Blades & Ballads - Bettina Bellmont - E-Book

Blades & Ballads E-Book

Bettina Bellmont

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Beschreibung

Ein verfluchter Prinz, ein überengagierter Barde und eine Gans mit Gehirnerschütterung auf einer Mission gegen Piraten, Skelettkrieger und einen attraktiven Nekromanten – was kann da schon schiefgehen? Von einem Fluch gezeichnet, fristet Prinz Ciaran ein trostloses Dasein in einer kalten Burg am Rande des Königreiches. An seiner Seite bloß sein bester Freund und Barde Thim, der ihm als Einziger noch die Treue hält. Als eines Tages nicht nur ein verwunschenes Gänsemädchen, sondern auch die Häscher der Königin – Ciarans Schwester – in der Burg auftauchen, wird er allerdings aus seiner Lethargie gezerrt. Er soll der Schlüssel in einem Krieg sein, der seinen Tod bedeuten kann. Um diesem Schicksal zu entrinnen, flieht der Prinz in einer Nacht-und-Nebel-Aktion, nicht ahnend, dass er damit in ein Abenteuer stolpert, wie er es in seinen kühnsten Träumen nicht erwartet hätte. Magie, Intrigen, Verschwörungen mit dem Feind und uralte Prophezeiungen sind jetzt die geringsten seiner Sorgen – vielmehr scheinen die Götter selbst die Finger im Spiel zu haben. Ob das der Stoff ist, aus dem Balladen komponiert werden? Oder eher Totengesänge für unfreiwillige Helden, die dazu bestimmt sind, ein neues Zeitalter einzuläuten?

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Informationen zum Buch

Impressum

Widmung

Landkarte

Kapitel 1 - Ein Sturm zieht auf

Kapitel 2 - Nächtlicher Besuch

Kapitel 3 - Die schwarze Kutsche

Kapitel 4 - Flucht nach vorn

Kapitel 5 - Anheuern für Anfänger

Kapitel 6 - Katz-und-Barde

Kapitel 7 - Die Gans in der Koje

Kapitel 8 - Vier Arten der Magie

Kapitel 9 - Barde über Bord

Kapitel 10 - Der Stoff für Balladen

Kapitel 11 - Feuer im Herzen

Kapitel 12 - Flammenmeer

Kapitel 13 - Gans sicher

Kapitel 14 - Das rote Auge

Kapitel 15 - Spur aus Gold

Kapitel 16 - Über die Grenze

Kapitel 17 - Reminiszenzen

Kapitel 18 - Feindliche Übernahme

Kapitel 19 - Die Mission

Kapitel 20 - Wüstenflüstern

Kapitel 21 - Voll im Element

Kapitel 22 - Verrat

Kapitel 23 - Schuld und Blut

Kapitel 24 - Das kleinere Übel

Kapitel 25 - Dem Tode geweiht

Kapitel 26 - Göttlicher Zorn

Kapitel 27 - Totentänze

Kapitel 28 - Flut der Freiheit

Kapitel 29 - Abbitte

Kapitel 30 - Im Aufwind

Kapitel 31 - Auf der falschen Seite

Kapitel 32 - Herz statt Pflicht

Kapitel 33 - Alte Wunden

Kapitel 34 - Durchtrennte Fäden

Kapitel 35 - Der Bruch

Kapitel 36 - Scherben

Kapitel 37 - Heilung

Kapitel 38 - Versöhnung

Epilog

Nachwort der Autorin

Glossar

 

Bettina Bellmont

 

 

Blades & Ballads

 

 

 

Fantasy

 

Blades & Ballads

Ein verfluchter Prinz, ein überengagierter Barde und eine Gans mit Gehirnerschütterung auf einer Mission gegen Piraten, Skelettkrieger und einen attraktiven Nekromanten – was kann da schon schiefgehen?

 

Von einem Fluch gezeichnet, fristet Prinz Ciaran ein trostloses Dasein in einer kalten Burg am Rande des Königreiches. An seiner Seite bloß sein bester Freund und Barde Thim, der ihm als Einziger noch die Treue hält. Als eines Tages nicht nur ein verwunschenes Gänsemädchen, sondern auch die Häscher der Königin – Ciarans Schwester – in der Burg auftauchen, wird er allerdings aus seiner Lethargie gezerrt. Er soll der Schlüssel in einem Krieg sein, der seinen Tod bedeuten kann. Um diesem Schicksal zu entrinnen, flieht der Prinz in einer Nacht-und-Nebel-Aktion, nicht ahnend, dass er damit in ein Abenteuer stolpert, wie er es in seinen kühnsten Träumen nicht erwartet hätte. Magie, Intrigen, Verschwörungen mit dem Feind und uralte Prophezeiungen sind jetzt die geringsten seiner Sorgen – vielmehr scheinen die Götter selbst die Finger im Spiel zu haben. Ob das der Stoff ist, aus dem Balladen komponiert werden? Oder eher Totengesänge für unfreiwillige Helden, die dazu bestimmt sind, ein neues Zeitalter einzuläuten?

 

 

 

Die Autorin

Bettina Bellmont (1990) jongliert als Werbetexterin, Journalistin und Verlagsassistentin mit Worten. Ihre Leidenschaft gilt besonders den Buchstaben zwischen zwei Buchdeckeln. Die Autorin ist Mitglied beim Verein Schweizer Phantastikautor*innen und Co-Coach einer Fantasyschreibgruppe des Jungen Literaturlabors in Zürich. Die Ostschweizerin lebt zusammen mit ihrem Mann in einem noch katzenlosen Haushalt, singt im Dorfchor und stapelt Bücher für ihren Bookstagram-Channel.

www.sternensand-verlag.ch

[email protected]

 

1. Auflage, Juni 2024

© Sternensand Verlag GmbH, Zürich 2024

Umschlaggestaltung: Alexander Kopainski

Lektorat / Korrektorat: Sternensand Verlag GmbH | Wolma Krefting

Karte: Bettina Bellmont

Satz: Sternensand Verlag GmbH

 

 

ISBN (Taschenbuch): 978-3-03896-321-9

ISBN (epub): 978-3-03896-322-6

 

Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

 

Für Simon,

weil du mich jeden Tag

zum Lachen bringst.

 

Und für alle Thims,

die für jemanden die Sonne bedeuten.

 

 

 

Kapitel 1 - Ein Sturm zieht auf

Ciaran

 

Die Festung am äußersten Rand von Hinia kannte keine Sonnenstunden. Rauer Meerwind umtoste die Steinmauern, die Gischt der tobenden See nagte am Fundament und der Himmel lag grau und matt über den hohen Zinnen, als hätte die Gestirnsgöttin Helia ihren Schleier auf dem verlassenen Flecken Erde abgelegt und vergessen.

An jenem Tag vor über zwanzig Jahren, als Ciaran die schwarzen Tore von Helmhaim zum ersten Mal durchschritt, frierend, bis auf die Knochen durchnässt und von schrecklichem Heimweh geplagt, hatte er den Ort verflucht.

Jetzt waren die Mauern seine Rüstung, das Tosen der Wellen begleitete seine Schritte mit ihrer Melodie, und das dumpfe Kerzenlicht wies ihm den Weg.

Helmhaim war genauso vergessen und verflucht wie er – der verdorbene Prinz, der nie wieder zurückkehren durfte. Denn das war schlicht und ergreifend zu gefährlich für jene, die ihm am Herzen lagen. Er hatte nun sein eigenes Reich, seine eigene verdammte Burg.

Helmhaim.

Helmhaim war Ciaran.

Ciaran war Helmhaim.

In Gedanken versunken merkte er kaum, wie sich seine Hände um die Stuhllehne krallten.

Der Wind, der um seine Beine strich und zwischen die Stofflagen seiner dunklen Kutte glitt, war rauer als sonst. Das Klappern der Glasfenster im Thronsaal wurde merklich lauter. Das Meer brach sich krachend an den Felsen, warnender, drängender.

Ein Sturm zog auf. Mitten am grauen Tag.

Murrend schob Ciaran das halb gelesene Buch zur Seite, das er sich als Ausrede für sein Grübeln auf den Schoß gelegt hatte.

Wenn ein Sturm kam, benötigte er keine Rechtfertigung mehr, sich gleich in sein Turmzimmer zu verziehen und ins erlösende Nichts des Schlafes zu versinken.

