ohnmächtig zu Boden sank, kamen ihr die Umstehenden zu Hilfe.

Man brachte sie nach Hause und es wurde sogleich ein Arzt gerufen. Aber die Erschütterung war zu heftig gewesen; die Unglückliche starb nach einigen Stunden in heftigen Fieberphantasien, indem sie eines schwachen, kaum lebensfähigen Knäbleins genas. Dieses Kind, welches zwei Monate vor dem von der Natur bestimmten Zeitpunkte das Licht der Welt erblickte, war der Chevalier de la Graverie, dessen Geschichte wir schreiben.

Die ältere Schwester der Baronin , Mademoiselle de Beauterne, eine reiche Stiftsdame, nahm sich des armen kleinen Waisen an, der so zart und schwächlich war, daß der Arzt an seiner Lebensfähigkeit zweifelte. Aber der Schmerz über den Tod ihrer Schwester und ihres Schwagers entwickelte in der alten Jungfer das Muttergefühl, welches Gott in jedes weibliche Herz gelegt hat, welches aber in dem Herzen einer alten Jungfer verknöchert und ertödtet wird.

Der sehnlichste Wunsch der Stiftsdame war, die Theure, welche sie beweinte, einst wiederzufinden, nachdem sie sich der Pflicht, die ihr zugefallen, eifrig und gewissenhaft entledigt. Mit der Zähigkeit, welche älteren unverheiratheten Personen eigen zu seyn pflegt, widmete sie dem Kind alle Geduld und Selbstverleugnung , deren sie fähig war, und es gelang ihr, den Mann der Wissenschaft, der doch mit größerer Gewißheit den Tod prophezeien als das Leben versprechen kann, Lügen zu strafen.

Sobald die Wege frei waren, begab sich Mademoiselle de Beauterne mit ihrem Schatz — so nannte sie den kleinen Stanislas Dieudonné de la Graoerie — nach Deutschland, um sich in das Damenstift, dem sie angehörte zurückzuziehen.

In diesen halb weltlichen, halb klösterlichen Umgebungen wurde der kleine Dieudonné erzogen. Die guten, freundlichen Damen widmeten ihm die zärtlichste Sorge; denn die tragischen Verhältnisse, unter denen er geboren war, hatten die Teilnahme der Bewohnerinnen des Stiftes in hohem Grade geweckt. Ein Prinz, ein Thronerbe konnte nicht ängstlicher gehegt und gepflegt werden: eine Thräne des Kindes verursachte eine allgemeine Migräne unter allen Stiftsdamen; jeder neu hervorbrechende Zahn hatte zehn schlaflose Nächte im Gefolge, und hätte die Tante nicht einen äußerst strengen Sanitätscordon um den kleinen Liebling gezogen, so würde man ihn in seiner zartesten Kindheit mit Zuckerplätzchen zu Tode gefuttert haben; unsere Erzählung wäre dann schon zu Ende, oder hätte vielmehr gar nicht begonnen.

Diese allgemeine Verzärtelung blieb indeß nicht ohne allen Einfluß auf seine Erziehung.

Mademoiselle de Beauterne machte eines schönen Tages den Vorschlag, ihren kleinen Neffen den Jesuiten in Freiburg zur Erziehung anzuvertrauen' gegen diesen Plan eiferten jedoch die übrigen Stiftsdamen mit lautem Zetergeschrei, so daß die Tante, die sich im Grunde sehr ungern von dem kleinen Dieudonné trennte, der allgemeinen Entrüstung nicht Trotz bieten mochte. Der Knabe blieb also und wurde wie zuvor von den guten Damen als Spielzeug betrachtet, man könnte fast sagen als Idol vergöttert. Von Ernst und Strenge war, selbst als er das lernfähige Alter erreichte, gar keine Rede; es stand dem kleinen Menschen so ziemlich frei zu lernen was ihm beliebte, und da ihn die Natur nicht mit einem über» mäßigen Wissensdrange begabt hatte, so blieb er sehr unwissend.

Es war vernünftigerweise nicht zu erwarten, daß die guten, würdigen Damen für die moralische Erziehung ihres Zöglings besser sorgen würden, als für seine geistige Ausbildung. Man machte ihn weder mit den Menschen bekannt, unter denen er einst leben, noch mit den Sitten und Gebräuchen, denen er sich einst fügen mußte; ja, man suchte Alles, was die Gefühle des kleinen Lieblings im mindesten verletzen konnte, sorgfältig von ihm fern zu halten, und entwickelte durch diese Verzärtelung die angeborne Reizbarkeit des Knaben.

Ebenso ging es mit den zur Erziehung eines jungen Edelmannes gehörenden Leibesübungen. Die Stiftsdamen wollten dem kleinen Dieudonné durchaus keinen Reitunterricht geben lassen; er bestieg nur den Esel des Gärtners, und dabei führte immer eine der Damen den Esel am Zügel.

