Blick zurück in eine große Zukunft - Rainer Bunz - E-Book

Blick zurück in eine große Zukunft E-Book

Rainer Bunz

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Beschreibung

Biografie über den deutsch-amerikanischen Dirigenten Emil Kahn (1896-1985). Er war ein Pionier des Rundfunks und in der Weimarer Zeit eine tragende Säule des Stuttgarter Musiklebens. Dem jüdischen Bankierssohn aus Frankfurt schien eine große Zukunft sicher, bis sich Ende Januar 1933 die politischen Verhältnisse in Deutschland schlagartig änderten und die Nationalsozialisten die Macht übernahmen. Rettung versprach die Emigration in die USA. Während die neuen Machthaber in Deutschland seinen Namen gründlich aus dem öffentlichen Bewusstsein tilgten, kämpfte Emil Kahn in der Fremde um Anerkennung und eine neue Existenz. Das war nicht leicht, denn dort wartete niemand auf ihn ...

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Buch

Emil Kahn war ein Pionier des Rundfunks und in der Weimarer Zeit eine tragende Säule des Stuttgarter Musiklebens. Dem jüdischen Bankierssohn aus Frankfurt schien eine große Zukunft sicher, bis sich Ende Januar 1933 die politischen Verhältnisse in Deutschland schlagartig änderten und die Nationalsozialisten die Macht übernahmen. Rettung versprach die Emigration in die USA. Während die neuen Machthaber in Deutschland seinen Namen gründlich aus dem öffentlichen Bewusstsein tilgten, kämpfte Emil Kahn in der Fremde um Anerkennung und eine neue Existenz. Das war nicht leicht, denn dort wartete niemand auf ihn ...

Autor

Nach dem Studium in Deutschland und den USA war Rainer Bunz mehr als drei Jahrzehnte lang im deutsch-amerikanischen Kulturaustausch und im Film- und Femsehgeschäft tätig. Danach wurde er Autor historischer Veröffentlichungen. Große Beachtung fanden seine Dirigenten-Biographie »Der vergessene Maestro - Frieder Weissmann« (2016) und die Übersetzung und Herausgabe der »Erzäh-lungen des Folio Club« (2021), die erstmals in deutscher Sprache erfolgte Rekonstruktion eines verlorengegangenen Frühwerks von Edgar Allan Poe.

Emil Leopold Kahn

* 10. November 1896 Frankfurt am Main

† 25. Januar 1985 New York City, New York

Für M. und F.

Inhalt

V

ORWORT

K

APITEL

1: F

RANKFURT

1896-1919

Geburtstag

Kindheit und Jugend

Studium und Militärzeit

K

APITEL

2: L

EHRJAHRE

1919-1925

Schwerin und Leipzig

Weinheim

Spezialist für moderne Musik

K

APITEL

3: S

TUTTGART

1925-1935

Das »Theater am Charlottenplatz«

Kapellmeister beim »Philharmonischen Orchester«

Nellie und Ellen

Erfolg

Die Kündigung

Fredy Linter

K

APITEL

4: E

XIL

1935-1943

Ankunft in America

In der pädagogischen Provinz

Das Wiedersehen

Dirigent des »Montclair Orchestra«

Wiener Walzer

Souper bei Jacques

Fünf vor zwölf

Homefront

K

APITEL

5: C

ITIZEN

K

AHN

1943-1985

Broadway Melodie

»Fahrendes Volk«

Viva l’Opera!

Wiederbegegnungen in Stuttgart

Denk ich anDeutschland...

Senior Concert Orchestra

Finale

Die Nachkommen

D

ANKSAGUNG

A

NHANG

Anmerkungen

Quellen

Werkverzeichnis Emil Kahn

Personenverzeichnis

Vorwort

Der in Frankfurt am Main geborene und aufgewachsene Emil Kahn (1896-1985) war ein Pionier des Rundfunks und in der Weimarer Zeit eine tragende Säule des Stuttgarter Musiklebens. Als Dirigent erfolgreich, schien ihm eine große Zukunft sicher, bis Ende Januar 1933 die Nationalsozialisten an die Macht kamen. Juden wie er wurden nun geächtet und verfolgt. Zur Unperson erklärt, konnte er noch rechtzeitig in die USA emigrieren und seine Familie nachholen.

Für den inzwischen 40-jährigen Flüchtling Emil Kahn war es nicht leicht, im fremden Land beruflich Fuß zu fassen und Anerkennung zu finden. Die amerikanische Wirtschaft litt noch unter den Folgen des New Yorker Bankenkrachs vom Oktober 1929, und im Musikgeschäft herrschte harte Konkurrenz, seit immer mehr Musiker jüdischer Herkunft aus Deutschland in die USA emigrierten. Dennoch gelang es ihm, sich in den USA eine neue Existenz aufzubauen. Die Hoffnungen auf eine große Dirigentenkarriere blieben zwar unerfüllt, aber als langjähriger Leiter eines Studentenorchesters an einem College in New Jersey entwickelte sich Emil Kahn zu einem allseits geschätzten Musikpädagogen, der dort, wo er lebte und wirkte, neue Talente förderte und das Musikleben insgesamt vielfältig bereicherte.

Emil Kahns uneitle Art und sein freundliches, auf Ausgleich bedachtes Wesen machten ihn zum idealen Lehrmeister. Er selbst scheint im Laufe der Jahre die Rolle des Erziehers mehr und mehr als die seine angenommen und darin die Selbstbestätigung gefunden zu haben, die ein Künstler braucht. Für seine Studentinnen und Studenten war er jedenfalls ein Glücksfall, weil er mit ihnen auf Augenhöhe kommunizierte. Emil Kahns jüngster Sohn, der bedeutende Landschaftsmaler Wolf Kahn (1927-2020), bewunderte seinen Vater dafür, dass er die Studierenden am College so respektvoll behandelte, als wären sie Mitglieder des Orchesters, das er früher in Stuttgart beim Rundfunk dirigierte.1

In Deutschland wurde Emil Kahn bald vergessen, zumal die Nationalsozialisten seinen Namen gründlich ausgelöscht hatten. Das änderte sich auch nicht, als er in den 1950er und 1960er Jahren für gelegentliche Rundfunk- und Schallplattenaufhahmen nach Deutschland zurückkehrte. Man ließ ihn in der Besucherecke stehen. Wissenschaft und Musikbetrieb ignorierten ihn geflissentlich, und wenn sich hierzulande in der Sekundärliteratur Hinweise auf seine Person finden, so sind sie nicht immer präzise und meist sehr knapp. Aber auch in den USA fehlt eine angemessene Würdigung Emil Kahns trotz seines fast fünfzigjährigen Wirkens dort.

Um dem eklatanten Mangel an einer zuverlässigen Darstellung von Leben und Werk Emil Kahns zumindest für den deutschsprachigen Raum abzuhelfen, ist das vorliegende Buch entstanden. Ich habe Emil Kahn weder als Dirigenten erlebt noch persönlich gekannt. Erst lange nach seinem Tod wurde ich bei Recherchen für meine 2016 erschienene Biographie des Dirigenten Frieder Weissmann (DER VERGESSENE MAESTRO) auf ihn aufmerksam, als ich beim Durchblättern alter Rundfunkprogramme immer wieder auf seinen Namen stieß und dabei die Vorstellung von einem ungewöhnlich vielseitigen Dirigenten gewann.

