Der weite Himmel - Nora Roberts - E-Book

Der weite Himmel E-Book

Nora Roberts

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Beschreibung

Unter dem weiten Himmel Montanas finden drei Schwestern die Liebe

Willa ist auf der Ranch ihres Vaters in Montana aufgewachsen. Am Tag seiner Beerdigung trifft sie ihre Schwestern aus Jacks früheren Ehen zum ersten Mal. Während sich die drei Frauen langsam annähern, geschehen in der Gegend schreckliche Angriffe auf Menschen und Tiere. Können Willa, Lily und Tess der Gefahr gemeinsam entgegentreten?

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Das Buch

Die amerikanische Autorin, die in den USA längst die Bestsellerlisten anführt, »wird von Roman zu Roman besser und besser«, schrieb das bekannte amerikanische Buchmagazin PUBLISHERS WEEKLY, als dieser Roman in den USA erschien.

Der steinreiche Farmer Jack Mercy scheint auch nach seinem Tod die Fäden der Macht in Händen halten zu wollen: In seinem Testament hat er verfügt, daß seine drei Töchter aus drei verschiedenen Ehen erst dann jeweils ihren Erbteil bekommen sollen, wenn sie ein Jahr lang friedlich zusammen auf der Farm in Montana gelebt haben. Und das, obwohl die drei jungen Frauen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, sich bisher noch nie begegnet sind. Doch schließlich bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich in ihr Schicksal zu fügen, wollen sie auf den Erbteil nicht verzichten.

Kaum haben die drei Halbschwestern sich aneinander gewöhnt, geschehen auf der Farm mysteriöse Dinge. Ist es ein Psychopath, der sein Unwesen treibt, oder steckt ein ausgefeilter und grausamer Plan mit einem ganz anderen Ziel dahinter? Geschickt versteht es Nora Roberts, den Leser auf die Folter zu spannen. Auch in Sachen Liebe, denn die Gefühle der drei werden gehörig durcheinandergewirbelt...

Die Autorin

Nora Roberts zählt zu den erfolgreichsten Autorinnen Amerikas. Seit 1981 hat sie über 200 Romane veröffentlicht, die in mehr als 30 Sprachen übersetzt wurden. Für ihre internationalen Bestseller erhielt sie nicht nur zahlreiche Auszeichnungen, sondern auch die Ehre, als erste Frau in der Ruhmeshalle der Romance Writers of America aufgenommen zu werden. Nora Roberts lebt in Maryland.

Inhaltsverzeichnis

Das BuchDie AutorinWidmungInschriftERSTER TEIL - Herbst
Kapitel 1Kapitel 2
Copyright

Für die Familie

Die Welt sich unaufhörlich drehtVom Hauch der Ewigkeit umwehtDarüber strahlend unbewegtDer weite Himmel sich erhebtDes Menschen Herz zerreißt das BandDas fest verbindet Meer und LandDes Menschen Geist den Himmel teiltBis Gottes Antlitz ihm erscheintDoch was der Mensch im Wahn getrenntMit Macht nun zueinander drängtUnd er, der endlos uns erscheintDer Himmel ist’s, der alles eint.

– Edna St. Vincent Millay –

ERSTER TEIL

Herbst

Ein schönes, todgeweihtes Jahr

– A. E. Housman –

Kapitel 1

Jack Mercys Tod änderte nichts an der Tatsache, daß er ein elender Hundesohn war. Die eine Woche, die er nun friedlich im Sarg lag, wog die achtundsechzig Jahre eines Lebens voller Niedertracht bei weitem nicht auf, und viele der Menschen, die an seinem Grab zusammengekommen waren, hätten ihrem Herzen nur zu gerne Luft gemacht.

Begräbnis hin, Begräbnis her, Bethanne Mosebly flüsterte ihrem Mann eben jene unfreundlichen Äußerungen ins Ohr, während sie im hohen Gras des Friedhofes standen. Nur ihre Zuneigung zu der jungen Willa hatte sie überhaupt hierhergeführt, und auch diese Bemerkung war während der gesamten Fahrt von Ennis bis zum Friedhof wieder und wieder gefallen.

Bob Mosebly, der das Geschnatter seiner Frau seit nunmehr sechsundvierzig Jahren ertrug, gab einen unverbindlichen Laut von sich und blendete dann ihre Stimme sowie die eintönige Rede des Pfarrers einfach aus. Nicht daß Bob freundliche Erinnerungen an Jack hegte. Er hatte den alten Bastard gehaßt – wie fast jede lebende Seele im Staate Montana.

Inzwischen hatte sich in jenem idyllischen Eckchen der Mercy Ranch, die im Schatten der Big Belt Mountains nahe des Ufers des Missouri lag, eine beachtliche Menschenmenge eingefunden, die sich hauptsächlich aus Ranchern, Cowboys, Kaufleuten und Politikern der Umgebung zusammensetzte. Hier, wo das Vieh friedlich auf den Hügeln graste und Pferde über die sonnigen Weiden galoppierten, lagen Generationen von Mercys unter dem sacht im Winde wehenden Gras begraben.

Jack war der letzte. Er selbst hatte den Sarg aus schimmerndem Kastanienholz bestellt, der eigens für ihn angefertigt und mit den ineinander verschlungenen goldenen Ms, dem Zeichen der Mercy Ranch, versehen worden war. Nun schlummerte er, bekleidet mit seinen besten Schlangenlederstiefeln und seinem uralten Lieblingsstetson, seinen Ochsenziemer zwischen den gefalteten Händen, für immer in der mit weißem Satin ausgeschlagenen Kiste.

Jack hatte stets erklärt, er wolle so abtreten, wie er gelebt hatte: in großem Stil.

Man erzählte sich, daß Willa bereits, den Instruktionen ihres Vaters Folge leistend, einen Grabstein bestellt hatte. Aus weißem Marmor sollte er sein – keinen gewöhnlichen Granitstein für Jackson Mercy, o nein –, und die Inschrift, die darin eingemeißelt werden sollte, hatte er auch bestimmt.

Hier ruht Jack Mercy Er lebte, wie es ihm gefiel, und so starb er auch Wem das nicht paßt, der soll zum Teufel gehen

Sobald die Erde sich gesenkt hatte, würde der Stein aufgestellt werden und sich zu all den anderen gesellen, die verstreut auf dem steinigen Land standen. Alle Mercys lagen hier, angefangen bei Jacks Urgroßvater Jebidiah Mercy, der die Berge durchstreift und sich schließlich auf diesem Fleckchen Erde niedergelassen hatte, bis hin zu Jacks dritter Frau – der einzigen, die gestorben war, ehe er sich von ihr scheiden lassen konnte.

War es nicht eine Laune des Schicksals, grübelte Bob, daß ihm jede seiner Frauen eine Tochter geschenkt hatte, obwohl er sich doch nichts sehnlicher wünschte als einen Sohn? Vielleicht hatte Gott auf diese Weise einen Mann gestraft, der in jeder Hinsicht über Leichen ging, um das zu bekommen, was er wollte.

Bob konnte sich an jede von Jacks Frauen noch gut erinnern, obwohl keine lange geblieben war. Bildhübsch waren sie gewesen, alle drei, und auch die Töchter konnte man nicht gerade als häßlich bezeichnen. Bethanne hatte die Telefonleitungen zum Glühen gebracht, als bekannt geworden war, daß Mercys beide ältere Töchter zu seiner Beerdigung erscheinen würden. Keine hatte je zuvor einen Fuß auf Mercy-Land gesetzt. Sie wären auch nicht willkommen gewesen.

Nur Willa war geblieben. Mercy hatte kaum etwas dagegen unternehmen können, da ihre Mutter gestorben war, als sie noch in den Windeln lag. Da er keine Freunde oder Verwandten besaß, denen er das Kind hätte aufbürden können, wurde das Baby der Obhut seiner Haushälterin anvertraut, und Bess hatte das Mädchen großgezogen, so gut sie konnte.

Jede der drei Frauen hatte etwas von Jack, stellte Bob fest, während er sie unter der Krempe seines Hutes hervor betrachtete. Das dunkle Haar, das energische Kinn. Man sah sofort, daß es sich um Schwestern handelte, obwohl die drei sich noch nie begegnet waren. Mit der Zeit würde sich herausstellen, ob sie miteinander auskamen, und mit der Zeit würde sich auch zeigen, ob Willa genug von Jack Mercy in sich hatte, um eine fünfundzwanzigtausend Morgen umfassende Ranch zu leiten.

Auch Willa dachte an die Ranch und an die Arbeit, die vor ihr lag. Es war ein herrlicher klarer Morgen, und die Natur prunkte mit leuchtenden Farben, deren Intensität für die Augen fast schmerzhaft war. Die Berge und das Tal mochten zwar schon ihr Herbstgewand angelegt haben, doch der heiße, trockene Chinookwind war noch einmal zurückgekehrt. An diesem Tag Anfang Oktober war es warm genug, um in Hemdsärmeln herumzulaufen, doch das konnte sich morgen schon ändern. In den höheren Lagen hatte es bereits geschneit, Willa konnte die mit Schnee bedeckten Gipfel und Wälder sehen. Das Vieh mußte zusammengetrieben, die Zäune überprüft, repariert und wieder überprüft werden. Auch die Wintersaat war fällig.

Das war nun ihre Aufgabe. Alles lag in ihren Händen. Jack Mercy war nicht länger Herr über die Mercy Ranch, sondern sie.

