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Audrey aus Deutschland und Lionel aus Australien haben sich durch eine Brieffreundschaft kennen und lieben gelernt. Endlich ist es soweit, dass Audrey Lionel in Sydney besuchen kann. Der Urlaub wird unvergesslich. Anschließend stellt sich die Frage: Gibt es eine gemeinsame Zukunft für Audrey und Lionel? Und wenn ja, in welchem Land?
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Seitenzahl: 329
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Prolog: Reisefieber
Kapitel
Kapitel
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Erstes Buch: Australien
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Zweites Buch: Hoffnung?
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Drittes Buch: Vietnam
Kapitel
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Viertes Buch: Freunde
Kapitel
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Kapitel
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Kapitel
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Epilog: Danach
Kapitel
Kapitel
Das Reisefieber ergriff Audrey erst in der Nacht vor ihrem Abflug. Der schwarze Hartschalenkoffer stand fertig gepackt vor der Wohnzimmertür, die Brustbeutel mit Reiseschecks, Geld und dem Reisepass lagen griffbereit auf dem dunklen Buchentisch.
Sie schaltete den Kühlschrank aus, steckte alle Elektrogeräte aus den Steckdosen, entfernte Antennenkabel und wusch noch das letzte Geschirr ab. Ihre Wohnung würde sie erst in einem Monat wieder betreten, was für ein Gefühl! Ihr schien es, als fliehe sie auf einen anderen Planeten.
Übermorgen würde sie Lionel in ihre Arme schließen, in der Olympiastadt Sydney in Australien. Am anderen Ende der Welt – unfassbar.
Sie beide hatten sich durch eine Brieffreundschaft kennen gelernt, und nach wenigen Treffen war Liebe entstanden. Eine Liebe zwischen zwei Menschen auf zwei Kontinenten. Einfach war das nicht, denn es tat weh, den Partner monatelang nicht sehen zu können.
Bisher hatte Audrey Lionel immer in Deutschland und der Schweiz getroffen, aber diesmal würde sie sein Land, seinen Kontinent, besuchen.
Australien – dorthin wollte sie immer schon einmal reisen. Und nun stand ihr Jugendtraum kurz vor der Verwirklichung. Sie fühlte sich wie in einem Märchen an diesem Ostermontag im April 1995.
Im Zug nach Frankfurt zeigte Audrey lächelnd dem Schaffner ihr Flugticket. Der Preis dafür umfasste auch die An-und Abreise zum Flughafen – ein guter Zug der „Bahn AG“, um die Umwelt zu schonen.
Mit großen Augen las der Schaffner die Ziele, die auf dem Flugticket standen:
Frankfurt – Hong Kong – Sydney – Hong Kong – Frankfurt.
„Am liebsten würde ich mit Ihnen tauschen“, gestand er beeindruckt.
„Ich fliege selbst zum ersten Mal so weit weg!“, sagte Audrey. „Eigentlich kann ich noch nicht richtig glauben, dass ich eine solch weite Reise antrete – bis nach Australien!“
Sorgfältig riss der Schaffner ein Blatt des Flugtickets ab. „Dieses Blatt ist für die Bahn bares Geld“, erklärte er Audrey und reichte ihr das Ticket wieder, das sie eilig in ihrem Rucksack verstaute.
Audrey lächelte und las weiter in ihrem Buch. Noah Gordons Buch „Die Klinik“ gefiel ihr nicht so gut wie sein berühmtes Buch „Der Medicus“. Vielleicht würde sich die Handlung im Laufe des Buches noch steigern. Wenn Audrey nicht las, blickte sie aus dem Fenster. Regen überzog Deutschland, das Thermometer zeigte gerade mal acht Grad. Audrey freute sich, diesem ungemütlichen Wetter entfliehen zu können. Bis sie zurückkehrte – Mitte Mai – würde sicherlich bereits der Frühling mit Sonnenschein Einzug in Deutschland gehalten haben.
Am Flughafen in Frankfurt wurde Audreys Koffer am Schalter der „Cathay Pacific“ bis Sydney eingecheckt. Sie war erleichtert, ihren Koffer abgegeben zu haben, und spazierte noch an den Schaufenstern der Läden am Flughafen vorbei. Sie sah edle Kleidung, Bücher in vielen Sprachen, Süßigkeiten und andere Lebensmittel.
Um 13:45 Uhr strömten Passagiere langsam in das wartende Flugzeug nach Hong Kong – nach einer Kontrolle des Handgepäcks, der Kleidung, die man auf dem Leibe trug, und des Reisepasses.
Audrey quetschte sich neben ein älteres Ehepaar aus Stockholm auf ihren Fensterplatz.
„Schade“, dachte sie, als sie auf einen Tragflügel blickte. Wolken und Berge, grüne Landschaften und Meer würde sie wegen des Tragflügels auf diesem Flug nicht zu sehen bekommen. Aber sie nahm es gelassen. Wichtig war doch, dass sie gesund an ihrem Traumziel ankam.
Das schwedische Ehepaar war sehr freundlich. Man sprach englisch miteinander.
„Wir fliegen nach Hong Kong“, erklärte die blonde, ungefähr 50-jährige Schwedin und rückte sich ihre Goldrandbrille zurecht. „Und wohin geht Ihre Reise?“
„Nach Sydney.“
„Was – dorthin reisen Sie ganz alleine? Alle Achtung, Sie müssen wirklich mutig sein!“ Die Dame blickte entsetzt.
Audrey war erstaunt. Was hatte man dieser Dame über Australien erzählt?
„Ich fliege alleine dorthin“, versuchte Audrey, die Dame zu beruhigen. „In Sydney treffe ich Freunde, die mir das Land zeigen werden.“
Die Schwedin war erleichtert. „Wie schön! Ja, dann sind Sie doch nicht alleine! Mein Mann und ich werden eine Woche in Hong Kong verbringen. Wir wollen einige Tagesausflüge unternehmen, zum Beispiel in die chinesische Provinz Kanton und nach Macao.“
Audrey unterhielt sich gerne mit den Schweden. Sie waren bereits in vielen Ländern gewesen – in Amerika, in Europa und in einigen afrikanischen Staaten. Hong Kong war ihr erstes asiatisches Reiseziel.
Als das Flugzeug durch die Lüfte flog, servierten lächelnde asiatische Stewardessen Erdnüsse und wahlweise Weißwein oder Orangensaft. Audrey war fasziniert von der puppenhaften Schönheit dieser Chinesinnen. Irgendwo hatte sie gelesen, man solle während eines Fluges viel Wasser trinken, da der Körper austrockne. Deswegen hasteten die Stewardessen immer wieder mit Glaskrügen durch die Reihen. Die Glaskrüge waren gefüllt mit Wasser, das sie den Passagieren in Plastikbecher gossen.