Waren die Nachforschungen schon bei Weissmann nicht einfach, so gestalteten sie sich bei Emil Kahn nicht minder schwierig. Denn nicht nur seine Lebensgeschichte ist heute vergessen, sondern auch die seiner Familie, die von 1864 bis 1942 in Frankfurt am Main lebte. In öffentlichen Archiven gibt es - abgesehen von den in den 1950er und 1960er Jahren angelegten Wiedergutmachungsakten - kaum Material über ihn und seine Familie. Um seinen beruflichen Werdegang sowohl in Deutschland als auch in den USA zu rekonstruieren, konnte daher weitgehend nur auf Tageszeitungen und Zeitschriften zurückgegriffen werden, deren Studium sehr zeitaufwändig war. Glücklicherweise existieren inzwischen mehrere Internet-Datenbanken, die Recherchen in einer Vielzahl historischer Tageszeitungen sowohl in Deutschland als auch in den USA ermöglichen.2

Von entscheidender Bedeutung war jedoch das Entgegenkommen der Nachkommen Emil Kahns, die es mir erlaubten, seinen gesamten Nachlass während eines Aufenthaltes in den USA vor Ort einzusehen. Durch das Studium der Briefe, Notizen, Fotografien und Dokumente konnte ich mich der Person Emil Kahns so weit wie möglich annähern und mir ein klares Bild von ihm machen.

Das vorliegende Buch ist die erste Biographie des von den Nationalsozialisten aus Deutschland vertriebenen Dirigenten Emil Kahn, eines leidenschaftlichen Musikers, der nicht nur als Orchesterleiter und Musikerzieher, sondern auch als Komponist, Arrangeur und Lehrbuchautor tätig war. Ausführlich wird sein wechselvoller beruflicher Werdegang sowohl in Deutschland als auch in den USA geschildert. Man lernt ihn als engagierten Vermittler kennen, der sich für die zeitgenössische Moderne ebenso einsetzte wie für das klassisch-romantische Repertoire. Anton Bruckner und Gustav Mahler lagen ihm gleichermaßen am Herzen wie die turbulenten Operetten Jacques Offenbachs oder die Wiener Walzer von Johann Strauss. Interessiert an neuen Medien wie Film und Rundfunk, suchte er weniger den sicheren Beifall des Publikums als das Wagnis auf unbekanntem Terrain.

Zurückhaltend im Umgang, blieb Emil Kahn ein Einzelgänger. Dennoch verschloss er sich keineswegs Freundschaften und gesellschaftlichen Kontakten mit Berufskollegen. In den USA verkehrte er nicht nur in Emigrantenkreisen, sondern engagierte sich auch dort, wo er lebte, im Musikleben der Community. Indem er junge Talente förderte und älteren zu erfolgreichen Auftritten verhalf, knüpfte er ein ganz eigenes Beziehungsnetz, dessen Fortbestand und Weiterentwicklung ihm sehr am Herzen lag.

Neben dem beruflichen wird auch das private Leben Emil Kahns ausführlich beleuchtet. Sein familiärer Hintergrund wird ebenso erhellt wie die ständige Unruhe, die den Spross einer wohlhabenden Familie zeitlebens umtrieb. Leicht entflammbar, stürzte er sich in drei Ehen, die alle nicht lange hielten. Seine vier Kinder aus erster Ehe, von denen sich weder die drei Söhne noch die Tochter im Erwachsenenalter beruflich der Musik zuwandten, mussten häufige Wohnungswechsel erdulden.

Im Jahr 2024 feiern sowohl der »Südwestrundfunk (SWR)« als auch die »Stuttgarter Philharmoniker« ihr 100-jähriges Bestehen. Beide Jubiläen geben Anlass, an Emil Kahn zu erinnern, der die frühe Entwicklung beider Institutionen begleitet und maßgeblich geprägt hat. Das Schicksal dieses herausragenden Musikers verdient aber auch darüber hinaus Interesse, nicht zuletzt, um an seinem Beispiel die Erinnerung an das große Unrecht wach zu halten, das nach 1933 Tausende von Musikschaffenden in Deutschland allein wegen ihrer jüdischen Herkunft in die Emigration oder in den Tod trieb.

Rainer Bunz

im Februar 2024

KAPITEL 1

Frankfurt 1896-1919

Geburtstag

Der 10. November 1896 war ein Dienstag und einer jener ungemütlichen Spätherbsttage, an denen es früher dunkel wird, der Himmel über Frankfurt am Main grau und wolkenverhangen ist und der kommende Winter in der Luft liegt. Von seiner Wohnung in der Weserstraße 58 in der Nähe des Frankfurter Hauptbahnhofs machte sich der 39-jährige Bernhard Kahn (1857-1917), Juniorchef der Frankfurter Privatbank »Kahn & Co.«, auf den Weg zum »Clesernhof« in der Altstadt. Dort, in der Karpfengasse 6, befand sich das Standesamt I.

Eine unruhige Nacht lag hinter ihm, denn kurz nach Mitternacht setzten bei seiner Frau Anna die Wehen ein. Arzt und Hebamme wurden gerufen. Schlafen konnte er nicht mehr. Dass ihm der Schlaf fehlte, sah man ihm aber nicht an. Von mittlerer Statur bewegte er sich wie immer schnell und elegant. Er war kein Athlet, aber doch sportlich. Als begeisterter Ruderer gehörte er 1888 zu den Gründern des Frankfurter Regatta-Vereins.

Vielleicht scheute er wegen des Wetters den zwanzigminütigen Fußweg zum Standesamt und ließ sich von einer Droschke abholen. Dort angekommen, erklärte er dem zuständigen Beamten, einem gewissen Peter Anton Lorenz (1828-1909), sein Anliegen. Dieser vermerkte daraufhin im Geburtenbuch, dass vor ihm, der Persönlichkeit nach bekannt, der Kaufmann Bernhard Kahn, wohnhaft zu Frankfurt a. M., Weserstraße 58, israe-litischer Konfession, erschienen sei, um anzuzeigen, dass von der Anna Kahn, geborenen Massenbach, seiner Ehefrau, israelitischer Konfession, wohnhaft bei ihm, zu Frankfurt a. M. in seiner Wohnung am selben Tag, vormittags um fünf drei Viertel Uhr ein Kind männlichen Geschlechts geboren worden sei, welches die Vornamen Emil Leopold erhalten habe.1

Anschließend ging Bernhard Kahn zu Fuß die kurze Strecke vom Standesamt zur Bethmannstraße 10, wo das Bankhaus »Kahn & Co.« seit 1875 im ersten Stock mit Blick auf das gegenüberliegende noble Hotel »Frankfurter Hof« residierte. Kurz informierte er den Seniorchef, seinen Vater Hermann Kahn (1829-1909), dass nach der Tochter Ida (1890-1981) und dem Sohn Alfred (1891-1918) nun ein drittes Enkelkind das Licht der Welt erblickte. Die Veränderung in seinen familiären Verhältnissen teilte er auch den übrigen Angestellten mit. Danach begab er sich in sein Büro, nahm an seinem Schreibtisch Platz und widmete sich konzentriert der vor ihm liegenden, von einem Mitarbeiter vorsortierten Posteingänge.