Doch sein Aufpasser machte ihm auch dieses Mal einen Strich durch die Rechnung.

Ciaran war kaum aufgestanden, da schwang eine der hinteren Türen mit Nachdruck auf und der junge Barde Thim kam aufgeregt gestikulierend in den Thronsaal gestürmt. Die blonden Locken standen ihm windzerzaust vom Kopf ab, die Laute hatte er sich auf den Rücken gebunden, und das zerknitterte Hemd, das sich um seinen Bauch spannte, hing lose aus der Bundhose. In seinen Augen loderte wieder dieses unselige Feuer.

»Meister! Meister! Ein Sturm kommt!«, sprach Thim das Offensichtliche aus und rauschte heran, als sei er dieser Orkan selbst.

»Das weiß ich längst, Thim«, seufzte Ciaran. Er ahnte, dass ihm der Troubadour vor lauter Übermut gar nicht zuhörte. Es spielte daher im Grunde keine Rolle, was er antwortete.

»Aber ein Sturm! Verstehst du nicht?«

Der Prinz stellte sich dumm und schwieg.

»Ein Sturm!« Thim breitete die Hände aus und formte einen Halbbogen in der Luft, so, als wollte er die ganze Welt umarmen. »Meister, das bedeutet, es ist endlich so weit.«

»Unsinn, Thim.« Ciaran strich sich durch das dunkle, viel zu lange Haar und schüttelte zur Unterstreichung seiner Worte den Kopf. »Es regnet einfach stärker. Mach dir keine Hoffnungen.«

Die Pupillen inmitten seiner blauen Iriden des Barden weiteten sich vor Aufregung.

»Bestimmt! Ich spüre es mit jeder Faser meines Körpers: Uns erwartet heute ein Abenteuer.« Er verschränkte die Arme vor der schmächtigen Brust und sah seinen Meister herausfordernd an, als warte er nur auf die nächste Erwiderung, um sie niederzuschmettern.

Ciaran seufzte erneut und knetete mit Daumen und Zeigefinger die Stirn über seinem linken Auge, wie immer, wenn die Dunkelheit in seinen Gedanken herannahte. Mit Nachdruck erklärte er: »Und ich spüre mit jeder Faser meines Körpers, dass ich mich jetzt ins Turmzimmer zwischen die warmen Laken verkriechen muss, den einzigen Kamin in diesem ganzen verfluchten Steinhaufen anfeuere und vom Rest des Sturms so viel mitbekomme wie Helia vom Leben einer Mikrobe.«

Thim warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu und schnaubte. »Das kann nicht dein Ernst sein. Denk nach, was nur alles Ufer gespült werden könnte. Versunkene Kisten, ein Schiffswrack, ja vielleicht sogar ein Sch…«

»Hör auf«, bat Ciaran halbherzig. Ihm fehlte schlicht die Kraft, um ernsthaft gegen die Abenteuerlust seines Gefährten anzukämpfen, der mit seinen vierundzwanzig Jahren voller Energie und Neugierde steckte. Obwohl der Prinz nur zwei Sommer früher geboren war, fühlte er sich in der Gegenwart von Thims jugendlichem Übermut wie ein Greis. »Du wirst wieder nichts finden.«

»Doch! Bestimmt!« Sein Freund klatschte in die Hände und sah ihn grinsend an. »Und du kommst dieses Mal mit.«

»Bestimmt nicht.« Ciaran krallte die Finger noch fester um die hölzernen Lehnen des Throns, bis die Knöchel kreidebleich unter seiner blassen Haut hervortraten.

Thim schien seine aufkeimende Wut nicht zu bemerken und plapperte weiter, der Prinz sah jedoch die Flammen der Kerzen im Thronsaal erzittern. Erschrocken biss sich Ciaran auf die trockenen Lippen, um die Beherrschung zu behalten.

»Natürlich habe ich bisher nichts gefunden!« Thim stemmte beleidigt die Hände in die Hüfte und blies seine geröteten Wangen auf. »Man benötigt nun mal mehr als ein Paar Augen, um Schätze zu entdecken, und mehr als ein Paar tatkräftige Hände, um ein Abenteuer zu bestehen.«

Zitternd erhob sich Ciaran und wollte an Thim vorbeigehen.

Er sollte die Gelegenheit von Thims ausschweifenden Reden nutzen, um genug Abstand zwischen sich und seinem Freund aufzubauen, damit er die bevorstehende Hetzjagd in den Turm mit entsprechendem Vorsprung meisterte.

Es endete immer so. Ciaran kam immer davon.

»Heute nicht!« Thim stellte sich ihm in den Weg und packte seine Schultern mit beiden Händen. »Du haust heute nicht ab, Meister. Wir gehen gemeinsam auf ein Abenteuer.«

 

Abenteuer? Eher die dümmste Idee, die Thim je geritten hatte. Ciarans Zehen fühlten sich bereits taub an, als hätten sie sich mitsamt den triefend nassen Schuhen in einen Eisblock verwandelt. Und die dünne Kapuze schützte das Gesicht kaum vor der überschwappenden Gischt und dem beißenden Wind.

Ciaran schmeckte Salz auf seinen Lippen. Als seine Augen vor Kälte zu brennen begannen und er beinahe auf den nassen Stufen ausrutschte, die schlängelnd den Felsen entlang an den schmalen Uferstreifen hinunterführten, blieb er demonstrativ stehen.

Das hier war nicht nur dumm. Es war lebensgefährlich.

»Thim!«, schrie er gegen den Sturm an. »Kehren wir um. Das bringt doch nichts.«

Die schlaksige Silhouette seines Freundes hüpfte vor ihm die Stufen hinab und verschwand beinahe im dichter werdenden Grau des Regens.

Der Prinz nahm einen weiteren zaghaften Schritt, um den Barden nicht aus den Augen zu verlieren, doch ein Windstoß warf sich wie eine Wand gegen seinen mageren Körper. Seine Füße rutschten bedrohlich über die nassen Felsenstufen und drohten, unter ihm wegzugleiten. Im letzten Moment klammerte sich Ciaran an einem Vorsprung fest und zog den Umhang stärker um sich, der wild im Orkan flatterte wie die Flügel einer Fledermaus. Der Regen prasselte gegen sein Gesicht und erschwerte ihm das Atmen.

Mit letzter Kraft schrie er in den Sturm hinein: »Thim!«

Der Prinz bezweifelte, dass sein Freund ihn überhaupt hörte. Oder er ignorierte seine Rufe – wie immer, wenn das Abenteuer sein verlockendes Sirenenlied anstimmte und der Barde keinen klaren Gedanken mehr zu fassen schien.

Ihm blieben zwei Möglichkeiten. Er konnte zurück zur Festung und hoffen, dass Thim nicht von den Wellen erfasst, gegen den Stein geworfen und zerquetscht würde. Oder er folgte dem Irren weiterhin und sah zu, wie sie beide lebend aus dieser nassen Hölle herauskamen.

Die Versuchung war groß. Besonders, wenn er an das warme Kaminfeuer in seinem Turmzimmer dachte. Außer Thim war jedoch niemand mehr in Helmhaim. Niemand, der es länger mit Ciarans schlechter Laune aushielt. Seit er Blut an den Händen trug, hatte der Prinz sein Herz verschlossen und nicht mehr geöffnet. Es existierte nur eine einzige Person, die sich nicht darum scherte, wenn er sie grundlos anschrie, abwies oder anschwieg.

Und wenn er ausnahmsweise ehrlich zu sich selbst war, dann musste sich Ciaran eingestehen, dass er Thim mehr mochte als hasste.

»Verfluchter Barde!«, grummelte er daher und tapste unsicheren Schrittes weiter in die Tiefe.

Unter ihm toste hungrig das Meer.

Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, starrte er auf seine Füße, um ja nicht danebenzutreten und in der brodelnden Tiefe aus Wasser zu versinken.

Ein spitzer Schrei ließ ihn hochfahren. Panisch blickte Ciaran nach vorn, doch Thim schien unversehrt. Im Gegenteil: Er winkte aufgeregt und deutete zum Himmel hinauf.

Der Prinz hielt den Saum der Kapuze fest umklammert und blinzelte die Regentropfen aus seinen Wimpern, als er den Kopf hob.