Zwei Stunden nach Abflug wurde ein Mittagessen serviert. Man konnte zwischen einem Gericht mit Ente oder Fisch wählen. Audrey entschied sich für gedünsteten Fisch, der mit Salat aus Meeresfrüchten serviert wurde. Zum Nachtisch standen Erdbeerjogurt und ein Camenbert-Brötchen auf dem Tablett. Die Stewardessen servierten noch Kaffee.
Audrey bewunderte die Stewardessen. Egal, was man von ihnen wollte, sie blieben stets nett und höflich. Ihre rabenschwarzen Haare wallten ordentlich zusammengebunden über ihren Rücken. Einige wenige trugen auch schicke Kurzhaarfrisuren. Anmutig bewegte sich jede in ihrem roten Kostüm.
Ab 16 Uhr wurden Filme vorne auf der großen Leinwand gezeigt. Wer schlafen wollte, konnte es tun. In Hong Kong war man der deutschen Zeit um sechs Stunden voraus, also war es keine schlechte Idee zu schlafen. Audrey döste vor sich hin. So sehr sie sich bemühte – einschlafen konnte sie nicht.
Zwischen jedem Film wurde eine Weltkarte eingeblendet, ein kleines Zeichentrickflugzeug symbolisierte die Maschine und zeigte, wo sie sich gerade befand. Das Flugzeug nahm seinen Weg über die Türkei, Iran, Indien, Myanmar (Burma) und China nach Hong Kong.
Nach einem Flug von elf Stunden und 20 Minuten Dauer, zu wenig Schlaf und einem reichhaltigen Frühstück erreichte man Hong Kong. Der Pilot flog eine Schleife über diese große Stadt. Der Flughafen Kai Tak lag mitten in der Stadt (1995, als Audrey dort landete, war Hong Kong noch britische Kronkolonie, und man landete auf dem Flughafen Kai Tak. Unterdessen gibt es einen neuen Flughafen auf der Insel Lantao, die zu Hong Kong gehört. Im September 2005 wurde auf Lantao noch ein Disneyland-Park eröffnet. – Anmerkung der Autorin).
Audrey erblickte viele Wolkenkratzer. Dahinter erstreckte sich strahlend blauer Himmel wie ein schimmernder See. Die ganze Szenerie war beeindruckend. Hong Kong – Asien – eine komplett neue Welt. So erschien es Audrey jedenfalls. Um acht Uhr morgens nach Hong-Kong-Zeit fühlte sie sich keineswegs müde. In Deutschland war es erst zwei Uhr morgens.
Audrey stellte sich in eine Schlange vor einen Einreisebeamten – einen Chinesen in blauer Uniform, der mit ausdrucksloser Miene Stempel in Reisepässe drückte.
An der Information streckte eine freundlich lächelnde Chinesin Audrey einen Stadtplan entgegen. Und dann stand Audrey vor dem Flughafengebäude und blickte auf ein Meer von Wolkenkratzern, auf braune Hügel dahinter und auf viele geschäftige Chinesen in moderner, bunter Kleidung, die die Straßen hinauf‐ und hinunterströmten. Audrey fand, dass Chinesinnen wunderschöne Menschen waren – schöner als die meisten Europäerinnen.
So präsentierte sich Hong Kong – Handelsmetropole und bizarres Tor zu einer anderen Welt. Einer Welt, die Audrey bisher nur aus Büchern und vom Fernsehen kannte.
Wo sollte Audrey jetzt hingehen? Sie versuchte, sich anhand des Stadtplanes zu orientieren. Allerdings war darin der Flughafen nicht eingezeichnet. Audrey wusste nur, dass sie sich auf der Halbinsel Kowloon befand, einem Teil Hong Kongs. Wie konnte sie jetzt ins Zentrum gelangen?
Sie stapfte einfach drauflos, den Rucksack über der Schulter. Ab und zu schoss sie ein Foto von Wolkenkratzern, Bergen oder Chinesen. Sie fotografierte Ladenschilder in chinesischer Sprache und Friseure, die Leuten auf der Straße die Haare schnitten. Es war warm, vielleicht 25 Grad. Aber Audrey getraute sich nicht, ihre Sweatshirtjacke auszuziehen. Denn darunter verbarg sie ihren Brustbeutel mit Reiseschecks, Bargeld und den Reisepass. Also nahm sie es in Kauf, dass ihr schon bald der Schweiß von der Stirne tropfte, wie ein Rinnsal aus einem Salzsee.
Ständig hielt sie Ausschau nach einem Straßennamen, der auch auf ihrem Stadtplan vermerkt war. Aber vergeblich. Irgendwo kaufte sie Mineralwasser, das sie gierig hinunterstürzte. In einem schön angelegten Park setzte sie sich auf eine Bank und las in ihrem Buch. Aber sie saß nicht lange dort. Sie wollte weitere neue Eindrücke sammeln, sie wollte die Atmosphäre Asiens auskosten, denn sie wusste ja nicht, wann sie wieder nach Hong Kong kommen würde. Sie schlenderte an vielen Läden vorbei, vor denen bunte chinesische Leuchtreklamen prangten. Ein Anblick, der bei Nacht sicherlich noch aufregender war. Immer wieder staunte sie über die geschäftigen Chinesen, die wie ein Ameisenschwarm unermüdlich herumschwirrten. Vielleicht war das das wirtschaftliche Geheimnis Hong Kongs – der Grund, warum hier die Wirtschaft boomte, warum hier viel Geld verdient wurde.
Eigentlich konnte man sich in Hong Kong nicht verlaufen. Jedenfalls nicht, wenn man wieder zum Flughafen zurückkehren musste. Man brauchte doch nur nach den Flugzeugen Ausschau zu halten, die an den Hochhäusern wie Riesenhornissen vorbeizischten, eine Schleife drehten und schließlich sanft auf dem Flughafen „Kai Tak“ landeten. Fasziniert beobachtete Audrey, wie einige Maschinen abhoben und landeten – oft sah es so aus, als stürzten sie bald in das Häusermeer. Zum Glück geschah das nie. Es handelte sich um eine gekonnte Landung, die in Hong Kong sehr abenteuerlich aussah.