Bei Kahn & Co. wartete viel Arbeit auf ihn. Seit sich sein Vater, inzwischen 67 Jahre alt, allmählich aus dem Tagesgeschäft zurückzog, war Bernhard Kahn nicht nur hauptverantwortlicher Geschäftsführer des Bankhauses, sondern auch dessen Hauptvertreter in zahlreichen Aufsichtsgremien von Unternehmen. So übernahm er Aufsichtsratsmandate bei der »Walzmühle« in Ludwigshafen, der »Mannheimer Lagerhaus-Gesell-schaft«, der »Bierbrauerei zum Löwen« in Heilbronn, dem »Bayrischen Brauhaus« in Pforzheim und den »Badischen Lederwerken« in Karlsruhe-Mühlburg. Auf Hochtouren liefen zu dieser Zeit nicht zuletzt die Vorbereitungen für die Gründung der »Fahrzeugfabrik Eisenach« am 3. Dezember 1896. »Kahn & Co.« gehörte zu dem Bankenkonsortium, das der zukünftigen Aktiengesellschaft, die bereits einen Großauftrag der preußischen Militärverwaltung in Aussicht hatte, das Gründungskapital von 1,5 Millionen Mark zur Verfügung stellen wollte. Ein Platz im Aufsichtsrat des Unternehmens war Bernhard Kahn damit sicher. Ebenso sicher war ihm im folgenden Jahr der Vorsitz im Aufsichtsrat der »Hippodrom Aktiengesellschaft«, die von der Frankfurter »Gesellschaft zur Förderung des Reitsports« gegründet worden war. Sie plante den Bau einer 95 Meter langen und 25 Meter hohen Rennbahn im Stadtteil Sachsenhausen, die mit 1.400 Sitz- und 1.500 Stehplätzen für Zuschauer die größte öffentliche Reitbahn Deutschlands werden sollte - ein prächtiger Schauplatz nicht nur des Pferdesports, sondern bald auch ein beliebter Ort für Feste und Feiern der Frankfurter Gesellschaft.

Die Großeltern Hermann Kahn und Ehefrau Henriette geb. Gutmann.

Das 1864 von Bernhards Onkel Leopold Kahn (1841-1894) gegründete Frankfurter Bankhaus »Kahn & Co.« verdankte seinen Erfolg weniger dem Initiator als vielmehr dem Geschick© und der Tatkraft von Bernhards Vater Hermann, der sich ein Jahr nach der Gründung an Leopolds Unternehmen beteiligte. Leopold und Hermann waren nicht nur altersmäßig, sondern wohl auch vom Temperament und Wesen her recht verschieden, was im Laufe der Jahre dazu führte, dass sich nicht nur die beiden Brüder, sondern auch ihre Familien entfremdeten. Vielleicht hat Bernhard diese Entwicklung bedauert. Aufhalten konnte er sie nicht mehr, zumal Onkel Leopold bereits 1894 gestorben war. Vielleicht wollte er aber doch dessen Namen hochhalten, indem er dem Neugeborenen Leopold als zweiten Vornamen gab.

Auch der Rufname Emil, der für das Neugeborene gewählt wurde, entsprang wohl einer versöhnlichen Stimmung Bernhards. Er erinnerte an einen weiteren Onkel, den wenige Monate zuvor verstorbenen Emil Kahn (1831-1896). In Mannheim hatte er zusammen mit seinem ältesten Bruder Bernhard Kahn (1827-1905) nicht nur die vom Großvater Michael Kahn (1798-1861) übernommene Bettfedernfabrik erfolgreich weitergeführt, sondern seit 1867 auch gemeinsam mit seinem Bruder Bankgeschäfte betrieben. Hermann war zunächst der Dritte im Bunde, bis er sich 1865 von seinen beiden Brüdern trennte und nach Frankfurt zu Bruder Leopold zog. Rivalitäten und Reibereien waren wohl auch in diesem Fall ausschlaggebend für Hermanns Entscheidung, die das Auseinanderdriften der Familien in Mannheim und Frankfurt weiter förderte. Hinzu kam, dass auch seine 1856 geheiratete Frau Henriette geborene Gutmann (1837-1916) sich im badischen Mannheim nicht so recht heimisch fühlen wollte.

Onkel und Großonkel: der Maler Max Kahn, links, und der Mannheimer Fabrikant und Bankier Emil Kahn.

Henriette Kahn stammte aus dem Königreich Württemberg, war bei Göppingen geboren und in der württembergischen Haupt- und Residenzstadt Stuttgart als Tochter eines erfolgreichen jüdischen Textilfabrikanten und -großhändlers aufgewachsen. Mit ihrem Hang zur Überheblichkeit teilte sie wohl auch die im Schwäbischen gern gepflegte Verunglimpfung der badischen Bevölkerung als »Gelbfüßler«, was bei ihren Mannheimer Schwägerinnen und Schwägern auf wenig Begeisterung gestoßen sein dürfte. Zudem hatte sie sich als Älteste von sechs Geschwistern ein bestimmendes Auftreten angewöhnt, das den Umgang mit ihr oft sehr schwierig machte.

Die Eltern Bernhard Kahn und Ehefrau Anna geb. Massenbach.

In Mannheim kam am 22. April 1857 Bernhard Kahn, der nun zum dritten Mal Vater wurde, zur Welt, unmittelbar nach ihm sein Zwillingsbruder Max (1857-1939). Zwei weitere Geschwister, Bertha (1859-1866) und Ernst Michael (1863-1878), sollten ebenfalls in Mannheim geboren werden, starben aber bereits im Kindes- bzw. Jugendalter. Bernhard, der Erstgeborene, sollte später die Nachfolge des Vaters antreten. Max hingegen, der schon früh eine künstlerische Begabung zeigte, wurde von den Eltern umgehend in seinem Talent gefördert.

Als Bernhard und Anna 1889 heirateten, zog Max nach Paris, wo er mit seinen Bildern, realistischen Porträts und Alltagsszenen, beim französischen Publikum großen Anklang fand. Erst 1901 sollte Max, inzwischen 44 Jahre alt, die dreizehn Jahre jüngere Thérèse Pouzol (1870-1951) aus dem südfranzösischen Carpentras heiraten - eine Wahl, die Mutter Henriette nur schwer akzeptieren konnte. Eine Französin als Schwiegertochter, die noch dazu Erfahrungen als Modell hatte, war für sie schlimm genug. Zu allem Überfluss war Thérèse auch noch - horribile dictu - Katholikin.

Noch mehr als Max’ Brautwahl missfiel Henriette die ihres Sohnes Bernhard, der am 13. April 1889 in Frankfurt die zwölf Jahre jüngere Anna Massenbach (1869-1943) heiratete. Angeblich störte Henriette an ihrer Schwiegertochter vor allem deren provinzielles Wesen.2 Das badische Städtchen Bühl, in dem Anna aufwuchs, war zwar weniger belebt als Henriettes Heimatstadt Stuttgart. Als mondän konnte man aber keinen der beiden Orte bezeichnen. Immerhin lag Bühl näher an Baden-Baden, dem internationalen Kurort, der sich alljährlich im Sommer in Europas »Sommerhauptstadt« verwandelte, in einen Tummelplatz für Aristokraten und reiches Bürgertum. Es mag sein, dass Anna die Weltläufigkeit fehlte, dass sie nicht wie eine Grande Dame auftrat und nicht so attraktiv war, dass sich die Männer nach ihr umdrehten. Bernhard schätzte ihr warmherziges Wesen, ihre Fürsorge für die Kinder und ihre bedingungslose Treue. Zudem stammte sie, obwohl in einer Kleinstadt aufgewachsen, wie er aus dem Milieu des assimilierten Judentums.