Erneut brach ein Schrei durch das Brüllen des Sturms. Ein weißer Schemen jagte durch die Wolkendecke, taumelte von den Böen getrieben zur Seite und hinterließ eine Spur aus Federn, die wie Sternschnuppen herabregneten.

»Was ist das?«

Ciarans Stimme kam nicht gegen den Lärm und einen erneuten Schrei an.

Das weiße Flugobjekt krachte über ihnen gegen den Felsen.

Zu spät bemerkte der Prinz, dass er mitten in der Fallschneise stand. Etwas Kleines, Weiches traf ihn an der Brust und warf ihn zurück.

Hastig krallte er sich mit einer Hand an den Stufen fest und hielt mit der anderen das weiche Etwas an sich geklammert. Es kreischte und quiekte gequält.

»Meister! Meister!« Thim kam keuchend herangestürmt. Die Aufregung in seiner Stimme übertönte die Sorge um Ciaran. »Alles in Ordnung?«

Der Angesprochene nickte abwesend und versuchte, das Lebewesen in seinen Armen zu beruhigen. Weiße Federn stoben in sein Gesichtsfeld und etwas Hartes pickte nach seinen Fingern. »Halt still!«, schrie er das Ding an. »Du tust uns beiden weh.«

Frustriert gab er auf und drückte das Federknäuel kurzerhand in Thims Hände.

»Eine Gans!«, rief dieser staunend. »Was macht die denn mitten im Sturm?«

Unter Thims sanften Fingern beruhigte sich das Tier tatsächlich und ließ träge den Kopf hängen, sodass auch Ciaran die braunen Gänseaugen und den langen Hals inmitten der Federn ausmachen konnte.

»Sie hat sich einen Flügel gebrochen, die Arme. Und oh … ihr Kopf! Sie muss sich an den Felsen den Kopf angeschlagen haben«, diagnostizierte Thim mitleidig.

Ciara schüttelte derweil die letzten Federn aus seinem triefend nassen Mantel und beschloss, dass er für heute ausreichend Abenteuer erlebt hatte.

Thim schien da ganz anderer Meinung zu sein. Er blühte gerade erst auf. »Das arme Ding! Wir müssen sie verarzten. Woher die Gans wohl kommt? Von der anderen Seite des Ozeans?«

»Sei nicht albern, Thim«, korrigierte ihn Ciaran ungeduldig, während er zum Aufstieg ansetzte. »Das ist eine Hausgans. Die fliegt nicht übers Meer.«

»Und wenn sie eine verzauberte Prinzessin ist? Vielleicht kommt sie aus Islirith?«

Als Antwort seufzte Ciaran nur. Er hatte Thim – bei Helias Schleier! – oft genug gesagt, dass er den Namen dieses dreckigen Magierstaates nie mehr hören wollte. Schließlich war es die Furcht vor Isliriths Magie, die Ciaran überhaupt hierher nach Helmhaim verbannt hatte. Oder besser gesagt: die Furcht vor der Magie, die in Ciaran schlummern konnte.

Er spürte die alte Wut in sich aufflackern und biss sich erneut auf die Lippen.

Welch dummer Aberglaube. Welch Irrsinn, der ihn seines Throns, seiner Familie und seines Lebens beraubt hatte. Und dennoch: Ciaran hatte gelernt, sein Schicksal zu akzeptieren. Die Gefahr, die von ihm ausgehen konnte, war zu groß für Hinia, zu riskant für die sichere und friedliche Herrschaft seiner Schwester, Menefer Whitehart. Sie war die herrliche Königin unter Helias Gestirnen, die Mächtige, die Ordnende.

Er war bloß der vergessene Bruder mit dem verfluchten roten Auge. Ein Kind, das mit dem Zeichen Isliriths, der Iris in einer Farbe der Magie, geboren worden war.

Instinktiv fuhr er mit der Hand über seine linke Gesichtshälfte und presste den Handballen auf das Lid.

Wie oft hatte er sich gewünscht, nur mit seinen normal dunkelbraun gefärbten Iriden das Licht der Welt erblickt zu haben. Die Götter hatten sich allerdings einen Scherz erlaubt und Ciaran verflucht. Er versuchte zwar, die Iris im Schatten seiner langen Strähnen zu verbergen, doch das Rot leuchtete immer wie von einem inneren Feuer erfüllt hervor.

Ungeduldig unterbrach er Thims Geplapper. »Es reicht jetzt. Das Abenteuer endet hier. Und die Gans kommt in den Topf.«

Sein bester Freund starrte ihn entrüstet an. Zuerst dachte Ciaran, er würde sich vehement für die Fortführung des Abenteuers einsetzen, aber den Troubadour beschäftigte ganz was anderes.

»Du herzloser Mörder! Die Gans wird nicht gegessen.«

»Warum nicht? Sie ist mir ja offensichtlich direkt in die Arme geflogen. Also entscheide ich, was mit ihr geschieht.«

»Wir haben gar keine Köchin mehr! Warum hast du sie bloß entlassen, nur weil sie dir drei Mahlzeiten pro Tag aufgedrängt hat?«

Tatsächlich war es das mitleidige Funkeln in den Augen der Alten gewesen, das seine Wut hatte auflodern lassen. Es war zu gefährlich geworden, die Köchin zu behalten. Seinem Freund gegenüber würde er das jedoch nie zugeben.

Der Barde hatte dennoch recht. Ohne Köchin gab es keinen Gänsebraten. Ciaran kam ins Grübeln. Das war tatsächlich ein Problem.

Thim schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »Ich kann nicht kochen. Und ich werde ihr ganz bestimmt nichts antun. Das arme Ding.«

Die Gans quakte matt und hob den Kopf eine Handbreit, ehe dieser erschöpft nach unten plumpste.

»Die Gans landet im Kochtopf. Punkt«, beschloss der Prinz müde und trat den Rückweg an. Der Sturm im Rücken blies ihn beinahe von selbst die Stufen hoch.

Im Grunde war ihm nicht sonderlich nach Gänsebraten. So wie ihm nie sonderlich nach großen Banketten und Gelagen gewesen war. Aber eine laut schnatternde, gackernde Gans in den steinernen Hallen von Helmhaim konnte er noch viel weniger ertragen. Und genau das würde geschehen, wenn er Thim freie Hand ließ. Am Ende würde der Troubadour dem Tier einen Namen geben und es in die Familie aufnehmen.

»Ich nenne dich Hazel«, verkündete Thim in just diesem Moment stolz und streckte die Gans in Ciarans Richtung. »Siehst du, das ist der griesgrämige Onkel und ich bin jetzt dein Papa. Du musst dir also keine Sorgen machen.«

»Thim!«

»Was denn?«, fragte er unschuldig. »Du kannst das mit dem Kochtopf doch nicht ernst meinen. Sie ist verletzt und benötigt unsere Hilfe. Komm, wir singen ihr ein Lied, bis wir sicher im Trocknen sind.«

»Bei Helia, lass Gnade walten!«, betete der Prinz und zog sich demonstrativ die verrutschte Kapuze über die Ohren.

Doch Thim ignorierte seinen Hilferuf und stimmte voller Inbrunst eine Melodie an.

Ciaran wandte sich beim ersten Ton um und eilte nach oben, ohne sich weiter darauf zu konzentrieren, nicht zu fallen. Hauptsache, er kam hier schnell weg.

Thims Krächzen verfolgte ihn und übertönte selbst das Tosen des Sturms. »Haselnussbraune Augen, weißes Gefiederkleid. Oh Hazel, oh Hazel, du Engel, du fremde Schönheit.«

Der Rückweg fühlte sich auf einmal doppelt so weit an.

»Weit übers Meer gereist, aus dem fernen Lande der Magie, oh Hazel, oh Hazel, kommst du gar aus einer anderen Galaxie?«

»Helia!«, flehte Ciaran erneut und hielt sich hilfesuchend am Türklopfer fest, sobald er die Mauern Helmhaims erreichte.

Thim stimmte schon die dritte Strophe an. Der Prinz war sich sicher, dass darauf ein weitaus grausameres Zwischenspiel folgen würde, ehe sein Freund überhaupt zum ersten Refrain kam. Doch der Göttin sei Dank hießen ihn die klammen und vor allem stillen Gänge von Helmhaim willkommen, bevor er sich der Tortur weiter aussetzen musste.

