Nora Roberts
Blau wie das Glück
Roman
Aus dem Amerikanischen von Margarethe von Pée
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Copyright © by Nora Roberts, 2007 Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2007 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München.
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück, Hannover.
Published by Arrangement with Eleanor Wilder
Covermotiv: bürosüd
MD ∙ Herstellung: Heidrun Nawrot
ISBN 978-3-641-02942-5V004
www.blanvalet.de
Inhaltsverzeichnis
Prolog
Kapitel 1 – Clare Am ersten Tag des Septembers
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Glossar irischer Wörter, Personen und Orte
Buch
Sie ist aufgewachsen in einer Familie von Kämpfern. Doch jetzt steht Blair Murphy vor ihrer größten Herausforderung. Im Auftrag der irischen Feenkönigin Morrigan soll sie den Kreis der sechs Auserwählten in der Kampfkunst ausbilden, um gegen die Mächte des Bösen anzutreten. Aber Blairs Schüler sind höchst eigenwillig. Und besonders mit dem humorvollen Larkin, der sich anscheinend so gar nicht von ihrer Stärke beeindrucken lässt, gerät die temperamentvolle Blair immer wieder aneinander – bis plötzlich die gegenseitige Abneigung in heiße Leidenschaft umschlägt …
Autorin
Nora Roberts wurde 1950 in Maryland geboren. Ihren ersten Roman veröffentlichte sie 1981. Inzwischen zählt sie zu den meistgelesenen Autorinnen der Welt: Ihre Bücher haben eine weltweite Gesamtauflage von über 500 Millionen Exemplaren. Auch in Deutschland erobern ihre Bücher und Hörbücher regelmäßig die Bestsellerlisten. Nora Roberts hat zwei erwachsene Söhne und lebt mit ihrem Ehemann in Maryland. Unter dem Namen J. D. Robb veröffentlicht Nora Roberts seit Jahren ebenso erfolgreich Kriminalromane.
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Liste lieferbarer Titel
Die Irland-Trilogie: Töchter des Feuers •
Töchter des Windes • Töchter der See Die Templeton-Trilogie: So hoch wie der Himmel • So hell wie der
Mond • So fern wie ein Traum Die Sturm-Trilogie: Insel des Sturms •
Nächte des Sturms • Kinder des Sturm Die Insel-Trilogie: Im Licht der Sterne • Im Licht der Sonne
• Im Licht des Mondes Die Zeit-Trilogie: Zeit der Träume • Zeit der Hoffnung •
Zeit des Glücks Die Ring-Trilogie: Grün wie die Hoffnung •
Blau wie das Glück
Mitten in der Nacht. Roman
Das Leuchten des Himmels. Roman
Nora Roberts ist J. D. Robb: Ein gefährliches Geschenk. Roman
Die Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel
»Dance of the Gods« bei Berkley Books,
The Berkley Publishing Group,
Was wir zu tun lernen, lernen wir, indem wir es tun.
Aristoteles
Prolog
Als am Horizont die letzten Feuerstrahlen der tiefstehenden Sonne erglühten, drängten sich die Kinder um den alten Mann, um den nächsten Teil der Geschichte zu hören. Es schien ihm, als brächten ihre eifrigen Gesichter und ihre großen, staunenden Augen das Licht in das Zimmer zurück. Jetzt, während sich die Dunkelheit über das Land senkte, würde er die Geschichte weitererzählen, die er an einem verregneten Nachmittag begonnen hatte.
Das Feuer prasselte im Kamin. Er trank einen Schluck Wein und suchte in Gedanken nach den richtigen Worten.
»Ihr kennt schon den Anfang der Geschichte, von Hoyt, dem Zauberer, und der Hexe weit nach seiner Zeit. Ihr wisst, wie der Vampir entstanden ist und wie die Gelehrte und der Gestaltwandler von der Welt Geall durch den Tanzplatz der Götter in das Land Irland kamen. Ihr wisst, wie ein Freund und Bruder verloren ging und wie die Kriegerin zu ihnen kam.«
»Sie haben sich zusammengeschlossen«, sagte eines der großäugigen Kinder, »um zu kämpfen und alle Welten zu retten.«
»Das ist die Wahrheit, und das geschah. Diese sechs, dieser Kreis aus Mut und Hoffnung, wurden von den Göttern durch ihre Botin Morrigan beauftragt, die Armee der Vampire, die von der ehrgeizigen Königin Lilith angeführt wurde, zu bekämpfen.«
»Sie haben die Vampire in der Schlacht besiegt«, sagte eines der kleineren Kinder, und der alte Mann wusste, es sah sich selber als einen tapferen Krieger, der das Schwert schwang, um das Böse zu vernichten.
»Auch das ist die Wahrheit, und das geschah. In jener Nacht war das Handfasting für den Zauberer und die Hexe, und sie gelobten einander die Liebe, die sie in jener schrecklichen Zeit gefunden hatten. Und in jener Nacht schlug der Kreis der sechs die Dämonen zurück. Ihr Mut stand außer Frage. Aber es war nur ein einziger Kampf im ersten Monat von den dreien, die ihnen gewährt worden waren, um die Welten zu retten.«
»Wie viele Welten gibt es?«
»Man kann sie nicht zählen«, erwiderte der alte Mann. »Genauso wenig wie man die Sterne am Himmel zählen kann. Und alle diese Welten waren bedroht. Denn wenn diese sechs besiegt würden, würden sich alle diese Welten verändern, so wie auch ein einzelner Mann in einen Dämon verwandelt werden kann.«
»Aber was passierte dann?«
Er lächelte, und der Feuerschein warf Schatten auf sein runzeliges Gesicht. »Nun, das werde ich euch erzählen. Auch nach jener Nacht des Kampfes graute der Morgen. Es war eine sanfte, dunstige Morgendämmerung, eine Ruhe nach dem Sturm. Der Regen hatte das Blut von Menschen und Dämonen weggewaschen, aber der Boden war verbrannt, wo die Feuerschwerter ihn entzündet hatten. Und doch gurrten die Tauben, und der Fluss floss plätschernd dahin. Nass vom Regen schimmerten Blätter und Blüten im Morgenlicht.
Genau dafür«, sagte er zu den Kindern, »für diese einfachen und gewöhnlichen Dinge kämpften sie. Denn der Mensch braucht den Trost des Einfachen ebenso, wie er den Ruhm braucht.«
1
Clare Am ersten Tag des Septembers
Larkin humpelte durch das Haus, in dem es still war wie im Grab. Die Luft duftete süß nach den Blumen, mit denen sie am Abend zuvor die Räume für das Handfasting geschmückt hatten.
Das Blut war aufgewischt worden; die Waffen gesäubert. Sie hatten mit perlendem Wein auf Hoyt und Glenna angestoßen und Kuchen gegessen. Aber hinter dem Lächeln lauerte der Schrecken des nächtlichen Kampfes. Ein schlechter Gast.
Heute wollten sie sich ausruhen und weiter vorbereiten. Es fiel ihm schwer, nicht ungeduldig zu werden. Nun, gestern Abend hatten sie zumindest gekämpft, dachte er und presste die Hand an seinen Oberschenkel, der von einer Pfeilwunde schmerzte. Er konnte sich rühmen, zahlreiche Dämonen niedergestreckt zu haben.
In der Küche öffnete er den Kühlschrank und nahm eine Flasche Coke heraus. Er hatte Geschmack daran gefunden und zog es mittlerweile dem Morgentee vor.
Staunend betrachtete er das klug ausgedachte Gefäß – die Flasche war so glatt, durchsichtig und fest. Und das, was darin war – es würde ihm fehlen, wenn sie wieder nach Geall zurückkehrten.
Er musste zugeben, dass er seiner Kusine Moira nicht geglaubt hatte, als sie von Göttern und Dämonen, von einem Krieg für die Welten gesprochen hatte. Er war an jenem traurigen Tag, an dem sie ihre Mutter beerdigt hatten, nur mit ihr gegangen, um sie zu beschützen. Sie war nicht nur eine Blutsverwandte, sondern auch eine Freundin und die zukünftige Königin von Geall.
Aber jedes Wort, das sie, nur wenige Schritte vom Grab ihrer Mutter entfernt, zu ihm gesprochen hatte, war die reine Wahrheit gewesen. Sie waren zum Tanzplatz gegangen und hatten sich in die Mitte dieses Kreises gestellt. Und dann hatte sich alles verändert.