Wann, wo und wie sich die beiden kennen lernten, ist leider nicht überliefert.3 In jüdischen Kreisen war es üblich, ein »Schadchen«, einen professionellen Heiratsvermittler, einzuschalten. Vielleicht hatte Bernhard aber auch einen guten Rat aus einer bisher unbeleuchteten Ecke der Familie erhalten - gemeint ist sein Onkel Sigmund Kahn (1838-1909), der zweitjüngste Bruder seines Vaters, der sich Ende der 1860er Jahre als Bankier in Paris niedergelassen hatte. Dieser Onkel war seit 1874 kinderlos mit einer Cousine Annas, der aus Bühl stammenden Marie Massenbach (1853-1933), verheiratet. Maries früh verstorbener Vater Arnold Massenbach (1824-1868) und dessen Bruder Wilhelm Massenbach (1832-1912), Annas Vater, teilten sich die Leitung der vom Vater geerbten Bühler Spinnerei und Weberei »H. Massenbach & Co.«, damals mit rund 120 Arbeitern das bedeutendste Unternehmen der Stadt. Dessen Geschäfte florierten lange Zeit, bis es nach der Eingliederung des Elsass in das Deutsche Reich nach dem gewonnenen Krieg von 1870/71 zunehmend der billigeren Konkurrenz im Elsass unterlag. Etwa zur gleichen Zeit, als Bernhard und Anna den Bund fürs Leben schlossen, musste Wilhelm Massenbach Konkurs anmelden. Inzwischen lebte er in Frankfurt, wo er sich mit Annas Halbbruder Hermann Arthur Massenbach (1852-1902), seinem unverheiratet gebliebenen Sohn aus erster Ehe, eine Wohnung in der Savignystraße 57 teilte.4

Entgegen seiner Gewohnheit verzichtete Bernhard Kahn an diesem 10. November 1896 darauf, mittags nach Hause zu gehen. Denn dort würde sich alles um das Neugeborene und Annas Wohlergehen drehen und er würde nur stören. Also gönnte er sich ein Mittagessen an der table d’hôte im benachbarten »Frankfurter Hof«, auf den das Grandhotel besonders stolz war. Zurück im Büro, war es draußen inzwischen dunkel geworden. Der Vater hatte sich längst in den Feierabend verabschiedet. Bernhard sah auf die Uhr. Normalerweise wäre er jetzt ins Clubhaus der Ruderer gegangen, um mit Vereinskollegen Karten zu spielen, oder er hätte sich in der Nähe der Börse in einem von Bankern frequentierten Café oder Restaurant mit befreundeten Kollegen aus anderen Instituten getroffen. Aber jetzt wollte er nach Hause.

Er stand auf, schlang sich den Schal um den Hals und zog den Mantel an. Mit Hut und Stock trat er auf die Straße. Seit er sich Anfang der 1880er Jahre längere Zeit in London aufgehalten hatte, wusste er, was ein »Herr«, der ein Gentleman sein wollte, zu tragen hatte. Damals lernte er auch die komischen Opern des Duos Gilbert und Sullivan kennen. Besonders die PIRATEN VON PENZANCE (THE PIRATES OF PENZANCE, OR THE SLAVE OF DUTY) hatten es ihm angetan. Aus diesem Stück stammte das Lied »When Fredric was a little lad«, an das er sich plötzlich erinnerte, während er beschwingt voranschritt. Fast unbewusst hatte er begonnen, die Melodie leise zu pfeifen. Anna mochte so etwas nicht. Es störte ihn auch nicht, dass sich einige Passanten nach ihm umdrehten. Bernhard Kahn war glücklich.

Kindheit und Jugend

Als der kleine Emil das Licht der Welt erblickte, war Frankfurt eine Großstadt mit rund 230.000 Einwohnern. Mit einem jüdischen Bevölkerungsanteil von damals knapp zehn Prozent übertraf das weltoffene und urbane Frankfurt alle anderen deutschen Großstädte einschließlich Berlins bei weitem.5 Der Beitrag der jüdischen Bevölkerung zur wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung Frankfurts war enorm. Rein äußerlich spiegelt er sich nicht nur darin wider, dass viele der prächtigen öffentlichen Bauten, die im 19. Jahrhundert in Frankfurt entstanden, ohne die finanzielle Unterstützung jüdischer Bürger nicht hätten errichtet werden können. Auch viele schmucke Villen und Bürgerhäuser verdanken ihre Entstehung wohlhabenden jüdischen Besitzern, von denen sich ein Großteil in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Westend niederließ.

Das Haus Weserstraße 58, in dem Emil Kahn geboren wurde, lag nicht im Westend, sondern in einem angrenzenden Stadtteil, der durch seine Nähe zum 1888 errichteten Hauptbahnhof, lange Zeit der größte Europas, belebt wurde. Heute ist der Ruf des Bahnhofsviertels lädiert, damals war es eine bevorzugte Wohngegend, die freilich nie die Attraktivität des nördlich angrenzenden Westends erreichte. Im Westend, in der ruhigen, vornehmen Rüsterstraße, hatten die Eltern bis 1894 im Haus Nr. 10 gewohnt, und dort waren auch Emils Geschwister Ida und Alfred zur Welt gekommen. Möglicherweise hatten die Kahns dort nur einen befristeten Mietvertrag gehabt und mussten daher dem Nachmieter weichen, einem - laut Adressbuch - gewissen Baron de Affonso,6 dessen Ehefrau dort Ende Mai 1895 mit einer Tochter niederkam.7

Für den kleinen Emil war die Lage der Wohnung in den ersten Lebensjahren sicher nicht von gleicher Wichtigkeit wie der Umstand, dass er mit ziemlichem Abstand zu den beiden älteren Geschwistern auf die Welt gekommen war. Sie wurden daher nicht seine Spielkameraden. Angeblich »Bubi« genannt und als Nesthäkchen von den Eltern verwöhnt, entwickelte sich Emil zu einem etwas eigensinnigen Kind, das sich deutlich von den Geschwistern unterschied, sowohl durch sein ausgeprägtes musikalisches Empfinden als auch durch sein allein auf Musik ausgerichtetes Interesse.

Im Leben der Eltern spielte Musik durchaus eine Rolle, war aber für beide von eher untergeordneter Bedeutung. Man hörte gerne Musik, besuchte öfters Konzerte oder ging in die Oper. Beide Ehepartner beherrschten auch das Klavierspiel, wobei Anna Kahn, wenn sie sich im »Salon« an den Flügel setzte, mehr Talent als ihr Ehemann bewies. Das künstlerische Empfinden war bei ihr stärker ausgeprägt und zeigte sich auch darin, dass sie gerne zu Zeichenstift und Pinsel griff. Bernhard hingegen interessierte sich mehr für den Rudersport. Musik und Kunst dienten ihm eher zur Zerstreuung. Gleichwohl hatte er von Anfang an seine Frau unterstützt, die für die Kinder eine solide musikalische Erziehung wünschte.

Emil wuchs also in einer ganz normalen Familie des jüdischen Frankfurter Großbürgertums auf. Es war ein Bildungsbürgertum, und Musik war ein unverzichtbarer Teil der Bildung. So wurden zunächst die Tochter Ida am Klavier und der Sohn Alfred im Geigenspiel unterrichtet. Für beide begannen die Übungsstunden etwa zu der Zeit, als Emil das Licht der Welt erblickte, der, inzwischen auf eigenen Füßen stehend, jedes Mal sein Spielzeug stehen und liegen ließ, sobald Ida und Alfred privaten Musikunterricht erhielten. Mucksmäuschenstill und hochkonzentriert hockte er in einer Ecke des Zimmers und verfolgte den Unterricht der Geschwister, wobei er alles genauestens registrierte. Irgendwann, als er sich allein wähnte, wagte er sich an den Flügel, dieses magische Instrument, zu dem er sich von Anfang an hingezogen fühlte.