Wie zuvor von Ciaran vermutet, flüchtete er nun tatsächlich durch die Hallen und leeren Zimmer bis zum Turm hinauf. Die hölzerne Wendeltreppe ächzte unter seinen Schritten, obwohl er nicht annähernd an die stattliche Statur seines Vaters herankam. Im Gegenteil. Würden die Spiegel entlang der Treppe noch hängen, sähe Ciaran darin vermutlich bloß eine schattenhafte Gestalt mit tiefen Augenhöhlen und knochigen, schmalen Wangen hochhuschen.

Der Prinz war inzwischen mehr Geist als Fleisch.

Gut, dass er die Spiegel abgehängt hatte, um sich selbst nicht mehr sehen zu müssen.

Erleichtert schloss er die Tür zum Turmzimmer hinter sich.

Thims Gesang verstummte in den Tiefen des Gemäuers.

Endlich Ruhe. Endlich.

Ciarans Hände zitterten leicht, als er den nassen Mantel achtlos auf einen Sessel fallen ließ und zum Kamin schlurfte. Die Glut war längst erstickt und es benötigte einige Anläufe, bis er das Feuer erneut entfachen konnte.

Er gewöhnte sich allmählich daran, die kleinen Handgriffe selbst zu tätigen, jetzt, da die Kammerdiener und Zofen einer nach dem anderen das Handtuch geworfen hatten.

Kein Wunder, er war grausam zu ihnen gewesen, damit sie ihn in Ruhe ließen.

Allerdings sollte er Thim bald dazu zwingen, die Wäsche zu reinigen. Ihre Schränke quollen über mit dreckigen Kleidern und Laken.

Ciaran stellte die tropfenden Stiefel neben das Feuer, ging vorbei an den Vorhängen, die er seit Tagen nicht mehr geöffnet hatte, und verkroch sich unter – wie er fand – doch einigermaßen akzeptabel sauberer Bettwäsche. Er wollte nur noch schlafen.

 

 

Kapitel 2 - Nächtlicher Besuch

Ciaran

 

Eine wohlige Wärme breitete sich in seinen klammen Gliedern aus. Schlaftrunken gähnte Ciaran und kuschelte sich zurück in die weichen Laken und an den Körper, der sich warm an seinen Bauch presste.

Allmählich dämmerte sein Bewusstsein aus dem erlösenden Nichts des Schlafes hervor.

Der Wind nagte noch an den Fensterläden und heulte durch die Festung. Allmählich ließ der Regen nach und brachte sein monotones Wiegenlied zum Verstummen.

Jetzt war das Knistern des Feuers das Einzige, was Ciaran zurück in den Schlaf lullen konnte. Wie ein Ertrinkender an einer Rettungsleine hielt er sich am Geräusch fest und versuchte, sich davon ins Land der Träume tragen zu lassen.

Es nützte nichts. Im Gegenteil erschien ihm das Prasseln und Knacken nur immer lauter und aggressiver, fressender, böswilliger, je mehr er sich darauf konzentrierte.

Leichte Panik wallte in ihm auf, die das Feuer mit einem knisternden Fauchen quittierte.

Ciaran schoss vom Bett hoch, doch das Gewicht auf seinem Bauch drückte sich gegen ihn.

Mit einem erstickten Schrei auf den Lippen sah er an sich hinunter und erkannte zuerst nicht viel mehr als braunes Haar, das sich über seine bleiche Haut ergoss. Dann hob sich der Schopf, etwas murrte, und ein Paar dunkler Haselnussaugen starrte ihm orientierungslos entgegen.

»Was ist los?«, murmelte die nackte Frau in Ciarans Bett.

Nun löste sich der Schrei endgültig aus der Kehle des Prinzen, während er fluchtartig aus dem Bett ans andere Ende des Zimmers sprang, die Hände abwehrend von sich gestreckt.

Bei Helia! Das Band um seine Kutte hatte sich im Schlaf gelöst und soeben rutschte ihm der Stoff ohne Vorwarnung von den Hüften.

Ciaran duckte sich in Alarmstellung und schnappte hastig ein Laken vom Bett, das er sich schützend vor die Leibesmitte hielt.

Die hübsche Unbekannte musterte ihn mit einem irritierten Blick, ehe die Erkenntnis mit einem Leuchten in ihre Augen trat.

»Oh!«, hauchte sie und sah an sich herunter.

»Oh! Aha!«, bejahte Ciaran fordernd.

»Oh! Ich … haben wir?«

»Bei Helia, nein!«

Heiß stieg ihm die Scham ins Gesicht. Hinter ihm glühte das Kaminfeuer, das mehr und mehr außer Rand und Band geriet und nach seinem Laken lechzte.

Die Fremde brachte nur ein weiteres »Oh« heraus und bedeckte sich errötend. Erst als Ciaran keine Anstalten machte, etwas zu erwidern, begann sie vorsichtig: »W… wo bin ich hier? Und wer seid Ihr?«

Der Prinz lachte empört auf. »Das fragt Ihr? Ihr seid in meinem Bett aufgetaucht. Nicht umgekehrt.«

»Ich …«

Mehr hörte Ciaran nicht mehr, denn das Feuer erfasste sein Laken und fraß sich über den Boden ins Zimmer hinein. Fluchend warf er den Stoff von sich und griff instinktiv nach dem nassen Mantel, der auf dem Sessel liegend vor sich hin tropfte.

»Meister!« Gerade in dem Moment öffnete Thim schnaufend die Tür und der Windstoß fachte die Flammen an. Sie wuchsen zu enormer Höhe und türmten sich vor Ciaran auf.

»Eeeek!«, kreischte Thim.

»Ahhh!«, schrie die fremde Schönheit.

»Scheiße!«, fluchte Ciaran und ließ nun auch den Mantel achtlos fallen.

Der Zuber! Ja, genau. Thim hatte das alte Badewasser bestimmt nicht geleert.

Ciaran rannte auf das Becken zu und packte dabei den Troubadour am Hemdsärmel, um ihn mit sich in Sicherheit zu ziehen.

Sein Freund wehrte sich. »Meine Laute!«, rief er aus und hechtete in die Flammen.

Der Prinz vergeudete keinen weiteren Atemzug, stieß mit dem rechten Bein, so fest er konnte, gegen den Beckenrand und kippte den Inhalt auf den getäfelten Boden. Zischend und schäumend ergoss sich das Wasser über das Feuer. Und mit einem Schlag war alles ruhig.

Nur ein bis zu den Knien mit Seifenwasser besprenkelter Thim hob wimmernd ein angekohltes Stück Holz in die Höhe. »Meine Laute!«

Am liebsten hätte Ciaran gelacht. Wie absurd! Doch auf den Schrecken folgte Wut. »Was macht das Ding überhaupt in meinem Zimmer? Was macht die …«, er deutete verärgert zur Frau, die sich kein bisschen aus seinem Bett bewegt hatte, »hier!«

»Oh.« Der Barde ließ den Mund offen stehen und blinzelte verwirrt.

»Nicht du auch noch, Thim!«

»Die lag da bislang nicht, als ich die Laute zum Trocknen vorbeibrachte, ich schwör’s!«, verteidigte sich der Troubadour.

Ciaran seufzte und strich sich erschöpft mit dem Zeigefinger über die linke Augenbraue.

»Du weißt also nicht, wie eine Fremde mitten in einem Sturm so mir nichts, dir nichts durch die verschlossenen Tore, an dir vorbei, ins höchste Turmzimmer geschlichen ist?«

»Nein! Aber … oh!«

»Jetzt hört endlich mit diesen Ohs auf!«, forderte Ciaran laut. »Entweder erzählt ihr mir sofort, was hier gespielt wird oder ihr beide fliegt raus.«

Thim lächelte gequält und versuchte, die Lage wie üblich mit einem Witz zu entschärfen. »Du kannst mich nicht entlassen, Meister. Das hast du schon dreiundzwanzigeinhalb Mal getan. Und ich bin immer noch da!«

»Einhalb? Ernsthaft?« Der Prinz runzelte die Stirn.

Nach Verzeihung heischend breitete Thim die Arme aus und erinnerte ihn mit wispelnder Stimme: »Das verkohlte Wildbret gestern Abend?«

Ciaran grummelte: »Ah, ja. Das arme Schwein. Von uns kann schließlich niemand kochen.«

»Eben.«

Ein Räuspern. Die Unbekannte druckste auf dem Bett herum. »Wenn ich etwas einwenden darf …«

»Ja?«, maulte Ciaran unleidlich.