Und nicht nur das Wo und das Wann, dachte er, als er die Flasche öffnete und einen Schluck trank, sondern einfach alles. Im einen Moment hatte er in Geall in der Nachmittagssonne gestanden, und im nächsten Augenblick war nur noch Licht, Wind und ein Dröhnen gewesen.
Und plötzlich herrschte Nacht, und sie befanden sich in Irland – einem Land, das Larkin immer für ein Märchen gehalten hatte. Er hatte nicht an Märchen und Monster geglaubt und der Magie immer skeptisch gegenübergestanden, obwohl er selber eine magische Gabe besaß.
Aber es gab Magie, das musste er jetzt eingestehen. Und auch Irland gab es ganz offensichtlich, ebenso Monster. Diese Bestien hatten sie angegriffen – waren mit ihren roten Augen, den scharfen Reißzähnen aus der Dunkelheit des Waldes über sie hergefallen. In Gestalt von Menschen, dachte er, aber es waren keine Menschen.
Vampire.
Sie nährten sich von den Menschen. Und jetzt hatten sie sich um ihre Königin geschart, um sie alle zu vernichten.
Er war hier, um sie aufzuhalten, koste es, was es wolle. Er war hier im Auftrag der Götter, um die Welten der Menschen zu retten.
Müßig kratzte er sich über die heilende Stelle am Oberschenkel. Man konnte wohl kaum von ihm erwarten, dass er die Menschheit mit leerem Magen rettete.
Er schnitt sich ein großes Stück Kuchen ab und leckte sich den Zuckerguss von den Fingern. Bis jetzt war er mit List und Tücke um Glennas Kochunterricht herumgekommen. Er aß schrecklich gerne, aber das Essen selbst zuzubereiten kam für ihn nicht in Frage.
Er war ein großer, schlaksiger Mann mit einer dicken, blonden Haarmähne. Seine goldfarbenen Augen standen ein wenig schräg, wie bei seiner Kusine, und blickten fast genauso scharf. Sein breiter, voller Mund verzog sich bereitwillig zum Lächeln, er war reaktionsschnell und umgänglich.
Die, die ihn kannten, hätten gesagt, dass er großzügig mit seiner Zeit und dem Geld umging. Man konnte gut mit ihm trinken, aber man konnte sich auch im Kampf auf ihn verlassen.
Er war mit markanten, gleichmäßigen Gesichtszügen ausgestattet sowie mit einem starken Rücken und einer leichten Hand. Und er besaß die Macht, sich in jedes beliebige Lebewesen zu verwandeln.
Im Stehen biss er herzhaft von dem Kuchenstück ab, das er sich abgeschnitten hatte, aber eigentlich gefiel es ihm nicht, dass es so still im Haus war. Er wollte, brauchte, Aktivität, Lärm und Trubel. Da er nicht mehr schlafen konnte, beschloss er, mit Cians Hengst einen Morgenausritt zu unternehmen.
Cian konnte ihn schließlich im Augenblick nicht reiten, da er ja ein Vampir war.
Er trat aus der Hintertür des großen Steinhauses. Die Luft war kühl, aber er trug Pullover und Jeans, die Glenna ihm im Ort gekauft hatte. Die Stiefel waren seine eigenen – und um seinen Hals hing das Silberkreuz, das Glenna und Hoyt mit Magie geschmiedet hatten.
Deutlich sah er die Stellen, wo die Erde verbrannt und niedergetrampelt war. Er sah seine eigenen Hufspuren, wo er während des Kampfes als Pferd umhergaloppiert war.
Und er sah die Frau, die auf ihm geritten war und mit ihrem Flammenschwert die Vernichtung gebracht hatte.
Sie bewegte sich im Dunst, langsam und anmutig. Er hätte es für einen Tanz gehalten, wenn er nicht gewusst hätte, dass die beherrschten Bewegungen nur eine weitere Form der Vorbereitung auf den Kampf darstellten.
Geschmeidig bewegte sie ihre langen Arme und Beine, und er sah, wie ihre Muskeln zitterten, wenn sie eine Pose endlos hielt. Ihre Arme waren entblößt, und sie trug ein enges Kleidungsstück, das in Geall keine Frau außerhalb des Schlafzimmers tragen würde.
Sie hob ein Bein nach hinten, beugte das Knie und griff mit der Hand nach ihrem Knöchel. Das Leibchen rutschte an ihrem Oberkörper hoch und entblößte noch mehr Haut.
Der Mann, der diesen Anblick nicht genießen würde, konnte einem leid tun, dachte Larkin.
Sie hatte kurze, rabenschwarze Haare, und ihre Augen waren blauer als die Seen von Fonn. In seiner Welt hätte sie nicht als Schönheit gegolten, da ihr die Rundlichkeit und Lieblichkeit der Formen fehlten, aber ihm gefielen die kraftvolle Figur, ihr kantiges Gesicht, der scharfe Bogen ihrer interessanten, einzigartigen Augenbrauen.
Jetzt schwang sie das Bein zur Seite und ließ sich langsam auf die ausgestreckten Arme zu Boden gleiten.
»Isst du morgens immer so viel Zucker?«
Beim Klang ihrer Stimme zuckte er zusammen. Er war ganz leise gewesen und hatte sich unbemerkt geglaubt. Er hätte es besser wissen müssen. Er biss von dem Stück Kuchen ab, das er immer noch in der Hand hielt. »Er schmeckt gut.«
»Ja, klar.« Blair richtete sich auf. »Du bist früher aufgestanden als sonst.«
»Ich konnte nicht schlafen.«
»Ich weiß, was du meinst. Es war ein verdammt guter Kampf.«
»Gut?« Er blickte über die verbrannte Erde und dachte an die Schreie, das Blut, den Tod. »Es war nicht gerade ein Spaziergang.«
»Aber unterhaltsam.« Ein hartes Licht funkelte in ihren Augen. »Wir haben einige Vampire das Fürchten gelehrt, und wie könnte man den Abend besser verbringen?«
»Ich kann mir etwas Schöneres vorstellen.«
»Aber es war doch aufregend.« Sie rollte die Schultern und blickte zum Haus. »Und es gibt Schlimmeres, als von einem Handfasting zu einem Kampf aufzubrechen und wieder zurückzukehren – als Sieger. Vor allem, wenn man die Alternative bedenkt.«
»Ja, da hast du vermutlich Recht.«
»Ich hoffe, Glenna und Hoyt haben wenigstens ein bisschen Zeit für die Flitterwochen, denn im Großen und Ganzen war es wirklich ein beschissener Empfang.«
Mit den langen, geschmeidigen Schritten, die er so bewunderte, trat sie zu dem langen Tisch, auf den sie tagsüber beim Training die Waffen legten.
Sie ergriff eine Flasche Wasser, die sie dorthin gestellt hatte, und trank durstig.
»Du hast ein Königsmal.«
»Was?«
Er trat näher und fuhr mit der Fingerspitze leicht über ihr Schulterblatt. Dort sah man ein Kreuz, ähnlich dem, das sie um den Hals hängen hatte, nur dass es blutrot war.
»Das ist nur eine Tätowierung.«
»In Geall darf nur der Herrscher ein Mal auf dem Körper haben. Wenn ein neuer König oder eine Königin gekrönt wird und das Schwert aus dem Stein zieht, erscheint es. Hier.« Er klopfte mit der Hand auf seinen rechten Bizeps. »Nicht das Symbol des Kreuzes, sondern das Claddaugh, das die Götter dorthin malen.«
»Cool. Hervorragend«, fügte sie hinzu, als er sie stirnrunzelnd anblickte.
»Ich habe es selbst noch nie gesehen.«
Sie legte den Kopf schräg. »Und du glaubst es erst, wenn du es siehst?«
Er zuckte mit den Schultern. »Meine Tante, Moiras Mutter, hatte so ein Mal. Aber sie war schon vor meiner Geburt Königin geworden, deshalb habe ich nicht gesehen, wie das Mal entstanden ist.«
»Diesen Teil der Legende habe ich noch nie gehört.« Rasch fuhr sie mit der Fingerspitze über den Zuckerguss auf seinem Kuchen und leckte ihren Finger ab. »Aber vermutlich wird auch nicht alles überliefert.«
»Wie ist dein Mal entstanden?«
Komischer Typ, dachte Blair. Neugierig. Tolle Augen. Aber gefährlich – das schrie geradezu nach Komplikationen. Und dafür war sie einfach nicht gebaut – das hatte sie doch unter Schmerzen lernen müssen. »Ich habe dafür bezahlt. Viele Leute sind tätowiert. Man könnte sagen, es ist so etwas wie eine persönliche Erklärung. Glenna hat auch ein Tattoo.« Sie trank noch einen Schluck und fasste sich mit der Hand hinten an den Rücken. »Hier. Ein Pentagramm. Ich habe es gesehen, als ich ihr beim Anziehen für das Handfasting geholfen habe.«
»Dann sind sie also nur für Frauen?«
»Nein, nicht nur. Wieso, willst du eins?«
»Ich glaube nicht.« Abwesend rieb er sich über den Oberschenkel.
