Blätterrauschen, weit weg - Elaine Laurae Weolke - E-Book

Blätterrauschen, weit weg E-Book

Elaine Laurae Weolke

0,0

Beschreibung

Audrey aus Deutschland und Lionel aus Australien beginnen einen Briefwechsel. Nach einigen Treffen verlieben sie sich ineinander und schmieden Pläne für eine gemeinsame Zukunft. Jedoch gibt es einige Schwierigkeiten und unvorhergesehene Ereignisse ...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 337

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über die Autorin: Elaine Laurae Weolke ist das Pseudonym einer Autorin, die seit ihrer Jugend schreibt. Sie hat schon viele Länder besucht.

Inhaltsverzeichnis

Prolog: Heimkehr

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Erstes Buch: Ein Brieffreund in Australien

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Zweites Buch: Frisch verliebt!

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Drittes Buch: Davos

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Epilog: Reisevorbereitungen

Kapitel

Prolog: Heimkehr

1. Kapitel

Der Wind pfiff, und dicke Regentropfen klatschten auf das Rollfeld des Flughafens Frankfurt am Main. Audrey fröstelte, als sie müde über die Gangway der Maschine aus Hong Kong hinunter schritt. Wieder zurück in Deutschland. Sie seufzte. Das Wetter machte ihren Abschiedsschmerz nicht leichter – sie hatte ihren Geliebten am anderen Ende der Welt zurückgelassen: Lionel.

Die Sehnsucht nach ihm brannte unaufhörlich in ihrer Seele. Hastig schluckte sie die aufkeimenden Tränen hinunter – wie schon so oft während dieser Heimreise.

Sechs Uhr morgens in Frankfurt. Auf dem sonst belebten Flughafen war um diese Zeit wenig los. Mechanisch schritt Audrey zur Gepäckausgabe. Die ausgeladenen Koffer und Taschen fuhren auf zwei Rollbahnen wie in einem Karussell an den wartenden Passagieren vorbei. Audrey erspähte ihren schwarzen Koffer, der mit einigen bunten Aufklebern verziert war, und wuchtete ihn von der Bahn.

Eine halbe Stunde später stieg sie in den Intercity nach Stuttgart. Innerlich fühlte sie tiefe Trauer, einen tiefen inneren Schmerz. Ihr einzigartiger Urlaub in Australien war vorbei, der Alltag würde bald wieder beginnen. Ihr graute davor.

Wieder etliche Monate ohne Lionel. Wann würden sie sich wieder sehen?

Die Landschaft flog an ihr vorbei. Kirchtürme, Bauerhäuser, Wälder, Gärten. Das war Deutschland. Alles erschien so vertraut – und doch so fremd. In vier Wochen hatte sie Australien kennen gelernt und begonnen, diesen Kontinent zu lieben. Sie glaubte sogar, dort leben zu können. Australien, geheimnisvoller Kontinent. Australien, das andere Ende der Welt, etwa zwanzig Flugstunden von Frankfurt, Deutschland, entfernt.

Je südlicher der Intercity fuhr, desto mehr Sonnenschein strich über die Landschaft – über die Wälder, Felder, Städte und Dörfer. Jedoch herrschte immer noch Kälte. Was für ein ungemütliches Wetter – dabei war es schon Mai!

„Das ist der Frühling?“, dachte Audrey und strich sich eine braune Haarsträhne aus ihrer Stirne.

Das aufgeschlagene Buch, Erzählungen des australischen Autors Peter Carey in englischer Sprache, lag vor Audrey auf dem Schoß. Aber sie konnte sich nicht auf die Lektüre konzentrieren.

Ständig schweiften ihre Gedanken ab zu Lionel. Lionel, der blonde, schlaksige Australier, der es geschafft hatte, ihre Gefühle wach zu küssen. Lionel, der ihrem Dasein einen neuen Sinn gegeben hatte.

Lionel...

2. Kapitel

Lionel Norton war handwerklich nicht begabt. Auch wenn sein Großvater einer der besten Schreiner Sydneys gewesen war. Schon, wenn Lionel versuchte, ein Bild aufzuhängen, gab es Probleme. Meistens traf er zuerst seinen Finger und nicht den Nagel. Und dann entrang sich seiner Kehle stets ein heiseres Krächzen oder das Jammern, das an einen Esel auf den griechischen Inseln erinnerte.

Trotzdem litt der schlanke Australier nie an Langeweile. Sein Leben bestand aus einem mehr oder weniger interessanten Job auf einem Zollamt, Sport und Fernsehen. Am Wochenende besuchte er mit Vorliebe Popkonzerte in irgendeinem der zahlreichen Stadtteile Sydneys. Oder er traf sich mit Freunden in einer Kneipe auf ein Glas Bier. Die Australier lieben Bier – und Lionel machte da keine Ausnahme.

An diesem Abend fläzte er sich auf das dezent gemusterte Sofa im Wohnzimmer seines Elternhauses und drückte lässig auf einen Knopf der Fernbedienung des Farbfernsehgerätes. Ein kurzes Flimmern, und Lionel befand sich mittendrin in den Nachrichten des australischen Fernsehkanals ABC. Im Bundesstaat Queensland plante man, Kohleminen zu schließen, und Männer, die um ihre Arbeitsplätze bangten, zogen protestierend durch die Straßen. In Neuseeland war eine Aussichtsplattform aus heiterem Himmel in die Tiefe gestürzt: drei Tote. Premierminister Keating plante eine Steuererhöhung für Australien.

Irgendwie war Lionel nicht ganz bei der Sache. Die Nachrichten rasten an ihm vorbei. Nervös strich er sich über sein blondes gewelltes Haar. Naturlocken – und er war stolz darauf. Immerhin ersparte ihm dieses „Geschenk“ der Natur manch teueren Friseurbesuch.

Lionel dachte an Audrey und sah auf die Uhr. 19 Uhr am 18. Mai 1995. Gestern Morgen hatte er Audrey zum Flughafen nach Sydney gebracht. Sicherlich war sie bereits von ihrer aufregenden Reise aus Australien zurückgekehrt und saß alleine in ihrer Zweizimmerwohnung im Süden Deutschlands – voller neuer Eindrücke, voller Sehnsucht und voller Tränen.

Gedankenverloren befühlte Lionel seine Bartstoppeln. Verdammt – warum hatte er, der Junggeselle aus Leidenschaft, – sich im reifen Alter von immerhin 36 Jahren noch Hals über Kopf in eine Deutsche verliebt?