Audrey rannte die Argyle-Street entlang in der Hoffnung, die Nathan-Road zu finden. Die Nathan-Road war eine berühmte Einkaufsstraße, die 3,5 Kilometer lang ist, gesäumt von einer Vielzahl von Läden mit einer großen Auswahl von Waren aller Art. Aber viele Läden und viele Menschen auf den Straßen erblickte Audrey auch anderswo.
Als Audrey die Nathan-Road nicht fand, machte sie sich auf den Weg zum Flughafen. Es war unterdessen halb sechs Uhr am Abend geworden. Audrey konnte sich vor Müdigkeit nicht mehr auf den Beinen halten. Erschöpft setzte sie sich auf einen der zahlreichen roten Sitze im Flughafengebäude und las in ihrem Reiseführer über Australien.
Nur mit Mühe hielt sie ihre Augen offen. Sie hörte die Ermahnungen, die durch die Lautsprecher hallten:
„Achtung – bitte lassen Sie Ihr Gepäck nie aus den Augen!“
Vor Dieben war man nicht sicher, auch nicht in Hong Kong, und so zwang sich Audrey nicht einzuschlafen. Wie sollte sie aber fast fünf Stunden bis zum Abflug nach Sydney überstehen, ohne vom Schlaf übermannt zu werden? Den Roman, den sie mitgenommen hatte, hatte sie längst ausgelesen.
Irgendwie brachte sie die nervende Warterei hinter sich, streifte durch Flughafenshops, zog sich auf der Toilette einen anderen Pullover an und vertiefte sich wieder in ihren Reiseführer.
Die Zeit schlich dahin, aber endlich konnte Audrey 50 Hong-Kong-Dollars Flughafensteuer entrichten, einen Ausreisestempel in ihren Reisepass pressen lassen und in das Flugzeug nach Sydney steigen. Zwei Stewardessen, die beinahe noch wie 16-jährige Schülerinnen aussahen, lotsten die Passagiere durch einen überdimensionalen Schlauch in die Maschine nach Sydney. Dort begrüßten weitere lächelnde Stewardessen die Ankommenden.
Audrey setzte sich auf einen bequemen Fensterplatz und schnallte sich an. Dunkel war es in Hong Kong, die Sicht wurde diesmal nicht durch eine Tragfläche gestört. Und sofort schlief Audrey ein.
Zweimal wurde Audrey aus ihren Träumen gerissen – durch eine Stewardess, die zuerst den bekannten Willkommenstrunk – Orangensaft mit Erdnüssen – servierte. Später,genau um Mitternacht (Hong-Kong-Zeit), wartete sie mit einem kompletten Menü auf.
Audrey verzehrte alles, obwohl sie nicht hungrig war. Aber das Essen schmeckte köstlich, und Energie konnte Audrey gut gebrauchen.
Nach einigen Stunden Schlaf und einem reichlichen Frühstück blätterte Audrey in einer Tageszeitung aus Hong Kong, die die Stewardessen verteilt hatten. Ab und zu warf sie einen Blick aus dem runden Fenster. Schon seit einiger Zeit flog das Flugzeug über Australien – die Landschaft zeigte unendliche Grünflächen, abgewechselt von vielen gelben Zonen, durch die sich Flüsse wie blaue Fäden schlängelten.
Faszinierend. Das war also Australien – jener sagenumwobene „Fünfte Kontinent“. Australien, ein Land, von dem jeder schwärmte. Ein Land, von dem auch Audrey schon seit Kindertagen träumte.
Viele Plätze in dem geräumigen Flugzeug waren leer. Nach dem Frühstück hatte sich ein ungefähr 18-jähriger Australier neben Audrey niedergelassen. Mit ausladenden Handbewegungen schwärmte er von seiner Reise nach Hong Kong:
„Stellen Sie sich vor – es war das erste Mal, dass ich überhaupt ein anderes Land besuchte! Ich fand Hong Kong sehr beeindruckend – besonders, wenn man jahrelang auf einem riesigen Kontinent festsitzt wie wir Australier.“
Audrey war erstaunt. Beneideten nicht viele Nord- und Mitteleuropäer die Australier in ihrem riesigen Land? Wer kam schon in Europa auf den Gedanken, dass die Australier sich so fühlten, als ob sie „jahrelang festsäßen“?
Audrey erzählte, es sei auch für sie das erste Mal, dass sie ihren Heimatkontinent Europa verlassen habe.
„Sollten Sie eines Tages planen, Europa zu besuchen“, zwinkerte sie ihm zu, „dann sollten Sie sich höchstens fünf Länder während einer Reise vornehmen. Sonst werden Sie von Eindrücken überschwemmt!“
Er lächelte und geriet wieder ins Schwärmen: „Genauso dachte ich es mir auch. Europa bietet so vieles auf kleiner Fläche – andere Kulturen, andere Lebensweisen, andere Landschaften.“
Verblüfft betrachtete Audrey diesen jungen Mann. Er pries Europa in den höchsten Tönen an. Eine dunkelblaue Baseballkappe thronte verwegen auf seinem dunklen Haar. Lionel besaß eine ähnliche Kappe, schoss es Audrey durch den Kopf.
Ob dieser Australier, der hier neben ihr im Flugzeug saß, auch noch so begeistert wäre von Europa, wenn er am eigenen Leib erführe, wie oft es dort regnete?
Audrey würde das nie erfahren. Sie plauderte noch ein wenig mit ihm, bevor sie sich beide den Nachrichten zuwandten, die auf einer großen Leinwand ausgestrahlt wurden.
Sydney nahte, und die Nachrichten wurden von einem Film abgelöst, der Audrey Angst machte.
„Do it for yourself – do it for Australia!“, mahnte eine dunkle Stimme eindringlich, während man besonders deutlich darauf hinwies, welche Dinge nicht nach Australien mitgenommen – also eingeführt – werden durften.
Die Australier haben besonders große Angst vor Seuchen. Deshalb verbot man, Pflanzen und Tiere – egal, ob lebendig oder tot – mitzubringen. Alle Waren, die aus pflanzlichen oder tierischen Stoffen bestanden, sollten den australischen Zollbeamten gezeigt werden.
Während des Films liefen Stewardessen geschäftig durch die Bankreihen und versprühten ein Mittel gegen Krankheitskeime oder Ähnliches über den Köpfen der Passagiere. Es hieß, dieses Mittel sei total ungefährlich für die Gesundheit. Aber wer garantierte das?