Blair dachte daran, wie sie ihm den Pfeil herausgezogen hatte. Er hatte kaum einen Laut von sich gegeben. Abgesehen von den tollen Augen und dem neugierigen Wesen hatte der Junge auch noch Mumm. »Hast du noch Schmerzen im Bein?«
»Es ist ein bisschen steif und tut noch etwas weh. Glenna ist eine gute Heilerin. Und deins?«
Sie bog ihr Bein zurück und zog ein wenig daran. »Es ist okay. Bei mir heilt alles schnell – familiäre Veranlagung. Zwar nicht so schnell wie bei einem Dämon«, fügte sie hinzu, »aber bei Dämonenjägern geht es schneller als beim Durchschnitt.«
Sie ergriff die Jacke, die sie auf den Tisch geworfen hatte, und schlüpfte hinein. Der Morgen war noch kühl. »Ich möchte jetzt einen Kaffee.«
»Der schmeckt mir nicht. Ich bleibe lieber bei Coke.« Er lächelte sie charmant an. »Machst du dir dein Frühstück selbst?«
»Später. Ich muss erst noch ein paar Dinge erledigen.«
»Vielleicht könntest du ja genug für zwei machen?«
»Vielleicht.« Kluges Kerlchen, dachte sie. Man musste seine Taktik bewundern. »Hast du jetzt was vor?«
Er brauchte einen kurzen Moment, aber da er jeden Tag vor der wundersamen Maschine saß, die man Fernseher nannte, hatte er schon ein bisschen von der neuen Ausdrucksweise gelernt. »Ich wollte ausreiten und danach das Pferd füttern und putzen.«
»Es ist ein heller Tag heute, aber du solltest trotzdem nicht unbewaffnet in den Wald reiten.«
»Ich reite über die Felder. Glenna hat mich gebeten, nicht alleine durch den Wald zu reiten, und ich möchte nicht, dass sie sich Sorgen macht. Wolltest du auch ausreiten?«
»Nein, danke, ich glaube, gestern Abend hat mir gereicht.« Amüsiert gab sie ihm einen kleinen Schubs. »Du bist ganz schön schnell, Cowboy.«
»Und du hast einen leichten, festen Sitz.« Er blickte auf die zertrampelte Erde. »Du hast Recht. Es war ein guter Kampf.«
»Ja, das ist wohl wahr. Aber der Nächste wird nicht so leicht.« Erstaunt zog er die Augenbrauen hoch. »Dieser war leicht?«
»Darauf kannst du wetten, verglichen mit dem, was kommt.«
»Na ja, die Götter werden uns schon helfen. Und wenn du Eier und Speck für mich mit braten würdest, wäre das wunderbar. Schließlich sollten wir essen, solange wir noch einen Magen haben.«
Lustiger Gedanke, dachte Blair, als sie ins Haus ging. Aber er hatte es wirklich so gemeint. Sie hatte noch nie jemanden kennengelernt, der so leicht über Leben und Tod hinwegging. Er besaß ein Selbstvertrauen, das er einfach lebte, bis sein Leben vorbei war.
Sie bewunderte diesen Standpunkt. Sie war in der Gewissheit aufgewachsen, dass das Ungeheuer unter dem Bett real war und nur darauf wartete, dass man sich entspannte, damit es einem die Kehle aufreißen konnte.
Man hatte ihr beigebracht, diesen Moment so lange hinauszuzögern, wie sie kämpfen und zuschlagen konnte. Aber unter der Stärke, der Geistesgegenwart und dem täglichen Training lag das Wissen, dass sie eines Tages nicht mehr schnell und geschickt genug sein und das Glück sie verlassen würde.
Und das Monster würde siegen.
Und doch war das Verhältnis zwischen Dämon und Jäger immer ausgeglichen gewesen, da jeder die Beute des anderen war. Jetzt jedoch lag die Messlatte wesentlich höher, sie berührte schon den Himmel, dachte sie, als sie Kaffee machte. Es ging nicht mehr nur um Pflicht und Tradition, die fast ein ganzes Jahrtausend lang weitergegeben worden waren.
Jetzt ging es darum, die Menschheit zu retten.
Sie war hier, mit dieser seltsamen, kleinen Truppe – von denen zwei, der Vampir und der Zauberer, sich als ihre Vorfahren herausgestellt hatten -, um die Mutter aller Schlachten zu kämpfen.
Noch zwei Monate bis Halloween, dachte sie. Bis Samhain und bis zur Entscheidungsschlacht, die die Göttin prophezeit hatte. Sie mussten bereit sein, dachte Blair, als sie sich die erste Tasse Kaffee einschenkte. Etwas anderes kam gar nicht in Frage.
Sie ging mit der Tasse hinauf in ihr Zimmer.
Als Unterkunft war es um Klassen besser als ihre Wohnung in Chicago, in der sie in den letzten anderthalb Jahren gelebt hatte. Das Kopfteil des Bettes war eingerahmt von geschnitzten Drachen. Als Frau kam man sich in diesem Bett vor wie eine verwunschene Prinzessin – wenn einem danach war, in Fantasien zu schwelgen.
Obwohl das Haus einem Vampir gehörte, gab es einen großen Spiegel in einem schweren Mahagoni-Rahmen. In den Schrank hätten dreimal so viele Kleider gepasst, wie sie mitgebracht hatte, deshalb bewahrte sie die Ersatzwaffen dort und ihre Kleidung in der Kommode auf.
Die Wände waren in einem blassen Pflaumenton gestrichen, und auch die Gemälde an der Wand zeigten Waldlandschaften im Morgengrauen oder in der Abenddämmerung, deshalb war es bei zugezogenen Vorhängen im Raum immer dunkel. Aber das war in Ordnung. Sie hatte einen Großteil ihres Lebens im Schatten verbracht.
Jetzt jedoch zog sie die Vorhänge zurück, damit das Morgenlicht hereindringen konnte, und setzte sich an den prachtvollen, kleinen Sekretär, um ihre E-Mails zu checken.
Die Hoffnung stirbt zuletzt, dachte sie, als sie sie immer noch keine Antwort-Mail von ihrem Vater hatte.
Es war ja schließlich nichts Neues. Ihr Bruder hatte ihr gesagt, dass er irgendwo durch Südamerika reiste.
Sie hatte seit sechs Monaten keinen Kontakt mehr zu ihm gehabt, und auch das war nichts Neues. Seine Pflicht ihr gegenüber hatte er seiner Meinung nach schon vor Jahren erfüllt. Und vielleicht hatte er ja Recht. Er hatte sie unterrichtet und trainiert, obwohl sie nie so gut gewesen war, dass sie seine Zustimmung gefunden hatte.
Dafür besaß sie einfach nicht die richtige Ausrüstung. Sie war nicht sein Sohn. Die Enttäuschung darüber, dass sie statt seines Sohnes die Gabe geerbt hatte, hatte er nie verwunden oder auch nur verborgen.
Schläge zu mildern, gleich welcher Art, war nicht Sean Murphys Stil, und als sie achtzehn war, hatte er sich ihrer einfach entledigt.
Und jetzt schrieb sie ihm sogar noch eine zweite Nachricht, obwohl er schon die erste nicht beantwortet hatte. In der ersten E-Mail hatte sie ihm vor ihrer Abreise aus Irland mitgeteilt, dass etwas in der Luft läge und sie seinen Rat bräuchte.
Nun, offenbar hielt er es mal wieder nicht für nötig, mit ihr in Kontakt zu treten. Aber sie schrieb ihm trotzdem, dass das Problem sich als ernsthaft herausgestellt hatte.
Er führte sein eigenes Leben, und er hatte nie vorgegeben, dass ihm etwas anderes wichtig wäre. Es war ihr eigenes Problem, ihr eigenes Defizit, dass sie immer noch nach seiner Zustimmung und Anerkennung strebte. Seine Liebe zu gewinnen hatte sie vor langer Zeit aufgegeben.