Vor zwei Jahren hatte alles begonnen. Und Lionel liebte Audrey immer noch, auch wenn stets zwanzig Flugstunden, acht bis zehn Stunden Zeitunterschied und lange Monate zwischen einem Wiedersehen lagen.

Lionel kam nicht los von dieser Frau. Seine Gefühle waren außer Kontrolle geraten. Und das ärgerte und verwirrte ihn gleichzeitig.

Hastig schaltete er den Fernseher aus und schlurfte über den blitzblank gebohnerten Steinfußboden in die Küche. Sein Magen knurrte. Im Eisschrank fand er einen Rest Gulaschsuppe von gestern und stellte den Topf auf den Gasherd.

Die Liebe begann, ihn allmählich zu zermürben. Warum musste Audrey auch am anderen Ende der Welt leben? Irgendetwas musste er unternehmen. Aber was?

3. Kapitel

Isabella von Schlichting strich sich die zerrauften aschblonden Haare aus der Stirne und setzte ihre Goldrandbrille zurecht. Dieser Rambo Ramon Rainer war wirklich ein Wildfang! Mit sieben Jahren zeigte ihr Sohn ihr immer noch kleinkindhafte Züge, gackerte und schrie. Aber Isabella wollte nicht klagen, hatte sie doch selbst ein Lachen, das an eine kranke Ziege nach dem Genuss von Chrystal Meth erinnerte. Ein Kind war ihr Traum gewesen, etwas, das ihrem Leben erst einen Sinn verlieh. Jetzt hatte sie sogar zwei. Es machte großen Spaß, ihre beiden Jungs groß zu ziehen.

Sie schaute auf ihre bunte Swatch-Armbanduhr. Elf Uhr. Jetzt müsste eigentlich bereits der Briefträger die Post abgeliefert haben! Rasch öffnete sie die Haustüre und schritt zum Briefkasten, während Rambo Ramon Rainer hinter ihr her weinte.

„Ja, Rambo Ramon Rainer, die Mami kommt doch gleich wieder!“, versuchte sie, ihren Sohn mit sanfter Stimme zu beruhigen. „Ich möchte nur nachsehen, ob Post da ist!“

Sie zog einige Werbebriefe aus dem Kasten und eine Postkarte ihrer Schwester Sabine.

„Leider können wir am Wochenende nicht zu euch kommen“, schrieb sie. „Elke leidet an einer Virusgrippe.“

‚Schade! Aber da kann man nichts machen!’, dachte Isabella. Im Garten gab es genug zu tun. So würde sie eben die Beete umgraben und Gemüse pflanzen.

Wieder griff sie in den Briefkasten. Hatte sie wirklich alle Post herausgeholt? Steckte nicht noch eine Nachricht ihres Tratschvereins, der sich nach außen hin den harmlosen Namen „Hausbibelkreis“ gab, darin? Also eine Botschaft ihrer Freunde Huri, Gröli, Blödi oder Doofi? Irgendeine Nachricht, die sie wieder benötigte, um dem hiesigen Dorftratsch Nahrung zu geben?

Offensichtlich nicht. Der Briefkasten war leer.

Ob Audrey unterdessen aus Australien zurückgekehrt war? Hatte sich vielleicht etwas Neues zwischen ihr und Lionel ergeben?

Isabella würde es heute jedenfalls wieder nicht erfahren. Obwohl sie doch so schrecklich neugierig war und gerne Gerüchte sowie Klatsch und Tratsch in die Welt setzte, um sich bei anderen wichtig zu machen! Isabella und ihr Tratschverein traten nach außen hin als „Hausbibelkreis“ auf. Das klang so kirchlich und christlich – und unverdächtig. Und unter diesem christlichen Deckmantel konnte man nach Herzenslust Informationen über andere Personen stehlen und hinter deren Rücken über sie herziehen. Außerdem waren Isabella und ihr Tratschverein absolut ausländerfeindlich eingestellt. Deswegen hoffte und wünschte Isabella, dass Audrey sich diese hoffnungslose Liebschaft zu einem Australier endlich aus dem Kopf geschlagen hatte! Ein Australier! Was für ein Unsinn! Für ausländerfeindlich Gesinnte gab es keine Liebschaften zwischen Deutschen und Ausländern!

Ein bisschen verrückt war Audrey immer schon gewesen, dachte Isabella, aber die Liebe zu einem Australier setzte allem die Krone auf. Warum suchte sie sich keinen Freund aus Deutschland? Was bildete sie sich überhaupt ein – einmal nach Australien auszuwandern? Audrey würde Isabella sehr fehlen – wirklich sehr... Denn was würde Isabella, reiche Fabrikantengattin, ohne Audrey und ihre Neuigkeiten machen, die sie – Isabella – in der Welt herumtratschen konnte, um sich bei anderen Menschen wichtig zu machen?

Erst kürzlich hatte Isabella einen Brief erhalten, in dem eine Freundin schilderte, welche negativen Erfahrungen sie mit einem Australier gemacht hatte. War es deshalb nicht ihre – also Isabellas – Pflicht, diese Liebe zwischen Audrey und Lionel zu verhindern?

Hieß es nicht immer: „Bleibe im Lande und nähre dich redlich?“ Audrey sollte sich diesen Grundsatz einhämmern, fand Isabella. Denn sie gehörte nach Deutschland. Wann begriff sie das endlich? Isabella lächelte grimmig. Sie würde Audrey und Lionel die Suppe kräftig versalzen!

Einen Erfolg konnte Isabella bereits verbuchen: Sie hatte Audreys Leben ein wenig durcheinander gewirbelt.

Aber sie war mit ihrer Fantasie, mit ihren Ideen noch lange nicht am Ende.

Erstes Buch: Ein Brieffreund in Australien

1. Kapitel

Eines Samstagmorgens im Mai 1986 blätterte Lionel Norton lustlos im „Sydney Morning Herald.“ Draußen trommelte Regen gleichmäßig auf die Fensterscheiben des Einfamilienhauses aus rotem Backstein im Stadtteil Concord der australischen Metropole Sydney.

Wegen des schlechten Wetters war der ursprüngliche „Bush Walk“ – eine Wanderung in der australischen Natur – abgesetzt worden. Lionel brütete über der Zeitung, neben sich eine Tasse dampfenden Kaffees. Er überlegte, was er an diesem trüben Morgen anfangen sollte. Vielleicht einige Runden schwimmen im Hallenbad in Burwood? Oder Einkäufe erledigen? Oder etwa das Haus putzen?

Plötzlich fiel sein Blick auf eine kleine Anzeige in der Zeitung. Das australische Kontaktmagazin „Penmates International“ informierte die Leser, dass die neueste Ausgabe des Kontaktmagazins mit Anzeigen aus aller Welt abrufbereit sei.