»Ich kann kochen.«

Thim frohlockte: »Helias Gnade!«

»Also, denke ich.« Sie wich dem feurigen Blick des Prinzen aus und strich sich eine lose Strähne ihrer braunen Haare hinters Ohr. »Ich kann mich nicht wirklich an etwas erinnern. Aber … ich glaube, so ein Wildbret würde ich hinbekommen.«

»Und Gans? Wie sieht es mit einer Gans aus?« Ciaran wandte sich wieder Thim zu. »Wo hast du das Federvieh überhaupt gelassen?«

»Oh, ich habe ihr ein gemütliches Bett im Thronsaal vorbereitet, ihren Flügel bandagiert und die Kopfwunde gesäubert. Und dann …«, begann sein Freund mit den Fingern zu zählen.

»Wo ist die Gans?«, unterbrach Ciaran den Redeschwall. »Ich erwarte nicht die ganze Krankengeschichte. Nur eine Antwort auf meine Frage.«

»Sie ist weg.«

Ciaran erwartete, dass Thim weiter plauderte, aber der Troubadour zuckte mit den Schultern.

»Weg?«, hakte der Prinz ungeduldig nach.

»Ja! Sie lag eben nicht mehr in ihrem Bettchen, also wollte ich dich um Hilfe beim Suchen bitten. Und da hörte ich deinen Schrei.« Als hätte er sich gerade daran erinnert, trat Thim näher und legte ihm besorgt eine Hand auf den Oberarm. »Ist alles in Ordnung, Meister?«

Ciaran streifte die Hand grob zur Seite. »Das siehst du doch! Sieht das etwa nach Ordnung aus?«

Mit einer ausholenden Geste deutete er auf das Chaos in seinem Schlafzimmer, die verkohlten Wände, die Wasserpfützen und den nackten Eindringling.

»Oh!« Wieder blinzelte der Barde, als hätte ihn der Blitz getroffen.

Ciaran warf Thim einen Blick zu, der töten könnte.

Der Barde hatte allerdings nur Augen für die Fremde. »Bist du das, Hazel?«, fragte er verdattert.

»Die Gans?«, wunderte sich Ciaran ungläubig.

»Schau doch mal. Ihr Arm, der Kopf.«

Thims Ausruf brachte ihn dazu, die Fremde genauer zu betrachten. Sie hatte ein kleines, rundes Gesicht mit Stupsnase, Rehaugen und einem vollen Mund, dessen Lippen vor Nervosität zitterten. Tatsächlich ragte ein Stück Verband zwischen den braunen Haaren hervor und auch der muskulöse Arm war nicht etwa von der Decke bedeckt, sondern von weißen Leinenbandagen.

»Du bist wahrlich eine verzauberte Prinzessin, Hazel!«

»H-Hazel?« Sie deutete verwirrt auf sich selbst. »Meinst du mich damit? Ist das mein Name?«

»Ja, du bist es!« Thim klatschte erfreut in die Hände.

Die Unbekannte schloss benommen die Augen und hielt sich die Stirn. »Ich kann mich nicht erinnern. Mein Kopf tut so weh. Und mir ist etwas übel.«

Ciaran betrachtete sie misstrauisch. Eine Gans, die sich in eine Frau verwandelte – und offenbar eine Gehirnerschütterung davongetragen hatte? Was für ein Theater veranstaltete Thim nun wieder, um ihn zu einem Abenteuer zu überreden?

Genau diese Vermutung sprach er gleich laut aus. »Was hast du angestellt?«

»Das habe ich mir nicht ausgedacht, Meister!«, wehrte sich Thim. »Das war ich nicht, ich schwör’s.«

»Mir egal«, murrte Ciaran und wandte ihm demonstrativ den Rücken zu. »Du wirst dich sogleich um unseren vergesslichen Gast kümmern, verstanden? Ob Gans oder Mensch, sie soll sich was anziehen und zeigen, ob sie tatsächlich kochen kann. Und jetzt raus hier!«

Thim nickte eifrig, half der Fremden, aufzustehen und sich mit dem Laken ganz zu bedecken, ehe beide eingeschüchtert lächelnd und rückwärts aus der Tür taumelten.

Ciaran machte sich nicht einmal die Mühe, eben selbige hinter ihnen zuzuschlagen. Stattdessen sank er auf den Sessel und betrachtete die Spuren des Feuers. Ein Zittern jagte durch seine Beine, das er kaum unterdrücken konnte, ergriff seinen ganzen Körper und schüttelte ihn vor Furcht.

Es war wieder passiert. Wieder waren die Flammen in seiner Gegenwart aufgelodert und hatten beinahe einen wichtigen Menschen in seinem Leben verbrannt.

Nur jetzt war Ciaran keine sechs Jahre alt mehr. Und nur diesem Umstand war es zu verdanken, dass dieses Mal niemand den Preis für Ciarans Fluch hatte zahlen müssen.

Kapitel 3 - Die schwarze Kutsche

Thim

 

Hazel sah selbst in Thims ausgeliehenem Leinengewand wie eine Prinzessin aus. Ihre dunkle Haut schimmerte golden unter dem weißen Obergewand hervor. Leuchtend braunes Haar wogte in Wellen über ihren Rücken, die Hände strichen voller Grazie die Butter an der Schürze ab und selbst die nachdenklich in Falten gelegte Stirn war einer Ballade würdig.

Wenn nur seine Laute nicht so verkohlt wäre.

Seufzend fuhr Thim über das Holz und zog mit aufkeimender Hoffnung die losen Saiten an.

Der Widerhall klang dumpf, der Schallkörper war beschädigt, aber zumindest schienen die Töne nicht allzu falsch.

Mit seiner Stimme würde er vieles überdecken. Solange er den Akkord anschlug und ansonsten auf sein natürliches Organ setzte, würde das bestimmt niemand merken.

Ciaran hasste ohnehin alles, was er sang. Also musste er sich um die Qualität auch keine Sorgen machen.

»Das klingt schön«, meinte Hazel und lächelte.

Thims Herz wurde warm. »Ach, Kindchen. Das ist lieb von dir.« Er lächelte zurück. »Wir wissen doch beide, dass ich damit keine Wunder mehr vollbringen kann.«

»Nun, für ein wenig Unterhaltung wird es wohl reichen. Und schließlich koche ich schlicht eine Suppe. Da braucht es keine Posaunen und Fanfaren.« Kerzenschein schimmerte in ihren braunen Iriden wie Sternensplitter, als sie die Theke mit einem Lappen abwischte. Wahrlich eine Prinzessin im Kostüm einer Magd.

»Ha!«, rief Thim aus. »Ich mag dich jetzt schon, kleine Gans.«

»Warum nennst du mich so? Gans?« Stirnrunzelnd wandte sich Hazel zu ihm um.

Thim deutete auf das Häufchen Decken in der Ecke der Küche, wo vereinzelte Gänsefedern lagen. »Weil ich dich vor wenigen Stunden hier verarztet habe – und da warst du noch ziemlich flauschig.«

Hazel fasste sich ins Gesicht, so als würde sie seine Worte nicht ganz glauben. »Wie ist das möglich? Ich bin doch … ein Mensch?«

»Erinnerst du dich an gar nichts?«

Die Fremde begann, ein paar krumme Karotten aus den Vorratskästen herauszuziehen und mit der Bürste in einem Wasserbottich zu schrubben.

Sie schien nachzudenken.

Erst nach einer Weile und ziemlich vielen sauberen Rüben meinte sie: »Wind. Und da war dieser Fels. Aber ansonsten, nein. Ich erinnere mich überhaupt nicht. Muss wohl vom Sturz sein.«

Thim nickte verständnisvoll. »Die Erinnerung kommt bestimmt wieder und dann kannst du mir von all den Geheimnissen aus Islirith berichten.«

Hazel zuckte zusammen.