Schon lange wird dieses Spray übrigens nicht mehr von den Stewardessen versprüht, sondern die Passagiere bekommen solch ein Spray während des Flugs über die Klimaanlage des Flugzeugs in den Raum gesprüht. Dadurch bekommen die Passagiere kaum oder gar nicht mit, dass sie mit einem Spray gegen Keime behandelt werden, bevor sie Australien erreichen. In Flügen nach einigen anderen Ländern wird übrigens auch solch ein Spray in Flugzeugen versprüht.
Ein Grund, warum das Spray schon lange durch eine Klimaanlage in den Raum des Flugzeugs kommt, ist, dass viele Passagiere, wenn sie die Stewardessen mit den Spraydosen sahen, ihren Kopf in den Armen versteckten. Sie wollten somit der Sprayflüssigkeit entgehen, weil sie Angst hatten oder skeptisch waren. Die Idee mit der Klimaanlage ist clever – aber so weit war man 1995 noch nicht.
Die australische Regierung verlangte, dass ein Spray gegen Keime in jedem ankommenden Flugzeug versprüht wurde. Als Beweis mussten stets die leeren Sprühflaschen am Flughafen vorgelegt werden.
„Wir befinden uns im Landeanflug auf Sydney!“, ertönte die Stimme des Flugkapitäns. Die Passagiere wurden aufgefordert, sich anzuschnallen. Hastig trippelten die chinesischen Stewardessen durch die Reihen und überprüften mit geschulten Blicken die Sicherheitsgurte.
Fasziniert erblickte Audrey das Häusermeer Sydneys – viele Häuser, die gerade aus einem Stockwerk – dem Erdgeschoss – bestanden. Rote Backsteinbauten, von denen viele keinen Keller hatten. Bei 90 Prozent der australischen Häuser war das der Fall – so würde ihr Lionel später erklären. Weil der Boden in Australien zu feucht war, um Keller anzulegen.
Sydney schien sich unendlich zu erstrecken – großzügig angelegte Gärten mit vielen Schwimmbädern unterbrachen oft die Häuserreihen. Wie ein nicht enden wollender rotgrüner Teppich. Am Rande des Teppichs blitzten tiefblaue Wasserflächen wie Opale im Sonnenlicht: der Pazifilk. Boote lagen vor Anker – im riesigen Hafen Sydneys.
Sydney empfing die Reisenden mit sommerlichem Wetter – willkommen in Australien!
Im Flughafen folgt Audrey dem Menschenstrom zum „Immigration-Schalter“, dem Schalter, den jeder Einreisende aufsuchen musste. Und zum ersten Mal wurde ihr wirklich bewusst, dass sie australischen Boden unter ihren Füßen hatte. Dieser hier war ausgelegt mit grauem, rutschfestem Linoleum.
Sie erhielt einen Stempel in ihren Pass und schritt weiter zur Gepäckausgabe. Ihr Koffer hatte die weite Reise unversehrt überstanden. Schließlich gelangte sie mit klopfendem Herzen vor zwei gut gelaunten Zollbeamten.
„Do it for yourself, do it for Australia!“ – dieser Spruch spukte noch immer in Audreys Kopf herum. Deswegen zeigte sie den beiden Beamten mit klopfendem Herzen ein Päckchen Kaugummi und zwei hübsche Bilder in einem Holzrahmen. Diese Bilder wollte sie Lionels Eltern als Geschenk mitbringen.
Die beiden Zöllner reagierten amüsiert. „Sind Sie das erste Mal in Australien?“, fragte einer von ihnen.
Audrey nickte.
„Wir wünschen Ihnen einen schönen Aufenthalt in unserem Land!“, lächelte ihr der andere zu. „Ihre Bilder und den Kaugummi dürfen Sie problemlos mitnehmen!“
Audrey war erleichtert. Sie verstaute die Dinge wieder in ihrem Rucksack. Diese Australier waren wirklich nett! Sie verliehen ihrem Land einen herzlichen und lockeren Eindruck.
Fröhlichkeit und Freundlichkeit – diesen Eigenschaften sollte Audrey in „Down-Under“ noch oft begegnen. Die Zollbeamten waren nur der Auftakt gewesen. Fröhlichkeit und Freundlichkeit waren typisch für Australien wie die Kängurus, Koalas und Eukalyptusbäume.
Audrey ging in die Eingangshalle. Jetzt fehlte nur noch Lionel. Aber er wusste nicht, dass die Cathay-Pacific-Maschine aus Hong Kong eine Stunde früher, als geplant, gelandet war.
In dem blitzblank geschrubbten Marmorfußboden spiegelten sich die mit schwarzem Leder überzogenen Sitzbänke ohne Lehne. Audrey nahm auf einem von ihnen Platz, stellte ihren Koffer und den Rucksack daneben und schmökerte in ihrem Reiseführer.
Sie wartete auf Lionel, während viele Leute in der Ankunftshalle hin und her schlenderten und Verwandte oder Freunde abholten.
Die Uhr zeigte acht Stunden später als in Deutschland. 9.50 Uhr in Sydney. In Deutschland war es 1.50 Uhr in der Nacht, und viele Menschen schliefen und schöpften Kraft, um den nächsten Tag bestehen zu können.
Audrey fühlte sich erstaunlich fit.
Audrey wusste nicht, wie lange sie bereits lesend auf diesen Sitzen ausgeharrt hatte, als plötzlich Lionel auftauchte. Ernst sah er aus, sein Haar war von der Sonne ausgebleicht. Zuerst bemerkte er Audrey nicht. Stur sah er geradeaus. Seine Blicke hefteten sich auf die glänzenden Marmorfliesen. Er marschierte flott zur Ankunftsebene.
Audrey beobachtete ihn einige Minuten. Er war einer von zehn wartenden Personen. Sie beschloss, ihn nicht mehr länger „schmoren“ zu lassen, schnappte ihren Rucksack und den schwarzen Samsonite-Koffer und schlich langsam an Lionel heran. Noch immer hing sein Blick wie gebannt am gleichen Fleck wie vor fünf Minuten. Hätte er auf die Anzeigetafeln geschaut, wäre ihm aufgefallen, dass die Maschine der „Cathay Pacific“ aus Hong Kong bereits gelandet war.
Sanft tippte ihm Audrey auf die Schultern, berührte den Stoff seines weißen, gemusterten Baumwollhemdes. Er fuhr herum – verblüfft zuerst – und blickte ihr direkt in die Augen.
„Audrey – du bist schon gelandet? Was für eine Überraschung! Und ich warte hier….“ Er freute sich sichtlich.