Sie schaltete den Computer aus, zog sich ein Sweatshirt über und schlüpfte in ihre Schuhe. Sie beschloss, in den Trainingsraum zu gehen und mit Gewichtheben die Frustration abzuarbeiten. Dann würde sie auch Appetit bekommen.
In dem Haus, hatte man ihr erzählt, waren Hoyt und sein Bruder Cian geboren worden. Das war Anfang des zwölften Jahrhunderts gewesen. Natürlich war es in der Zwischenzeit modernisiert und erweitert worden, aber der ursprünglichen Struktur sah man ganz deutlich an, dass die Mac Cionaoith eine vermögende Familie gewesen sein mussten.
Cian hatte natürlich fast ein Jahrtausend lang Zeit gehabt, um eigenes Vermögen zu erwerben und das Haus wieder kaufen zu können. Allerdings hatte sie mitbekommen, dass er nicht hier lebte.
Normalerweise unterhielt sie sich nicht mit Vampiren – sie tötete sie nur. Aber bei Cian machte sie eine Ausnahme. Aus Gründen, die ihr nicht ganz klar waren, kämpfte er mit ihnen und finanzierte die kleine Truppe sogar in einem gewissen Maß.
Und sie hatte gesehen, wie wild und skrupellos er in der letzten Nacht gekämpft hatte. Seine Loyalität konnte durchaus die Waagschalen zu ihren Gunsten neigen.
Sie stieg die Steintreppe zu dem früheren Bankettsaal hinauf, der später als Ballsaal genutzt worden war. Jetzt war es ihr Trainingsraum.
Abrupt blieb sie stehen, als sie sah, dass Moira, Larkins Kusine, ihre Brustmuskulatur mit Fünf-Pfund-Gewichten stärkte. Die Frau aus Geall hatte ihre braunen Haare zu einem dicken Zopf geflochten, der ihr bis zur Taille herunterhing. Der Schweiß lief ihr übers Gesicht und hatte den Rücken des weißen T-Shirts schon dunkel gefärbt. Ihre nebelgrauen Augen waren konzentriert nach vorne gerichtet.
Nach Blairs Schätzung wog sie höchstens hundertzehn Pfund, aber sie war zäh. Und was Blair ursprünglich für schüchterne Zurückhaltung gehalten hatte, war in Wirklichkeit Achtsamkeit. Die junge Frau saugte alles auf.
»Ich dachte, du wärest noch im Bett«, sagte Blair und betrat den Saal.
Moira senkte die Gewichte und wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn. »Ich bin schon eine ganze Weile auf. Brauchst du den Raum?«
»Hier ist genug Platz für uns beide.« Blair trat vor und wählte Zehn-Pfund-Gewichte. »Hockst du heute Früh nicht über den Büchern?«
»Ich …« Seufzend streckte Moira die Arme aus, wie man es ihr beigebracht hatte. Sie wünschte, ihre Arme wären so muskulös wie Blairs, aber weich konnte sie jetzt auch keiner mehr nennen. »Ich wollte hier anfangen, bevor ich in die Bibliothek gehe, weil um diese Uhrzeit sonst noch niemand auf ist.«
»Okay.« Neugierig musterte Blair Moira. »Und warum machst du ein Geheimnis daraus?«
»Kein Geheimnis. Nicht wirklich ein Geheimnis.« Moira ergriff ihre Wasserflasche und drehte den Deckel ab. Dann setzte sie ihn wieder darauf. »Ich bin die Schwächste von uns. Um das zu wissen, brauche ich nicht dich oder Cian – obwohl ihr es mir mit schöner Regelmäßigkeit unter die Nase reibt.«
In Blairs Bauch zuckte es. »Und das tut weh. Es tut mir leid. Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn man niedergemacht wird, obwohl man sein Bestes gibt.«
»Mein Bestes ist eben nicht so gut, oder? Nein, du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, sagte sie, bevor Blair antworten konnte. »Es ist schwer, wenn man gesagt bekommt, dass man nicht so gut ist, aber bei mir ist es eben so – im Moment. Deshalb komme ich früh am Morgen hierher und hebe diese verdammten Gewichte, wie du es mir gezeigt hast. Ich will nicht die schwache Kleine sein, um die alle sich nur sorgen.«
»Du magst nicht so viele Muskeln haben, aber du bist schnell. Und im Bogenschießen bist du ein wahres Genie. Wenn du das nicht so gut könntest, wäre es letzte Nacht nicht so gut für uns ausgegangen.«
»Ich sollte an meinen Schwächen und meinen Stärken arbeiten, das hast du zu mir gesagt – und es hat mich wütend gemacht. Aber dann sah ich, wie klug das war, und jetzt bin ich nicht mehr wütend. Du bist eine gute Lehrmeisterin. King war … Er ist liebevoller mit mir umgegangen, wahrscheinlich, weil er ein Mann war. Und dann noch ein großer Mann«, fügte Moira traurig hinzu. »Ich glaube, er empfand solche Zuneigung für mich, weil ich die Kleinste von uns bin.«
Blair hatte King, Cians Freund, den Lilith entführt und getötet und dann als Vampir zurückgeschickt hatte, nicht mehr kennengelernt.
»Ich werde nicht so liebevoll mit dir umgehen«, versprach sie Moira.
Als sie fertig trainiert und sich rasch geduscht hatte, verspürte Blair gesunden Appetit. Sie beschloss, sich mit ihrem Lieblingsfrühstück zu belohnen und French Toast zuzubereiten.
Sie legte ein wenig irischen Speck in die Pfanne, damit die Proteine nicht zu kurz kamen, und wählte Green Day auf ihrem MP3-Player. Das war die richtige Musik zum Kochen.
Bevor sie die Eier in eine Schüssel aufschlug, schenkte sie sich ihre zweite Tasse Kaffee ein.
Sie war gerade dabei, die Eier zu rühren, als Larkin zur Küchentür hereinkam. Er blieb stehen und starrte auf ihren Player. »Was ist denn das?«
»Es ist ein …« Wie sollte sie das erklären? »Eine Art zu pfeifen, während man arbeitet.«
»Nein, ich meine nicht die Maschine. Davon gibt es so viele, dass sie gar nicht alle in meinen Kopf passen. Was ist das für ein Geräusch?«
»Oh. Äh, Unterhaltungsmusik? Rock – von der harten Sorte.«
Grinsend legte er den Kopf schräg. »Rock. Das gefällt mir.«
»Mir auch. Den Eiern aber wahrscheinlich nicht. Ich mache French Toast zum Frühstück.«
»Toast?« Enttäuscht verzog er das Gesicht. »Nur gebratenes Brot?«
»Nicht nur. Außerdem musst du essen, was auf den Tisch kommt, wenn ich die Macht über den Herd habe. Sonst kannst du es ja selbst mal versuchen.«
»Es ist natürlich nett von dir, zu kochen.«
Sein Tonfall klang so leidend, dass sie beinahe laut aufgelacht hätte. »Entspann dich und vertrau mir, Cowboy. Du wirst es mindestens so gerne mögen wie Rockmusik, vor allem mit reichlich Butter und Sirup. Es ist gleich fertig. Wendest du bitte schon mal den Speck?«
»Ich muss mich erst waschen. Ich habe den Stall ausgemistet und bin viel zu schmutzig, um etwas anzufassen.«
Blair zog eine Augenbraue hoch, als er aus der Küche verschwand. Er hatte sich schon auf alle möglichen Arten den Küchenpflichten entzogen. Und sie musste zugeben, er machte das geschickt.
Resigniert wendete sie den Speck und stellte eine zweite Pfanne auf den Herd. Sie wollte gerade das erste Stück Brot hineinlegen, als sie Stimmen hörte. Die Frischvermählten waren aufgestanden. Rasch schlug sie noch mehr Eier in den Teig.
Müheloser Stil, darüber verfügte Glenna reichlich, dachte Blair. In einem grünen Pullover und schwarzen Jeans trat sie in die Küche. Ihre leuchtend roten, glatten Haare fielen ihr offen über die Schultern. Die typische Städterin auf dem Land, dachte Blair. Wenn man jetzt noch die hübsch geröteten Wangen einer Frau dazurechnete, die offensichtlich an diesem Morgen schon gekuschelt hatte, bot sie einen reizvollen Anblick. Auf jeden Fall sah sie nicht aus wie eine Frau, die mit Kriegsgeschrei und Streitaxt ein ganzes Heer von Vampiren angriff. Aber genau das hatte sie letzte Nacht getan.