Thim sah es, ließ sich nichts anmerken und plapperte weiter: »Es muss wunderschön sein, im Land der Magie. Wo Schweine fliegen und die Toten zum Frühstück mit ihren Liebsten speisen. Habt ihr wirklich zwei Monde dort?«

Sie lachte. »Niemals! Solch ein Land gibt es nicht.«

»Doch, doch! Du musst dich erinnern.«

»Gänse haben nicht sonderlich große Gehirne, oder?«, gab Hazel zu bedenken und machte sich daran, die Karotten in gleichmäßig große Scheiben zu schneiden. »Allzu viele Erinnerungen kann ich wohl nicht haben.«

»Nicht, wenn du eine Gestaltwandlerin bist.«

Sie zog die Augenbraue zweifelnd in die Höhe. »Du hast eine blühende Fantasie. Thim – oder?«

»Ich bin Troubadour, werte Dame. Blühende Fantasie ist unerlässlich bei meiner Profession.«

»Und angekokelte Lauten!«

»Und magische Begleiter!«, gab er unumwunden zurück.

»Du glaubst also wirklich, ich sei so was wie eine Zauberin?« Sie stemmte die Hände herausfordernd in die Hüften. »Sag mir, Herr Troubadour, warum kann ich mich dann nicht einfach zurück in eine Gans verwandeln?«

Das war tatsächlich ein interessantes Argument.

»Kannst du nicht?«

»Ich wüsste nicht wie.«

Sie nahm einen Topf, schüttete frisches Wasser hinein, platzierte ihn auf dem Feuer und schickte die Karotten mit einer eleganten Bewegung gleich hinterher.

»Und ich vermute, das könnte ich als Gestaltwandlerin, oder? Außerdem …« Sie klaubte ein paar Zwiebelschalen zusammen, die lose auf der Küchenzeile herumlagen, und warf sie ebenfalls in die Suppe. »Wenn ich meine Gestalt wandeln könnte, würde ich bestimmt nicht eine Gans wählen. Ein Schwan wäre viel passender! Oder ein majestätischer Hirsch. Ein flinker Falke!«

Thim konnte sich Hazel nur zu gut als Schwan vorstellen. Sie erinnerte ihn an dieses Märchen mit der Schwanenprinzessin. Doch die Realität war oft weitaus weniger schillernd.

»Bloß wählt man sich sein Tier nicht aus. Man wird mit seinem Gestalttier geboren«, klärte der Barde auf.

Sie sah ihn kritisch an. »Du scheinst ganz viel zu wissen über dieses Isli… Dingsbums. Und über Zauberer.«

»Islirith. Und ja. Ich habe alles gelesen, was es über das Land der Magie zu lesen gab. Und das ist in Hinia – bei Helias Schleier – traurig wenig, ich schwör’s.«

»Warum das?«

Thim spürte ihre Neugier beinahe körperlich im Raum schweben. Allzu gerne erfüllte er ihr den Wunsch und holte weit aus: »Hinia ist das Königreich der Ordnung. Alles geht in geregelten Bahnen, so wie die Gestirnsgöttin Helia es sich wünscht.«

»Das heißt?«

Sein Gegenüber strich sich nervös mit den Daumen über die Innenflächen der Hand. Flackerte da so etwas wie Angst in ihren Augen?

»Magie hat in Hinia keinen Platz«, begann der Barde die Glaubenssätze seines Reiches herunterzuleiern und achtete dabei auf Hazels Reaktion. »Magie ist unkontrolliert, zerstörerisch, eigenwillig. Zu gefährlich für die Schützlinge der großen Göttin.«

Die Köchin in spe antwortete schnell. »Klingt … ziemlich langweilig.«

Enttäuscht biss sich Thim in die Unterlippe. Die Fremde ließ sich nicht in die Karten schauen. Wäre sie eine Spionin, hätte sie seine Worte sicherlich bekräftigt. Oder etwa nicht?

Er legte sogleich sein strahlendes Lächeln auf, als er bemerkte, wie sie ihn ebenfalls beobachtete.

»Ha!«, jauchzte er, um die Oberhand zurückzugewinnen. »Und deshalb bist du bestimmt nicht von hier, kleine Gans. Ich wusste es.«

Hazel ignorierte ihn. »Haben wir was anderes als Karotten?«

»Warum hilfst du uns und läufst nicht schreiend weg?«, fragte er endlich, was ihm längst auf der Zunge lag.

»Also nur Karotten.« Sie winkte ab. »Schreiend weglaufen bringt mir nichts. Wohin sollte ich denn gehen?«

Sie sagte es so nüchtern, dass Thims Anspannung ein wenig nachließ. Sie schien tatsächlich nichts Böses im Schilde zu führen.

Folglich war sie doch eine verwunschene Prinzessin, die es zu retten galt! Oder eine verhexte Magd? Welche Prinzessin konnte denn kochen und trug Schwielen an den Finger, als hätte sie ihr Leben lang Kartoffeln geschält?

Erleichtert erklärte Thim: »Dort in der Kiste hinten, ja, da hinten, dort …«

»Gefunden!« Triumphierend streckte Hazel einen vertrockneten Sellerie in die Höhe. »Uuhhh. Und Kartoffeln, herrlich!« Sie grub tiefer in der Kiste und beförderte einen schwarzen Umschlag hervor. »Was ist das?«

In zwei Schritten war Thim bei ihr und riss ihr den Brief aus der Hand. »Nichts für dich, Hazel. Das ist nur Post an Ciaran.«

»Aha. In einer Gemüsekiste?«

Thim presste den Umschlag fester an sich und ließ ihn möglichst unauffällig in die Brusttasche gleiten.

»Die Briefe werden mit der wöchentlichen Vorratslieferung aus der Hauptstadt mitgeliefert. Aber weil sie meist nichts Gutes bedeuten, liest Ciaran sie nicht mehr.«

Besonders die letzten achtunddreißig Nachrichten hätten Ciaran die Haare zu Berge stehen lassen.

Im Gegensatz zu seinem Meister wusste der Troubadour allzu gut, welche Art Zeilen Königin Menefer ihrem in Ungnade gefallenen Bruder schrieb.

Aber Thim machte keine Anstalten, den Prinzen vorzuwarnen. Schließlich versprach das Ganze ein riesiges Abenteuer zu werden.

Hazel betrachtete die Sellerieknolle eingehend und erkundigte sich beiläufig: »Ist er eigentlich immer so? So griesgrämig?«

»An seinen besten Tagen immer.«

»Dann will ich ihn nicht an den schlechten erleben.«

In Thim kam der Beschützerinstinkt für seinen ältesten – und einzigen – Freund auf. »Er ist nicht so schlimm, wie es vielleicht im ersten Moment wirkt. Ciaran hat ein gutes Herz. Es ist nur in ganz viel Schmerz verpackt.«

Hazel hob die Augenbrauen. »Und du wirst mir die ganze Geschichte natürlich erzählen, richtig?«

»Ich habe sogar ein Lied darüber komponiert. Willst du es hören?«

Bevor Hazel bejahen konnte, stand der Leibhaftige plötzlich in der Tür, den dicken grauen Mantel um seine Fußknöchel wehend, das Gesicht schnuppernd in die Küche gestreckt.

»Das riecht gut«, befand Ciaran und schien nicht zu merken, wie Thim und Hazel auf frischer Tat ertappt zusammenzuckten. »Die Gans kann wohl doch kochen.«

»Hazel. Mein Name ist Hazel«, erinnerte sie.

»Gut. Hazel. Ich warte im Thronsaal. Beeilt euch.«

Und mit rauschenden Gewändern war er wieder in der Dunkelheit von Helmhaim verschwunden.

Thim wunderte sich. »Ciaran hat auf einmal Appetit? Du musst wirklich eine gute Köchin sein.«

»Danke schön.« Sie lächelte stolz. »Aber noch kann man das hier niemandem vorsetzen. Pack mal mit an.«

Sie drückte ihm die Sellerie an die Brust und machte sich daran, die Kartoffeln zu schälen.

»Vielleicht bin ich ja Wirtin. Oder habe einen fahrenden Speisewagen, mit dem ich die Welt entdecke«, sinnierte Hazel vor sich hin.

Die Vorstellung gefiel Thim. In seinen Gedanken flocht sich bereits eine neue Abenteuerhymne zusammen.

»Vermutlich hast du einem König deine Suppe serviert und er war so begeistert, dass er dich zu seiner Hofköchin ernennen wollte.«

»Aber weil ich lieber bei meinem Wagen und meiner Suppe blieb, hat mich sein Hofzauberer in eine Gans verwandelt«, beendete sie seinen Satz.