„Wir sind eine Stunde früher gelandet, als geplant. Ich wusste es selbst nicht, sonst hätte ich es dir natürlich geschrieben!“ Sie wischte sich einige Schweißperlen aus der Stirn. Hier in Sydney war es warm. Und sie trug immer noch Klamotten für deutsches Aprilwetter!
„Gut siehst du aus!“ Bewundernd wanderte sein Blick von ihrem grünen Pullover bis hin zu ihren Hosen. Er sah ihr kurz ins Gesicht. Hübsch war sie – wie immer. Keine Spur von „Jet-Lag“.
Audrey fühlte sich noch erstaunlich gut. Trotz des Zeit-Unterschiedes. Aber sie sehnte sich nach einer Dusche. Der lange Flug hatte seine Spuren hinterlassen. Sie roch verschwitzt trotz einer Ladung Parfüm, mit der sie sich vorher noch bestäubt hatte.
Langsam verließ sie mit Lionel das Flughafengebäude und schlenderte zu dem Parkplatz, der mit Autos in allen Farben übersät war. Hier standen Autos aller Automarken, die man auch auf Deutschlands Straßen zur Genüge fand.
Automatisch lief Audrey an die rechte Seite von Lionels kleinem schwarzem Datsun. Der Beifahrersitz in Autos in den meisten europäischen Ländern. Jedoch nicht in Australien.
„Halt!“ Lionel hob seine Hand. „In Australien fahren wir auf der linken Straßenseite – also musst du links einsteigen!“
Audrey nickte und wechselte die Seite. Aufatmend nahm sie auf dem bequemen Beifahrersitz Platz und legte den Sicherheitsgurt an.
„Hast du mich vermisst?“ Lionel küsste sie, bevor er anfuhr. Sie reagierte überrascht und beinahe erschrocken. Noch fühlte sie sich nass geschwitzt und unappetitlich von der langen Reise.
„Natürlich!“, rief sie. „Ich sehne mich nur nach einer Dusche. Danach können wir gerne…“
„Okay!“ Er verstand sie gut. Wie oft hatte er bereits die lange Reise nach Europa angetreten. Und er wusste aus eigener Erfahrung, wie sehr man sich nach einem Bad oder einer Dusche sehnte, wenn man endlich am Ziel war.
Vorsichtig ließ er den Motor an und bugsierte das Auto aus der Parklücke. Audreys Augen hingen an Häusern, Straßenschildern und Bäumen. Vieles war anders, aber dennoch wirkte die Landschaft irgendwie vertraut. Wie ein Stück England, ein Stück Europa. In sanftem Grün-Blau leuchteten die Blätter der riesigen Eukalyptusbäume. Vereinzelt standen Palmen vor den Häusern oder an den Straßenecken – in Blumentöpfe gepflanzt oder fest im Boden verwurzelt. Ihre saftiggrünen Palmwedel wiegten sich unmerklich in einer leichten Brise. Manchmal waren die Enden der Palmwedel bereits von der drückenden Sonne versengt und waren vertrocknet und braun.
Viele Bäume, die Audrey sah, kannte sie schon aus ihrer Heimat. Beispielsweise Eichen und Obstbäume. Quadratische Häuser aus rotem Backstein säumten die sauberen Straßen in ruhigen Stadtteilen. Viele von ihnen hatten ordentlich angelegte Gärten. Die Hausdächer liefen fast alle spitz zu und sahen aus wie Pyramiden.
In Einkaufsstraßen präsentierten sich die Häuserfronten in bunten Farben – gelb, blau, rosa oder anderen. Ab und zu erinnerte Audrey die ganze Szenerie an einen Wildwestfilm aus den USA. Lag dies vielleicht an der Form der Häuser?
Meistens jedoch schwebte ein Hauch von Großbritannien oder den Niederlanden durch die Straßen und erinnerte an Einwanderer, die in harter Arbeit Australien zu dem aufgebaut war, was es heute war: ein wohlhabendes Land, in dem es sich zu leben lohnte.
Sie erreichten Strathfield. Ein Ort, der ebenfalls rote Backsteinhäuser hatte. Weiß-rot-gestreifte Sonnenschutzplanen aus Stoff waren von den Bewohnern über die Fenster gezogen worden, um ihren Wohnungen Schatten zu spenden.
Sauber gemähte Rasen blitzten saftig grün wie weiche Teppiche in der Sonne. Büsche und rote Blumen, einige Bäume – jeder „Sydneysider“ (so heißen im Volksmund die Einwohner der Stadt Sydney – Anmerkung der Autorin) hatte sich sein Reich nach seinem Geschmack gestaltet. Die Häuser sahen gleich aus, Unterschiede herrschten in der Gestaltung der Balkongeländer, der Hauseingänge und der Blumenbeete.
Lionels Fahrweise irritierte Audrey anfangs. Forsch fuhr er drauflos – auf der linken Seite -, steuerte das Auto scharf um die Kurven. Die Verkehrszeichen waren gelb mit schwarzen Symbolen und die Ampeln standen oft meterweit entfernt vom eigentlichen Haltepunkt.
Schließlich hielt Lionel vor einem schmucken roten Backsteinhaus.
„Da sind wir!“, sagte er. „Concord, New South Wales, Madison Street Number 15 – die Adresse, an die du jahrelang geschrieben hast!“
Audrey blinzelte in die Sonnenstrahlen und blickte auf Lionels Elternhaus. Nett sah es aus – sicherlich würde ihr der Aufenthalt dort gefallen!
Lionel schleppte Audreys Koffer wie ein Gentleman zur Hintertüre. Herr Norton trat heraus:
„Guten Tag, Audrey! Willkommen in Australien! Hatten Sie einen guten Flug?“
„Danke der Nachfrage. Ja, der Flug war ausgezeichnet!“ Audrey lächelte und fühlte sich kein bisschen müde.
Sie betrat die helle Wohnung und setzte sich an den Küchentisch. Endlich war sie am Ziel ihrer weiten Reise angekommen! Lionel und seine Eltern nahmen sie herzlich auf – wie eine Tochter.
Lionels Mutter kannte Audrey gerade nur aus Bildern, eine grauhaarige 70-jährige Dame, die gerne lachte.
Audrey stellte sich unter die Dusche und genoss die ersehnten Wassertropfen auf ihrer Haut. Lionel hatte sie mit Handtüchern ausgestattet – weich und flauschig. Als sie saubere Kleidung anzog, fühlte sie sich wie ein neuer Mensch. Endlich war sie all den Reisedreck los, all den Schweiß. Endlich konnte sie sich wirklich auf Australien, auf Sydney, konzentrieren.