Lionel stutzte. Er suchte doch die ganze Zeit nach Briefkontakten aus dem Ausland! Vielleicht war das ein Weg, seinen Wunsch zu erfüllen! Diese Anzeige kam ihm wie gerufen! Er kramte Papier und einen Kugelschreiber aus der Kommode im Wohnzimmer und begann, sofort an das australische Kontaktmagazin zu schreiben.

Noch am gleichen Tag warf er seinen Brief in den Postkasten. Bereits eine Woche später hielt er das Magazin in seinen Händen. Interessiert blätterte er, las er, überlegte er. Einigen Leuten wollte er schreiben, ihre Anzeigen klangen interessant. Hinter deren Namen setzte er ein „X“.

Das erste Mädchen, mit dem er Kontakt aufnahm, war Carina Olaffson aus Schweden. Das zweite war Audrey Hoffmann aus Deutschland.

2. Kapitel

Feierabend – endlich! Audrey knallte die braune Kunstlederhandtasche auf die Garderobe ihres Elternhauses und blätterte ihre Post durch. Seitdem sie sich ernsthaft um Briefkontakte in aller Welt bemühte, um ihre Sprachkenntnisse zu pflegen, bekam sie laufend Briefe mit bunten, aufregenden Marken aus vielen Ländern. Heute war ein Brief aus Australien darunter.

Nach dem Essen machte sie es sich in dem mit braunem Cord überzogenen Sessel in ihrem kleinen Zimmer gemütlich und las den Brief. Lionel Norton schrieb aus Australien, genauer gesagt aus einem Vorort von Sydney im Bundesstaat New South Wales. Sein Brief klang ansprechend:

„Hallo, ich möchte mich nur kurz vorstellen, denn ich weiß nicht genau, ob du auch antworten wirst.

Ich bin Angestellter im Zollamt von Sydney. Der Job gefällt mir nicht, aber die Bezahlung ist gut. Meine Hobbys sind Fußballspielen, Schwimmen, Musik hören und so weiter. Europa habe ich 1981 besucht, aber nach Deutschland kam ich nicht. Vielleicht klappt es beim nächsten Mal.

Ich würde mich freuen, wenn Du meinen Brief beantwortest und mir mehr über dein Leben in Aalen berichtest!“

Audrey schmunzelte unwillkürlich. Was gab es über das Leben in Aalen schon Aufregendes zu berichten? Lionel in Sydney erlebte sicherlich Interessanteres als sie in einer württembergischen Kleinstadt!

„Audrey! Ein Telefongespräch für dich!“, tönte die Stimme von Frau Hoffmann und riss Audrey aus ihren Gedanken. Schnell erhob sie sich und wetzte über die knarrenden Holztreppen hinunter zum Telefon. Eine Freundin war am Apparat.

Noch am gleichen Abend schrieb Audrey eine Antwort an Lionel in Australien.

3. Kapitel

Die Brieffreundschaft mit Lionel gestaltete sich zunächst wie jede andere Brieffreundschaft auch. Man kannte sich nicht persönlich, wollte aber durch eine Brieffreundschaft ein engeres Verhältnis zueinander aufbauen.

Lionel schilderte Audrey, was er in seiner Freizeit trieb. Schwimmen im nahe gelegenen Granville-Pool, Fußball spielen – was in Australien auch „Soccer“ heißt -, Treffen mit Freunden und vieles mehr.

Lionel war 29 Jahre alt und lebte noch mit seinen Eltern in Concord. Von der Arbeit in der Einfuhrabteilung der Zollverwaltung sprach Lionel nur ungern – sie machte ihm keinen Spaß.

Sein Bruder John war bereits seit etlichen Jahren aus dem Elternhaus ausgezogen und lebte mit seiner Frau Donna und den drei Kindern in einem anderen Stadtteil Sydneys. Die Nortons pflegten nur einen lockeren Kontakt zu John, den seine Arbeit als Versicherungsvertreter völlig auffraß.

Audrey zählte zu Beginn der Brieffreundschaft mit Lionel 24 Jahre, hatte nach ihrer Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin noch eine kaufmännische Lehre begonnen und berichtete Lionel darüber. Sie wurde Industriekauffrau und besuchte an einigen Abenden Kurse an der Volkshochschule in Aalen. Auch von ihren Eltern und Geschwistern berichtete sie Lionel – er sollte wirklich ein umfassendes Bild über das Leben in einer baden-württembergischen Kleinstadt erhalten.

Während ihrer Ausbildung wohnte Audrey daheim bei ihren Eltern, zusammen mit zwei Schwestern. Der ältere Bruder und eine weitere Schwester waren bereits ausgezogen.

Nach einem Jahr Briefwechsel planten Lionel und sein Vater eine Europareise.

„Vielleicht kann ich dich treffen, wenn ich in Deutschland bin. Schreibe mir bitte deine Telefonnummer auf“, schlug Lionel Audrey vor.

Audrey erfüllte seinen Wunsch. Der Herbst nahte, die Blätter leuchteten bunt wie aus dem Farbkasten, und Deutschland wurde von Kälte überrannt. Aber zum Reisen war ein solches Klima angenehm – auch für zwei Australier. Und so landeten Lionel und sein Vater zuerst in Rom. Von dort aus setzten sie mit dem Zug ihre Reise in verschiedene Länder Europas fort.

Im November 1987 traf Audrey Lionel zum ersten Mal.

4. Kapitel

Lionel sah in Wirklichkeit beinahe so aus wie auf dem Bild, das er Audrey in seinem zweiten Brief geschickt hatte. Blonde Haare, schlaksig, mit hängenden Schultern. Nur hatte er sich unterdessen während seiner Reise einen Bart wachsen lassen.

Vielleicht lag es an dem Bart, dass Audrey Lionel zuerst nicht erkannte. Der Herbst hatte Deutschland erfasst, ein frischer Wind wehte über der Stadt. Viele Leute erinnerten sich an verstorbene Angehörige und machten sich auf den Weg zum Friedhof, um Gräber zu gießen und eine Schweigeminute einzulegen. Kein Wunder - man schrieb den 1. November 1987, Allerheiligen, Gedenktag für die Toten.

Es herrschte deutsche Sonntagsruhe, und in der Innenstadt Aalens war nicht viel los. Obwohl die Sonne die Fenster der gepflegten Fachwerkhäuser kitzelte und zu einem Spaziergang einlud.