In der Stadt, wo sich das Damenstift befand, war ein vortrefflicher Fechtmeister. Es wurde die Frage aufgeworfen, ob Dieudonné nicht fechten lernen sollte. Die Frage wurde nach einer sehr kurzen Debatte einstimmig verneint; es war ja kaum denkbar, daß der Chevalier de la Graverie bei seinem sanften, liebenswürdigen Charakter jemals in Streit gerochen würde; nur ein Ungeheuer von Bosheit und Rohheit könnte ihm zürnen — und Gott sey Dank! die Ungeheuer sind selten.

Hundert Schritte von dem Damenstift schlängelte sich ein schöner klarer Fluß durch blühende Wiesen. Hier übten sich die Schüler des Gymnasiums im Schwimmen. Man konnte Dieudonné dreimal wöchentlich unter der Aufsicht eines Schwimmlehrers dahinschicken; aber das kühle Flußwasser konnte dem zarten Knaben schaden, er mußte sich daher begnügen, zweimal wöchentlich in der Badewanne seiner Tante zu plätschern.

Dieudonné lernte also weder schwimmen noch fechten noch reiten. Er erhielt etwa dieselbe Erziehung wie Achilles; aber wenn mitten unter den Damen, die den Chevalier de la Graverie umgaben, plötzlich ein Ulysses erschienen wäre und ein Schwert aus der Scheide gezogen hätte, so würde Dieudonné wahrscheinlich nicht, wie der Sohn der Thetis und des Peleus, auf das Schwert losgestürzt, sondern von dem Glanz der Klinge geblendet, fortgelaufen seyn, um sich in dem tiefsten Keller zu verkriechen.

Alles dieses wirkte höchst nachteilig auf die physische und moralische Entwickelung des jungen Chevalier. Er war sechzehn Jahre alt und konnte vor dem Gesicht eines Andern keine Klinge funkeln sehen, ohne in Tränen auszubrechen. Der Tod seines Sperlings oder Kanarienvogels verursachte ihm Nervenzucken; er dichtete rührende Elegien auf den Tod eines aus Versehen zertretenen Maikäfers — Alles zur größten Freude der Stiftsdamen, welche sein feines Gefühl priesen, ohne zu ahnen, daß diese Empfindung dabei ihr Idol entweder zu einem vorzeitigen Ende führen oder in diesen überzarten Gefühlen eine egoistische Reaktion bewirken müsse.

Unter diesen Umständen war kaum zu erwarten, daß Dieudonné von seinen Lehrerinnen in der Kunst zu gefallen und zu lieben unterrichtet wurde. Aber es fehlte ihm keineswegs an Gelegenheit und Anleitung Das Fräulein von Florsheim, eine der Stiftsdamen, hatte eine Nichte bei sich. Mathilde war zwei Jahre jünger als Dieudonné. Sie war blond und hatte schmachtende blaue Augen, wie die meisten deutschen Mädchen.

Sobald die beiden Kinder ohne Gängelband laufen konnten, machte es den Damen großes Begnügen, unzertrennliche Gespielen aus ihnen zu machen. Dieudonné, der, den halsbrechenden Künsten des Reitens. Fechtens und Schwimmens mit ängstlicher Sorgfalt ferngehalten wurde, bekam dafür eine andere Dressur. Wenn er, wie ein Wateauscher Schäfer aufgeputzt, mit einem Vergißmeiniuchtstrauß kam, so lehrte man ihn denselben seiner kleinen Freundin mit chevaleresker Kniebeugung zu überreichen. Bei schlechtem Wetter setzte sich Mademoiselle de Beauterne an ihr Klavier und spielte eine Menuett, nach welcher sich Dieudonné und Mathilde wie zwei Gliederpuppen unter lautem Applaus der Stiftsdamen bewegten.

Nach beendeter Menuett küsste der himmelblaue Schäfer mit galantem Anstand das weiße parfümierte Händchen der Schäferin. Die guten Damen waren entzückt, sie herzten und küssten die beiden Kinder und nannten sie den kleinen Mann und die kleine Frau. Wenn man sie, wie zwei Liebende en miniature, im Garten lustwandeln sah, schaute man ihnen mit Wohlgefallen nach, statt ihnen zuzurufen: Kehrt um, Kinder, die Einsamkeit ist gefährlich!

So kam es denn, daß die beiden Kinder die ihrem Alter zukommenden Spiele verschmähten und sich Empfindeleien überließen, welche, wie harmlos sie den guten Damen auch schienen, bald die bedenklichsten Verirrungen im Gefolge hatten.

V

Inhaltsverzeichnis

Erste und letzte Liebe des Chevalier de la Gravene.