Ihr Koffer stand in ihrem „neuen“ Zimmer, Brustbeutel, Pass, Geld und Reiseschecks ruhten sicher in einem Fach des großen Kleiderschranks.
Anschließend besuchte sie Lionel in seinem Zimmer. Er hatte die Jalousien herunter gezogen, um den Raum nicht zu sehr der Sonne preiszugeben. Audrey erkannte eine Reihe bunter Bierdosen auf der Vorhangstange. Lionel besaß einen riesigen braunen Schrank, der eine ganze Wand einnahm. Genug Platz, um viel zu verstauen.
Wie verloren, ruhte eine kleine Musikkompaktanlage auf dem weißen Flauschteppich. Zwei altmodische Kommoden standen gegenüber einem Bett, unter dessen Matratzen es viele Schubladen gab.
Lionel lag auf einem ausgebleichten Betttuch und gähnte. Obwohl der Teppich Audreys Schritte verschluckte, nahm er sie sofort wahr.
„Komm her!“, lockte er und rutschte zur Seite.
Sie blickte durch den Türspalt – unschlüssig, ob sie die Türe schließen sollte oder nicht. Aber da zog Lionel sie bereits auf sein Bett, auf einen freien Platz neben sich.
„Du riechst gut“, raunte er ihr ins Ohr, zog sanft ihre Bluse nach oben und massierte gleichmäßig ihre Brüste.
Sie ließ es geschehen und stöhnte wohlig. Wie gut tat es, wieder von diesem Mann gestreichelt zu werden! Auch er genoss es, sie zu erregen und wieder in seinen Bann zu ziehen.
Vergessen schien das halbe Jahr, das sie seit dem letzten Abschiednehmen im Oktober des Vorjahres voneinander getrennt hatte. Vergessen schienen viele Kilometer, die sie für eine Zeitlang auseinandergerissen hatten. Audrey und Lionel fuhren dort fort, wo sie damals aufgehört hatten.
Sie sprachen keine Worte, sie genossen in vollen Zügen, was sie sich geben konnten. Lionel stieß in seine Freundin, nachdem er ihre Brüste liebkost hatte, wovon sie nicht genug bekommen konnte. Sie ließen sich mitreißen von ihren Gefühlen, von der Harmonie zweier Körper, von ihrer Liebeszeremonie.
Anschließend lagen sie erschöpft und glücklich nebeneinander – konnte es etwas Schöneres geben als ihre Liebe?
„Du wirst hungrig sein“, meinte Lionel und küsste sie auf den Mund. „Meine Eltern haben Brötchen, Tomaten und Salat eingekauft. Heute Abend servieren sie ein warmes Gericht.“
Audrey nickte, erhob sich und schlüpfte in ihre Kleider. Sie ging mit Lionel in die Küche, schnitt knusprige Brötchen auf und belegte sie mit Salatblättern und Tomatenscheiben. Hungrig biss sie in ein Brötchen – es schmeckte wunderbar!
Nach diesem Essen zeigte ihr Lionel den „Cabarita-Park“, einen Park, den er schon als Kind geliebt hatte. Sie hatte ihm vorher versichert, dass sie noch nicht müde sei. Es schien, als sei der lange Flug spurlos an ihr vorübergegangen wie sanfte Wellen. Sie fühlte sich kein bisschen „jet-lagged“.
Sie wanderten zum Parramatta-Fluss. Blau floss er dahin, kein bisschen schmutzig. Gelbe Fährschiffe, die „Rivercats“ (Flusskatzen) hießen, schossen ab und zu vorbei. Fährschiffe, auf denen einige Passagiere die faszinierende Aussicht auf Häuser, Busch und Eukalyptusbäume genossen.
„Na, wie gefällt dir mein persönliches Reich, der Cabarita-Park?“ Lionel machte eine ausladende Armbewegung auf Wege, große Wiesen und einige Neubauten.
Der australische „Häuslebauer“ bewies viel Fantasie, fand Audrey. Hier bestanden viele Häuser aus zwei Stockwerken, die Fassaden waren zum Teil mit weißer Farbe verputzt. Ein Haus sah aus, als sei es gerade dem römischen Reich entstiegen – mit Rundbögen.
Yachten in allen Farben lagen vor einem Clubhaus vertäut und warteten auf das Wochenende. Sanft schaukelten sie in den Wellen.
„Hierher komme ich pro Woche einmal – schon seit meiner Kindheit!“, schmunzelte Lionel. „Ich dachte sofort, als erster Eindruck von Australien für dich sei dieser Park gerade richtig.“
Audrey pflichtete ihm bei und ging langsam zum Fluss hinunter.
„Der Park gefällt mir!“ Sie buddelte in braunem Sand und förderte einige Muscheln zutage. „Toll – hier gibt es tatsächlich Muscheln!“
„Ja, die gibt es!“ Lionel nahm ihr die Muscheln aus der Hand und hielt sie gegen das Sonnenlicht. „Du wirst noch schönere Exemplare finden – Sydney ist reich an Stränden, also auch an Muscheln.“
Audrey nahm ihre Muscheln wieder und steckte sie in die Hosentasche. Ihr erstes Souvenir aus Australien. Langsam schlich sie mit Lionel durch das grüne Gras und betrachtete die Landschaft. Anschließend fuhren sie nach Bayview – wieder ein neuer Park, neue und moderne Reihenhäuser, die am Flussufer entstanden.
„Von diesen Reihenhäusern schrieb ich dir bereits“, meinte Lionel. „Jahrelang gab es kein Gebäude an diesem Platz, sondern nur grüne Wiesen. Ich liebte diesen Park. Plötzlich schlossen Häuser wie Pilze aus dem Boden. Zuerst war ich wütend. Welche Landstriche wollte man denn noch mit Häusern verbauen? Unterdessen allerdings habe ich mich an diese Häuser gewöhnt. Sie gefallen mir.“
Er fasste sie an der Hand, umschloss sie mit seinen Fingern. Und dann küssten sie sich – wieder und wieder, während sich die Dämmerung leicht über das Land senkte.
Audrey spürte langsam, dass sie müde wurde. Jetzt forderte ihr Körper seinen Tribut.
Wieder zurück in Lionels Elternhaus sah sie ein bisschen fern. Australisches Fernsehen war etwas total Neues für sie. Aber von der englischen Komödie „Keeping up appearances“ bekam sie kaum etwas mit. Ihr Kopf lehnte an Lionels Schulter, während er ihr über die Haare strich.