»Mmm, French Toast? Du kannst Gedanken lesen.« Glenna streichelte Blair über den Arm und trat an die Kaffeemaschine. »Soll ich dir helfen?«
»Nein, ich habe alles im Griff. Du hast bisher sowieso den Löwenanteil der Küchenarbeit erledigt, und ich kann besser Frühstück zubereiten als Abendessen. Ist Hoyt noch nicht wach? Ich meine, ich hätte ihn gehört.«
»Er kommt gleich. Er redet gerade noch mit Larkin über das Pferd. Ich glaube, er ist ein bisschen sauer, weil er nicht vor Larkin zu Vlad gekommen ist. Der Kaffee ist gut. Wie hast du geschlafen?«
»Zwei Stunden lang wie eine Tote.« Blair tauchte eine Brotscheibe in den Eierteig und legte sie in die Pfanne. »Aber dann, ich weiß nicht, hatte ich keine Ruhe mehr. Ich war wie aufgedreht.« Sie warf Glenna einen Blick von der Seite zu. »Und ich konnte meine überschüssige Energie ja nicht wie die Braut loswerden.«
»Ich muss zugeben, dass ich mich heute Früh locker und entspannt fühle. Wenn man einmal davon absieht.« Glenna zuckte ein wenig zusammen und massierte ihren rechten Bizeps. »Meine Arme fühlen sich an, als hätte ich die halbe Nacht einen Vorschlaghammer geschwungen.«
»So eine Streitaxt ist ganz schön schwer. Aber du hast gute Arbeit damit geleistet.«
»Arbeit ist eigentlich nicht so ganz das Wort, das mir dabei in den Sinn kommt. Aber ich werde nicht darüber nachdenken, bis ich mir den Bauch vollgeschlagen habe.« Glenna öffnete den Schrank, um Teller herauszuholen. »Weißt du, wie oft ich so ein Frühstück hatte – gebratenes Brot, gebratenen Speck -, bevor das alles anfing?«
»Nein.«
»Nie. Absolut nie«, fügte sie lachend hinzu. »Ich habe auf mein Gewicht geachtet, als ob das Schicksal der Welt davon abhinge.«
»Na ja, du trainierst hart.« Blair drehte das Brot um. »Du brauchst Treibstoff, Kohlenhydrate. Wenn du ein paar Pfund zulegst, kann ich dir garantieren, dass es reine Muskelmasse sein wird.«
»Blair.« Glenna blickte zur Tür, um sich zu vergewissern, dass Hoyt noch nicht in der Nähe war. »Du hast doch mehr Erfahrung damit als sonst jemand von uns. Nur so unter uns beiden, wie fandest du uns denn letzte Nacht?«
»Wir haben überlebt«, erwiderte Blair gleichmütig. Sie legte bereits gebratene Brotscheiben auf eine Platte, tauchte weitere in die Eiermasse und gab sie in die Pfanne. »Das ist die Hauptsache.«
»Aber …«
»Glenna, ich bin ganz aufrichtig.« Blair drehte sich um und lehnte sich einen Moment lang an die Küchentheke. »Ich habe so etwas noch nie erlebt.«
»Aber du machst das doch – du jagst sie doch – schon seit Jahren.«
»Das ist richtig. Aber ich habe noch nie so viele von ihnen gleichzeitig an einem Ort und so organisiert gesehen.«
Glenna stieß leise die Luft aus. »Das kann nichts Gutes bedeuten.«
»Ob gut oder schlecht, es ist eine Tatsache. Meiner Erfahrung nach liegt es nicht in der Natur von Bestien, in großen Gruppen zu leben, zu arbeiten und zu kämpfen. Ich habe meine Tante gefragt, und sie sagt dasselbe. Es sind Killer, und sie jagen und leben vielleicht sogar in Rudeln zusammen. In kleinen Rudeln allerdings, mit einem Alpha-Tier möglicherweise. Aber nicht so.«
»Nicht wie eine Armee«, murmelte Glenna.
»Nein. Und was wir letzte Nacht gesehen haben, war ein kleiner Teil einer Armee. Das Problem ist, dass sie bereit sind, für Lilith zu sterben. Und damit hat sie etwas Mächtiges in der Hand.«
»Okay. Okay«, sagte Glenna und deckte den Tisch. »Ich wollte ja unbedingt die Wahrheit hören.«
»Hey, krieg dich wieder ein. Wir leben doch noch, oder? Das ist ein Sieg.«
»Einen guten Morgen für dich«, sagte Hoyt zu Blair, als er hereinkam. Sein Blick glitt jedoch sofort zu Glenna.
Sie waren vom Typ her gleich, dachte Blair, sie und ihr Unzählige-Male-Großonkel. Sie, der Hexer und sein Zwillingsbruder, der Vampir, waren der gleiche Typ, und jetzt hatten sie neben denselben Vorfahren auch noch dieselbe Aufgabe.Das Schicksal konnte ganz schön verzwickt sein.
»Ihr zwei leuchtet ja förmlich«, sagte sie, als die beiden sich küssten. »Ich muss ja gleich meine Sonnenbrille aufsetzen.«
2
Vielleicht lag es an dem Kampf, aber Blair kam nicht zur Ruhe. Glenna hatte noch einmal alle Verletzungen versorgt, und eigentlich stand dem Training jetzt nichts mehr im Wege. Sie sollten wirklich trainieren, sagte sich Blair. Vielleicht würde sich durch die Anstrengung die Ruhelosigkeit verlieren. Aber dann hatte sie eine andere Idee.
»Ich finde, wir sollten hinausgehen.«
»Hinaus?« Glenna blickte prüfend auf die Liste mit den Haushaltspflichten und stellte fest – Gott möge ihnen helfen -, dass Hoyt als Nächster mit dem Waschen an der Reihe war. »Fehlt uns irgendwas?«
»Ich weiß nicht.« Blair überflog die Listen, die für alle sichtbar am Kühlschrank hingen. »Du scheinst die Vorrats- und die Pflichtenliste bestens unter Kontrolle zu haben, Quartiermeister Ward.«
»Mmm, Quartiermeister.« Glenna zwinkerte Blair zu. »Das gefällt mir. Bekomme ich ein Abzeichen?«
»Ich sehe mal, was ich tun kann. Aber ich meinte mit Hinausgehen mehr eine kleine Erkundungsexpedition als einen Lebensmitteleinkauf. Wir sollten uns aufmachen und uns Liliths Operationsbasis einmal anschauen.«
»Na, das ist ja eine hervorragende Idee.« Larkin wandte sich von der Spüle um. Der Seifenschaum tropfte ihm von den Händen, und er machte keinen besonders glücklichen Eindruck. »Zur Abwechslung könnten wir sie mal überraschen.«
»Lilith angreifen?« Moira hielt beim Einräumen der Spülmaschine inne. »Heute?«
»Ich habe nichts von Angriff gesagt. Schalt mal einen Gang zurück«, sagte Blair zu Larkin. »Sie sind uns zahlenmäßig weit überlegen, und ich glaube nicht, dass die Einheimischen mit einem Blutbad am helllichten Tag einverstanden wären. Aber das Tageslicht ist schon der Schlüssel hierbei.«
»Im Süden von Chiarrai«, warf Hoyt ruhig ein. »Wir sollten zu den Klippen und Höhlen aufbrechen, solange noch die Sonne scheint.«
»Genau. Sie können nicht herauskommen. Sie können nichts dagegen unternehmen, dass wir herumschnüffeln und uns alles anschauen. Es wäre eine nette, kleine Draufgabe nach letzter Nacht.«
»Psychologische Kriegsführung.« Glenna nickte. »Ja, ich verstehe.«
»Und vielleicht gewinnen wir auch noch ein paar zusätzliche Erkenntnisse«, ergänzte Blair. »Wir sehen, was wir sehen, wir arbeiten ein paar unterschiedliche Routen dorthin aus. Und wir sorgen dafür, dass sie weiß, dass wir da waren.«
»Wenn wir bloß ein paar herauslocken könnten. Oder weit genug hineinkönnten, um ihnen Ärger zu machen. Wir könnten zum Beispiel Feuer legen«, sagte Larkin. »Es müsste doch eine Möglichkeit geben, um in den Höhlen Feuer zu legen.«
»Das ist gar keine so schlechte Idee.« Blair überlegte. »Das Luder könnte eine tüchtige Abreibung vertragen. Wir gehen auf jeden Fall bewaffnet dorthin. Aber seid leise und vorsichtig. Wir wollen auf keinen Fall riskieren, dass irgendein Tourist oder ein Dorfbewohner die Polizei ruft – es fiele uns schwer zu erklären, was wir mit einem Wagen voller Waffen vorhaben.«
»Überlass das Feuer Glenna und mir.« Hoyt sprang auf.