Auf dem Platz am Reichsstädter Markt wurden leuchtend bunte Blätter von Windstößen aufgewirbelt und flogen einige Meter über das graue Kopfsteinpflaster, um irgendwo liegen zu bleiben. Die Stadt war in ein gemütliches Licht getaucht. Das Licht des Nachmittags.

Audrey fröstelte, als sie aus dem Linienbus stieg, der seinen Weg in Richtung Waldfriedhof fortsetzen sollte. Sie vergrub ihre Hände tief in den Taschen der wattierten hellblauen Winterjacke und schritt über das Kopfsteinpflaster am Reichsstädter Markt.

Sie erspähte einen jungen Mann, der auf einer Bank eifrig Pommes Frites mit Ketchup verzehrte. Er hatte große Ähnlichkeit mit Lionel Norton – nur der Bart stimmte nicht. In seinem grauen Anzug aus festem Wollstoff sah er schick aus – beinahe wie ein Geschäftsmann. Der Wind spielte mit seinen blonden gewellten Naturlocken und zauste einige Strähnen unordentlich über seinen Kopf.

Sein Vater vertrieb sich die Zeit in München.

Heute Abend würde ihn Lionel dort wieder treffen. Die beiden Australier hatten sich ein Euro-Rail-Ticket gekauft, das für alle Bahnstrecken in West-Europa für die Dauer ihres Aufenthaltes galt.

Audrey zog Lionels Foto aus ihrer Handtasche und hielt es dem jungen, Pommes Frites verzehrenden Mann unter die Nase.

„Bist du Lionel Norton?“

Sie sprach ihn auf Deutsch an, aus Angst, er könne es nicht sein und sie würde sich blamieren. Aber in ihrem Herzen wusste sie genau, dass sie ihren australischen Brieffreund vor sich hatte.

„Yes!“ Er nickte erfreut. Deutsch sprach er kaum, gerade nur ein paar Worte, wie „Guten Morgen!“ und „Auf Wiedersehen!“. Für Australier lag Europa so weit entfernt – warum sollten sie sich mit europäischen Fremdsprachen plagen?

Lionel streckte Audrey eine Hand entgegen, die in einem dünnen braunen Stoffhandschuh steckte.

„Good day – how are you? Guten Tag, wie geht es dir? Nice to meet you – schön, dich zu treffen!“

Er schmunzelte über das ganze Gesicht und fischte mit der anderen Hand ein Stück Pommes Frites von seinem Pappteller. Lionel hatte seine Portion beinahe fertig gegessen.

„Bist du hungrig?“, fragte er Audrey.

„Nein, danke!“ Audrey schüttelte den Kopf und beobachtete, wie die restlichen Pommes Frites – lange gelbe Bohnen, teilweise übergossen mit weinrotem Ketchup – schnell in Lionels Mund verschwanden.

„Ich habe bereits zu Hause zu Mittag gegessen. Wir könnten ein bisschen durch die Stadt bummeln!“, fügte sie hinzu.

Lionel nickte, warf seinen Pappteller in einen Abfalleimer und folgte Audrey. Seine blauen Augen musterten das oftmals wunderschöne Fachwerk, nahmen den Barbarossa-Brunnen am Marktplatz in sich auf und blieben am „Aalener Spion“ hängen, der munter den Kopf nach rechts und links drehte.

„Gibt es Fachwerkhäuser in Australien?“, fragte Audrey.

Lionel schüttelte den Kopf. „Nein. Unser Staat ist gerade 200 Jahre alt, wir haben nicht so viel Geschichte, so viele Traditionen wie Europa vorzuweisen.“

Er zückte seinen Fotoapparat und knipste den „Aalener Spion“, das Wahrzeichen der Stadt.

„Warum hat der Spion eine Pfeife im Mund?“ Lionel wies mit einer Hand auf die Nachbildung jenes Männerkopfes, der sich im Rathausturm unaufhörlich nach rechts und nach links drehte. So, als wolle er über die Stadt Aalen wachen.

Warum klemmte der Spion eine Pfeife zwischen seine Lippen? Diese Frage konnte Audrey nicht beantworten. Sie wusste, dass der „Aalener Spion“ ein Mann aus dem Mittelalter gewesen war, der die Stadt vor der Eroberung durch feindliche Truppen gerettet hatte. Zu seinem Gedenken steckte man die Nachbildung seines Kopfes in den Rathausturm. Wahrscheinlich war der Spion Raucher gewesen.

„Ich finde es nett, dass du mich treffen konntest!“ Lionel drückte spontan Audreys kalte Hand mit seiner warmen, feingliedrigen, die immer noch in einem Handschuh steckte. Audrey hatte ihre Handschuhe zu Hause vergessen.

Sie wusste zuerst nicht, was sie antworten sollte, denn sie war erschrocken über seinen – wie sie meinte – Annäherungsversuch. Dann aber meinte sie:

„Du kommst aus einem solch fernen Land – aus Australien. Es wäre schade, dich nicht zu treffen, wenn du in Deutschland bist!“

Er schien mit dieser Antwort einverstanden und stellte weitere Fragen. Gefiel es Audrey hier in Deutschland? Welche Länder hatte sie bereits besucht?

Audrey kramte in ihrem englischen Wortschatz und bemerkte erstaunt, dass ihr Englisch immer flüssiger wurde, je länger sie sich mit Lionel unterhielt. Nicht alle Worte fand sie auf Anhieb, oft wählte sie Umschreibungen. Manche Worte schienen in ihrem Sprachschatz versunken zu sein wie schwere Steine auf dem Meeresgrund. Endlich hatte sie die Möglichkeit, Englisch zu sprechen. Im Alltag fehlte ihr die Übung – während der Arbeit ging sie auch mit Sprachen um, erledigte aber die meisten Aufgaben schriftlich.

Zum Glück verstand Lionel alles, was sie sagte. Er war geduldig und verstand es, von Audrey angefangene Sätze zu Ende zu führen. Oder Audrey zu helfen, das Wort zu finden, das sie gerade brauchte.

„Dort ist ein hübsches Café!“ Sie deutete mit dem Finger auf ein modernes Wohn- und Geschäftshaus aus grauem Beton. Das Café „Napoleon“ war bekannt in Aalen, und sie traten ein.

Lionel setzte sich gegenüber von Audrey an einen Tisch. Die Einrichtung des Saales wirkte gemütlich. Stühle, die mit weinrotem Samt bezogen waren. Die Einrichtung war dem letzten Jahrhundert nachempfunden. Irgendwie englisch und hochherrschaftlich.

Das Personal lief lächelnd und umsichtig umher, antike Lampen mit schweren goldfarbenen Gestellen strahlten warm von den mit Stofftapeten überzogenen Wänden. Schwere Vorhänge, ebenfalls aus dunkelrotem Samt, hingen neben Fenstern aus buntem Glas.