Sie hörte zu, als der Priester von immerwährendem Leben, Vergebung aller Sünden und Aufnahme in die himmlischen Gefilde sprach, und dachte, daß sich ihr Vater einen Dreck um seine mögliche Einkehr in den Himmel geschert hätte. Zeit seines Lebens hatte er sich nur in seinem eigenen Heim wohl gefühlt. Montana war seine Heimat gewesen, dieses weite Land der Berge und der Weiden, der Adler und der Wölfe.

Ihr Vater wäre im Himmel genauso unglücklich wie in der Hölle.

Willas Gesicht zeigte keine Regung, als der protzige Sarg in die frisch ausgehobene Grube herabgelassen wurde. Sie hatte eine zart goldfarbene Haut, die sie zum einen der Sonne, zum anderen dem indianischen Blut, Erbteil ihrer Mutter, verdankte. Ihre Augen, fast ebenso schwarz wie ihr Haar, das sie für das Begräbnis hastig zu einem unordentlichen Zopf geflochten hatte, waren unverwandt auf die letzte Ruhestätte ihres Vaters gerichtet. Sie trug keinen Hut, so daß die Sonne ihre Augen aufleuchten ließ. Doch sie vergoß keine Träne.

Willa hatte stolze Gesichtszüge, hohe Wangenknochen, einen breiten, ein wenig hochmütigen Mund und dunkle, exotische Augen mit schweren Lidern und dichten Wimpern. Im Alter von acht Jahren war sie von einem bockenden Mustang gestürzt und hatte sich dabei die Nase gebrochen, die seither leicht nach links zeigte. Willa tröstete sich damit, daß die kleine Entstellung ihrem Gesicht Charakter verlieh. Charakter bedeutete Willa Mercy sehr viel mehr als bloße Schönheit. Männer respektierten schöne Frauen nicht, soviel wußte sie. Sie benutzten sie nur.

Regungslos stand sie da, während sich einzelne Strähnen aus ihrem Zopf lösten und im Wind tanzten; eine Frau von durchschnittlicher Größe, schlank und geschmeidig gebaut, in einem schlechtsitzenden schwarzen Kleid und hochhackigen schwarzen Schuhen, die bis zu diesem Morgen ihren Karton noch nie verlassen hatten. Eine Frau von vierundzwanzig Jahren, deren Gedanken um ihre Arbeit kreisten und die einen brennenden Schmerz mit sich herumtrug.

Sie hatte Jack Mercy trotz all seiner Fehler geliebt. Und sie hatte kein einziges Wort für die beiden fremden Frauen gefunden, in deren Adern dasselbe Blut floß und die gekommen waren, um ihrem Vater das letzte Geleit zu geben.

Flüchtig wanderte ihr Blick zum Grab von Mary Wolfchild Mercy und verharrte dort einen Augenblick. Die Mutter, an die sie sich nicht mehr erinnern konnte, lag unter einem sanften, mit Wildblumen bepflanzten Hügel begraben. Die Blüten schimmerten im Licht der Herbstsonne wie bunte Edelsteine. Adams Werk, dachte sie, hob den Blick und sah ihrem Halbbruder in die Augen. Er wußte besser als jeder andere, daß sie den Tränen, die tief in ihr aufstiegen, niemals freien Lauf lassen konnte.

Als Adam ihre Hand ergriff, schlossen sich ihre Finger um die seinen. Er war jetzt alles an Familie, was ihr noch blieb.

»Er hat sein Leben in vollen Zügen genossen«, murmelte Adam. Seine Stimme klang weich und beruhigend. Wären sie allein gewesen, hätte Willa sich zu ihm umdrehen, ihren Kopf an seiner Schulter bergen und dort Trost finden können.

»Ja, das hat er. Und nun ist es vorüber.«

Adam schaute zu den beiden Frauen, Jack Mercys anderen beiden Töchtern, hinüber und dachte, daß etwas anderes gerade erst begann. »Du mußt mit ihnen sprechen, Willa.«

»Sie schlafen unter meinem Dach, essen an meinem Tisch.« Absichtlich blickte Willa wieder auf das Grab ihres Vaters. »Das ist genug.«

»Sie sind deine Blutsverwandten.«

»Nein, Adam, du bist mein Blutsverwandter. Sie bedeuten mir nichts.« Willa wandte sich von ihm ab und sammelte Kraft, um die Beileidsbezeugungen entgegenzunehmen.

Gab es in einer Familie einen Todesfall, so brachten die Nachbarn Lebensmittel und Kuchen vorbei. Diese tiefverwurzelte Tradition ließ sich nicht unterbinden. Auch hatte Willa Bess nicht daran hindern können, für drei Tage im voraus zu kochen, um für das gerüstet zu sein, was die Haushälterin ein Trauermahl nannte. Und das war in Willas Augen eine lächerliche Farce. Nicht die Trauer hatte die Leute zu ihnen getrieben, sondern schiere Neugier. Viele von ihnen, die jetzt im Haupthaus versammelt waren, waren nicht zum ersten Mal da. Jack Mercys Tod verschaffte ihnen wiederum Einlaß, und sie nutzten diese Gelegenheit nach Kräften aus.

Das Haupthaus war eine echte Sehenswürdigkeit, ganz im Stile Jack Mercys. Wo vor mehr als hundert Jahren eine Blockhütte mit Lehmboden gestanden hatte, erhob sich nun ein mehrstöckiges weitläufiges Gebäude aus Stein, Holz und Glas. Teppiche aus aller Herren Länder bedeckten die schimmernden Fußböden aus Kiefernholz und glänzenden Fliesen. Jack Mercy hatte mit Begeisterung die unterschiedlichsten Dinge gesammelt. Nachdem er die Mercy Ranch übernommen hatte, verbrachte er fünf Jahre damit, das, was einst ein gemütliches Heim gewesen war, in seinen ganz persönlichen Palast zu verwandeln.

Ist man reich, dann muß man auch einen entsprechenden Lebensstandard pflegen, so lautete seine ständige Redensart. Und er richtete sich auch danach. Er hatte Gemälde und Skulpturen gesammelt und weitere Räume anbauen lassen, um seine Kunstgegenstände auch ausstellen zu können. Die Eingangshalle war mit saphirblauen und rubinroten Fliesen ausgelegt worden, in denen sich das Emblem der Mercy Ranch ständig wiederholte. Die Treppe zum zweiten Stock bestand aus poliertem, wie Glas schimmerndem Eichenholz, den Geländerpfosten bildete ein geschnitzter Wolf, der mitten im Geheul erstarrt zu sein schien.

Hier hatte sich ein Großteil der Gäste versammelt. Viele bestaunten die Figur mit großen Augen, wobei sie reichlich gefüllte Teller in den Händen balancierten. Andere drängelten sich in dem riesigen Wohnzimmer, wo eine große halbkreisförmige Couchgarnitur aus weichem cremefarbenem Leder stand. Über dem aus glattem Flußgestein gefertigten Kamin, der eine ganze Wand einnahm, hing ein lebensgroßes Porträt von Jack Mercy auf einem schwarzen Hengst. Sein Kopf war leicht zur Seite geneigt, und in einer Hand hielt er seinen Ochsenziemer. Vielen kam es so vor, als würden diese harten blauen Augen sie dafür verurteilen, daß sie in seinem Haus saßen und mit seinem Whiskey auf seinen Tod anstießen.

Für Lily Mercy, die zweite Tochter von Jack Mercy, die er kurz nach ihrer Geburt verstoßen hatte, bedeutete diese Versammlung die reinste Qual. Das Haus, die vielen Menschen, der Lärm. Das Zimmer, das sie seit ihrer Ankunft bewohnte, war so hübsch. Und so ruhig, dachte sie nun und rückte unauffällig näher an das Geländer der Seitenveranda heran. Das reizende Bett, der goldene Holzfußboden, die Seidentapete.

Die Einsamkeit.

Danach sehnte sie sich mit jeder Faser ihres Herzens, als sie zu den Bergen hinüberschaute. Wie beeindruckend, so mächtig, so rauh. Nicht zu vergleichen mit den unbedeutenden kleinen Hügeln ihrer Heimat Virginia. Und dann der endlose tiefblaue Himmel, der sich über die riesigen Landflächen erstreckte. Sie hätte es nicht für möglich gehalten, daß eine solche Landschaft überhaupt existierte. Sie war entzückt von der Weite und dem Wind, der fast unaufhörlich wehte. Und dann diese Farben! Gold- und Rosttöne, Scharlachrot und Bronze. Sowohl die Berge als auch die Täler waren in ein Meer von herbstlichen Farben getaucht.

Bereits jetzt schon liebte sie die kraftvolle Schönheit des Tales, in dem die Ranch lag. Von ihrem Fenster aus hatte sie an diesem Morgen Hochwild beobachtet, das an dem silbern im Morgenlicht glänzenden Fluß trank. Sie hatte Pferdegewieher gehört, Männerstimmen, das Krähen eines Hahnes und einen Schrei, bei dem es sich eventuell – hoffentlich – um den eines Adlers gehandelt haben könnte.

Sie fragte sich, ob sie wohl – sollte sie tatsächlich den Mut aufbringen, durch die Wälder des Vorgebirges zu wandern – die Elche, Wapitis und Füchse zu Gesicht bekommen würde, über die sie auf ihrem Flug nach Westen so begierig gelesen hatte.

Sie hoffte, daß man ihr gestatten würde, noch einen weiteren Tag hierzubleiben – doch wo sollte sie hingehen, was sollte sie tun, wenn man sie aufforderte, die Ranch zu verlassen?