Als Mathilde fünfzehn und Dieudonné siebzehn Jahre alt war, schien die bisherige Zärtlichkeit einer seltsamen Kälte Platz zu machen. Der junge Chevalier brachte kein Vergißmeinnicht mehr aus dem Garten und nach beendeter Menuett küßte er die Hand Mathildens nicht mehr, sondern beurlaubte sich mit einer leichten Verbeugung. Es wurden sogar die einsamen Gartenpromenaden eingestellt.

Ein aufmerksamer Beobachter würde freilich bemerkt haben, daß Mathilde oft einen welken Blumenstrauß zärtlich an die Lippen drückte und dann schnell wieder in ihr Corset steckte; daß sie errötete, wenn sie ihrem himmelblauen Schäfer in der Menuett die Hand reichte, und daß Beide wie von einem elektrischen Fluidum durchzuckt schienen. Derselbe Beobachter würde bemerkt haben, daß sie zwar in verschiedenen Richtungen durch den Garten gingen, aber nach einer Weile an einem kleinen plätschernden Wasserfalle zusammentrafen.

An dem Tage, wo Dieudonné sein achtzehntes Jahr vollendete, erschien er in dem Zimmer seiner Tante, machte die drei Verbeugungen, die er einstudiert hatte für den Fall, daß er der Großherzogin Stephanie von Baden oder der Königin Louise von Preußen vorgestellt würde, und fragte mit wohlgesetzten Worten, wann er mit Mathilde von Florsheim den Ehebund schließen könne.

Die Stiftsdame wurde durch diese Frage in ungeheure Heiterkeit versetzt, welche sich am Ende in einen bedenklichen Keuchhusten auflöste. Während sie lachte und hustete, erwartete Dieudonné in der dritten Menuettposition die Antwort. Als endlich der Paroxysmus glücklich überstanden war, sagte sie, mit der Heirath habe es gar keine Eile, die jungen Leute könnten noch mindestens vier bis fünf Jahre warten, und wenn es Zeit sey, an eine Vermälung zu denken, würde sich der Bräutigam vielleicht eines Andern besonnen haben.

Dieudonné gab als wohlerzogener Neffe keine Antwort und entfernte sich mit einer tiefen Verbeugung. Abends ereignete sich nichts Außerordentliches; als aber das Kammermädchen der Tante am andern Morgen in das Zimmer des jungen Chevalier trat, um ihm den Kaffee zu bringen, war das Zimmer leer und das Bett unberührt.

Die Zofe eilte ganz erschrocken zu ihrer Gebieterin, um die unglaubliche Nachricht zu melden.

Als sie der Stiftsdame zum dritten Male beteuerte, daß der Chevalier de la Graverie nicht in seinem Bett geschlafen habe, erschien das Fräulein von Florsheim bleich und zitternd und erzählt?, daß Mathilde in der Nacht verschwunden sey.

Die beiden unberührten Betten lieferten einen eben so klaren Beweis gegen die beiden jungen Leute, als ob man ihre Köpfe auf einem und demselben Kissen gesehen hätte.

Die Kunde von dieser Doppelflucht verbreitete sich wie ein Lauffeuer und setzte die ganze Genossenschaft in Bestürzung. Am peinlichsten wurden natürlich die beiden Tanten berührt: sie weinten und beteten. Die übrigen Stiftsdamen spien Feuer und Flamme, ohne zu bedenken, daß die Stunde der Ernte gekommen war und daß sie ernteten was sie gesät hatten.

Endlich meinte eine von ihnen, Thränen und Geschrei könnten nichts nützen, man müsse die Flüchtlinge so schnell als möglich verfolgen.

Dieser Vorschlag wurde einstimmig angenommen. Die Flüchtlinge waren zu unerfahren, als daß sie vielen Scharfsinn aufgeboten hätten, um ihre Spur zu verbergen. Die eilends ausgesandten Verfolger brachten wirklich schon am folgenden Tage die beiden verwirrten Schäflein zurück.

Aber dies war keine befriedigende Entwickelung und das Fräulein von Florsheim verlangte die Ausfüllung der Bresche, welche der Ehre ihres Hauses in der Person ihrer Nichte geschlagen worden war. Aber Mademoiselle de Beauterne weigerte sich unbedingt. Sie war in Frankreich noch sehr begütert und es genügte ihr keineswegs, daß der Erbe dieses Reichthums mit einer der berühmtesten bairischen Adelsfamilien verbunden wurde, sondern sie verlangte auch eine Mitgift, welche dieser Ehe einen solidern Werth verleihe. Da die Familie Florsheim diese Zumuthung aus sehr triftigen Gründen zurückwies, so verlangte die alte Dame, daß die Sache im status quo bleibe und der Romanstreich mit dem Mantel der Liebe zugedeckt werde. Sie versichert, es sey nur eine Kinderei, zu welcher das Fräulein von Florsheim sammt den übrigen Stiftsdamen die Veranlassung gegeben habe; Dieudonné sey zu fromm, zu wohlerzogen und insbesondere zu jung, als daß der kleine Abstecher, den er mit seinem Liebchen nach München gemacht, unangenehme Folgen haben könne.