Wenn nicht gleich beim ersten Mal, so doch bald darauf beobachtete die Mutter, wie er an den Flügel trat, die Finger erst zögernd, dann entschlossener über die Tasten gleiten ließ, um schließlich aus dem Gedächtnis nachzuspielen, was er sich aus den Übungsstunden seiner Geschwister eingeprägt hatte. Erstaunt stellte Anna Kahn fest, wie weit ihr Jüngster bereits ohne Anleitung gekommen war. Sie teilte ihre Entdeckung sogleich Bernhard mit, der sich wie sie freute, ein offensichtlich sehr musikalisches Kind sein Eigen nennen zu können. Damit war für Emil der Weg ins Reich der Musik geebnet. Die stolzen Eltern waren entschlossen, ihrem Jüngsten alle Türen zu öffnen, soweit es möglich war. Dem Familienunternehmen sollte er nicht dienen müssen, denn Bruder Alfred war als Erstgeborener von vornherein zum Nachfolger in der Bank bestimmt.

In einem in den 1970er Jahren verfassten tabellarischen Lebenslauf erwähnte Emil Kahn private Studien im Klavier- und Cellospiel sowie im Komponieren ab dem Alter von 12 Jahren.8 Seine musikalischen Anfänge im Kindesalter schienen ihm nicht der Rede wert, doch wird man davon ausgehen können, dass er das Lesen von Noten noch vor den Buchstaben beherrschte. Beim Umgang mit den Instrumenten stand ihm - zumindest beim Klavier - zunächst die Mutter zur Seite, die, obgleich dazu nicht ausgebildet, angesichts seiner raschen Fortschritte gewiss keine schlechte Lehrerin war. Spätestens aber, nachdem Emil 1902 eingeschult wurde, lag seine musikalische Erziehung in den Händen professionellerer Lehrkräfte, deren Namen jedoch leider nicht überliefert sind.

Mit der Wohnsituation in der Weserstraße waren Emils Eltern wohl schon länger unzufrieden. Im Westend hatte Bernhard Kahns Vater im Jahr von Emils Geburt das an sein Haus Bockenheimer Landstraße 35 angrenzende Eckhaus Bockenheimer Landstraße 33 erworben, in das ein gleichzeitiger Einzug von Emils Familie aber wohl nicht möglich war. Hinderlich könnten bestehende Verträge mit den bisherigen Mietern oder dem Vermieter in der Weserstraße gewesen sein. Zufällig bot um die Jahrhundertwende der Eigentümer des Nachbarhauses Niedenau 67, das direkt an das von Hermann Kahn erworbene Eckhaus Bockenheimer Landstraße 33 grenzte, sein Anwesen zum Verkauf an, das - laut Meldekarte - am 13. September 1901 Bernhard Kahns allein Eigenthum wurde.9

Wie die beiden von Hermann Kahn bislang besessenen Häuser, war auch dieses Gebäude um 1870 errichtet worden. Erbaut hatte es der jüdische Fabrikant Friedrich Ludwig Gans (1833-1920), der Teilhaber der bedeutenden Frankfurter Farbenfabrik »Leopold Cassella & Co.« und Besitzer einer wertvollen Kunstsammlung war. Er wurde 1912 in den preußischen Adelstand erhoben, nachdem er den preußischen Museen seine Antikensammlung geschenkt hatte. Schon seinetwegen war das Haus keine gewöhnliche Immobilie. Elegant, sogar luxuriös, erschien es Peter Kahn, Bernhard und Anna Kahns Enkel, der sich noch lange an die etwas dunkle Eingangshalle, das holzgetäfelte Esszimmer, den zum gläsernen Wintergarten verwandelten Balkon erinnerte.10

Die drei Häuser der Familie Kahn überstanden zwei Weltkriege, nicht aber die Grundstücksspekulation der 1960er Jahre. Ende des Jahrzehnts wurde das Ensemble gesprengt, um einem 13-geschossigen, 40 Meter hohen Gebäude Platz zu machen, einem frühen Werk des die Frankfurter Skyline prägenden Stararchitekten Helmut Joos (1935-2018). Das Hochhaus, in dem sich die Büros der bayerischen »Hypo-Bank« befanden, wurde bereits 2006 abgerissen, um einem eleganteren Bürogebäude Platz zu machen, das sich mit einem Erdgeschoss und nur sieben Stockwerken besser in die Umgebung einfügt, aber fast doppelt so viel Bürofläche bietet.

Kaum hatte sich die Familie in der Niedenau 67 eingerichtet, begann für den kleinen Emil der »Ernst des Lebens«. Über seine Grundschuljahre wissen wir nichts. Anzunehmen ist, dass er nach Ostern 1902 vier Jahre lang eine wohl im Westend gelegene Grundschule besuchte. Mehr ist bekannt über die Jahre1906 bis 1915, als Emil Kahn Schüler des Frankfurter »Goethe-Gymnasiums« war.

Das Frankfurter Goethe-Gymnasium vor dem Ersten Weltkrieg.

Das am Hohenzollernplatz (heute Friedrich-Ebert-Anlage) 52 gelegene »Goethe-Gymnasium« wurde 1897 als Reformgymnasium gegründet, was kein Gegenentwurf, sondern eine zeitgemäße Ergänzung des bis dahin in Preußen dominierenden humanistischen Gymnasiums sein sollte. Statt mit Latein begann hier der zum »Frankfurter Modell« (und Vorbild für alle danach in Preußen errichteten Reformgymnasien) erhobene Lehrplan in der ersten Klasse (Sexta) mit einer modernen Fremdsprache, meist Französisch. Latein wurde erst ab der Untertertia (heute siebte Klasse), Griechisch bzw. Englisch erst ab der Untersekunda (heute neunte Klasse) unterrichtet. Der Frankfurter Kaufmannssohn Selmar Spier (1893-1962), der ein Jahr vor Emil Kahn ans »Goethe-Gymnasium« wechselte, bezeichnete in seinen Kindheits- und Jugenderinnerungen das »Goethe-Gymnasium« als jedenfalls das modernste an Schule, das geboten wurde, - von gewissen Landerziehungsheimen abgesehen. Schon das Gebäude war neu, die Klassenräume in einem Trakt nach Südwesten orientiert, mit weiten Fensteröffnungen, so daß das Licht frei hindurchfluten konnte. Unten lag die breite Allee, die inzwischen die Ausfallstraße der Stadt nach dem Westen, nach Main und Wiesbaden, geworden ist. An ihrem Ende wuchs ein für damalige Verhältnisse riesiger Bau aus dem Boden: die Festhalle, die mit einem aus ganz Deutschland besuchten Sängerfest vom Kaiser persönlich eingeweiht wurde.11

Unter der sehr heterogenen Lehrerschaft gab es - so Spier - keine eigentliche Fehlbesetzung. Statt dessen zählte dazu manche Koryphäe wie der Direktor und klassische Philologe Ewald Bruhn (1862-1936), der in den 1920er Jahren mit dem Kollegen Julius Schmedes (* 1864) ein weit verbreitetes Lateinisches Lesebuch veröffentlichen sollte, oder der Altertumsforscher Felix Bölte (1863-1943), der als Kenner der griechischen Landeskunde sich einen Namen machte und später Honorarprofessor der Frankfurter Universität wurde.