In den Osten konnte sie vorerst nicht zurückkehren. Unsicher betastete sie den sich grüngelb verfärbenden Bluterguß, den sie durch Make-up und eine Sonnenbrille zu verdecken suchte. Jesse hatte sie gefunden. Sie war so vorsichtig gewesen, und doch hatte er sie gefunden, und die gerichtliche Verfügung hatte ihn nicht davon abgehalten, seine Fäuste an ihr zu erproben. Nichts konnte ihn davon abhalten. Die Scheidung hatte ihn nicht zur Vernunft gebracht, und auch das dauernde Umziehen und Weglaufen hatte nichts gefruchtet.

Aber vielleicht konnte sie hier, Tausende von Meilen von ihm entfernt, in einem so riesigen Land wie diesem, endlich wieder von vorne anfangen. Ohne die ständige Furcht im Nacken.

Der Brief des Anwalts, in dem ihr der Tod Jack Mercys mitgeteilt und sie aufgefordert wurde, nach Montana zu reisen, war ihr wie ein Geschenk des Himmels erschienen. Obwohl alle Kosten schon im voraus bezahlt worden waren, hatte sich Lily den Aufschlag für das Ticket erster Klasse auszahlen lassen und unter drei verschiedenen Namen Flüge kreuz und quer durch die Staaten gebucht. Wie gerne würde sie daran glauben, daß Jesse Cooke sie hier nicht finden würde. Sie wollte nicht mehr ständig auf der Flucht sein, ständig in Angst leben.

Vielleicht konnte sie ja nach Billings oder Helena ziehen und sich dort einen Job suchen. Irgendeinen Job. Schließlich verfügte sie über einige Fertigkeiten. Sie war ausgebildete Lehrerin und konnte mit einem Computer umgehen. Vielleicht gelang es ihr, ein kleines Apartment zu finden, und wenn es für den Anfang auch nur ein einzelnes Zimmer war. Aber sie würde wieder auf eigenen Füßen stehen.

Hier könnte sie leben, dachte sie, während sie über die endlose, furchteinflößende, großartige Ebene blickte. Vielleicht gehörte sie sogar hierher.

Als eine Hand ihren Arm berührte, fuhr sie zusammen und unterdrückte einen entsetzten Aufschrei. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.

Es war nicht Jesse. Der Mann neben ihr war dunkelhaarig, Jesse hingegen blond. Dieser Mann hatte eine bronzefarbene Haut, und das Haar fiel ihm bis auf die Schultern. Sanfte, sehr dunkle Augen leuchteten in einem Gesicht von herber männlicher Schönheit.

Aber auch Jesse war ein ausgesprochen attraktiver Mann. Lily wußte nur zu gut, welche Grausamkeit sich hinter einer schönen Fassade verbergen konnte.

»Es tut mir leid.« Adams Stimme klang so beschwichtigend, als wolle er einen verschreckten Welpen oder ein krankes Fohlen beruhigen. »Ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich habe Ihnen nur etwas Eistee gebracht.« Er nahm ihre Hand, bemerkte, wie sie zitterte, und legte ihre Finger um das Glas. »Heute ist ein viel zu warmer, trockener Tag.«

»Danke. Ich habe Sie gar nicht kommen hören.« Unwillkürlich trat Lily einen Schritt zur Seite, um etwas Abstand zwischen sich und ihm zu schaffen. Eine Fluchtmöglichkeit. »Ich habe mich nur … umgeschaut. Es ist wunderschön hier.«

»Ja, das ist es.«

Sie nippte an ihrem Tee, kühlte ihre brennende Kehle und zwang sich, ruhig und höflich zu bleiben. Die Leute stellten weniger Fragen, wenn man sich gelassen gab.

»Leben Sie hier in der Nähe?«

»Sogar sehr nah.« Lächelnd trat er an das Geländer und deutete gen Osten. Ihm gefiel ihre Stimme und der gedehnte, warme Südstaatenakzent. »Dort drüben, das kleine weiße Haus auf der anderen Seite des Pferdestalles.«

»Ja, ich habe es gesehen. Sie haben blaue Fensterläden und einen Garten, und auf dem Hof schlief ein kleiner schwarzer Hund.« Lily erinnerte sich, wie gemütlich das Häuschen auf sie gewirkt hatte, wieviel freundlicher und einladender als das große Haus.

»Das ist Beans«, wieder lächelte Adam sie an, »der Hund. Er hat eine Vorliebe für gebackene Bohnen. Ich bin Adam Wolfchild, Willas Bruder.«

»Oh.« Sie musterte die Hand, die er ihr entgegenstreckte, einen Augenblick lang, dann befahl sie sich energisch, sie zu ergreifen. Jetzt erkannte sie auch die Ähnlichkeiten, die ausgeprägten Wangenknochen, die Augen. »Ich wußte gar nicht, daß sie einen … Dann sind wir also …«

»Nein.« Ihre Hand schien ihm ungemein zerbrechlich zu sein, und er gab sie sanft frei. »Sie beide haben denselben Vater. Willa und ich hatten dieselbe Mutter.«

»Ich verstehe.« Scham stieg in ihr hoch, als ihr bewußt wurde, daß sie kaum jemals einen Gedanken an den Mann verschwendet hatte, der heute zu Grabe getragen worden war. »Standen Sie sich nahe, Sie und Ihr. … Stiefvater?«

»Niemand stand ihm sonderlich nah«, sagte Adam schlicht und ohne Bitterkeit. »Aber Sie fühlen sich hier nicht besonders wohl, nicht wahr?« Ihm war aufgefallen, daß sie sich immer am Rand aufhielt, als ob schon die flüchtige Berührung einer Schulter sie verletzen könnte. Auch die blauen Flecke in ihrem Gesicht, Anzeichen von brutaler Mißhandlung, waren ihm nicht entgangen.

»Ich kenne ja überhaupt niemanden hier.«

Sie wirkte so verwundbar, dachte Adam. Schon immer hatte es ihn zu den Verwundbaren, Hilflosen dieser Welt hingezogen. Gekleidet in ein einfaches schwarzes Kostüm und schwarze Pumps, war sie nur unwesentlich kleiner als er und zu dünn für ihre Größe. Ihr dunkles Haar wies einen rötlichen Schimmer auf und fiel ihr in weichen Wellen über die Schultern. Ihre Augen konnte er hinter der Sonnenbrille nicht erkennen, aber ihn interessierte ihre Farbe und was er sonst noch darin lesen würde.

Sie hatte das Kinn ihres Vaters geerbt, stellte er fest, ihr Mund jedoch war ziemlich klein und weich wie der eines Kindes. Als sie ihn scheu angelächelt hatte, war der Anflug eines Grübchens in ihrem Mundwinkel aufgetaucht. Ihre seidige Haut schimmerte so durchscheinend blaß, daß sich die Prellungen mit grausamer Deutlichkeit davon abhoben. Er fühlte, daß sie einsam war. Es würde ihn unter Umständen einige Zeit kosten, Willa für diese Frau, diese Schwester, zu interessieren.

»Ich muß noch nach den Pferden schauen«, setzte er an.

»Oh.« Zu ihrer eigenen Überraschung verspürte Lily eine leise Enttäuschung. Aber sie hatte ja schließlich allein sein wollen. Es ging ihr besser, wenn andere Menschen sie in Ruhe ließen. »Dann will ich Sie nicht aufhalten.«

»Möchten Sie nicht mitkommen und sich die Ställe anschauen?«

»Die Pferde? Ich …« Sei kein Feigling, befahl sie sich. Er wird dir nicht weh tun. »Gerne. Aber nur, wenn ich Ihnen nicht im Weg bin.«

»Das sind Sie nicht.« Da er wußte, daß sie vor ihm zurückscheuen würde, bot er ihr weder seine Hand noch seinen Arm an. Er ging lediglich voran, die Treppe hinunter und quer über eine holperige, unbefestigte Straße.

Einige Leute sahen die beiden zusammen weggehen, und unverzüglich setzten sich die Zungen in Bewegung. Immerhin war Lily Mercy eine von Jacks Töchtern, auch wenn sie kaum den Mund aufmachte – im Gegensatz zu Willa, die man gewiß nicht als schüchtern und zurückhaltend bezeichnen konnte. Dieses Mädchen sagte unverblümt seine Meinung, und zwar wann es wollte und zu wem es wollte.

Was die dritte anging – nun, das war ein ganz anderes Kaliber. Ein eingebildetes Geschöpf, so, wie sie da in ihrem schicken Kostüm herumstolzierte und die Nase nicht hoch genug tragen konnte. Jeder, der Augen im Kopf hatte, konnte sehen, daß sie ein eiskaltes Biest war. Völlig ungerührt hatte sie am Grab ihres Vaters gestanden und keine Miene verzogen. Zugegeben, sie war eine Augenweide. Jack Mercy hatte gutaussehende Töchter in die Welt gesetzt, und diese, die älteste, hatte seine Augen geerbt. Hart und kühl und blau.

Offensichtlich hielt sich die Dame für etwas Besseres mit ihrem kalifornischen Schick und den teuren Schuhen, aber viele der Anwesenden erinnerten sich noch daran, daß ihre Ma ein Showgirl aus Las Vegas gewesen war, das oft und schallend gelacht und sich einer recht derben Ausdrucksweise bedient hatte. Diejenigen, die sich erinnerten, hatten bereits entschieden, daß ihnen die Mutter wesentlich lieber war als die Tochter.

Tess Mercy kümmerte das herzlich wenig. Sie gedachte, nur so lange in dieser gottverlassenen Wildnis zu bleiben, bis das Testament verlesen worden war. Dann würde sie nehmen, was ihr zustand – und das war mit Sicherheit immer noch weniger, als der alte Bastard ihr schuldete –, und den Staub von ihren Ferragamos schütteln.