Audrey nahm sich Zeit, Lionel zu mustern, als sie versonnen ihren Cappuccino schlürfte. Sie wusste nicht, wie sie sich bisher einen Australier vorgestellt hatte. Von Australien kannte sie nur Musik von der „Little River Band“, „INXS“, „Icehouse“ und anderen Interpreten oder Popgruppen. Musik, die den Sprung in die europäischen Hitlisten geschafft hatte. Australien – dieser ferne Kontinent hatte Audrey stets fasziniert. Aber sie konnte sich nicht vorstellen, dorthin zu reisen. Zu fern war alles, zu unerreichbar, zu teuer für sie.

Lionel wirkte trotz seines Anzuges lässig und freundlich. Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Australier stammten ursprünglich aus allen Teilen der Welt, hatte Audrey gehört. Und all diese Menschen kamen nach Australien und ließen sich vor einigen hundert Jahren auf diesem Kontinent nieder. Viele von ihnen reisten unfreiwillig dorthin – als britische Strafgefangene. Auch Lionel war britischer Abstammung – seine Vorfahren wohnten einst in Schottland. Warum genau seine Vorfahren in dieses große Land am anderen Ende der Welt gekommen waren, wollte Lionel nicht verraten.

Ins Gefängnis kam man vor nahezu 200 Jahren bereits dann, wenn man einen Laib Brot gestohlen hatte. Die Australier sprachen nicht gerne über ihre Vorfahren mit Sträflingsvergangenheit – sie waren dort geblieben. Dort in Australien, und sie hatten das Land kultiviert und Familien gegründet.

Mit Lionel wurde es Audrey keine Minute an diesem Nachmittag langweilig. Sie hatten sich viel zu erzählen. Audrey lauschte Lionels Ausführungen über seine Reise. Bisher hatten sein Vater und er Griechenland, Italien, Österreich, die Schweiz und Deutschland besucht. Weitere Ziele bildeten Skandinavien und Großbritannien.

„Ich spendiere den Cappuccino“, beharrte Lionel trotz Audreys Protest und zückte seinen braunen, abgewetzten Geldbeutel. Seine blauen Augen blickten herzlich – tiefe, unergründliche Seen. Er hatte ein Himbeereis mit Sahne genossen und war darüber sichtlich zufrieden.

Sie verließen das Café und schritten hinaus in die Novemberkälte. Die Sonne versank langsam hinter den Hausdächern, die Abenddämmerung umfing sie, und sie machten sich auf den Weg zum Bahnhof.

„Es war wirklich schön, dich zu treffen!“, betonte Lionel nochmals, als er mit Audrey an der Bushaltestelle wartete.

Audrey lächelte. „Vielen Dank für den interessanten und schönen Nachmittag! Und danke für den Cappuccino!“

Lionel lächelte ebenfalls und drückte Audrey zum Abschied einen Kuss auf ihre von der Kälte geröteten Wangen. Der Bus, der sie nach Hause bringen sollte, fuhr um die Ecke, und Audrey stieg ein. Sie suchte sich einen Sitzplatz, blickte dann aus dem Fenster und winkte Lionel, der ebenfalls winkte. Er war wirklich sympathisch – ihr australischer Brieffreund.

Nachdenklich schritt er zum Bahnhof. Wirklich ein nettes Mädchen, diese Audrey! Eine Viertelstunde später fuhr er mit dem Zug zurück nach München – zu seinem Vater.

Audrey stieg an der Bushaltestelle in der Nähe ihres Elternhauses aus und ging den restlichen Weg zu Fuß. Sie war glücklich über das gelungene Treffen. Ein Treffen, das ihr nicht nur ihren Brieffreund Lionel, sondern auch ein Stück Australien näher gebracht hatte. Ein Hauch von einem fernen Kontinent.

Sie dachte nicht daran, dass sie Lionel jemals wieder sehen würde.

5. Kapitel

Weihnachten nahte, und Lionel und sein Vater kehrten wohlbehalten nach Australien zurück.

Deutschland versank im Schnee – man verkroch sich in den Häusern – beinahe wie Bären im Winterschlaf -, zündete Kerzen an und feierte Advent. Währenddessen genoss das andere Ende der Welt einen heißen Sommer. Die wunderschönen Strände Australiens luden Sonnenhungrige zum Baden und Faulenzen ein. Man vergnügte sich beim Wasserski, Schwimmen, Golf- und Tennisspielen sowie Angeln und Buschwandern.

Lionel und sein Vater organisierten einen Weihnachtsbaum und behängten ihn mit bunten Kugeln und Lametta. Sie steckten elektrische Kerzen an und luden ihre Verwandten zum Essen ein.

Weihnachten verlief in Australien auch nicht anders als in Deutschland. Nur eben, dass eine brütende Hitze über dem Land lag und die Kinder am 25. Dezember überrascht wurden – und nicht, wie in Deutschland, am Abend des 24. Dezember.

Die Australier waren im Herzen immer noch Europäer, meistens Engländer, auch wenn sie sich sehr selbstbewusst als Australier zeigten und eine Lösung vom Commonwealth eher begrüßten.

Audrey stapfte durch den Schnee und bestand ihre Abschlussprüfung zur Industriekauffrau. Lionel und Australien drängten sich in den Hintergrund ihrer Gedanken, denn der Alltag ließ keine Träume zu. Sie arbeitete jetzt fest angestellt in der Buchhaltung der Textilfirma. Außerdem hatte sie in ihrer Freizeit begonnen, Portugiesisch an der Volkshochschule zu lernen und war ziemlich beschäftigt.

Lionel und Audrey hatten ihr erstes Treffen genossen und machten sich in ihren Briefen begeisterte Komplimente. Das Band der Vertrautheit zwischen ihnen festigte sich wie Stahl, wurde noch stärker und noch tiefer. Sie kannten sich jetzt nicht nur aus Briefen, sondern auch persönlich. Und sie fanden sich beide sympathisch.

6. Kapitel

Ihr zweites Treffen im Jahre 1989 war besser vorbereitet. Schon ein halbes Jahr vor seiner Europareise informierte Lionel Audrey, er wolle wieder nach Deutschland kommen. Vielleicht könne er Audrey an zwei Tagen treffen?