Eine halbe Stunde schlief sie tief und fest auf dem Wohnzimmersofa. Dann weckte sie Lionel. Artig machte sie Konversation mit Lionel und seinen Eltern, genoss Lammkeule mit Kartoffelbrei und probierte guten australischen Weißwein.
Ständig plauderte sie. Sie erzählte von ihrem Zuhause, von ihrem Flug, dem netten schwedischen Ehepaar und von Hong Kong. Die Müdigkeit ergriff immer mehr von ihr Besitz – wie eine dunkle Wolke.
Dankbar fiel sie schließlich in ihr Bett in jenem kleinen Zimmer neben der Küche. Sofort schlief sie ein – und träumte von Australien.
Lionel hatte extra Urlaub genommen – vier herrliche Wochen mit Audrey. Sie reagierte zuerst bestürzt:
„Du solltest deinen Urlaub nicht meinetwegen verplempern!“
„Nein, nein, der Urlaub ist nicht verplempert!“, berichtigte sie Lionel. „Mir stand noch Resturlaub vom letzten Jahr zur Verfügung. Und außerdem gibt mir die Zeit mit dir die Gelegenheit, viele Orte wiederzusehen, die ich sonst kaum besuche!“
Man konnte es kaum glauben – viele Australier nehmen sich kaum Zeit, ihre nähere Umgebung zu erkunden. Am Feierabend setzt man sich übermüdet ins Auto oder in die Bahn oder einen Bus und fährt nach Hause. Sehenswürdigkeiten, wie das Opernhaus oder die „Sydney Harbour Bridge“ werden meistens von Touristen besucht. Am Wochenende meiden viele Australier die Zentren ihrer fantastischen Städte, weil sich dort Massen von Touristen aufhalten.
Wer in einer australischen Großstadt wohnt, fährt am Wochenende aufs Land, die so genannte „Countryside“. Oder man sucht Strände auf, um dort zu faulenzen. Manche besuchen auch ein Fußballspiel oder setzen sich zu Hause vor den Fernseher.
Aber verhalten sich die Deutschen nicht ähnlich? Man kennt seine nähere Umgebung, das Bundesland, in dem man wohnt, kaum. Dagegen ist man an vielen Urlaubsorten beinahe zu Hause.
Audrey genoss ihren ersten Morgen in Sydney. Sie hatte sehr gut geschlafen. Der Schlaf hatte sie erquickt. Krähen schimpften draußen auf den Obstbäumen, genau wie in Deutschland. Ab und zu mischte sich das Jammern eines anderen Vogels dazwischen. Ein Vogel, dessen Gesang Audrey noch nie gehört hatte. Seine Laute klangen wie der Teil einer Operntragödie – traurig und von Seelenschmerz durchtränkt. War das etwa der sagenumwobene „Kokaburra“, ein typisch australischer Vogel? Kein Australier, den Audrey traf, konnte ihr diese Frage beantworten.
Auch Lionel fühlte sich prächtig nach neun Stunden Schlaf. Zu schön klangen die Aussichten, vier Wochen lang nicht an den trockenen Bürojob denken zu müssen.
Audrey und Lionel frühstückten zusammen. Sie aßen Haferflocken, in warmer Milch angerührt. Und Toastbrot, das aus dem Toaster hüpfte wie ein Gummiball. Dazu tranken sie Kaffee – Nescafé oder den australischen Kaffee der Marke „Bushell’s“. Das ist eine Kaffeesorte, die ursprünglich aus Großbritannien importiert wurde. „Bushell’s“ war in Glasdosen verpackt, das Pulver sah aus wie Malzkaffee, schmeckte allerdings wie herkömmlicher Kaffee.
„Ich würde gerne eine Runde schwimmen, bevor wir zu einer Besichtigungstour aufbrechen“, meinte Lionel kauend. „Kommst du mit?“
Audrey war einverstanden und folgte Lionel zum Granville-Pool, einem Schwimmbad im ruhigen Stadtteil Granville. Das Wasser war Audrey zu kalt. Sie traute sich nicht hinein und betrachtete Lionel von einer Bank aus.
„Feigling!“, hänselte sie Lionel und tauchte blitzschnell unter, bevor sie ihm mit der hohlen Hand Wasser ins Gesicht spritzen konnte.
Später fotografierte Audrey die „Ladies‘ Ballers“, ein alltäglicher Anblick für Lionel, jedoch ein gänzlich neuer, exotischer für Audrey. Ältere Damen in weißer Kleidung mit Hauben, die an Krankenschwestern erinnerten, spielten mit einem schwarzen Ball. Ernsthaft und konzentriert versuchten sie, diesen in eines der Löcher auf dem großen Platz zu befördern.
„Heute will ich dir die Innenstadt von Sydney zeigen. Das Opernhaus, die „Harbour Bridge“ (übersetzt: Hafenbrücke) und viele andere Sehenswürdigkeiten, mit denen unsere Stadt aufwarten kann“, erklärte Lionel, als sie wieder in seinem schwarzen Datsun saßen und durch den Stadtteil Parramatta rauschten. „Ganz in der Nähe gibt es eine Anlegestelle für Fähren nach Sydney – die „River-Cats“, die wir gestern gesehen haben. Die Schifffahrt wird dir gefallen!“
Audreys Wangen glänzten vor Aufregung. Lionel parkte sein Auto unter einer riesigen Eiche, nahm Audreys Hand und schritt mit ihr zu der Anlegestelle.
Enttäuscht musste er feststellen, dass sie die 12-Uhr-Fähre gerade verpasst hatten.
„Die nächste Fähre geht erst um 15 Uhr ab – in fast drei Stunden. Das ist zu spät für die Innenstadt!“ Bedauernd zuckte er mit den Schultern. „Ich hätte nicht zum Schwimmen gehen sollen!“
„Mach dir nichts daraus!“, beruhigte ihn Audrey. „Dann nehmen wir morgen diese Fähre und suchen heute nach einem anderen Ausflugsziel.“
„Etwas anderes wird uns nicht übrigbleiben!“ Lionel biss sich auf die Lippen. Diese Pleite am ersten Tag mit Audrey war ihm sichtlich unangenehm. „Es tut mir wirklich leid und ich ärgere mich!“
Schweigend gingen sie an riesigen Wolkenkratzern vorbei. In Parramatta gab es einige große Firmen. Interessant wirkten diese – mit oftmals entspiegelten Fenstern, in denen sich das Sonnenlicht brach wie in einem großen, gläsernen See.