Thim lachte wohlwollend. »Du bist eher eine Geschichtenerzählerin – so wie ich.«

Vor lauter Plaudern achtete Thim kaum auf etwas anderes als auf Hazels geübte und mit Schwielen überzogene Hände und ihr vor Schalk leuchtendes Gesicht.

So fuhr er heftig zusammen, als es plötzlich lautstark gegen das Tor polterte.

»Was war das?« Furcht zitterte in Hazels Stimme.

Der Barde schluckte leer. »Es ist längst dunkel geworden. Und hierher kommt auch tagsüber niemand.«

»Ein verirrter Reisender?«, mutmaßte seine neu gewonnene Freundin.

Der Brief in seiner Brieftasche wog auf einmal Zentner.

Eine ungute Vorahnung kitzelte über seinen Nacken. Jetzt war das Abenteuer tatsächlich da und klopfte an ihr Tor.

Thim war sich auf einmal nicht mehr so sicher, ob er sich darüber freuen sollte.

»Was war das?« Ciaran streckte erneut den Kopf in die Küche. Er klang genervt.

»Das Tor. Jemand klopft ans Tor«, erklärte Hazel. »Sollten wir nicht nachsehen und öffnen?«

Ciaran schaute Thim stumm an und erwartete wohl, dass er voller Abenteuerlust losstürmen würde.

Doch als Thim ebenso schweigend zurückstarrte, weckte dies das Misstrauen des Prinzen.

»Was hast du wieder angestellt, Barde?«, knurrte er.

»Nichts. Ich schwör’s!«

Erneut hämmerte es gegen die schweren Holzbalken des Helmhaimer Tors. Dringlicher dieses Mal.

»Thim!«, drohte Ciaran. »Du gehst voran und öffnest das Tor. Und falls du eine Rotte Banditen eingeladen hast oder einem Halunken Spielgeld schuldest: Ich bin nicht zugegen!«

Kleinlaut zog der Barde den Kopf ein und murrte: »Ich glaube, du solltest mitkommen.«

»Aha. Glaubst du also.« Ciarans Blick starrte ihn zu Tode. »Was. Hast. Du. Angestellt!«

»Oh.« Hazels Augen vergrößerten sich. »Die Briefe! Hat der Besuch etwas mit den Briefen zu tun?«

Welch Verrat! Thim presste die Lippen aufeinander und funkelte seine vermeintliche Freundin panisch an.

»Welche Briefe?«, horchte der Prinz auf.

Obwohl es keine Rettung mehr gab, stellte sich der Troubadour dumm. »Briefe? Hat jemand was von Briefen gesagt?«

»Du. Jetzt. Aufmachen!«, schrie Ciaran ihn an, das Gesicht vom auflodernden Feuer der Kochstelle erhellt.

Thim streckte die Schultern durch, stellte sich seinem Schicksal und ging vor.

Hazel folgte ihm neugierig.

Ciarans Schatten konnte er nur aus den Augenwinkeln ausmachen. Trotzdem blieb der Prinz in der Nähe.

Selbst ihn als größten Griesgram von ganz Hinia schienen das Klopfen und der damit verbundene unerwartete Besuch nicht kaltzulassen.

Während das ungleiche Dreiergespann durch den schlecht von Fackeln beleuchteten Gang huschte, polterte es erneut gegen die Tür. Bis sie das Torhaus erreichten, war das Klopfen schon zu einem frenetischen Trommeln geworden, so laut, als würde eine Herde Rentiere gegen Helmhaim anrennen.

Vor dem stählernen Tor angekommen, atmete Thim tief durch, schob den Riegel der Sichtklappe zur Seite und sah nach draußen.

Eine eiserne Faust hing nur einen Hauch vor seinem Gesicht entfernt in der Luft und war zur Unbeweglichkeit erstarrt.

Räuspernd wollte Thim wissen: »W-wer ist da?«

Die Faust sank herab und gab die Sicht auf eine schwarze Metallkutsche frei, deren Umrisse in der bitterdunklen Nacht kaum auszumachen waren. Doch die Flagge, die vorn am Kutschbock flatterte, war eindeutig zu erkennen. Die gelbe, alles erleuchtende Sonne Helias strahlte auf grauem Grund. Es war das Wappen der Königin von Hinia. Menefer Whitehart.

»Ihre Majestät verlangt, dass Ciaran Whitehart endlich seiner Pflicht nachkommt und ihren Befehlen Folge leistet«, blaffte der schwarz gerüstete Gardist und trat einen Schritt zurück. Thim konnte die boshaften kleinen Augen des Mannes hinter dem Helmschlitz erspähen.

Menefer hatte wohl den biestigsten ihrer Schoßhunde losgelassen.

Vom Scheitel bis zur Schuhsohle in Pechstahl gerüstet, verbreiteten allein der Anblick der königlichen Gardisten Angst und Schrecken.

Das Monstrum, das sich nun vor ihrem Tor auftürmte, war mindestens einen Kopf größer als jedes menschliche Wesen, das der Barde je zu Gesicht bekommen hatte.

Und wenn ihn seine Wahrnehmung nicht täuschte, dann hatte er eben bei der Kutsche keine Pferde gesehen.

An sich war das nicht ungewöhnlich. Die königliche Stadt Meerfall, wo Menefer residierte, war von hohem Gebirge umzäunt. Abgesehen von Packeseln nutzten die Gardisten höchst selten Pferde, um ins Inland des Reiches zu gelangen, weil Reittiere nur schlecht mit den steilen Wegen entlang der Königskron zurechtkamen.

Der Barde hatte von einem einzigen Fall in der Geschichte Hinias gelesen, als neun Gardisten eine Kutsche über die Gipfel gezogen hatten, um den schwer erkrankten König Ugbert nach Meerfall zurückzubringen.

Hatte Menefer dasselbe mit Ciaran vor?

Zog der Gardist etwa das Gefährt ganz allein?

Ungeduldig verengte der Soldat die Augen zu Schlitzen, was den Barden daran erinnerte, dass er ihm noch eine Antwort schuldig blieb.

»N-natürlich«, stotterte Thim leicht eingeschüchtert. »Einen Moment, bitte.«

Er schob den Riegel wieder zu, weil ihm auf die Schnelle nichts Besseres einfiel.

Das Poltern setzte erneut ein, als der Gardist erneut seine Faust gegen das Tor krachen ließ.

Hilflos sah sich Thim nach Ciaran um.

Dessen Gesichtsfarbe wechselte zwischen Krebsrot und Totenblässe. Als er sich offensichtlich für Pudergelb entschieden hatte, streckte der Prinz fordernd die Hand aus.

»Die Briefe. Her damit«, fügte er an, als Thim nicht sofort verstand.

Wie ein geschlagener Hund gab der Troubadour nach und zog den Umschlag hervor.

Ciaran riss ihm den Brief aus der Hand und stöhnte leise, kaum dass er ihn geöffnet hatte. Auch er hatte Menefers Handschrift sofort erkannt.

»Warum? Warum hast du mir das verschwiegen?« Enttäuschung und Wut schwangen in seiner Stimme.

»Es tut mir leid«, murmelte Thim. »Ich dachte …«

Die Wahrheit konnte er Ciaran nicht gestehen. Er wusste, wie Menefers Befehl Ciarans Leid vergrößerte. Egal, wann sein Meister davon erfuhr.

Also hatte er gehofft, dass es niemals sein würde. Und sich auf wundersame Art doch eine magische Rettung auftat – die sich am besten mit einem echten Abenteuer verknüpfen ließ.

»Du wolltest ein Abenteuer, richtig? Auf meine Kosten!« Ciaran knüllte den Brief zusammen und warf ihn Thim vor die Füße. »Du … Ich bin durch mit dir.«

Halbherzig brachte Thim heraus: »Du kannst mich nicht entlassen …«

Der Witz schien nicht zu wirken.

Ciarans Wut loderte in seinen verschiedenfarbigen Iriden auf.

Dieses Mal hatte Thim seinen Freund aufrichtig enttäuscht.

»Was ist jetzt?«, schaltete sich Hazel ein. »Was will der Mann da draußen?«

»Mich abholen«, knirschte Ciaran zwischen den Zähnen hervor. »Ich soll in den Krieg ziehen und Rowe aufhalten.«

»D-Denzell Rowe?«, flüsterte Hazel.

»Du kennst seinen Namen?«, wunderte sich Thim.