»Warum?«
Statt einer Antwort streckte Glenna die Hand aus. Auf ihrer Handfläche schimmerte eine Feuerkugel.
»Hübsch«, sagte Blair anerkennend.
»Und Cian?« Moira räumte weiter die Spülmaschine ein. »Er kann doch das Haus nicht verlassen.«
»Dann bleibt er eben hier«, erwiderte Blair. »Larkin, wenn du da fertig bist, dann können wir schon mal die Waffen ins Auto bringen.«
»Wir haben noch ein paar Sachen im Turm, die vielleicht nützlich sein könnten.« Glenna fuhr Hoyt mit den Fingerspitzen über den Unterarm. »Hoyt?«
»Wir können ihn nicht einfach hier zurücklassen, ohne ihm Bescheid zu sagen, was wir vorhaben.«
»Willst du allen Ernstes um diese Tageszeit einen Vampir wecken?« Blair zuckte mit den Schultern. »Okay. Tu, was du nicht lassen kannst.«
Cian machte es nichts aus, geweckt zu werden. Er hatte zwar eigentlich gedacht, dass eine verschlossene, verriegelte Tür ein eindeutiges Zeichen für jeden sei, dass er in Ruhe gelassen werden wolle, aber sein Bruder ließ sich davon anscheinend nicht abhalten. Also saß er jetzt im Dämmerlicht seines Zimmers und lauschte dem Plan der anderen.
»Wenn ich es also recht verstehe, hast du mich extra geweckt, um mir mitzuteilen, dass ihr nach Kerry geht, um in den Höhlen herumzustochern?«
»Wir wollten nicht, dass du aufwachst und feststellst, dass wir alle weg sind.«
»Einer meiner schönsten Träume.« Cian machte eine abschätzige Handbewegung. »Anscheinend hat der gute, blutige Kampf von letzter Nacht der Jägerin nicht gereicht.«
»Es ist strategisch gut, dorthin zu gehen.«
»Als wir das letzte Mal da waren, hat es sich als nicht besonders gut herausgestellt, oder?«
Einen Moment lang sagte Hoyt nichts. Er dachte an King und wie sie ihn verloren hatten.
»Und für uns beide auch nicht das eine Mal davor«, fuhr Cian fort. »Du konntest zum Schluss kaum noch laufen, und ich habe einen Kopfsprung von den Klippen gemacht. Nicht gerade eine meiner schönsten Erinnerungen.«
»Das war etwas völlig anderes, und das weißt du auch. Es ist jetzt heller Tag, und dieses Mal ahnt sie nicht einmal, dass wir kommen. Und da es Tag ist, musst du sowieso hier bleiben.«
»Wenn du glaubst, dass ich deswegen schmolle, dann irrst du dich. Ich habe genug zu tun. Anrufe und E-Mails, was ich in den letzten Wochen alles vernachlässigt habe. Ich habe schließlich auch noch ein Geschäft, das meine Aufmerksamkeit erfordert, und da du mich mitten am Tag aus dem Bett gezerrt hast, kann ich mich endlich diesen Dingen widmen. Und ich möchte hinzufügen, dass es für mich das reine Vergnügen ist, fünf lärmende Menschen für ein paar Stunden aus dem Haus zu wissen.«
Er erhob sich, trat zu seinem Schreibtisch und schrieb etwas auf einen Notizblock. »Da ihr ja sowieso unterwegs seid, könnt ihr auch gleich hier vorbeifahren. Das ist ein Metzger in Ennis. Er wird euch Blut verkaufen. Schweineblut«, fügte er mit kühlem Lächeln hinzu, als er seinem Bruder die Adresse reichte. »Ich rufe ihn an, damit er weiß, dass jemand vorbeikommt. Bezahlen braucht ihr nicht, ich habe ein Konto dort.«
Die Handschrift seines Bruders hatte sich in all der Zeit verändert, stellte Hoyt fest. So vieles hatte sich verändert. »Wundert er sich nicht, dass …«
»Falls er sich wundern sollte, ist er klug genug, keine Fragen zu stellen. Und es gefällt ihm offensichtlich, die zusätzlichen Euro einstecken zu können. So heißt jetzt hier das Geld.«
»Ja, das hat Glenna mir schon erklärt. Wir sind vor Sonnenuntergang wieder zurück.«
»Das will ich mal hoffen«, erwiderte Cian, als Hoyt ging.
Draußen warf Blair gerade ein Dutzend Pflöcke in einen Plastikeimer. Schwerter, Äxte und Sicheln lagen bereits im Wagen. Diese Waffenvielfalt würde schwer zu erklären sein, falls man sie anhielte, aber ohne volle Bewaffnung kundschaftete sie kein Vampirnest aus.
»Wer will ans Steuer?«, fragte sie Glenna. »Ich kenne den Weg.«
Blair unterdrückte das Verlangen, alles unter Kontrolle zu haben, stieg hinten ein und setzte sich hinter Glenna. Die anderen stiegen ebenfalls ein. »Hoyt, warst du eigentlich jemals in den Höhlen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sich in einigen hundert Jahren sehr verändert haben.«
»Ich war viele Male dort. Aber sie sind jetzt anders.« »Wir waren drin«, erklärte Glenna. »Hoyt und ich haben einen Zauber gemacht, bevor wir New York verlassen haben. Es war ziemlich intensiv.«
»Erzähle es mir.«
Blair hörte zu, während ein anderer Teil ihres Gehirns den Weg aufnahm und speicherte.
Sie sah alles, was Glenna beschrieb, genau vor sich. Ein Labyrinth von Gängen, Kammern, die mit schweren Türen versperrt waren, Leichen, die aufgestapelt waren wie Abfall. Menschen in Käfigen wie Vieh. Und die Geräusche – Blair hörte sie förmlich -, das Weinen, Schreien, Beten.
»Eine Luxusvampirwohnung«, murmelte sie. »Wie viele Wege führen hinein?«
»Das kann ich nicht sagen. Zu meiner Zeit waren die Klippen übersät mit Höhlen. Manche waren winzig, kaum groß genug, dass ein Kind hindurchkriechen konnte, andere groß genug, dass ein Mann darin stehen konnte. Als wir jetzt da waren, gab es unzählige große, breite Gänge, an die ich mich gar nicht erinnern konnte.«
»Dann hat sie sie bestimmt ausgebaut. Schließlich hatte sie viel Zeit, um es sich gemütlich zu machen.«
»Wenn wir sie versperren könnten«, begann Larkin, aber Moira wandte sich entsetzt zu ihm.
»Da sind Menschen drin. Menschen, die wie Tiere in Käfigen gehalten werden. Leichen, die man weggeworfen hat, ohne sie zu beerdigen.«
Er legte seine Hand über ihre und schwieg.
»Wir können sie nicht befreien. Das sagt er dir nicht.« Aber es musste einmal gesagt werden, dachte Blair. »Selbst wenn wir eine Selbstmordaktion starten wollten, würde es nichts helfen. Wir würden sterben, aber sie auch. Rettung ist nicht möglich. Es tut mir leid.«
»Ein Zauber«, beharrte Moira. »Etwas, um sie blind zu machen oder zu fesseln, bis wir die Opfer befreit haben.«
»Wir haben versucht, sie blind zu machen.«
Glenna warf Moira einen Blick über den Rückspiegel zu.