Die klassischen und modernen Sprachen, Deutsch, Religion, Mathematik, Geschichte und die naturwissenschaftlichen Fächer dominierten auch beim »Goethe-Gymnasium« den Lehrplan. Ziemlich stiefmütterlich wurden die musischen Fächer behandelt. Die musikalische Erziehung erfolgte im Nebenfach »Singen«, das einem Professor Dr. Franz Wünneberg (* ca. 1867) anvertraut war, der daneben Mathematik und Physik unterrichtete. Er leitete mit opferwilligem Aufwand an Zeit und Mühe auch das Schulorchester,12 in dem Emils Bruder Alfred, seit 1901 Schüler des Goethe-Gymnasiums, ab 1906 bei den Ersten Violinen mitspielte.13 Emil wird als Mitglied des Schulorchesters erstmals 1912 genannt, und zwar als Cellist.14

Emils Bruder Alfred hatte Ostern 1910 das Goethe-Gymnasi-um nach bestandenem Abitur verlassen. Eigentlich wollte er - zum Leidwesen der Eltern - danach Jura studieren.15 Nach dem Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger erschien ihm dies jedoch nicht mehr als eine gute Idee. Nun war er bereit, in die väterliche Bank einzutreten. Um seinen Horizont zu erweitern, wurde er bereits 1912 nach London geschickt, wo er angeblich bald in den gehobenen Kreisen der britischen Metropole verkehrte und beim Tennisspielen Freundschaft mit einem Neffen des britischen Premierministers Arthur James Balfour, ist Earl of Balfour (1848-1930) schloss.16

Ida Fanny Kahn und Otto Koch. Verlobungsfoto Juli 1911.

Die Hochzeit seiner Schwester Ida, die am 31. Oktober 1911 in Frankfurt den Juwelier Otto Koch (1884-1919) heiratete, war schon wegen des Bräutigams ein gesellschaftliches Ereignis. Otto Koch besaß zusammen mit seinem Onkel Louis Koch (1862-1930) das in Deutschland führende Juweliergeschäft »Robert Koch Hofjuweliere«, das alle europäischen Königs- und Fürstenhöfe belieferte und von seinem früh verstorbenen Vater Robert Koch (1851-1901), dem »Cartier Deutschlands«, gegründet worden war. Der Publizist Jean-Baptist Müller-Herfurth (1860-1922), Herausgeber der wegen ihrer satirischen Schärfe gefürchteten Frankfurter Wochenzeitung »Die Fackel«, hatte bereits im Juli 1911 von der Verlobung der beiden Wind bekommen und sich in einer Glosse auf der Titelseite seiner Zeitung darüber mokiert: In den Kreisen, wo selbst die Klosets im Hochsommer nach Gold duften, wird eben erzählt, der Sohn der Witwe des Juweliers Robert Koch [...] habe eine solche Neigung zum Wassersport, dass er eine Kahnpartie mache, er hat sich nämlich mit der Tochter des Bankiers Bernhard Kahn, der eine Säule des Regattavereins ist, verlobt. Für die jungen Eheleute ist ausgesorgt.17

Der Frankfurter Publizist Jean-Baptist Müller-Herfurth, karikiert von Lino Salini (1889-1944), links, und der Komponist Bernhard Sekles.

Nach ihrer Heirat bezogen Ida und Otto eine geräumige Wohnung im ersten Stock des Hauses Rüsterstraße 20, dessen Eigentümer im Erdgeschoss der angesehene Gynäkologe Max Flesch (1852-1943) war.18 Vermutlich suchte Ida ihn auf, als ihr Bauch sich deutlich zu wölben begann und sie schließlich am 18. November 1912 ihr erstes Kind, die Tochter Margarete (1912-2004), zur Welt brachte.

Etwa 20 Monate später brach der Erste Weltkrieg aus. Am 1. August 1914 erklärte das Deutsche Reich Russland den Krieg, am 4. August Frankreich. Emils Bruder Alfred kehrte eiligst aus London nach Deutschland zu seiner Reserveeinheit zurück. Sein Schwager Otto Koch, ein begeisterter Reiter, verlor keine Zeit, um sich freiwillig bei der Kavallerie zu melden, und der Maler Max Kahn, sein Onkel, ließ in Paris und auf der bretonischen Insel Bréhat alle Besitztümer stehen und liegen, um mit seiner Frau in letzter Minute Frankreich zu verlassen.

Während sich überall ein großes Unheil zusammenbraute, von dem sich mancher Zeitgenosse ein reinigendes »Stahlgewitter« erhoffte, saß der Oberprimaner Emil Kahn in seinem Zimmer und bereitete sich, unterbrochen von Phasen kreativen Komponierens, auf das Abitur vor. Seine kompositorischen Fähigkeiten hatte er schon früh unter Beweis gestellt. Bereits als Elfjähriger soll er seinen Vater zu dessen 50. Geburtstag am 22. April 1907 mit einer ausgefeilten Eigenkomposition überrascht haben.19 Vier Jahre später engagierten die Eltern einen Kompositionslehrer für ihren Sohn. Sie sparten nicht, denn Emils Lehrer Bernhard Sekles (1872-1934), ein Schüler Engelbert Humperdincks (1854-1921), war inzwischen ein bekannter Dirigent, Pianist und Komponist, der am Frankfurter »Dr. Hoch’s Konservatorium« Musiktheorie und seit 1906 auch Komposition unterrichtete.

Das Lernen war Emil immer leicht gefallen. Schon als Quartaner hatte er an Kaisers Geburtstag (27. Januar 1909) für seine guten Leistungen ein Exemplar der GESCHICHTE DES PREUBISCHEN STAATES von Ernst Berner (1853-1906) erhalten. In einigen Fächern hatten seine inzwischen vielfältigen musikalischen Interessen die Abiturnoten freilich etwas gedrückt. Selbst im »Singen« gab es nur noch ein »genügend«. Das tat seiner Begeisterung für die Komposition einer Kantate keinen Abbruch, die Chor und Orchester des Goethe-Gymnasiums bei der Abiturfeier am 3. März 1915 aufführten und für die der Geschichts-, Griechisch- und Lateinlehrer Richard Preiser (1871-1945) den Text verfasst hatte. Dies geht aus dem gelehrten lateinischen Titel des Werkes hervor (GYMNASII GOETHIANI PROPEMPTICON, VERBA MODOSQUE INVENIEBAT RlCARDUS PREISER, NERVORUM TIBIARUMQUE CANTUM AEMILIUS KAHN),20 dem die humanistisch Gebildeten entnehmen konnten, dass der »Streicher- und Flötengesang« von dem 18-jährigen Schüler Emil Kahn stammte. Nach bestandener Reifeprüfung saß er noch am ersten Pult der Cellisten, wo er bescheiden, aber mit roten Ohren inmitten des Orchesters der Uraufführung seines Werkes beiwohnte.