»Ich bin spätestens am Montag zurück.«

Den Telefonhörer ans Ohr gepreßt, marschierte sie mit energischen Schritten auf und ab. Eine Aura nervöser Energie umgab sie. In der Hoffnung, wenigstens ein paar Minuten ungestört zu bleiben, hatte sie die Türen dieses Raumes, der anscheinend als Arbeitszimmer diente, hinter sich geschlossen, aber nun fiel es ihr schwer, die zahlreichen Tierköpfe zu ignorieren, die die Wände bedeckten.

»Das Skript ist fertig.« Lächelnd fuhr sie mit den Fingern durch ihr kinnlanges, glattes Haar. »Ja, es ist großartig, da hast du verdammt recht. Montag hältst du es in deinen gierigen kleinen Pfoten. Geh mir nicht auf die Nerven, Ira«, warnte sie ihren Agenten. »Ich bringe dir das Skript, und du handelst die Verträge aus. Aber streng dich gefälligst an. Ich bin nämlich fast pleite.«

Tess verlagerte den Hörer ein wenig und schürzte die Lippen, während sie sich aus der Brandykaraffe bediente. Sie lauschte immer noch den Versprechungen und Bitten aus Hollywood, als sie Lily und Adam am Fenster vorbeigehen sah.

Interessant, dachte sie, an ihrem Brandy nippend. Das verhuschte Mäuschen und der edle Wilde.

Tess hatte einige Nachforschungen angestellt, ehe sie sich auf den Weg nach Montana machte. Sie wußte, daß Adam Wolfchild der Sohn von Jack Mercys dritter und letzter Frau war. Bei der Heirat seiner Mutter mit Mercy war Adam acht Jahre alt gewesen. In seinen Adern floß größtenteils Blackfoot-Blut, aber seine Mutter hatte auch italienische Vorfahren gehabt. Dieser Mann hatte fünfundzwanzig Jahre auf der Mercy Ranch zugebracht und es nur zu einem kleinen Haus und einem Job als Pferdepfleger gebracht.

Damit würde Tess sich nicht abspeisen lassen.

Über Lily hatte sie nur in Erfahrung gebracht, daß sie geschieden, kinderlos und häufig von Ort zu Ort gezogen war. Vermutlich, weil ihr Mann sie als eine Art Punchingball benutzt hatte, dachte Tess und unterdrückte einen Anflug von Mitleid. Sie konnte sich keine Gefühlsregungen erlauben. Hier ging es einzig und allein ums Geschäft.

Lilys Mutter, von Beruf Fotografin, war nach Montana gekommen, um den echten, ursprünglichen Westen zu entdekken. Dabei hatte sie dann auch Jack Mercy entdeckt – viel gebracht hatte es ihr allerdings nicht.

Dann war da noch Willa. Bei dem Gedanken an sie kniff Tess die Lippen zusammen. Willa war diejenige, die geblieben war, diejenige, die der alte Mistkerl bei sich behalten hatte. Ihr gehörte jetzt wohl die Ranch, vermutete Tess achselzuckend. Nun, sollte sie damit glücklich werden, sie hatte sie zweifellos verdient. Aber Tess Mercy würde Montana nicht ohne ein hübsches Stück von dem Kuchen – in bar – verlassen.

Wenn sie aus dem Fenster schaute, konnte sie in der Ferne die endlosen öden Ebenen sehen. Ein Schauer überlief sie, und sie kehrte der Aussicht rasch den Rücken zu. Himmel, wie sie den Rodeo Drive vermißte!

»Montag, Ira«, fauchte sie in den Hörer, da ihr das Gezeter am anderen Ende der Leitung in den Ohren dröhnte. »Punkt zwölf in deinem Büro, dann kannst du mich gleich zum Lunch ausführen.« Mit diesen Worten knallte sie den Hörer auf die Gabel, ohne sich zu verabschieden.

Drei Tage allerhöchstens, schwor sie sich und prostete einem Elchkopf mit ihrem Brandy zu. Dann würde sie Dodge verlassen und in die Zivilisation zurückkehren.

»Ich muß dich ja wohl nicht daran erinnern, daß deine Gäste unten auf dich warten, Will.« Bess Pringle stemmte die Hände in die Hüften und schlug denselben Tonfall an, den sie der zehnjährigen Willa gegenüber gebraucht hatte.

Willa schlüpfte in ihre Jeans – Bess hielt nicht allzuviel von Privatsphäre und hatte nur flüchtig geklopft, ehe sie ins Schlafzimmer gestürmt war – und gab dieselbe Antwort, die sie mit zehn gegeben hätte: »Dann laß es doch!« Sie setzte sich, um ihre Stiefel anzuziehen.

»Du verhältst dich ausgesprochen unhöflich.«

»Die Arbeit erledigt sich schließlich nicht von selbst.«

»Aber du beschäftigst genug Leute, die sich darum kümmern können, du mußt nicht ausgerechnet heute mit anpakken. Du wirst jetzt nirgendwo hingehen, heute nicht. Es gehört sich nicht.«

Die Frage, was sich gehörte und was nicht, bildete den Grundpfeiler von Bess’ moralischem und gesellschaftlichem Sittenkodex. Sie war eine winzige, vogelähnliche Frau, die nur aus Knochen und Zähnen zu bestehen schien, obwohl sie sich mit dem Appetit eines ausgehungerten Holzfällers durch einen ganzen Berg Pfannkuchen hindurchfuttern konnte und so vernascht war wie eine Achtjährige. Sie war achtundfünfzig Jahre alt und trug ihr flammendrotes Haar, das sie stets heimlich nachfärbte, zu einem strengen Knoten verschlungen.

Ihre Stimme klang so rauh wie ein Reibeisen, aber ihr Gesicht war glatt wie das eines jungen Mädchens und mit den moosgrünen Augen und der geraden irischen Nase verblüffend hübsch. Sie hatte kleine, kräftige Hände, denen man ansah, daß sie zupacken konnten, und ein aufbrausendes Temperament.

Die Hände noch immer in die Hüften gestemmt, baute sie sich vor Willa auf und blickte auf sie hinunter. »Du machst jetzt, daß du nach unten kommst, und kümmerst dich um deine Gäste!«

»Ich habe eine Ranch zu leiten.« Willa erhob sich. Daß sie in ihren Stiefeln Bess um Haupteslänge überragte, nützte ihr nichts. Die Machtkämpfe zwischen ihnen endeten meistens mit einem Unentschieden. »Und es sind nicht meine Gäste. Ich wollte sie nicht hier haben.«

»Sie sind gekommen, um deinem Vater die letzte Ehre zu erweisen, so wie es sich gehört.«

»Sie sind gekommen, um im Haus herumzuschnüffeln und alles zu begaffen. Es wird Zeit, daß sie wieder verschwinden.«

»Einige vielleicht.« Bess nickte leicht. »Aber die meisten sind deinetwegen hier.«

»Ich will sie nicht im Haus haben.« Willa wandte sich ab, griff nach ihrem Hut und blieb am Fenster stehen, die Krempe nervös zwischen den Fingern knetend. Ihr Schlafzimmerfenster ging auf den Wald und die Gipfel des Big Belt hinaus, eine Aussicht, die für sie alle Schönheit und alle Geheimnisse der Welt barg. »Ich brauche sie nicht. Ich kann nicht atmen, wenn all diese Menschen um mich herum sind.«

Bess zögerte kurz, ehe sie Willa die Hand auf die Schulter legte. Jack Mercy hatte nicht gewollt, daß seine Tochter verweichlicht wurde. Er hatte strenge Anweisung gegeben, sie nicht zu verwöhnen, zu verhätscheln oder zu verzärteln. Diese Erziehungsmethoden hatte er schon festgelegt, als Willa noch ein Baby gewesen war, und auch Bess hatte dieses eiserne Gebot nur dann übertreten, wenn sie ganz sicher war, nicht ertappt und wie eine von Jacks Ehefrauen fortgeschickt zu werden.

»Schätzchen, es ist dein gutes Recht, um ihn zu trauern.«

»Er ist tot und begraben, daran ändert sich nichts mehr, und wenn es mir noch so leid tut.« Doch Willa berührte die Hand, die auf ihrer Schulter lag. »Er hat mir noch nicht einmal gesagt, daß er krank ist. Er konnte mir noch nicht einmal diese letzten Wochen gönnen, in denen ich mich um ihn hätte kümmern können. Ich hätte so gerne noch Zeit gehabt, um von ihm Abschied zu nehmen.«

»Dein Vater war ein stolzer Mann«, sagte Bess, doch insgeheim dachte sie: Ein Scheißkerl war er, ein egoistischer, rücksichtsloser Scheißkerl. »Es ist besser, daß der Krebs ihn schnell dahingerafft hat, so mußte er wenigstens nicht lange leiden. Das wäre ihm unerträglich gewesen und hätte es dir nur noch schwerer gemacht.«

»Wie dem auch sei, es ist vorüber.« Willa glättete die breite Krempe ihres Hutes und stülpte ihn sich auf den Kopf. »Und nun hängen Tiere und Menschen von mir ab. Die Leute müssen jetzt sofort begreifen, wer in Zukunft das Sagen hat. Die Mercy Ranch wird immer noch von einer Mercy geleitet.«

»Dann tu, was du tun mußt.« Jahrelange Erfahrung hatte Bess gelehrt, daß sämtliche Regeln des Anstandes hinfällig wurden, sobald es um die Belange der Ranch ging. »Aber zum Essen bist du wieder da. Du wirst dich umziehen und dich bei Tisch ordentlich benehmen.«

»Sorg dafür, daß diese Leute mein Haus verlassen, dann sehen wir weiter.«

Sie verließ das Zimmer und lief nach links zur Hintertreppe, die zum Ostflügel des Hauses gehörte. So war es ihr möglich, unauffällig in den Abstellraum zu schlüpfen. Selbst hier noch drang das Summen der durcheinanderschwatzenden Stimmen und gelegentliches dröhnendes Gelächter an ihr Ohr. Angewidert knallte sie die Tür hinter sich zu und blieb wie angewurzelt stehen, als sie die beiden Männer sah, die auf der Seitenveranda in kameradschaftlichem Schweigen eine Zigarette rauchten.