»Es ist uns nicht gelungen. Vielleicht ein Transportzauber.«
Sie blickte Hoyt an. »Könnten wir Menschen transportieren?«
»Das habe ich noch nie gemacht. Die Risiken …«
»Sie sterben da drin. Viele sind bereits gestorben.« Moira packte Hoyt an der Schulter. »Welches Risiko kann denn noch größer sein als der Tod?«
»Wir könnten ihnen Schaden zufügen. Magie zu benutzen, die andere verletzen könnte …«
»Du könntest sie retten. Welche Entscheidung würden sie denn selbst treffen? Wie würdest du dich an ihrer Stelle entscheiden?«
»Damit hat sie nicht ganz Unrecht. Schon die Rettung auch nur eines einzigen Lebens würde sich lohnen. Und Lilith geriete außer sich vor Wut. »Besteht die Chance?«
»Du musst das, was du von einem Ort an den anderen bewegst, vor dir sehen«, erklärte Hoyt. »Und je näher du am Objekt bist, desto besser funktioniert es. Hier aber ginge es durch den Fels, und wir wären alle so gut wie blind.«
»Nicht unbedingt«, erwiderte Glenna. »Lass uns mal darüber nachdenken.«
Während sie darüber diskutierten, schaute Blair sich müßig um. Schöner Tag, dachte sie abwesend. Die Sonne schien, und alles war grün. Auf den Weiden in den Hügeln grasten die Kühe, und nach dem Unwetter gestern wären heute Schwärme von Touristen unterwegs, um das schöne Wetter auszunutzen. Sie würden durch den Ort bummeln oder zu den Klippen von Mohr fahren, um die Aussicht zu genießen und die Dolmen in The Burren zu fotografieren.
Früher einmal hatte sie es nicht anders gemacht.
»Sieht es eigentlich in Geall genauso aus?«
»Ja, ganz ähnlich«, erwiderte Larkin. »Es ist fast wie zu Hause, wenn man einmal von den Straßen, den Autos und den meisten Gebäuden absieht. Das Land selbst ist wie zu Hause.«
»Was machst du eigentlich dort?«
»Wie meinst du das?«
»Na ja, ein Mann muss doch mit irgendetwas seinen Lebensunterhalt verdienen.«
»Oh. Wir bearbeiten natürlich das Land. Und wir haben Pferde, die wir züchten und verkaufen. Gute Pferde. Ich habe meinen Vater Hals über Kopf verlassen. Er wird im Moment bestimmt nicht besonders glücklich sein mit mir.«
»Wenn du am Ende die Welt rettest, wird er es schon verstehen.«
Ich hätte wissen müssen, dass er mit den Händen arbeitete, dachte Blair. Sie waren stark und hart, und mit seinen blonden Strähnen und dem goldenen Schimmer auf der Haut sah er aus wie ein Mann, der die meiste Zeit an der frischen Luft verbrachte.
O Mann, jetzt beruhigt euch mal wieder, ihr Hormone. Er war schließlich nur ein weiteres Mitglied in dem Team, zu dem sie jetzt auch gehörte. Und es war nur klug, alles über die Menschen zu wissen, die mit einem zusammen kämpften. Dabei kleine Lustschauer zu empfinden war dumm.
»Dann bist du also Bauer?«
»Im Grunde genommen ja.«
»Wo lernt denn ein Bauer, das Schwert so zu benutzen wie du?«
»Ach.« Er drehte sich zu ihr und blickte ihr ins Gesicht. Einen kurzen Augenblick lang verlor er den Faden. Ihre Augen waren so tief und blau. »Wir haben natürlich Turniere und Wettkämpfe. Ich nehme gerne daran teil. Und ich gewinne gerne.«
Auch das sah man ihm an. »Ja, ich auch. Ich liebe es, zu gewinnen.«
»Dann nimmst du auch an Spielen teil?«
In der Frage lag eine neckende, spielerische sexy Note. Sie hätte hirntot sein müssen, um es nicht zu merken und das Prickeln zwischen ihnen zu spüren.
»Nicht so häufig, aber wenn ich es tue, gewinne ich auch.«
Mit einer beiläufigen Geste legte er den Arm hinter sie auf die Rückenlehne. »Bei manchen Spielen siegen beide Seiten.«
»Vielleicht, aber wenn ich kämpfe, spiele ich für gewöhnlich nicht.«
»Spielen gleicht das Kämpfen aus, findest du nicht auch? Und unsere Turniere, sie haben als eine Art Vorbereitung gedient. Es gibt viele Männer in Geall und auch einige Frauen, die gut mit einem Schwert oder einer Lanze umgehen können. Wenn der Krieg tatsächlich dort stattfindet, verfügen wir über eine Armee, um diesen Vampiren entgegenzutreten.«
»Die werden wir auch brauchen.«
»Und was machst du? Glenna hat mir erzählt, dass die meisten Frauen hier arbeiten, um Geld zu verdienen. Wirst du für die Dämonenjagd mit Münzen bezahlt?«
»Nein.« Er berührte sie nicht, und sie konnte nicht sagen, dass er sie anmachte. Aber sie hatte das Gefühl, dass er genau das tat. »So funktioniert es nicht. Meine Familie hat ein bisschen Geld. Ich meine, wir sind nicht stinkreich oder so, aber es gibt ein gewisses Polster. Wir besitzen Pubs in Chicago, New York und Boston.«
»Ach ja? Ich liebe gute Pubs.«
»Wer nicht? Ich kellnere manchmal und arbeite als Trainerin.«
Er runzelte die Stirn. »Als Trainerin? Zum Kämpfen?«
»Nein, eigentlich mehr für Gesundheit und Eitelkeit. Du weißt schon, damit die Leute wieder in Form kommen, Gewicht verlieren und eine bessere Figur bekommen. Ich brauche nicht viel Geld, deshalb ist es schon ganz in Ordnung so. Außerdem habe ich dadurch die Zeit, um mich zurückzuziehen, wenn ich es brauche.«
Sie blickte sich um. Moira starrte aus dem Seitenfenster wie eine Frau in einem Traum. Vorne redeten Hoyt und Glenna immer noch über Magie. Blair beugte sich dichter zu Larkin und senkte die Stimme.
»Hör mal, vielleicht können unsere magischen Turteltauben diesen Transportzauber wirklich durchführen, vielleicht aber auch nicht. Wenn es nicht funktioniert, musst du deine Kusine im Griff haben.«
»Ich habe Moira nicht im Griff.«
»Das musst du aber. Wenn wir die Gelegenheit haben, in die Höhlen zu gelangen oder Feuer zu legen, müssen wir sie nutzen.«
Sie hatten die Köpfe zusammengesteckt und flüsterten. »Und die Leute da drinnen? Sollen wir sie bei lebendigem Leib verbrennen? Das wird sie nicht akzeptieren. Ich kann das auch nicht.«
»Weißt du eigentlich, welche Qualen sie jetzt leiden?«
»Aber nicht durch uns.«
»In Käfigen eingesperrt und gefoltert.« Sie blickte ihn unverwandt an und redete leise weiter. »Gezwungen, dabei zuzusehen, wie einer von ihnen aus dem Käfig gezerrt und ausgesaugt wird. Außer sich vor Angst und Entsetzen fragen sie sich, ob sie die Nächsten sein werden. Vielleicht hoffen sie ja auch, als Nächste an der Reihe zu sein, damit die Qual ein Ende hat.«
Sein Tonfall klang jetzt nicht mehr spielerisch. »Ich weiß, was sie tun.«
»Du glaubst es zu wissen. Vielleicht saugen sie sie nicht ganz aus, jedenfalls nicht beim ersten Mal. Vielleicht auch noch nicht beim zweiten Mal. Sie werfen sie einfach wieder zurück in den Käfig. Der Biss brennt. Wenn du ihn überlebst, brennt alles, Fleisch, Blut, Knochen, als Erinnerung an den unglaublichen Schmerz, den die Reißzähne dir bereitet haben.«
»Woher weißt du das?«
Sie drehte ihr Handgelenk, damit er die blasse Narbe sehen konnte. »Ich war achtzehn, stinksauer wegen irgendetwas und unvorsichtig. Auf einem Friedhof in Boston wartete ich darauf, dass einer aus dem Grab kam. Ich war mit dem Typen zur Schule gegangen, war auf seiner Beerdigung gewesen und hatte genug gehört, um zu wissen, dass er gebissen worden war. Ich musste unbedingt herausfinden, ob sie ihn auch verwandelt hatten, deshalb ging ich hin und wartete.«
»Das hat er gemacht?« Larkin fuhr mit der Fingerspitze über die Narbe.