Studium und Militärzeit

Getragen von der immer noch großen Kriegsbegeisterung bei der deutschen Bevölkerung, hatte sich Emil gleich nach dem Abitur freiwillig zum Militär gemeldet, wo man ihn aber vorläufig nicht einzog. So immatrikulierte er sich im Sommersemester 1915 am Frankfurter Hoch’schen Musikkonservatorium zum Studium, wo er - so sein Klavierlehrer Eduard Jung (1884-1959) - auf Grund seiner langjährigen Vorstudien sofort in die Oberklasse des Instituts zugelassen wurde.21 Neben Jung und Bernhard Sekles (Kontrapunkt, Komposition), zwei Lehrern, die ein paar Jahre später Theodor W. Adorno (1903-1969) unterrichten sollten, waren seine Lehrer Karl Breidenstein (1871-1966, Partiturspiel) und Fritz Basserman (18501926, Dirigieren).22 Parallel dazu erhielt er ab 1915 privaten Cellounterricht vom gebürtigen Niederländer Ary Schuyer (1881-1941), der seit 1910 Solist beim Frankfurter Museumsorchester war. An der Frankfurter Universität belegte er ferner ab Sommersemester 1915 diverse musikwissenschaftliche Vorlesungen (Geschichte des Dramas, die Sinfonie seit Beethoven, Passionsmusik, Richard Wagners TRISTAN UND ISOLDE) und Übungen (Sprechtechnik und analytische Betrachtung von Meisterwerken).

Zu Emil Kahns Kommilitonen zählte der ein Jahr ältere Paul Hindemith (1895-1963), später als Instrumentalist, Dirigent und Komponist ein Künstler ersten und internationalen Ranges. Nach beendetem Studium 1917 wurde er direkt auf den Posten des ersten Konzertmeisters an der Frankfurter Oper berufen. Emil Kahns Neffen Eric Koch zufolge, sollen Emil Kahn und Paul Hindemith eine enge Freundschaft gepflegt haben, die noch durch eine gemeinsame Militärzeit an der elsässisehen Front vertieft worden sei.23 Dabei handelt es sich um ein Missverständnis, an dem wohl Emil Kahn keine Schuld trifft. In seinem Nachlass, den ich im September 2022 in Augenschein nehmen konnte, findet man zwei in den 1940er und 1950er Jahren verfasste Entwürfe für vermutlich nie abgeschickte Briefe, die durch die devote Anrede für den lieben Meister Hindemith zwar seine Verehrung für den Adressaten belegen, aber auch beweisen, dass weder je eine Freundschaft zwischen den beiden existierte, noch dass beide beim Militär im selben Regiment dienten. Denn in beiden Briefentwürfen weiß Emil Kahn nur eine einzige Gelegenheit für eine Begegnung anzuführen, ein Hauskonzert, das um 1912 in der Wohnung seiner seit 1911 mit dem Juwelier Otto Koch verheirateten Schwester Ida stattfand, bei dem sie am Klavier saß, der 17 Jahre alte Hindemith, der als ausgezeichneter Violinist galt, die Geige spielte und Emil als Cellist nach eigener Einschätzung nicht gerade >glänzte<.24

»Dr. Hoch's Konservatorium« um1900.Domizil des Konservatoriums in der Eschersheimer Landstraße 4 von 1888 bis 1943.

Artillerie-Kaserne in Frankfurt Bockenheim vor 1914. Zeitgenössische Postkarte.

Tatsächlich dienten Emil Kahn und Paul Hindemith bei völlig verschiedenen Militäreinheiten. Hindemith wurde im Januar 1918 als Militärmusiker zu einem Infanterie-Regiment im Elsass abgeordnet, dessen Kommandeur, ein gewisser Oberleutnant Walther Graf Kielmannsegg (1869-1918), zur Befriedigung eigener musikalischer Bedürfnisse ein aus Mitgliedern des Regiments bestehendes Streichquartett installiert hatte, bei dem Hindemith Bratschist war. Ab April 1918 erlebte er mit dieser Einheit die Schrecken des Krieges in Nordfrankreich und Belgien. Auf der Meldekarte zur Familie des Frankfurter Bankiers Bernhard Kahn, einem der wenigen, noch erhaltenen Dokumente zur Geschichte dieser Familie, entdeckt man hingegen den schwer zu entziffernden handschriftlichen Eintrag, dass Emil Kahn am 19. August 1915 als Kriegsfreiwilliger zum 2. Nassauischen Feldartillerie Regiment Nr. 63 eingezogen wurde und von dort am 5. März 1917 zur Flak-Ersatzabteilung in Frankfurt wechselte.25

Das 2. Nassauische Feldartillerie Regiment Nr. 63 war in der Artillerie-Kaserne (vormals Husaren-Kaserne) in Frankfurt-Bockenheim, Rödelheimer Landstraße, stationiert. Die dem Kriegsministerium direkt untergeordnete Flak-Ersatzabteilungwurde im September 1915 aufgestellt. Sie kümmerte sich um die Ballonabwehrkanonen im Heimatgebiet. Als beratende Stelle der stellvertretenden Generalkommandos hatte sie die Aufgabe, für die einheitliche Verwendung und Ausbildung der Abwehrtruppen in der Heimat zu sorgen und die Erfahrungen des Feldheeres in der Bekämpfung der Luftfahrzeuge für die Abwehr in der Heimat zu verwerten.26

Beim Artillerie-Regiment und bei der Flak-Ersatzabteilung, auch Flak-Gruppenkommando (Flakgruko 1) genannt, blieb Emil Kahn offenbar lange vom aktiven Militärdienst befreit. Nur so konnte er - wie sein Studienbuch belegt - ein intensives Studium an der Universität und am »Dr. Hoch’s Konservatorium« bis Ende des Wintersemesters 1917/18 fortsetzen. Die Militärs hatten anscheinend kein großes Interesse, ihn im Stellungskrieg zu »verheizen«. Vermutlich gab es Fürsprecher, die seine vorläufige Verwendung an der »Heimatfront« empfahlen, nicht seinetwegen, sondern um die Familie Kahn zu schonen. Denn die Kahns betrieben seit Kriegsbeginn auf eigene Kosten ein Privatlazarett in ihrem Eckhaus Bockenheimer Landstraße 33, zudem kämpfte deren älterer Sprössling Alfred als tapferer Offizier an der Front im Westen. Kenntnis hatte man wohl auch davon, dass Emils Vater mittlerweile schwer erkrankt war, und man bald mit dem Tod dieses wegen seiner großzügigen Wohltätigkeit, seines Bürgersinns und - in Kriegszeiten besonders wichtigen - wirtschaftlichen Sachverstands hochgeschätzten Mannes rechnen müsse.

Am 21. Januar 1917 wurde Emils Vater, erst 59 Jahre alt, in seinem Haus Niedenau 67 von seinem schweren Leiden erlöst.27 Der Tod hielt damals überall reiche Ernte, und die Menschen waren notgedrungen mit dieser Tatsache nur zu gut vertraut. Welche Wirkung der Tod seines Vaters auf Emil hatte, wissen wir nicht. Seine Versetzung zur Flak-Abteilung zwei Monate später könnte aber geholfen haben, dass er diesen Schicksalsschlag leichter bewältigte. Denn bei dieser Einheit war ein eigenes, von dem Hamburger Komponisten Erwin von Clarmann (1890-1972) geleitetes Kammermusikensemble entstanden, das mit seinen öffentlichen Auftritten die Stimmung bei der unter dem Krieg leidenden heimischen Bevölkerung aufhellen sollte. Es handelte sich um ein Klavierquintett, dem neben Erwin von Clarmann (Viola) der Erfurter Konservatoriumsdirektor Walter Hansmann (1875-1963, 1. Violine), der Hannoveraner Kammermusiker Willy Roeler (1893-nach 1960, 2. Violine), der Bonner Juraprofessor Rudolf Henle (1879-1941, Klavier) und Emil Kahn als Cellist angehörten.