Audrey willigte ein. Sie war unterdessen von zu Hause ausgezogen, in eine kleine Zweizimmerwohnung in einem anderen Stadtteil Aalens. Ihre Eltern und Geschwister sah sie nur noch gelegentlich. Sie genoss ihre Freiheit und Unabhängigkeit und hatte begonnen, sich ein Single-Leben aufzubauen. Ihr Job wurde langsam Routine, so brachte der Briefwechsel mit Menschen in aller Welt ein wenig Farbe in ihr Leben. Die Farbe, die für sie das Dasein lebenswert und sinnvoll machte.

Am 28. Oktober 1989 reiste Lionel mit dem Zug aus Stuttgart an. Ein warmer Herbsttag lag über Aalen – ein Samstag zum Bummeln, Faulenzen und Ausatmen.

Lionel sah dieses Mal sportlicher aus – er trug einen gemusterten, bunten Wollpullover. Obwohl er ständig einen Bärenhunger hatte, wirkte er immer noch sehr schlaksig. Vielleicht kam dies vom regelmäßigen Schwimmen und Fußballspielen.

Er und Audrey begrüßten sich wie zwei alte Freunde und freuten sich über das Wiedersehen.

Audrey führte Lionel in die Innenstadt. „Hattet ihr eine angenehme Reise – du und dein Vater?“, wollte sie wissen.

Sie strich sich eine braune Haarsträhne aus dem Gesicht. Interessiert sah sich Lionel in Aalen um – an einige Häuser und Straßen erinnerte er sich noch genau. Er fand, dass Audrey schlanker geworden war – beinahe wie eine Gazelle – und dennoch weiblicher. Vielleicht lag das am Alter? Sie war unterdessen 27 Jahre alt. Die Pagenkopffrisur stand ihr gut.

„Wir hatten eine gute Reise“, antwortete Lionel. „Vor einem Monat flogen wir ab Sydney über Singapur in die Türkei. Ein wirklich interessantes Land – beinahe so orientalisch wie Tausendundeine Nacht. Die Leute sind sehr gastfreundlich. Und Istanbul wirkt wie aus einem Märchen entstiegen. Anschließend fuhren wir mit dem Bus nach Jugoslawien. Dubrovnik solltest du mal sehen!“ Er blickte Audrey direkt in die Augen. „Diese Stadt ist ein Traum – beinahe wie ein Juwel an der Adria. Kurz weilten wir anschließend in Ungarn, bestaunten die Puszta, reisten anschließend nach Österreich und schließlich in die Schweiz. Interlaken gefiel mir besonders gut. Und jetzt sind wir in Deutschland gelandet. Die Reise war bisher einfach wunderbar.“

Wie ihr Lionel später klarmachte, hatte er nur 20 Urlaubstage im Jahr. Aber er sparte seinen Urlaub eifrig auf, um möglichst alle zwei Jahre auf große Reise zu gehen. Europa schien sein bevorzugter Kontinent zu sein.

„Wo ist dein Vater heute?“, wollte Audrey wissen. „Warum kam er nicht bereits mit dir nach Aalen?“

Lionel fuhr sich mit der linken Hand über seinen Bart. „Morgen will er nach Aalen kommen. Heute schaut er sich noch ein wenig Stuttgart an. Diese Stadt fasziniert ihn.“

Unterdessen waren sie in Aalens Fußgängerzone eingetroffen. Sie schlenderten durch den Wochenmarkt und sogen den Duft von Gemüse und frischem Obst ein, das Bauern feilboten. Schließlich betraten sie ein großes Kaufhaus und stöberten aufgeregt in diversen Abteilungen. Lionel kaufte kurz entschlossen ein Paar Socken. Diese schleifte er in einer Plastiktasche durch die Stadt, posierte sich neben den „Barbarossa-Brunnen“ am Marktplatz und setzte sich auf ein Spielschaukelpferd irgendwo in einer Gasse.

Audrey schoss Fotos, und sie schütteten sich die Bäuche aus vor Lachen. Die Szene sah doch wirklich komisch aus: Lionel neben einer kunterbunten Figur aus dem Mittelalter, im Hintergrund das hässliche neue Betonrathaus. Dann Lionel – ein erwachsener Mann – auf einem Schaukelpferd, auf dem sich sonst nur Kinder in bunten Anoraks vergnügten.

Obwohl Audrey und Lionel aus zwei verschiedenen Kontinenten stammten, besaßen sie doch die gleiche Art von Humor, sie harmonierten miteinander und teilten so viele Ansichten.

„Meine Eltern möchten dich gerne kennen lernen“, meinte Audrey, nachdem sie ihren Fotoapparat wieder in ihrer Tasche verstaut hatte. „Hast du Lust, mit zum Essen zu ihnen zu kommen?“

Lionel nickte begeistert. Es war noch früh am Nachmittag, und sein Magen verlangte hörbar nach einem anständigen Essen. Sie fuhren mit dem Linienbus in den Stadtteil, in dem Audreys Eltern wohnten. Während der Fahrt unterhielten sie sich. Langweilig wurde es den beiden nie! Obwohl sie doch in regelmäßigem Briefwechsel standen, gingen ihnen die Gesprächsthemen nicht aus.

„Wir haben in den Zug nach Interlaken einige Amerikaner getroffen“, erzählte Lionel beispielsweise. „Die Briten sind dezent und höflich. Aber Amerikaner verhalten sich auffällig und neugierig.“

Audrey brach in Lachen aus. Australier vertraten also dieselbe Meinung über die Amerikaner wie viele Europäer!

„Wir Australier möchten auch nicht mit den Amerikanern verglichen werden. Australier sind einfach anders!“, betonte Lionel. „Jedenfalls wollten diese Amerikaner im Zug wissen, ob wir Briten seien. Wir verneinten und erklärten, wir seien Australier aus Sydney.“ Er lächelte.

Sie kletterten aus dem Bus. In Lionels linker Hand baumelte immer noch die Tragetasche mit den Socken, und er schritt forsch voran.

„Und dann?“ Audrey war auf das Ende der Geschichte neugierig.

Lionel grinste. „Sie sahen sich verblüfft an – als ob sie ein Mondkalb gesehen hätten! Und dann murmelten sie:

‚Aaah – schaut nur! Zwei Australier aus Sydney!’ Das klang so, als ob wir besondere Tiere in einem Zoo wären. Meinem Vater und mir war diese Begegnung schon beinahe peinlich!“

„Das kann ich mir gut vorstellen!“, stimmte Audrey zu. „Wer käme sich da nicht komisch vor, wenn er so begafft werden würde?“

Besondere Tiere waren Lionel und sein Vater gewiss nicht. Auch wenn man Australier nicht überall und nicht jeden Tag trifft. Aber noch immer umschwebte Lionel ein Hauch einer gänzlich anderen Welt, eines weit entfernten Landes – eines anderen Kontinents, einer Weltstadt. Audrey beneidete ihn beinahe. Und seinen Vater würde sie morgen kennen lernen.