»Er hatte Hilfe. Ein Neuling hätte es nicht geschafft. Aber der, der ihn verwandelt hatte, kam zurück. Er war älter, cleverer und stärker. Ich machte einige Fehler und er nicht.«
»Warum warst du allein?«
»Ich jage immer allein«, erinnerte sie ihn. »Aber in diesem Fall wollte ich es jemandem beweisen. Es spielt keine Rolle, nur dass es mich unvorsichtig machte. Der Ältere biss mich nicht. Er hielt mich fest, während der andere auf mich zukroch.«
»Warte. Ist das so mit dem Erzeuger? Sorgt er für …?«
»Nahrung?«
»Ja, das müsste doch eigentlich das richtige Wort dafür sein, oder?«
Es war eine gute Frage, dachte sie. Er wollte die Psychopathologie des Feindes verstehen. »Manchmal. Nicht immer. Es hängt davon ab, warum der Erzeuger beschlossen hat, sein Opfer zu verwandeln und nicht nur zu trinken. Vielleicht suchte er einen Jagdpartner oder wollte jemand Jüngeren um sich haben, der die Drecksarbeit für ihn erledigte. Du weißt schon, der für ihn arbeitete.«
»Ja, ich verstehe. Also hat der Erzeuger dich festgehalten, damit der Jüngere zuerst etwas bekam.« Wie schrecklich mochte das gewesen sein, dachte er? Eine Achtzehnjährige, ganz alleine, während sich ihr jemand näherte, dessen Gesicht einmal vertraut gewesen war.
»Ich konnte das Grab an ihm riechen, so frisch war er. Er war zu hungrig, um mich in den Hals zu beißen, deshalb ging er hier an die Schlagader. Das war der Fehler, den sie beide machten. Der Schmerz brachte mich zur Besinnung. Er ist unaussprechlich.«
Einen Moment lang schwieg sie. Larkin legte seine Finger auf die Narbe, als wollte er eine alte Wunde heilen, und sie musste um Fassung ringen. Sie wusste gar nicht mehr, wann sie zuletzt tröstend von jemandem berührt worden war.
»Na ja, auf jeden Fall bekam ich mein Kreuz zu fassen und stach es dem Bastard, der mich festhielt, direkt ins Auge. Himmel, der hat vielleicht geschrien. Der andere war so mit Fressen beschäftigt, dass er auf gar nichts geachtet hat. Er war leicht zu töten. Danach war es leicht mit ihnen.«
»Du warst doch noch ein Mädchen.«
»Nein. Ich war Dämonenjägerin, und ich war dumm.« Sie blickte Larkin an. »Wenn er mich in den Hals gebissen hätte, wäre ich tot gewesen. Und dann hätten wir diese Unterhaltung nicht führen können. Ich weiß noch, was ich empfand, als er auf mich zukam. Er war in dem guten, schwarzen Anzug beerdigt worden, den seine Mutter für ihn ausgesucht hatte. Ich weiß, was diese Leute in den Höhlen empfinden. Wenn sie nicht gerettet werden können, ist der Tod besser als alles, was sie erwartet.«
Er legte seine Hand über ihr Handgelenk, sodass die Narbe nicht mehr zu sehen war. Die Zartheit seiner Berührung überraschte sie beide. »Hast du den Jungen geliebt?«
»Ja. Na ja, so wie man in diesem Alter eben liebt.« Sie hatte es beinahe vergessen, beinahe vergessen, wie traurig sie damals trotz der unsäglichen Schmerzen gewesen war. »Ihn und denjenigen, der ihn ermordet hatte, zu töten war das Einzige, was ich für ihn tun konnte.«
»Das hat dich mehr als das hier gekostet.« Larkin zog ihre Hand an seinen Mund und fuhr mit den Lippen über die Narbe. »Mehr als die brennenden Schmerzen.«
Und sie hatte auch beinahe vergessen, wie es war, wenn man verstanden wurde. »Vielleicht, aber es lehrte mich auch etwas Wichtiges. Du kannst nicht jeden retten.«
»Das ist eine traurige Lektion. Meinst du denn nicht, man sollte es wenigstens versuchen, auch wenn man es nicht kann?«
»So kann nur ein Amateur reden. Das ist kein Spiel oder Wettbewerb. Wenn dich hier jemand besiegt, dann stirbst du.«
»Nun, Cian ist nicht hier, um etwas zu dem Thema beizusteuern, aber möchtest du ewig leben?«
Sie stieß ein kurzes Lachen aus. »Zum Teufel, nein.«
An der einsamen Felsküste befanden sich einige Touristen, aber nicht so viele, wie Blair erwartet hatte. Die Aussicht war fantastisch, aber es gab wahrscheinlich auch noch andere Stellen am Meer mit einer ebenso spektakulären Aussicht, die leichter zu erreichen waren.
Sie parkten und nahmen die Waffen mit, die sie am leichtesten verbergen konnten. Wenn jemand ihr Schwert unter dem langen Ledermantel sehen wollte, musste er schon genau hinschauen, dachte Blair. Und was wollte er dann machen?
Prüfend schaute sie sich um.
Ein Paar im mittleren Alter war auf einen flachen Felsen unten an den Klippen geklettert und blickte aufs Meer – ohne zu ahnen, welcher Albtraum sich unter ihnen abspielte.
»Okay, wir müssen wohl herunterklettern. Das wird nass werden«, sagte sie und blickte zu den spitzen Felsen herunter, die aus dem Wasser aufragten. Sie warf den anderen einen Blick zu. »Schafft ihr das?«
Statt einer Antwort sprang Larkin über die niedrige Mauer. Sie wollte ihm noch hinterherrufen, er solle warten, aber er kletterte schon die Steilküste herunter.
Er verwandelte sich dabei zwar nicht in eine Eidechse, dachte sie, konnte aber klettern wie sie. Mut hatte er, das musste sie ihm lassen. Und er war gelenkig.
»Okay, Moira. Mach langsam. Wenn du ausrutschst, fängt dich dein Cousin sicher auf.« Als auch Moira über das Mäuerchen geklettert war, blickte Blair Glenna an.
»Ich bin noch nie an einer Steilwand geklettert«, murmelte Glenna. »Bis jetzt habe ich darin auch keinen Sinn gesehen. Aber irgendwann ist wahrscheinlich immer das erste Mal.«
»Es wird schon gutgehen.« Besorgt hielt Blair Moira im Auge, stellte jedoch erleichtert fest, dass sie genauso geschickt war wie ihr Vetter. »So steil ist der Abhang nicht. Es wird dich schon nicht umbringen.«
Dass sie sich jedoch durchaus die Knochen brechen konnten, erwähnte sie lieber nicht. Das war nicht nötig. Hoyt und Glenna stiegen zusammen über die Mauer, und Blair folgte ihnen.
Es gab ein paar gute Haltegriffe, stellte sie fest, solange man sich keine allzu großen Gedanken um den Zustand der Fingernägel machte. Sie konzentrierte sich auf den Abstieg und ignorierte die kalte Gischt, die ihr ins Gesicht spritzte.
Hände packten sie um die Taille und hoben sie das letzte Stück herunter. »Danke«, sagte sie zu Larkin, »aber ich hätte es auch alleine geschafft.«
»Ein bisschen mühsam mit dem Schwert.« Er warf einen Blick nach oben zur Straße. »Aber es hat Spaß gemacht.«
»Kommt, setzen wir uns in Bewegung. Sie haben wahrscheinlich Wachen aufgestellt. Vielleicht ein paar menschliche Diener – obwohl es schwer sein muss, Mensch zu bleiben, wenn hier drinnen wirklich so viele Vampire sind, wie ihr sagt.«
»Außerhalb der Käfige habe ich niemand Lebendigen gesehen«, sagte Glenna.
»Dieses Mal sind wir leibhaftig und persönlich hier, und wenn es einen lebenden Menschen da drinnen gibt, dann werden sie ihn schon herausschicken. Hoyt, du übernimmst am besten die Führung, schließlich kennst du dich hier aus.«
»Es sieht ganz anders aus als damals.« Man merkte seiner Stimme den Kummer und die Emotionen an. »Die Natur und der Mensch haben ihr Teil dazu beigetragen. Die Straße über uns und die Mauer, der Turm mit dem Licht.«
Als er aufblickte, sah er seine Klippen, den Abhang, der ihm bei seinem Kampf mit Cian das Leben gerettet hatte. Früher einmal, dachte er, hatte er dort oben gestanden und den Blitz so leicht herbeigerufen wie ein Mann seinen Hund. Es hatte sich verändert, er konnte es nicht leugnen. Und trotzdem war es tief im Innern immer noch sein Ort. Er suchte sich seinen Weg zwischen den Felsen.
»Hier sollte eine Höhle sein. Aber da ist nichts als …«