Ihr Blick heftete sich auf den Älteren der beiden, der eine Flasche Bier in der Hand hielt. »Na, amüsierst du dich, Ham?«

Willas Sarkasmus ließ Hamilton Dawson kalt. Er hatte sie auf ihr erstes Pony gesetzt, ihr nach dem ersten Sturz den Kopf verbunden. Er hatte ihr beigebracht, wie man ein Lasso und eine Flinte gebraucht und wie man Wild aus seiner Dekke schlägt. Nun schob er ungerührt seine Zigarette zwischen die Lippen, die ein graugesprenkelter Bart schmückte, und blies einen Rauchring in die Luft.

»Es ist …«, ein zweiter Ring folgte, »… ein schöner Nachmittag.«

»Ich möchte, daß die Zäune entlang der nordwestlichen Grenzlinie überprüft werden.«

»Schon passiert«, erwiderte er gemütlich und lehnte sich an das Geländer; ein kleiner, untersetzter Mann mit Beinen so krumm wie ein Flitzebogen. Als Vorarbeiter der Ranch wußte er ebensogut wie Willa, was getan werden mußte. »Hab’ schon ’nen Trupp losgeschickt, um die Zäune zu reparieren. Brewster und Pickles schauen sich auf den oberen Weiden mal um, da haben wir ’n paar Tiere verloren. Sieht nach ’nem Puma aus.« Wieder zog er an seiner Zigarette und stieß genüßlich den Rauch aus. »Um den wird sich Brewster kümmern, der knallt die Biester gerne ab.«

»Ich will mit ihm sprechen, sobald er zurück ist.«

»Das hab’ ich erwartet.« Ham richtete sich auf und rückte seinen alten, verbeulten Hut zurecht. »Die Jungtiere werden gerade entwöhnt.«

»Ja, ich weiß.«

Ham hatte diese Antwort erwartet. Er nickte zustimmend. »Ich werd’ die Leute im Auge behalten. Das mit deinem Pa tut mir leid, Will.«

Sie wußte, daß diese beiläufig dahingeworfenen schlichten Worte ehrlicher und aufrichtiger gemeint waren als die Berge von Blumen und Kränzen, die ihr völlig fremde Menschen geschickt hatten. »Ich reite später selbst hinaus.«

Ham nickte ihr und dem Mann neben sich zu, dann stolzierte er säbelbeinig in Richtung seines Geländewagens.

»Wie fühlst du dich, Will?«

Sie zuckte die Achseln, frustriert, weil sie nicht wußte, was sie als nächstes tun sollte. »Ich wünschte, es wäre schon morgen«, sagte sie schließlich. »Morgen sieht die Welt bestimmt freundlicher aus, meinst du nicht auch, Nate?«

Die Antwort auf diese Frage lautete ›Nein‹, aber das behielt er für sich. Statt dessen trank er sein Bier aus. Er war als ihr Freund hier, als Nachbar und als Rancher, aber er war zugleich auch in seiner Eigenschaft als Jack Mercys Anwalt im Haus, und er wußte, daß er in Kürze der Frau neben ihm eine vernichtende Nachricht übermitteln mußte.

»Laß uns ein Stück gehen.« Er stellte die Bierflasche auf das Geländer und nahm Willas Arm. »Ich muß mir die Beine vertreten.«

Lang genug waren sie ja. Nathan Torrence hatte schon mit siebzehn seine Altersgenossen überragt und war dann immer noch gewachsen. Nun, mit dreiunddreißig, hatte er die zwei Meter fast erreicht. Er war schlank, unter seinem Hut kräuselte sich dichtes weizenblondes Haar, und in dem von Wind und Wetter gegerbten Gesicht leuchteten Augen, die so blau waren wie der Himmel über Montana. Die langen Arme endeten in riesigen Händen, die langen Beine in ebenso großen Füßen. Trotzdem bewegte er sich erstaunlich anmutig.

Wenn es sich um seine Familie, seine Pferde und die Gedichte von Keats handelte, hatte der Mann ein butterweiches Herz, doch sobald es um Rechtsangelegenheiten und die Frage von richtig oder falsch ging, zeigte sich sein messerscharfer Verstand. Er hegte eine langjährige, tiefe Zuneigung zu Willa Mercy. Deswegen belastete es ihn auch so, daß er sie durch die Hölle schicken mußte.

»Ich habe noch nie jemanden verloren, der mir nahestand«, begann er. »Daher kann ich auch nicht nachempfinden, wie dir zumute ist.«

Willa ging weiter, vorbei an der Küche, den Unterkünften der Männer und dem Hühnerstall, wo die Hennen zu gackern begannen. »Er hat niemanden an sich herangelassen, auch mich nicht. Ich weiß gar nicht genau, wie ich mich fühle.«

»Die Ranch …« Hier begab er sich auf dünnes Eis, und Nate umging das heikle Thema vorsichtig. »Es ist eine ziemliche Verantwortung.«

»Wir haben gute Leute, gutes Vieh, gutes Land.« Es fiel ihr nicht schwer, Nate zuzulächeln. »Und gute Freunde.«

»Du kannst jederzeit auf mich zählen, Will. Auf mich und auf jeden sonst in der Gegend.«

»Ich weiß.« Sie blickte an ihm vorbei über die Weiden, die Pferche, die Nebengebäude und die Scheunen bis hin zum Horizont, wo sich das Land mit dem Himmel traf. »Seit mehr als hundert Jahren hat ein Mercy diese Ranch verwaltet, hat Vieh gezüchtet, Korn gesät und Pferde aufgezogen. Ich weiß, was zu tun ist und wie es getan werden muß. Nichts ändert sich jemals wirklich.«

Alles ändert sich, dachte Nate. Und die Welt, von der sie sprach, würde aufgrund der Hartherzigkeit jenes Mannes, der soeben begraben worden war, bald aus den Fugen geraten. Es war besser, die Sache hinter sich zu bringen, ehe sie auf ihr Pferd oder in ihren Jeep stieg und verschwand.

»Am besten beginnen wir jetzt mit der Testamentseröffnung«, beschloß er.

Kapitel 2

Jack Mercys Büro im zweiten Stock des Haupthauses hatte die Größe eines Ballsaals. Die Wände waren mit Kiefernholz getäfelt, das von seinen Bäumen stammte. Die schimmernde Lackierung verlieh ihm einen goldenen Glanz, der den ganzen Raum erfüllte. Riesige Fenster boten einen herrlichen Blick über die Ranch und das Land. Jack pflegte zu sagen, daß er alles, was ein Mann sehen mußte, von diesen Fenstern aus überblicken konnte.

Auf dem Boden lagen die Teppiche, die er gesammelt hatte, und Ledersessel in verschiedenen Brauntönen waren im Raum verteilt. An der Wand hingen seine Trophäen – Köpfe von Elchen, Bighornschafen, Bären und Hirschen. In einer Ecke kauerte wie zum Sprung geduckt ein mächtiger schwarzer Grizzly mit gefletschten Zähnen und zornig funkelnden Glasaugen.

Einige seiner Lieblingswaffen hatte Jack in einer verschlossenen Vitrine aufbewahrt. Dort lagen die Büchse seines Urgroßvaters und dessen Colt Peacemaker, die Browning, mit der Jack den Bären erlegt hatte, die Mossberg 500 und die 44er Magnum, seine bevorzugte Handfeuerwaffe.

Es war der Raum eines Mannes, der nach Leder, Holz und dem Tabakduft der kubanischen Zigarren roch, die er oft geraucht hatte.

Sein Schreibtisch, extra für ihn von Hand angefertigt, war aus glänzendem Mahagoni und mit einer Vielzahl von Schubladen versehen, deren Messinggriffe stets sorgfältig poliert wurden. Nate hatte jetzt dahinter Platz genommen und beschäftigte sich angelegentlich mit einigen Papieren, um den Anwesenden Zeit zu geben, sich zu sammeln.

In Tess’ Augen wirkte er hier so fehl am Platz wie ein Bierkrug auf einer Kirchenfeier. Ein Cowboy im Sonntagsstaat, der Anwalt spielt, dachte sie, leicht die Lippen verziehend. Allerdings mußte sie zugeben, daß er auf seine Art durchaus anziehend war. Ein Countrytyp, ein junger James Stewart, der nur aus Armen und Beinen zu bestehen schien und eine unterschwellige Sexualität ausstrahlte. Aber große, schlaksige Männer, die Stiefel zum Gabardineanzug trugen, waren nicht unbedingt ihr Stil.

Was sie betraf, so wollte sie diese ganze lästige Angelegenheit so schnell wie möglich hinter sich bringen und nach L. A. zurückkehren. Sie schnitt dem fauchenden Grizzly und dem zottigen Kopf einer Bergziege eine Grimasse und musterte dann die Waffensammlung. Welch ein Ort, grübelte sie. Und was für seltsame Leute.

Neben dem Cowboy im Anwaltskostüm saß die knochige Haushälterin mit hennagefärbten Haaren stocksteif da. Ihre Knie hatte sie fest zusammengepreßt und mit einem abscheulichen schwarzen Faltenrock züchtig bedeckt. Es folgte der edle Wilde mit seinem überwältigend attraktiven Gesicht und den unergründlichen Augen. Ihm haftete ein schwacher Geruch nach Pferd an.