Das Mittagessen bei Audreys Eltern verlief in sehr angenehmer Atmosphäre. Sie, die sich sonst gegenüber Fremden sehr zurückhaltend zeigten, empfingen Lionel mit aufrichtiger Herzlichkeit. Es gab Schnitzel mit Kartoffeln und Gemüse, anschließend Eis zum Nachtisch. Lionel genoss jeden Bissen sichtlich – wie lange war es her, dass er deutsche Hausmannskost gekostet hatte? Normalerweise ernährten er und sein Vater sich auf Reisen von Mahlzeiten aus Imbissbuden oder Pizzerien.

Später tischte Audreys Mutter Kaffee und Kuchen auf. Sie versuchte, so wie der Rest der Familie, unbefangen zu erscheinen. Das heißt, man verwickelte Lionel in ein freundliches Gespräch, stellte allerdings keine allzu neugierigen Fragen.

Lionel versuchte, unter Audreys fachkundiger Übersetzung, die Geschichte mit den Amerikanern im Zug nach Interlaken zum Besten zu geben.

Der Nachmittag verlief für alle sehr zufriedenstellend. Und später fragte Audreys Mutter ihre Tochter:

„Merkst du nicht, dass Lionel eine Frau sucht?“

„Du bist verrückt!“, lautete Audreys Kommentar. Lionel war ein Brieffreund – mehr nicht. Warum sollte er eine Frau in Europa suchen, wenn er in Australien wohnte?

7. Kapitel

Lionel und sein Vater trafen Audrey am Sonntagnachmittag am beinahe menschenleeren Bahnhof in Aalen. Der Himmel hing grau wie Spülwasser über der Stadt, und nur wenige Menschen lockte das Wetter nach draußen.

Am Vorabend hatte es eine ganze Weile gedauert, bis Audrey und Lionel ein Hotel in Aalen für die heutige Nacht für ihn und seinen Vater gefunden hatten. Aber Lionels positives Denken „no problem – kein Problem!“, das beinahe alle Australier ausstrahlen, führte schließlich zum Erfolg.

Lionel sah seinem Vater sehr ähnlich. Ein kantiges Gesicht und blaue Augen.

‚Ein sympathischer älterer Mann – genauso sympathisch wie Lionel’, dachte Audrey sofort. Lionel und sein Vater hatten vorher Spaghetti Bolognese genossen. Spuren davon an ihrem Mund waren noch sichtbar.

Mit dem Zug reisten die drei nach Ellwangen, einer hübschen Kleinstadt. Nach 20 Minuten Fahrtzeit stiegen sie aus – mitten im Zentrum. Trüber Himmel hing auch über Ellwangen, aber glücklicherweise regnete es nicht. Diese Kleinstadt stand in keinem Reiseführer, war aber dennoch sehenswert. Ein kleiner Geheimtipp also.

Jedenfalls zeigten sich beide Australier begeistert. „Diese zwei Kirchen sind wunderschön!“, rief Lionel aus und deutete mit dem Finger auf die evangelische und die katholische Kirche, die wie Zwillinge zusammengebaut waren. Zielstrebig schritt er auf eine der beiden Kirchen zu und öffnete die Eingangstüre.

Von dem Anblick, der sich ihm bot, war er überwältigt. Prächtige Malereien aus längst vergangen Zeiten leuchteten ihm entgegen. Nachbildungen biblischer Figuren blickten ihn freundlich an – und über dem Ganzen lag eine andächtige Stille.

„Lasst uns doch ein wenig sitzen bleiben – ich spüre hier so sehr die Nähe Gottes! Ihr nicht auch?“ Er drehte sich erwartungsvoll zu Audrey und zu seinem Vater um, die ihm in einigem Abstand folgten.

Die beiden nickten, schritten schweigend nach vorne und setzten sich neben Lionel in eine der Kirchenbänke. Die Sonne lugte plötzlich hinter den Wolken hervor und malte ein eigenwilliges Muster durch die bunten Fenster auf den Steinboden.

Nach 20 Minuten erhoben sich Audrey und ihre beiden Begleiter. 20 Minuten andächtiger Stille und Einkehr, während derer kein Wort gewechselt wurde. Man hörte nicht einmal das gleichmäßige Atmen dieser drei Leute, die ihre Köpfe gesenkt hielten und nur ab und zu ihre Blicke über die bunten Fenster schweifen ließen.

Schweigend verließen die drei die Kirche. Sie fühlten sich frisch gestärkt und erquickt, voller Kraft. Dabei hatten sie nur in einer Kirche gesessen und keine mitreißende Predigt über sich ergehen lassen. Aber die Atmosphäre allein hatte schon gewirkt.

„Ich werde meinen Freuden in Australien schreiben, dass ich gestern Reinhard Mey im Fernsehen sah!“, schmunzelte Lionel, als sie zur Burg wanderten. Der Himmel hatte sich in noch tieferes Grau getaucht und wirkte beinahe wie flüssiger Zement. Leichter Nieselregen fiel auf die drei Wanderer. Die Burg thronte über der Stadt Ellwangen, ein großer brauner Bau. Der Spaziergang dorthin führte an Obstbäumen vorbei, deren restliche bunte Blätter im Tageslicht leuchteten. Einfach malerisch, fanden die beiden Australier. Auch Audrey spürte den Zauber der Landschaft – umso mehr, weil sie diese mit Leuten genoss, die etwas Derartiges nicht jeden Tag sehen konnten.

Audrey lächelte über Lionels Bemerkung. Ganz am Anfang ihrer Brieffreundschaft hatte sie ihm eine Kassette mit Liedern aus Deutschland geschickt. Auch Reinhard Mey durfte nicht fehlen – er war mit dem Lied „Ich in Klempner von Beruf“ vertreten – einem absolut untypischen Chanson für diesen eher kritischen Liedermacher. Lionel hatte dieser Song auf Anhieb gefallen – die lustigen Rhythmen die fröhliche Stimme Meys, die flotten Instrumente. Und er begann, sich diesen Sänger vorzustellen. Dieser musste bestimmt klein und untersetzt sein. Einen drahtigen, sportlichen Herrn in den Mittvierzigern – der Reinhard Mey in den 1990er-Jahren tatsächlich war – hatte sich Lionel allerdings nicht im Traum ausgemalt. Gestern erhaschte Lionel zufällig einen Blick auf Reinhard Mey, der im „Zweiten deutschen Fernsehen“ über seine Lieder plauderte und einige davon zum Besten gab. Lionel zeigte sich sehr beeindruckt.