Aber nach einigen Monaten sah Maoemoiselle de Beouterne wohl ein, daß sie zu viel verbürgt hatte, als sie ihren Neffen als einen harmlosen blöden Schäfer hinstellt?. Die Sache nahm eine so bedenkliche Wendung, daß ihr Beichtvater auf dringendes Ersuchen des Fräuleins von Floresheim einschritt.

Durch die Vorstellungen des würdigen Mannes endlich überzeugt, gab Mademoiselle de Beauterne scheinbar blos den Bitten und Thränen der jungen Leute nach, um sich neue Ansprüche auf den Dank derselben zu erwerben, und zur größten Freude der Stiftsdamen erhielt diese Liebe, welche sie als ihr Werk betrachteten, die Weihe der Kirche.

Die jungen Leute bezogen ein kleines Landhaus in der Nähe, und unter dem Patronat der Stiftsdamen, welche das Pärchen mit neugierigen, neidischen Argusaugen bewachten, schien der Honigmonat ewig zu dauern.

Der Tod des Fräuleins von Beauterne war die erste Wolke welche über ihr Glück dahinzog. Die gute Dame hinterließ ihrem Neffen ungefähr dreißigtausend Livres Renten, und wir müssen es ihm rühmend nachsagen, daß er sich weder durch dieses anständige Vermögen, noch durch die unaufhörliche Conjugation des Zeitwortes lieben abhalten ließ, das Andenken seiner zweiten Mutter durch aufrichtige Thränen zu ehren.

Dieudonné hatte das zwanzigste Jahr überschritten, ohne die Sanftmut, und Naivetät seiner Kindheit verloren zu haben. Er umfaßte noch immer die ganze Welt mit seinem Wohlwollen und Mitleid, welches freilich mit einer gewissen trüben, wehmüthigen Stimmung gemischt war; vermuthlich die Folge der Ereignisse, welche vor seiner Geburt stattgefunden hatten.

Er bot den sonderbaren Anblick eines Menschen, der weder Neigungen noch Wünsche hatte. Aus dem Katechismus hatte er die Leidenschaften dem Namen nach kennen gelernt, aber nach beendeten Schuljahren hatte er ihn vergessen. Er lebte ganz für Mathilde und fügte sich willig ihren Launen. Sie war etwas lebhafter als er, und trug gewiß den größern Theil der Schuld an der Flucht. Die Launen der jungen Frau bewirkten indeß nicht die mindeste Veränderung in dem ruhigen, harmlosen Leben, welches des goldenen Zeitalters würdig gewesen wäre; denn alle ihre Wünsche, die sich m dem engen Rahmen der Häuslichkeit bewegten, wurden ja immer erfüllt, sobald sie ausgesprochen waren.

Der Chevalier de la Graverie warf nie einen neugierigen Blick über die Mauer, welche sein irdisches Paradies umgab. Er fürchtete sich, ohne zu wissen warum, vor dem Leben und Treiben der Menschen; das Geräusch der Welt berührte ihn unangenehm, und um es nicht zu hören, hielt er sich am Tage die Ohren zu, zog er in der Nacht die Bettdecke über den Kopf.

Er kam daher ganz aus der Fassung, als er, durch den Tod seiner Tante noch erschüttert, einen Brief aus Paris von dem Baron de la Graverie erhielt.

Dieudonné hatte von diesem ältern Bruder nur bei Gelegenheit seiner Vermählung und durch Vermittlung seiner Tante gehört.

Wir haben gesagt, daß er sich die Ohren zuhielt, um das Weltgetümmel nicht zu hören. So war es gekommen, daß er das Getöse, mit welchem der Thron des großen Napoleon zum ersten Male umstürzte, kaum vernommen hatte; der zweite Sturz des Kaisers war ihm ganz unbekannt geblieben. Die französische Armee hatte sich durch ganz Deutschland zurückgezogen, die Heere Preußens, Österreichs und Rußlands waren ihr nachgeeilt, der Menschenstrom hatte sich weit und breit ergossen, aber in seiner Einsamkeit hatte der Chevalier das Brausen der Wogen nicht gehört.

Der Baron de la Graverie meldete nun seinem jüngern Bruder Alles was dieser nicht wusste, insbesondere, daß die Restauration die Fürsten des Hauses Bourbon nach Frankreich zurückgeführt habe, und forderte ihn auf, der Pflicht seines Standes gemäß nach Paris zu kommen und seinen Platz in der Nähe des Thrones einzunehmen.