In leicht geänderter Besetzung - der Pianist musste durch Walter Voß aus Hamburg ersetzt werden - beteiligte sich das Quintett mit anderen Militärkapellen am 3. Oktober 1917 an einem Konzertabend, bei dem es das Publikum im dicht besetzten Frankfurter Schumanntheater unterhielt.28 Beim nächsten Auftritt des Quintetts in der Frankfurter Stadthalle am 20. Oktober 1917 gefiel dem Beobachter der »Frankfurter Nachrichten und Intelligenzblatt« insbesondere Herr Emil Kahn, übrigens unser Stadtgenosse. Er sei wirklich ein ausgezeichneter Cellist. Drei Wochen später, am 10. November 1917, gab das Flak-Kammermusikensemble ein Konzert »zu Gunsten einer Weihnachtsliebesgaben-Spende«. Aufgeführt wurden das ES-DUR KLAVIERQUINTETT von Robert Schumann, das F-DUR QUARTETT von Antonin Dvorak sowie, von der österreichischen Altistin Mag-da Spiegel (1887-1944) vorgetragen, zwei Arien aus Verdis Oper DON CARLOS und zwei Lieder, die Emil Kahn vertont hatte. Er begleitete auch am Klavier die berühmte Sängerin,29 die für ihren Vortrag stürmisch gefeiert wurde und sich dafür mit einem weiteren, von Emil Kahn vertonten Lied bedankte.30

Am 13. Februar 1918 trat das Quintett im Rahmen eines »Volkskunstabends« in der Frankfurter Stadthalle auf. Auf dem Programm standen das QUARTETT C-DUR von Mozart, das QUINTETT A-DUR von Dvorak und das Andante aus dem VIOLINKONZERT E-MOLL von Felix Mendelssohn-Bartholdy.31 Auch bei einem weiteren Konzert im März 1918 dürften Emil und die vier Flak-Abteilungs-Kameraden mitgewirkt haben.32

Vermutlich begann nach Abschluss des Wintersemesters 1917/18 Ende März 1918 für Emil Kahn der aktive Militärdienst, bei dem er zunächst eine mehrmonatige Grundausbildung in der Frankfurter Kaserne durchlief. Während dieser Zeit war die Familie Kahn lange ohne Nachricht von ihrem älteren Sohn Alfred geblieben, bis sie endlich im August Gewissheit über sein Schicksal hatte. Am 23. August 1918 benachrichtigte die Witwe Anna Kahn Namens der trauernden Hinterbliebenen per Anzeige in der »Frankfurter Zeitung« die Öffentlichkeit vom Heldentod ihres in Kämpfen bei Festubert, einer Gemeinde nahe Béthune (Département Pas-de-Calais), bereits am 9. April 1918 gefallenen Sohnes Alfred.33

Zeitungsannoncen zum Tod Alfred Kahns am 23.08.1918 und zur Trauung von Emil und Nellie Kahn am 01.09.1918.

Für Emils Mutter kaum weniger schmerzlich dürfte eine Woche später eine weitere, in der Frankfurter Presse veröffentlichte Annonce gewesen sein, mit der (Statt Karten!) Emil Kahn und Nellie Kahn geb. Budge kundgaben, dass sie tags zu-vor, am 31. August 1918, kriegsgetraut wurden.34 Denn diese Mitteilung bedeutete, dass ihr verbliebener Sohn kurz vor einem Einsatz an der Front stand und damit Gefahr lief, ebenfalls ein Opfer des Krieges zu werden.

Zeugen der überstürzten Eheschließung waren Emils Onkel, der inzwischen in Bad Homburg wohnhafte Kunstmaler Max Kahn, und der Geschäftsführer der Bank »Kahn & Co.«, der Kaufmann, Doctor, Eugen Oppenheimer.35 Vonseiten der Familie der Braut gab es keine Zeugen. Dies lag möglicherweise daran, dass man dort die Heirat missbilligte. Sein Vater habe den Schwiegervater geradezu gehasst, meinte Emil Kahns Sohn Peter, weil dieser befürchtete, mit einem Musiker als Schwiegersohn alt und krank auf einem Strohlager zu enden.36

Nellie Budge (1898-1934) war das einzige Kind des Frankfurter Rechtsanwalts Siegfried Israel Budge (1869-1941) und dessen Gattin Ella Henriette Adelheid geborene Majer (1875-1943). Nellies Mutter, eine Tochter des Frankfurter Kaufmanns Louis Majer (1831-1910) und dessen Ehefrau Maria Henriette geborene Strauss (1848-1929), war Mitglied im Patronatsverein des »Dr. Hoch’s Konservatorium«. Der Vater, ein Sohn des Frankfurter Bankiers und chilenischen Konsuls Max Budge (1837-1904), wurde 1912 an der Freiburger Universität promoviert und betätigte sich in Frankfurt als Privatgelehrter. Seit 1916 wirkte er im Vorstand der im gleichen Jahr begründeten »Max und Rosalie Budge-Stiftung« mit, die sich namens seiner verstorbenen Eltern, des erwähnten Max Budge und dessen Frau Rosalie geborene Samson (1844-1915), für sozial Bedürftige einsetzte. Zudem war er ein Neffe des schwerreichen, in Hamburg lebenden Bankiers Henry Budge (1840-1928), der bei der Gründung der Frankfurter Universität im Jahre 1912 mit einer Spende in Höhe von 200.000 Mark zu ihren größten Unterstützern zählte. Siegfried Budge sollte sich 1921 an der Frankfurter Universität habilitieren und zunächst als Privatdozent, ab 1925 als außerordentlicher Professor Volkswirtschaft lehren. Er galt als bedeutender Ökonomieprofessor, der als Spezialist der Geldtheorie ebenso bekannt war wie für seine Zerstreutheit. Zudem war er ein heftiger, von Qualm ständig umwölkter Zigarrenraucher, bei dem man nie sicher sein konnte, dass er das Streichholz nicht aus Versehen an das Buch hielt, das er gerade las.

Nellie war eine ausgesprochen aparte Erscheinung, zudem musikalisch sehr begabt. Im Wintersemester 1915/16 wurde sie am »Dr. Hoch’s Konservatorium« von Karl Leimer (1858-1944) im Gesang und von Ernst Matthäus Engesser (1852-1923) im Klavierspiel unterrichtet. Wohl zu der Zeit hatte Emil Kahn die 20 Monate Jüngere kennengelernt, die mit ihrem selbstbewussten Auftreten, ihrer Exzentrik und ihrer keineswegs im Verborgenen gehaltenen Sexualität dem bis dahin eher schüchternen, im standesamtlichen Trauregister als Student bezeichneten jungen Mann den Kopf verdrehte.37

Das Brautpaar Nellie und Emil Kahn.

Offenbar war die Flak-Ersatzabteilung in der Endphase des Weltkriegs an die Front im Westen verlegt worden. Mit diesem Truppenteil nahm Emil Kahn - laut einer in seinem Nachlass entdeckten behördlichen Bescheinigung - vier Wochen nach der Hochzeit in der Zeit vom 29. September bis 21. Oktober 1918 an Stellungskämpfen im Ober-Elsass teil.38 Unklar ist, ob die Truppe danach gleich nach Frankfürt zurückkehrte oder bis Kriegsende im Elsass blieb. Für Letzteres spricht die Familienlegende, derzufolge Emil am 10. November 1918, seinem 22. Geburtstag und dem Tag vor dem offiziellen Inkrafttreten des Waffenstillstands, sich noch im Elsass befand.39

Zurück in Frankfurt wohnte Emil offiziell nicht mehr in seinem Elternhaus in der Niedenau. Bei den Behörden war er seit