Lionel, sein Vater und Audrey schlenderten zur Burg und sogen die würzige Luft frischen Grases ein. Kälte lag über dem Land, die Kälte eines herannahenden Winters. Trotzdem froren die beiden Australier nicht.

Im Schloss besichtigten sie ein Museum, in dem diverse Dinge über Ellwangen ausgestellt waren. Gemälde, Statuen, Teppiche und vieles andere mehr. Audrey führte die beiden Australier geduldig von Gemälde zu Gemälde, von Statuen bis hin zu Ölbildern und übersetzte so genau wie möglich alle Erklärungen, die dabei standen. Lionel und sein Vater zeigten sich begeistert. Selbst eine Kleinstadt wie Ellwangen verfügte über eine reiche Geschichte!

Die Schönebergkirche auf dem Nachbarberg zeigte sich den Besuchern komplett eingerüstet. Die Gerüste gaben kaum den Blick auf das satte Gelb des Außenanstrichs frei – einer Farbe, die diese Kirche weithin leuchten ließ. Im Inneren boten üppige Schnitzereien und prunkvolle Malereien eine Augenweide. Man konnte sich kaum satt sehen an so viel Herrlichkeit. Lionel und sein Vater schritten staunend an den Kirchenbänken vorbei bis zum Altar und sogen jede Einzelheit ehrfürchtig in sich auf.

Zu schnell raste der Tag in Ellwangen vorbei, und wenn Audrey an ihren Alltag dachte, beschlich sie ein hoffnungsloses Gefühl. Ihre Arbeit in der Buchhaltung zog an jedem Werktag in stumpfer Eintönigkeit an ihr vorbei – Berge voller Rechnungen, ein Stapel Papier, das stetige Rattern der überalterten Rechenmaschine. Wie schade, dass schöne Momente im Leben – wie das Treffen mit Lionel und seinem Vater – nur so kurz währten und man die Sekunden nicht festhalten konnte! Sie flogen dahin wie Seifenblasen und zeigten sich nur in der Erinnerung lebendig.

Am frühen Abend fuhren Audrey und die beiden Australier mit dem Zug zurück nach Aalen. Audrey stand am Brunnen vor der Bushaltestelle und trat von einem Fuß auf den anderen. Morgen musste sie wieder früh aufstehen – aber sollte sie jetzt schon nach Hause fahren? Auch wenn sie eine oder zwei Stunden später ins Bett ging, würde sie morgen noch topfit sein. Sollte sie nicht lieber den beiden Australiern Gesellschaft leisten? Wer wusste denn, ob man sich jemals wieder sah?

Lionel schien ihre Gedanken zu erraten. „Hast du nicht Lust, uns in eine Pizzeria zu begleiten?“, schlug er vor.

Audrey überlegte nicht lange. Sie betrachtete die beiden Australier, die ihr aufmunternd zulächelten.

„Natürlich komme ich mit! Ich kenne eine gute Pizzeria nicht weit von hier!“

Tatsächlich ergatterten sie drei freie Plätze in der ansonsten sehr gut besuchten Pizzeria. Vielleicht weil es noch relativ früh am Abend war. Es war kurz nach 18 Uhr.

„Wir werden morgen nach Heidelberg reisen“, erzählte Lionel und schnitt sich ein Stück seiner Pizza ab. „Anschließend geht es weiter nach Berlin. Die Leute im Hotel werden sich freuen, uns wieder zu sehen. Wir waren schon einmal dort.“

„Schon am Telefon hat man uns erkannt.“ Lionels Vater strich sich eine Haarsträhne aus der Stirne und nahm einen Schluck von dem prickelnden Mineralwasser. „Sofort haben wir Zimmer bekommen!“

„In Berlin überstürzen sich im Moment die Ereignisse – wisst ihr das?“ Audrey blickte die beiden Australier an. „Seit einigen Wochen wird dort wieder Geschichte geschrieben. Leute aus der DDR flüchten über Ungarn und die Tschechoslowakei zu uns nach Westdeutschland. Wir meinen alle, die Grenzen zwischen Ost und West werden bald fallen!“

„Wir haben davon gehört.“ Lionel und sein Vater nickten. „Man spricht ja beinahe von nichts anderem mehr.“ Selbst während ihrer langen Reise durch Europa versäumten die beiden nie, Nachrichten anzusehen, und über die Lage in der Welt waren sie gut informiert.

Audrey blickte traurig auf ihre Armbanduhr. „Mein Bus fährt bald. Ich muss mich verabschieden!“ Sie blickte Lionel an, dann seinen Vater, schließlich wieder Lionel. „Meine Pizza bezahle ich noch!“

„Nein – du warst unser Gast!“ Lionels Vater winkte ab. „Selbstverständlich bezahlen wir deine Pizza und dein Getränk. Und vielen Dank für die gute Stadtführung durch Ellwangen!“

Audrey lächelte. Wehmütig dachte sie:

‚Was für ein wunderbares Treffen. Leider ist es so schnell vorbeigegangen!’

Lionel beugte sich über sei und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange.

„Thanks for your company – danke für deine Gesellschaft!“, flüsterte er.

Audrey winkte Lionel und seinem Vater noch nach, als sie zum Ausgang schritt. Die beiden winkten zurück. Draußen zog sie ihren Kragen fester um den Hals. Es war nasskalt. Zügig schritt sie durch die dunkle Stadt zur Bushaltestelle.

8. Kapitel

Frisch ausgeruht setzten Lionel und sein Vater am nächsten Morgen ihre Reise fort. Sie erreichten Heidelberg und erfreuten sich an der malerischen Altstadt.

Anschließend fuhren sie nach Berlin. Berlin war Anfang November 1989 besonders hektisch und stand im Blickpunkt des Weltinteresses. Am 9. November fiel die Mauer, und Menschen aus Westdeutschland schlossen ihre Angehörigen aus dem Osten überglücklich in die Arme. Über 40 Jahre DDR fanden ein abruptes Ende. Lionel und sein Vater befanden sich als Touristen inmitten des Freudentaumels.

Die Mauer, das Symbol für Unterdrückung und Trennung von West- und Ostdeutschland, wurde in kleine Stücke zerhackt und verkauft. Lionel erstand stolz ein Stück Mauer und schleifte dies in seinem Gepäck nach Australien.

Nach ihrem Besuch in Berlin stand Großbritannien auf dem Programm der beiden Australier. Aber noch immer erinnerten sie sich gerne an ihr Treffen mit Audrey in Deutschland. Und einige Wochen später flogen sie nach Sydney zurück.