Sie zuckte zusammen und hielt sich stöhnend die Stirn. »Ich weiß nicht. Ich … mein Kopf. Vielleicht habe ich den Namen schon mal irgendwo gehört.«

»Er ist der Heerführer Isliriths und versucht seit Jahren, Hinias Grenzen zu überschreiten«, erklärte Ciaran. »Aber das ist Menefers Problem. Nicht meines.«

»Offenbar nun doch«, gab Hazel zu bedenken.

»Meine Schwester braucht bloß einen Sündenbock, falls ihre Streitkräfte scheitern.« Der Prinz strich sich nachdenklich über die linke Augenbraue. »Dass sie mich nun ruft, bedeutet, Rowe wird bald einen größeren Sieg zu verzeichnen haben.«

Thim hätte ihm zu gerne widersprochen. Allerdings sagte Ciaran die Wahrheit. Menefer überließ ihrem Bruder bestimmt nicht aus Mitleid eine wichtige Aufgabe. Da steckte mehr dahinter.

Thim fühlte sich getäuscht und wie der größte Dummkopf Hinias. Warum hatte er ihre Beweggründe nicht sofort erkannt?

All die achtunddreißig Briefe lang war ihm nie auch nur der Gedanke gekommen, dass Ciaran seinen Kopf hinhalten sollte.

Sein Meister hatte bloß wenige Zeilen gelesen, um Menefers wahren Ziele zu durchschauen.

»Und was machen wir nun?«, flüsterte der Barde beschämt.

Ciaran räusperte sich und fasste einen Entschluss. »Wie ich bereits sagte«, verkündete er mit fester Stimme, »das ist Menefers Problem. Nicht meines.«

»Das sieht der da draußen ganz anders«, gab Thim zu bedenken und deutete auf das Tor, das unter den Hieben der Panzerfaust bedrohlich knirschte.

»Ich könnte ihn mit meiner Suppe bestechen«, wandte Hazel ein.

Ciaran schien die Idee für einen Moment sogar in Erwägung zu ziehen, dann schüttelte er den Kopf. »Lasst ihn draußen stehen. Nein, noch besser. Lasst ihn rein.«

»Wie jetzt?« Thim blinzelte verwirrt. »Rein oder raus?«

»Holt ihn rein, gebt ihm einen Teller Suppe und sorgt dafür, dass er keinen Ärger anstellt. Sagt ihm, ich mache mich bereit für die lange Reise. Dann …«

»Ja?« Thim gefiel der Plan schon jetzt nicht.

»Ich lasse mir etwas einfallen. Vertraut mir.«

Kapitel 4 - Flucht nach vorn

Ciaran

 

Thim und Hazel brachten den Gardisten dazu, sich im Thronsaal ein improvisiertes Lager einzurichten, indem sie versprachen, dass der Prinz gleich im Morgengrauen mit ihm reisen würde.

Doch Ciaran hatte nicht vor, dem Befehl seiner Schwester zu folgen. Er hatte nicht einmal vor, sich in seinem Turmzimmer zu verschanzen.

Nein.

Dieses Mal gab es nur noch die Flucht nach vorn. Und damit dies gelang, durfte er niemanden einweihen.

Thim schien nicht misstrauisch zu werden, als er sich in sein Turmzimmer zurückzog.

Statt wieder zurück ins Bett zu kriechen, schälte sich Ciaran aus der dunklen Robe und schnappte sich eine bequeme Hose und ein einigermaßen sauberes Hemd aus dem Wäschestapel.

Eilig packte er die nötigsten Sachen in einen Rucksack, den er sich in der Küche geistesgegenwärtig unter seinen Mantel gesteckt hatte.

Viel gab es nicht, was er mitzunehmen brauchte. Nichts, das ihn an glücklichere Tage erinnerte. Kein emotionales Geschenk, nichts von wirklichem Wert. Ein paar Ersatzkleider, den Feuerstein vom Kamin, sein Schwert, das er seit Jahren nicht mehr in der Hand gehalten hatte. Und ein zweites Paar Schuhe würde bei dem Wetter sicherlich nicht schaden. Ciaran schnürte sich alles auf den Rücken, zog die Kapuze tiefer in die Stirn.

Als er die Tür öffnete und ihm der Duft von Hazels Suppe entgegenschwappte, bereute er zum ersten Mal, nicht mehr Zeit mit den beiden Idioten verbringen zu können.

Der Schlagabtausch heute Abend hatte seine Lebensgeister geweckt – etwas, das dem Prinzen seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr passiert war.

Doch für Sentimentalitäten war keine Zeit.

Gerade war Thim ohne seinen Meister um einiges besser dran.

Ciaran wagte sich nicht einmal auszumalen, wie Menefer vor Wut tobte, sobald sie von seiner Flucht erfuhr.

Ein schrecklicher Gedanke wogte in ihm hoch, als er die Tür hinter sich zuzuziehen gedachte. Der Prinz verharrte mitten in der Bewegung.

Würde seine Schwester Thim etwas antun, um Ciaran ihrem Willen zu unterwerfen?

»Verflucht«, entwich es ihm leise.

Genau das war seiner perfiden Schwester zuzutrauen.

Er durfte seinen Freund auf keinen Fall den Launen der Königin ausliefern. Doch sich einfach seinem Schicksal zu ergeben, dazu fehlte ihm die Kraft.

In seinem Kopf bildete sich ein Plan.

Er musste dafür sorgen, dass ihn niemand suchte.

Egal wer.

Auf der Stelle machte er kehrt, holte den Feuerstein erneut hervor und warf seinen Mantel von den Schultern.

Schade drum. Aber sicher war sicher.

Seufzend kniete er sich neben den Kamin und schlug die beiden Steinseiten aufeinander, bis die ersten Funken stoben. Dann schob er seinen Mantel gefährlich nahe an die Flammen heran.

Während das Feuer knisternd an Größe gewann, suchte Ciaran in den Schränken nach einem halbwegs brauchbaren Ersatz und fand eine Regenpelerine, die zwar nicht wärmte, aber wenigstens trocken hielt.

Er hatte sich den Rucksack gerade rechtzeitig wieder umgeschnallt, als die Flammen am Mantelsaum emporleckten.

Rasch zog er die Vorhänge auf. Knarzend kam das verschlossene Fenster zum Vorschein und Staub rieselte von der Vorhangstange auf Ciaran herab. Er öffnete das Fenster, atmete eisig brausende Meeresluft ein, die in seiner Lunge brannte, und hob den Mantel hoch. Mit einer kräftigen Schwenkbewegung warf der den Stoff nach draußen und sah zu, wie qualmende Rauchsäulen mit ihm in die Tiefe sanken und irgendwo an den von Wellen umwogten Felsen aufkamen.

Falls Menefers Häscher den Mantel fanden, würden sie glauben, Ciaran sei aus Angst vor dem Feuer aus dem Turm gesprungen.

Auf keinen Fall durfte er weitere Zeit verlieren. Jetzt zählte jeder Schritt, den er zwischen sich und Helmhaim brachte, ehe der Brand auffiel.

Ciaran warf die restlichen Bettlaken in Richtung Kamin und hechtete aus dem Zimmer.

Schnell, aber so leise wie möglich schlich sich der Prinz hinunter zum versteckten Seitenausgang, durch den er und Thim erst gestern mit der verletzten Gans nach Helmhaim zurückgekehrt waren.

Ciaran hätte sich nie vorstellen können, dass er die Festung nach so kurzer Zeit ein zweites Mal verlassen würde.

Und dieses Mal sollten es nicht nur ein paar Schritte zur Küste sein. Dieses Mal war es ein Abschied für immer.

Ciaran stieg die nassen Stufen hinab und meinte, der Wind in seinem Rücken würde ihn antreiben.

Ein letztes Mal sah er zurück und erkannte das rötliche Flimmern hinter den Fenstern des Turmzimmers. Unten im Thronsaal glomm sanftes Kerzenlicht hinter den Glasfenstern.

»Leb wohl«, flüsterte Ciaran und ging mit dem Wind in die Dunkelheit davon.

 

Kaum hatte Ciaran die Klippen hinter sich gelassen, beruhigte sich das Meer, und die Wellen trieben gemächlich am Strand auf und ab. Das helle Mondlicht erleuchtete seinen Weg und das Klagelied der Möwen verschluckte seine Schritte.