In einer griechischen Imbissbude stärkten sie sich, denn Lionel plagte wieder sein Hunger. Auf einmal hatte er eine gute Idee:
„Wir sollten in Richtung Blue Mountains (Blaue Berge) fahren! Dort kenne ich einige fantastische Aussichtspunkte, die dir sicherlich gefallen!“
Audrey war einverstanden und nickte. Sie freute sich auf die berühmten „Blauen Berge“.
Lionel freute sich über seine Idee, beugte sich zu ihr hinüber und hauchte ihr einen Kuss auf den Mund. Genau dies würde er immer wieder machen. Audrey liebte diese Küsse, zeigten ihr doch diese Gesten, wie viel Lionel an ihr lag, wie sehr er sie mochte.
Schnell lenkte er sein Auto über eine australische Autobahn. Wenn man auf eine Autobahn fuhr, musste man Gebühren bezahlen. Aber für manche Strecken lohnte sich diese Geldausgabe, denn auf vielen Landstraßen war man lange unterwegs. Schnurgerade zog sich die Autobahn in die Länge. Orte, Bäume und Schilder rasten an ihnen vorbei. Schilder, die deutlich anzeigten, dass man sich in Australien befand. Sie warben für Freizeitparks und andere Ausflugsziele. Beispielsweise das „Australien Wonderland“.
Immer wieder staunte Audrey, wie groß Sydney mit all seinen Vororten war. Die Stadt zog sich etliche Kilometer in die Länge. Ein Ort hieß Blaxland und dort sollte es einen aufregenden Aussichtspunkt geben. Jedenfalls glaubte Lionel hartnäckig daran.
„Ich weiß, dass dieser Aussichtspunkt hier irgendwo zu finden ist!“, behauptete er und fuhr einige Male im Kreis herum. Er fuhr um hellbraune Häuser, die zwischen Büschen versteckt waren. Häusern, die alle gleich aussahen. Einige dünne Äste von Bäumen und Büschen hingen über den Straßen. Diese Naturszenerie spendete Schatten an einem sehr sonnigen Tag.
„Am Anfang dieses Stadtteils sah ich einen Lebensmittelladen“, bemerkte Audrey. „Frage doch dort nach dem Weg zu diesem Aussichtspunkt.“
Es tat ihr leid zu sehen, wie Lionel sich abmühte, ihr etwas Aufregendes zu zeigen. Veranstaltete er diese Autofahrt nicht nur ihretwegen?
Aber Lionel wollte ihren Vorschlag nicht hören. Konnte er sich die Blöße geben, diesen Aussichtspunkt nicht zu finden, obwohl er aus dieser Gegend stammte? Nein! Unmöglich! Er würde selbst eine Lösung finden. Einen geheimnisvollen Pfad, der auf eine Aussichtsplattform führte. Einer Aussichtsplattform, von der aus man einen herrlichen Blick in ein Tal genießen konnte.
Er träumte davon, während er Audrey im Arm hielt, mit stolzgeschwellter Brust den Blick über die atemberaubende Landschaft gleiten zu lassen und zu sich selbst sagen zu können:
„Ich, Lionel Norton, habe jetzt mit eigener Kraft diesen tollen Aussichtsplatz ausfindig gemacht!“
Jedoch blieb ihm heute dieser Erfolg versagt. Straßen mit den irreführenden Namen, wie „Great View Avenue“ (Straße zur großartigen Aussicht), endeten als Sackgassen oder mündeten in eine Hauptstraße, die wieder auf die Autobahn führte.
„Ich verstehe nicht, warum Straßen solche irreführenden Namen haben!“, schimpfte Lionel.
Schließlich überwand er sich, in dem vorher erwähnten Lebensmittelladen am Ortseingang nach dem Weg zu fragen. Der Verkäufer beschrieb lächelnd mit ausladenden Armbewegungen einige Ecken und Kurven und erklärte den Weg so gut wie möglich.
Lionel nickte dankbar und verließ mit Audrey den Laden. Sie hatte einige Papiertaschentücher dort gekauft. Australische Papiertaschentücher sahen aus wie europäische Kosmetiktücher. Zweilagig nämlich und nicht vierlagig. Vierlagige Papiertaschentücher konnte sie nirgendwo auftreiben. Warum brachte man bewährte Papiertaschentücher, wie beispielsweise „Tempo“ und „Softis“, nicht auch in Australien auf den Markt? Audrey würde das nie erfahren.
Endlich fand Lionel zwei Aussichtspunkte. „Elizabeth’s View“ (Elizabeths Aussichtspunkt) und „Marge’s View“ (Margarets Aussichtspunkt). Diese beiden Plätze trugen offensichtlich die Namen von Mitgliedern des englischen Königshauses – von Königin Elizabeth und Prinzessin Margaret.
Von beiden Punkten aus blickte man in ein fast unendliches Tal, auf Wälder, Straßen und kleine Orte. Offensichtlich Vororte von Sydney. Audrey fand, dass dieses Tal eher europäisch und nicht australisch wirkte.
Lionel zeigte Audrey das Ufer des „Nepean River“, eines weiteren Flusses, der sich durch die Landschaft schlängelte. Und dort im grünen Gras umarmten sie sich.
Beide waren mit dem Tag zufrieden. Audrey hatte einen ersten guten Eindruck von Australien gewonnen. Und genau dieser Eindruck machte ihr das Land noch sympathischer.
Nur zu bald lernte Audrey australisches Fernsehen kennen. In den 1990er-Jahren gab es in Australien sieben oder acht Kanäle. Es waren allerdings noch mehr Satellitenkanäle geplant.
Lionel entpuppte sich als „komplett fernsehsüchtig“. Wie hypnotisiert klebte er vor vielen interessanten und nicht interessanten Sendungen.
Die Nachrichten sendete man in Australien sehr ausführlich. Man berichtete beinahe über jede Kleinigkeit, fand Audrey. Egal, ob es sich um einen Verkehrsunfall an der Straßenecke oder um die Einweihung eines Hallenbades handelte.
Audreys Lieblingssendungen waren „Full Frontal“ und „Hey, hey, it’s Saturday“. „Full Frontal“ hieß eine Comedy-Show, in der außergewöhnlich schauspielerisch begabte junge Schauspieler auf eine witzige Art und Weise Fernsehsendungen, Politik, Alltagsfragen, Nachrichten, Showbusiness und vieles andere parodierten. Vergleichbar ist „Full Frontal“ mit der deutschen Comedy-Serie „Switch“, aus der später „Switch Reloaded“ wurde.