Lily, das Nervenbündel, dachte Tess, ihre Musterung fortsetzend. Sie hielt die Hände krampfhaft gefaltet und den Kopf gesenkt, als ob sie so die Blutergüsse in ihrem Gesicht verbergen könnte. Hübsch und zerbrechlich wie ein aus dem Nest gefallenes Vögelchen, das mitten in einer Schar von Geiern gelandet war.

Tess’ Herz wurde weich, und sie wandte ihre Aufmerksamkeit rasch Willa zu.

Die Landpomeranze, stellte sie naserümpfend fest. Mürrisch, vermutlich nicht mit Intelligenz gesegnet und wortkarg. Zumindest sah die Frau in Jeans und Flanellhemd besser aus als in dem sackartigen Kleid, das sie zu der Beerdigung getragen hatte. Sie bot einen interessanten Anblick, wie sie da in dem großen Ledersessel saß, einen stiefelbekleideten Fuß auf das Knie gelegt, das fremdartige exotische Gesicht unbeweglich wie Stein.

Und da sie in den schwarzen Augen nicht eine einzige Träne entdeckt hatte, nahm Tess an, daß Willa für Jack Mercy keine größere Liebe gehegt hatte als sie selbst.

Eine rein geschäftliche Angelegenheit, stellte sie fest und trommelte mit den Fingern ungeduldig auf der Armlehne ihres Sessels herum. Hoffentlich kamen sie bald zur Sache.

Noch während sie dies dachte, hob Nate den Kopf, und ihre Blicke trafen sich. Einen Moment lang beschlich sie das unbehagliche Gefühl, er könne ihre Gedanken lesen. Und daß ihm alles an ihrer Person mißfiel, das war nicht zu übersehen.

Ach, denk doch, was du willst, beschloß Tess und sah ihn trotzig an. Sieh du nur zu, daß ich mein Geld bekomme.

»Wir haben jetzt mehrere Möglichkeiten«, begann Nate. »Entweder wir regeln die Sache ganz formell, das heißt, ich lese euch Jacks Letzten Willen Wort für Wort vor und erkläre euch dann, was die juristischen Floskeln im Klartext bedeuten, oder ich fasse den Inhalt des Testaments einfach kurz zusammen.« Er schaute bei diesen Worten Willa an. Sie bedeutete ihm am meisten. »Die Entscheidung liegt bei dir.«

»Mach’s bitte nicht so kompliziert, Nate.«

»Wie du willst. Bess, dir hat er für jedes Jahr, das du auf der Mercy Ranch gearbeitet hast, tausend Dollar hinterlassen. Das macht insgesamt vierunddreißigtausend Dollar.«

»Vierunddreißigtausend?« Bess konnte es kaum glauben. »Himmel, Nate, was soll ich denn mit so einem Haufen Geld anfangen?«

Er lächelte. »Du könntest es zum Beispiel ausgeben, Bess. Aber wenn du einen Teil davon sicher anlegen willst, stehe ich dir gern mit Rat und Tat zur Seite.«

»Großer Gott!« Überwältigt blickte Bess zu Willa, dann auf ihre Hände, dann wieder zu Nate hin. »Großer Gott!«

Und Tess dachte: Wenn die Haushälterin schon dreißig Riesen kassiert, sollte ich mindestens das Doppelte kriegen. Was sie mit so einem Haufen Geld anfangen würde, das wußte sie ganz genau.

»Nun zu dir, Adam. Laut der Abmachung, die Jack mit deiner Mutter getroffen hat, als sie heirateten, erhältst du eine Pauschale von zwanzigtausend Dollar oder wahlweise zwei Prozent Anteil an der Mercy Ranch. Die Beteiligung an der Ranch ist meiner Meinung nach mehr wert, aber die Entscheidung bleibt natürlich dir überlassen.«

»Das ist längst nicht genug!« Willas Stimme, die die Stille wie ein Peitschenknall durchschnitt, ließ Lily zusammenzukken und veranlaßte Tess, eine Augenbraue hochzuziehen. »Es ist ungerecht. Zwei Prozent? Adam arbeitet seit seinem achten Lebensjahr auf der Ranch. Er …«

»Willa.« Adam, der hinter ihr saß, legte seiner Halbschwester beruhigend die Hand auf die Schulter. »Das ist schon in Ordnung.«

»Einen Teufel ist es.« Kochend vor Zorn wegen dieser Ungerechtigkeit stieß sie seine Hand beiseite. »Unsere Pferdezucht ist eine der besten im ganzen Staat, und das verdanken wir Adam. Die Pferde sollten jetzt ihm gehören – ebenso wie das Haus, in dem er wohnt. Er hätte einen Teil des Landes erben sollen, und genug Geld, um es zu bewirtschaften.«

»Willa.« Geduldig griff Adam erneut nach der Hand, die sie ihm entzogen hatte, und hielt sie fest. »Er hat genau das getan, worum unsere Mutter ihn gebeten hat, nicht mehr und nicht weniger.«

Willa gab nach, da ihr bewußt wurde, daß die Augen der beiden Fremden auf ihr ruhten, und weil sie bereits beschlossen hatte, das Unrecht wiedergutzumachen. Sie würde Nate veranlassen, noch heute die entsprechenden Papiere aufzusetzen. »Entschuldigung.« Wieder ruhiger, stützte sie ihre Hände auf die breiten Armlehnen ihres Sessels. »Fahr bitte fort, Nate.«

»Die Ranch und die Ländereien«, setzte Nate erneut an, »der Viehbestand, die Maschinen, der Fahrzeugpark, die Abholzrechte …« Er hielt inne und wappnete sich für die undankbare Aufgabe, Hoffnungen zu zerstören. »Der Betrieb auf der Mercy Ranch soll wie gewohnt weiterlaufen, das heißt, die Rechnungen werden bezahlt, die Löhne ausgezahlt, die Gewinne angelegt oder wieder investiert und so weiter. Du sollst unter Aufsicht des Testamentsvollstreckers die Ranch ein Jahr lang führen, Will.«

»Moment mal.« Willa hob eine Hand. »Er hat bestimmt, daß du die Ranch ein Jahr lang überwachen sollst?«

»Unter bestimmten Bedingungen«, fügte Nate hinzu und blickte sie beinahe entschuldigend an. »Wenn die Bestimmungen des Erblassers für den Zeitraum eines Jahres, beginnend vierzehn Tage nach der Testamentseröffnung, erfüllt worden sind, dann geht die Ranch mit allem, was dazugehört, in den alleinigen Besitz der Begünstigten über.«

»Was für Bestimmungen?« wollte Willa wissen. »Was für Begünstigte? Was, zum Teufel, geht hier vor, Nate?«

»Er hat jeder seiner Töchter ein Drittel der Ranch hinterlassen.« Nate sah, wie das Blut aus Willas Gesicht wich, und fuhr, Jack Mercy insgeheim verfluchend, rasch fort: »Um das Erbe antreten zu können, müßt ihr drei ein ganzes Jahr lang auf der Ranch leben und dürft den Besitz innerhalb dieser Zeit nicht länger als eine Woche verlassen. Wenn am Ende dieser Frist die Bedingungen erfüllt sind, gehört jeder der Begünstigten ein Drittel der Erbmasse. Dieser Anteil kann über einen Zeitraum von zehn Jahren hinweg nur an eine der anderen Begünstigten verkauft oder überschrieben werden.«

»Einen Augenblick bitte.« Tess stellte ihren Drink beiseite. »Soll das heißen, daß ich zu einem Drittel an irgendeiner Rinderranch in Nirgendwo, Montana, beteiligt bin und daß ich hierherziehen muß, um meinen Anteil einstreichen zu können? Ich soll hier wohnen? Ein Jahr meines Lebens verschenken? Kommt nicht in Frage!« Anmutig erhob sie sich.

»Ich will deine Ranch nicht, Kindchen«, beteuerte sie und wandte sich an Willa. »Jeder staubige Quadratmeter und jedes einzelne Rind sei dir von Herzen gegönnt. Das Ganze ergibt doch keinen Sinn. Zahl mir meinen Anteil in bar aus, und du bist mich los.«

»Entschuldigung, Miß Mercy.« Von seinem Platz hinter dem Schreibtisch aus musterte Nate sie abschätzend. Wütend wie ein angestochener Eber, dachte er, aber klug genug, sich zu beherrschen. »Es ergibt sehr wohl einen Sinn. Jacks Wünsche und Bedingungen sind genau durchdacht und präzise formuliert. Wenn Sie den Testamentsklauseln nicht zustimmen, dann geht die gesamte Ranch als Stiftung an den Naturschutzbund.«

»Eine Stiftung?« Entsetzt preßte Willa die Finger gegen die Schläfen. Sie war verletzt und voller Zorn, und dazu breitete sich eine schleichende, nagende Furcht in ihrem Inneren aus. Sie mußte diese Gefühle unbedingt unterdrücken, um klar denken zu können.

Die Zehnjahresklausel leuchtete ihr ein. Auf diese Weise sollte vermieden werden, daß das Land nach seinem augenblicklichen Marktwert zur Steuer veranschlagt wurde. Jack hatte die Regierung gehaßt wie die Pest und hätte der Finanzbehörde niemals einen Penny mehr in den Rachen geworfen als unbedingt nötig. Aber die Drohung, die Ranch einer Organisation zu vermachen, für die er stets nur Hohn und Spott übriggehabt hatte, paßte nicht zu ihm.

»Wenn wir die Bedingungen nicht akzeptieren«, fuhr sie fort, mühsam um Fassung ringend, »dann kann er die Ranch einfach so verschenken? Wenn die beiden da sich nicht an die Testamentsverfügungen halten, ist das Land verloren, das seit über hundert Jahren im Besitz der Familie Mercy ist? Oder wenn ich mich nicht daran halten will?«

Nate atmete hörbar aus. In diesem Moment haßte er sich. »Es tut mir leid, Willa, aber er war vernünftigen Argumenten einfach nicht zugänglich. Genau so hat er es bestimmt. Wenn eine von euch dreien sich nicht an die Klauseln hält, dann ist die Ranch verwirkt, und jede von euch erhält einhundert Dollar. Das ist alles.«

»Hundert Dollar?« Die Absurdität des Ganzen verschlug Tess beinahe die Sprache. Lachend warf sie sich wieder in ihren Sessel. »Dieser verdammte Hurensohn.«

»Halt den Mund«, befahl Willa scharf, als sie aufsprang. »Halt du einfach den Mund. Können wir dagegen angehen, Nate? Hat es einen Sinn, das Testament anzufechten?«

»Wenn ihr meine ehrliche Meinung hören wollt, nein. Es würde Jahre dauern und Unsummen verschlingen, und am Ende würdet ihr höchstwahrscheinlich doch verlieren.«

»Ich bleibe hier.« Lily konnte kaum atmen. Ein Heim, Sicherheit, Geborgenheit winkten ihr, waren zum Greifen nahe. »Es tut mir leid.« Sie stand auf, als sich Willa zu ihr umdrehte. »Dir gegenüber ist es unfair und ungerecht. Ich weiß nicht, warum er das getan hat, aber ich bleibe. Wenn das Jahr vorüber ist, werde ich dir meinen Anteil verkaufen, zu einem Preis, den du dann festsetzen kannst. Die Ranch ist wunderschön«, fügte sie hinzu und versuchte zu lächeln, als Willa sie weiterhin schweigend anstarrte. »Jeder hier weiß, daß sie dir eigentlich schon gehört. Und schließlich ist es ja bloß ein Jahr.«

»Das ist ja sehr lieb von dir.« Tess meldete sich wieder zu Wort. »Aber ich will verdammt sein, wenn ich ein Jahr lang hier versauere. Ich fliege morgen früh nach L. A. zurück.«

Willas Gedanken überschlugen sich fast. Sie warf Tess einen nachdenklichen Blick zu. Sosehr sie auch wollte, daß die beiden aus ihrem Leben verschwanden, die Ranch bedeutete ihr mehr. Viel mehr. »Nate, was passiert, wenn eine von uns dreien plötzlich stirbt?«

»Sehr komisch.« Tess griff wieder nach ihrem Brandy. »Ist das Montana-Humor?«

»Falls eine der Begünstigten innerhalb dieses Übergangsjahres stirbt, wird deren Anteil unter den beiden verbliebenen Nutznießerinnen aufgeteilt – zu denselben Bedingungen.«

»Na, was hast du denn jetzt vor? Willst du mich im Schlaf ermorden und in der Prärie verscharren?« Tess schnalzte lässig mit den Fingern. »Auch Drohungen bringen mich nicht dazu, hierzubleiben und das primitive Leben auf einer Ranch zu ertragen.«

Drohungen vielleicht nicht, dachte Willa, aber die Aussicht auf Geld wirkte bei einer bestimmten Sorte Mensch fast immer. »Ich will dich nicht hierhaben. Ich will keine von euch in meiner Nähe haben, aber ich werde alles tun, um die Ranch zu behalten. Vielleicht interessiert es Miß Hollywood hier, wieviel diese staubigen Quadratmeter wert sind, Nate.«

»Grob geschätzt liegt der Marktwert des Landes und der Gebäude, den Viehbestand einmal nicht eingerechnet, so zwischen achtzehn und zwanzig Millionen Dollar.«

Tess verschüttete vor Überraschung beinahe ihren Brandy. »Heiliger Strohsack!«

Dieser Ausbruch trug ihr ein unwilliges Zischen von Bess und ein höhnisches Lächeln von Willa ein. »Ich wußte, daß das zieht«, murmelte letztere. »Wann hast du denn das letzte Mal sechs Millionen im Jahr verdient, Schwesterchen?«

»Kann ich bitte ein Glas Wasser haben?« stieß Lily hervor und zog damit Willas Aufmerksamkeit auf sich.

»Setz dich hin, ehe du umkippst.« Sie drückte Lily unsanft auf den Stuhl zurück und begann, im Raum auf und ab zu tigern. »Ich möchte, daß du das Testament noch einmal Wort für Wort vorliest, Nate. Ich muß das alles erst richtig begreifen.« Sie ging zu einer kleinen Bar aus lackiertem Rattan und tat etwas, was sie zu Lebzeiten ihres Vaters nie gewagt hätte: Sie schenkte sich ein Glas von seinem Whiskey ein und trank. Langsam ließ sie die Flüssigkeit die Kehle hinunterrinnen und genoß das wohlige Brennen, das der Alkohol auslöste, während sie Nates Vortrag lauschte und sich zwang, nicht an all die Jahre zu denken, in denen sie vergeblich versucht hatte, die Liebe und den Respekt ihres Vaters zu erringen. Und sein Vertrauen.

Am Ende hatte er sie doch zusammen mit seinen anderen Töchtern, die ihm fremd gewesen waren, in einen Topf geworfen. Weil ihm keine von ihnen viel bedeutet hatte.

Ein Name, den Nate murmelte, ließ sie aufhorchen. »Moment mal. Warte eine Sekunde, ja? Hast du eben Ben McKinnon erwähnt?«

Nate rutschte unbehaglich auf seinem Sitz hin und her und räusperte sich. Er hatte beabsichtigt, diese Mitteilung ganz beiläufig in seine Rede einfließen zu lassen, da er Willa einen weiteren Schock ersparen wollte. »Dein Vater hat mich und Ben dazu bestimmt, während des Probejahres den Betrieb der Ranch zu überwachen.«

»Dieser Geier soll mir ein ganzes gottverdammtes Jahr lang auf die Finger sehen?«

»Wirst du wohl in diesem Haus nicht fluchen, Will!« schnauzte Bess sie an.

»Ich fluche in diesem gottverdammten Haus, sooft es mir paßt. Warum, zum Teufel, hat er McKinnon ausgesucht?«

»Für deinen Vater kam Three Rocks gleich nach der Mercy Ranch. Er wollte jemanden, der das Geschäft von der Pieke auf gelernt hat.«

McKinnon kann so gemein werden wie eine Giftschlange, hatte Jack Mercy damals gesagt. Außerdem wird der sich von keinem Weibsstück die Butter vom Brot nehmen lassen.

»Keiner von uns will dir auf die Finger sehen«, beschwichtigte sie Nate. »Wir müssen uns um unsere eigenen Betriebe kümmern. Dies hier ist nur eine Formsache.«

»Quatsch!« Doch Willa lenkte ein. »Weiß McKinnon überhaupt schon von seinem Glück? Auf der Beerdigung hab’ ich ihn jedenfalls nicht gesehen.«

»Er hat geschäftlich in Bozeman zu tun und kommt heute abend oder morgen wieder. Und er weiß auch schon Bescheid.«

»Hat sich kaputtgelacht, was?«

Er war vor Lachen fast erstickt, erinnerte sich Nate, doch sein Blick blieb ernst. »Das ist kein Witz, Will. Es ist eine zeitlich begrenzte geschäftliche Angelegenheit. Alles, was du zu tun hast, ist, vier Jahreszeiten zu überstehen. Das müssen wir ja alle.«

»Ich werde durchhalten. Der Himmel weiß, ob die zwei da es schaffen.« Kopfschüttelnd betrachtete sie ihre Schwestern. »Warum zitterst du denn so?« fuhr sie Lily an. »Du stehst im Begriff, ein paar Millionen Dollar zu kassieren, und nicht vor einem Erschießungskommando. Um Gottes willen, trink das.«

Unwirsch drückte sie Lily das Whiskeyglas in die Hand.

»Hör auf, auf ihr herumzuhacken.« Wütend und instinktiv bemüht, Lily zu schützen, trat Tess zwischen sie.

»Ich hacke nicht auf ihr herum, und du geh mir aus den Augen.«

»Du wirst mich ein ganzes Jahr lang ertragen müssen, also gewöhn dich besser schon mal dran.«

»Dann mach du dich schon mal damit vertraut, wie die Dinge hier laufen. Wenn du bleibst, dann glaub bloß nicht, daß du auf deinem fetten, kleinen Hintern rumsitzen kannst. Du wirst arbeiten wie alle anderen auch.«

Bei der Bemerkung über ihr Hinterteil holte Tess vernehmlich Atem. Sie hatte sich im Schweiße ihres Angesichts jedes einzelne überflüssige Pfund abtrainiert, das sie während ihrer High-School-Zeit mit sich herumgetragen hatte, und auf das Ergebnis war sie verdammt stolz. »Vergiß eins nicht, du flachbrüstiges Knochengestell: Wenn ich gehe, guckst du in die Röhre. Und wenn du meinst, daß ich von einem beschränkten Mannweib wie dir Befehle entgegennehme, dann bist du noch dämlicher, als du aussiehst.«

»Du wirst genau das tun, was ich dir sage«, versicherte ihr Willa. »Sonst wirst du nämlich das nächste Jahr in einem Zelt in den Bergen verbringen und nicht in einem warmen, gemütlichen Bett in diesem Haus schlafen.«

»Ich habe genauso ein Recht darauf, mich in diesem Haus aufzuhalten, wie du. Vielleicht sogar noch mehr, denn er hat meine Mutter zuerst geheiratet.«

»Was dich nur älter macht«, schoß Willa zurück und registrierte befriedigt, daß der kleine Seitenhieb sein Ziel erreicht hatte. »Außerdem war deine Mutter ein blondgefärbtes Showgirl mit mehr Titten als Hirn.«

Tess kam nicht dazu, eine passende Antwort zu geben, da Lily unvermittelt in Tränen ausbrach.

»Bist du nun zufrieden?« erkundigte sich Tess und versetzte Willa einen unsanften Rippenstoß.

»Schluß jetzt!« Adam, des Gezänkes überdrüssig, brachte beide mit einem Blick zum Schweigen. »Ihr solltet euch schämen, alle beide.« Er beugte sich zu Lily hinunter und sprach beruhigend auf sie ein, während er ihr auf die Füße half. »Sie brauchen frische Luft«, meinte er freundlich, »und einen Happen zu essen, dann geht es Ihnen gleich besser.«

»Geh mit ihr ein Stück spazieren«, ordnete Bess an und rappelte sich mühsam hoch. In ihrem Kopf hämmerte es wie in einem Bergwerk. »Ich bereite jetzt das Essen vor. Ihr zwei habt euch unmöglich benommen«, tadelte sie Tess und Willa. »Ich kannte eure Mütter, und ich kann euch sagen, sie wären entsetzt, wenn sie euch heute gesehen hätten.« Sie schniefte leise und drehte sich würdevoll zu Nate um. »Bleib doch zum Essen, Nate. Es ist genug da.«

»Danke, Bess, aber …« Nate wollte nur noch mit heiler Haut den Raum verlassen. »Ich muß nach Hause.« Er suchte seine Papiere zusammen, wobei er die beiden Frauen, die sich feindselig anstarrten, mißtrauisch im Auge behielt. »Ich lasse euch von jedem Dokument drei Kopien da. Wenn ihr Fragen habt, wißt ihr ja, wo ihr mich erreichen könnt. Wenn ich nichts von euch höre, komme ich in ein paar Tagen noch einmal vorbei, und dann … dann sehen wir weiter«, schloß er lahm, nahm seinen Hut und seine Aktentasche und ergriff die Flucht.

Willa, die ihre Selbstbeherrschung zurückgewonnen hatte, holte tief Atem. »Seit dem Tag meiner Geburt habe ich meine ganze Kraft und mein Herzblut in diese Ranch gesteckt. Dich interessiert das sicher einen feuchten Kehricht, aber das ist mir egal. Nur will ich auf gar keinen Fall mein Eigentum verlieren. Du magst dir ja einbilden, du hättest mich in der Hand, aber ich weiß, daß du die Chance, mehr Geld in die Finger zu kriegen, als du je zuvor gesehen hast, auf jeden Fall nutzen wirst. Also stehen wir beide uns in nichts nach.«

Tess nickte, ließ sich auf einer Sessellehne nieder und schlug die eleganten Beine übereinander. »Wir werden wohl oder übel das nächste Jahr miteinander auskommen müssen. Aber glaub ja nicht, daß es mir leichtfällt, mein Heim, meine Freunde und meinen Lebensstil für ein Jahr aufzugeben. Dem ist nämlich nicht so.«

Einen flüchtigen Augenblick lang dachte sie wehmütig an ihr Apartment, ihren Club und den Rodeo Drive. Dann biß sie die Zähne zusammen. »Aber du hast recht, ich sehe nicht ein, warum ich auf etwas verzichten soll, was mir zusteht.«

»Was dir zusteht, daß ich nicht lache!«

Tess legte lediglich leicht den Kopf zur Seite. »Ob es uns beiden nun gefällt oder nicht – und ich denke, keiner von uns gefällt es –, ich bin ebensosehr seine Tochter wie du. Ich bin nur deshalb nicht hier aufgewachsen, weil Jack Mercy mich und meine Mutter einfach abgeschoben hat, und nachdem ich einen Tag hier verbracht habe, fange ich an, dafür dankbar zu sein. Aber ich werde das Jahr schon irgendwie durchstehen.«

Nachdenklich griff Willa nach dem Whiskey, den Lily nicht angerührt hatte. Ehrgeiz und Habgier waren ausgezeichnete Triebfedern. Tess würde durchhalten, nun gut. »Und danach?«

»Danach kannst du mich auszahlen.« Die Aussicht auf soviel Geld machte sie fast schwindelig. »Oder du schickst mir die Schecks mit meinem Gewinnanteil nach L. A., dahin werde ich nämlich noch am selben Tag, an dem die Frist abgelaufen ist, zurückfliegen.«

Willa nippte an ihrem Whiskey und mahnte sich zur Konzentration. Jetzt zählte erst einmal das Heute. »Kannst du reiten?«

»Worauf denn?«

Willa gab einen verächtlichen Ton von sich und trank dann einen Schluck. »Das dachte ich mir. Vermutlich kannst du noch nicht einmal einen Hahn von einer Henne unterscheiden.«

»Ach, mit Piepmätzen kenne ich mich aus«, meinte Tess gedehnt und stellte zu ihrer Überraschung fest, daß Willa grinste.

»Jeder, der hier lebt, muß auch arbeiten. Das ist eine Tatsache. Ich hab’ genug damit zu tun, mich um die Männer und das Vieh zu kümmern, da kann ich keinen Klotz am Bein wie dich brauchen. Also wirst du deine Anweisungen von Bess entgegennehmen.«

»Du glaubst doch nicht im Ernst, daß ich mir von einer Haushälterin Befehle erteilen lasse.«

Willas Augen glitzerten hart wie Stahl. »Du befolgst die Anordnungen der Frau, die dir dein Essen zubereitet, deine Wäsche wäscht und das Haus, in dem du leben wirst, in Ordnung hält. Und das erste Mal, an dem du sie wie einen Dienstboten behandelst, wird auch das letzte Mal sein, das verspreche ich dir. Du bist nicht mehr in L. A., Miß Hollywood. Hier draußen muß jeder mit anpacken.«

»Zufällig muß ich auch noch an meine Karriere denken.«

»Ach ja, Drehbücher schreiben.« Möglich, daß es noch sinnlosere Beschäftigungen auf der Welt gab, aber Willa fiel keine ein. »Nun, ein Tag hat vierundzwanzig Stunden, das wirst du sehr bald merken.« Erschöpft schlenderte sie zum Fenster hinter dem Schreibtisch. »Was, zum Teufel, soll ich nur mit dem verschüchterten Vögelchen anfangen?«

»Sie erinnert mich eher an eine zertretene Blume.«

Verwundert über das Mitgefühl in Tess’ Stimme, starrte Willa sie an, dann zuckte sie die Achseln. »Hat sie dir irgend etwas über die blauen Flecken in ihrem Gesicht erzählt?«

»Ich hab’ mit ihr genauso wenig gesprochen wie du.« Tess unterdrückte ein beklemmendes Schuldgefühl. Halt dich da raus, mahnte sie sich streng. »Das hier ist nicht unbedingt ein Familientreffen.«

»Sie wird es Adam sagen. Früher oder später vertraut jeder Adam an, was ihn bedrückt. Lassen wir die kleine Lily vorerst in seiner Obhut.«

»Gut. Ich fliege morgen früh nach L. A. zurück. Zum Pakken.«

»Einer der Männer fährt dich dann zum Flughafen.«

Tess war entlassen. Willa drehte sich wieder zum Fenster. »Eins noch: Tu dir selbst einen Gefallen, Miß Hollywood, und kauf dir lange Unterwäsche. Du wirst sie brauchen.«

Bei Einbruch der Dämmerung ritt Willa aus. Die Sonne versank gerade hinter den westlichen Gipfeln und färbte den Himmel tiefrot. Sie mußte nachdenken, mußte ihre innere Ruhe wiederfinden. Ihre Appaloosastute tänzelte unter ihr und zerrte an den Zügeln.

»Okay, Moon, reagieren wir uns ab.« Willa lenkte die Stute in eine andere Richtung und ließ sie laufen. Sie galoppierten los, fort von den Lichtern, den Gebäuden und den Geräuschen der Ranch, hinaus auf das offene Land, durch das sich der Fluß schlängelte.

Sie folgten dem Ufer und hielten sich östlich. Die ersten Sterne erschienen am Himmel, und außer dem Rauschen des Wassers und dem Trommeln der Hufe war kein Laut zu hören. Das Vieh graste friedlich vor sich hin, darüber kreisten nachtaktive Greifvögel. Von einer Anhöhe aus konnte Willa Meile um Meile voller Silhouetten und Schatten erkennen; hoch aufragende Bäume, im Wind wehendes Weidegras, die endlose Linie von Zäunen. Und noch etwas weiter entfernt schimmerten schwach die Lichter einer benachbarten Ranch.

McKinnon-Land.

Die Stute warf den Kopf zurück und schnaubte, als Willa die Zügel anzog. »Wir haben uns beide noch nicht ausgetobt, was, Moon?«

Nein, der Ärger brodelte immer noch in ihrem Inneren, und ihre Stute vibrierte vor ungenutzter Energie. Willa wünschte, sie könnte diesen nagenden, bitteren Zorn und den darunter verborgenen Schmerz ein für allemal verdrängen. Derartige Gefühle würden ihr das vor ihr liegende Jahr auch nicht eben erleichtern. Sie würden ihr auch nicht über die nächste Stunde hinweghelfen, dachte sie und kniff die Augen fest zusammen.

Sie würde keine einzige Träne vergießen, schwor sie sich. Nicht um Jack Mercy.