Blindfisch - Karen-Susan Fessel - E-Book
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Karen-Susan Fessel

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Beschreibung

Lon ist sechzehn. Und Lon ist am seltenen Usher-Syndrom erkrankt, das die Augen ebenso angreift wie das Innenohr. Dass Lon schlecht hört, ist nichts Neues, aber das sich zunehmend verengende Gesichtsfeld wird zu einer echten Herausforderung. Denn Lon erzählt niemandem davon, selbst der Mutter oder dem Arzt nicht. Und auch Nelly und Oscar, Lons Freunde, ahnen nichts. Auf dem Weg in die Dunkelheit sehnt sich Lon nur nach einem: Liebe. Doch zuerst muss Lon lernen, sich selbst zu lieben.

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Über dieses Buch

Lon sehnt sich: danach, zu fühlen, zu spüren. Und zu sehen. Aber was, wenn ein Teil davon nach und nach in die Dunkelheit driftet?

 

Ich schließe die Augen, lausche den Stimmen der anderen. Dunkel. Und warm. So wird es dann immer sein. Jedenfalls dunkel. Meine Hand fährt zu meinem Ohr, und ich decke mein Hörgerät ab. So könnte es auch sein. Dunkel und still. Plötzlich eine Hand auf meiner Schulter. Ich fahre herum. »Was trinken?«, fragt Tina. »Willst du noch was?«

»Nee.« Als ich ihr enttäuschtes Gesicht sehe, ringe ich mir noch ein Wort mehr ab. »Danke.«

Sie nickt, steht auf, läuft los. Nelly kichert, und Hoa mit ihr. »Echt jetzt, die kriecht dir ja fast hinterher!«, sagt Nelly. »Willst du sie nicht endlich erhören?« »Ihr seid doof«, sage ich und muss lachen. Als ich mich umsehe, entdecke ich, dass Damian jetzt auf Theos anderer Seite sitzt. Er sieht mich an. Seinen Blick kann ich nicht deuten.

März

1

»Na, Schnucki? Warum gehst du nicht ans Telefon?«

»Weil ich meine Ruhe haben will.«

»Ich lass dich aber nicht in Ruhe, weißt du doch.« Leises Lachen. Dann lässt Oscar sich neben mir aufs Bett fallen und greift mir gleichzeitig in die Kniekehle, mit Daumen und Zeigefinger, so, dass es ganz furchtbar kitzelt.

»Lass das!«

»Was ist denn, schlecht drauf? Bleib doch mal locker.«

Ich bin aber nicht locker. Und auch nicht schlecht drauf. Ich stehe nur im Dunkeln. Aber das weiß Oscar nicht, und das muss er auch nicht wissen. Weiß ja auch gar keiner, ob das so bleibt. Nicht immer gleich die Pferde scheu machen, sagt Cord immer.

Ha, welche Pferde?

»Jetzt sag doch mal, warum warst du heute nicht in der Schule?«, erkundigt sich Oscar und fingert sein Handy aus der Tasche. Er ist der Einzige, den ich kenne, der sein Handy immer in der Hosentasche trägt. »Du hast Englisch verpasst, jetzt musst du nachschreiben.«

»Ist mir egal.«

»Ist dir überhaupt nicht egal. Krieg ich was von der Cola?«

Ich reiche ihm die Flasche. Muss nicht danebengreifen, ich weiß, wo sie steht.

»Wie alt ist die?«, fragt Oscar skeptisch. Ich spüre, dass er mich von der Seite mustert. Langsam drehe ich den Kopf, fixiere sein Gesicht. Ich kann ihn gut sehen. Noch.

Seine Nase, die er viel zu groß findet, seine zu einem Lächeln verzogenen Lippen. »Von gestern. Aber schmeckt noch. Hab gerade probiert.«

Oscar schwenkt die Flasche, dann setzt er sie an und trinkt sie in einem Zug leer.

Ich kann ihn neben mir hören, irgendwie tut das gut.

Das Leben ist eine graue, dunkle Soße. Mit Brocken drin. Ich könnte heulen.

Aber dann sagt Oscar etwas Gutes.

»Die Englischarbeit war aber nicht schwer«, sagt er. »Und außerdem haben wir einen Neuen. Einen total süßen Typen. Damian heißt er. Und ich hoffe schwer, dass er schwul ist.«

2

Damian.

Oscar muss gar nichts weiter sagen. Allein der Name reicht. Oder besser: wie er ihn ausspricht, weich, mit so abgerundeten grünen Kanten an den Ecken.

Nelly und Oscar finden das beide komisch, mein Gerede von Farben und Formen und so. Mir ist klar, dass sie es nicht nachfühlen können. Sie haben keine Ahnung, wovon ich rede. Für mich hat alles Farben und Formen, immer schon: Ich kann hören, welche Farbe eine Form hat. Und ein Ton. Ein Lachen. Ein Lied.

Und ein Name auch.

Damian.

Ich weiß jetzt schon, wie er aussieht: ziemlich groß, schlank, blond, aber irgendeinen Makel hat er auch, der ihn schüchtern macht, wenn man richtig hinguckt. Vielleicht ein Silberblick. Oder ein Blutschwamm, ein ganz kleiner, den man gerade so sieht, wenn sein zu weites T-Shirt verrutscht ist. Keine Ahnung, irgendwie so was.

»Lon, was machst du denn da? Lass das mal.«

Meine Finger tippen im Stakkato. Schnellfeuergewehr. Ich halte inne. »Und was ist an dem so süß?«

Oscar neben mir bewegt sich auf dem Bett, rutscht ein bisschen nach vorn, verlagert das Gewicht von seinen schmalen Hüften weiter nach oben. Schlangenmensch Oscar. Er müsste nur ein bisschen üben. »Ich weiß nicht, irgendwie ist der süß. Schüchtern süß, weißt du? Als ich ihn gefragt hab, von welcher Schule er kommt, ist er rot geworden. Und schöne Augen hat er.« Oscar seufzt.

»Und von welcher Schule kommt er?«

»Hab ich vergessen«, sagt Oscar und rutscht ganz nach vorn auf die Bettkante. »Aber nicht aus Kreuzberg. Ich glaub, ich muss los! Meine Mutter will noch einkaufen mit mir.«

»Tschüs«, sage ich, lehne mich zurück und schließe die Augen.

Aber das lässt Oscar natürlich so nicht durchgehen. Einen Augenblick später umfasst er meine Handgelenke, zieht mich nach vorn und schüttelt mich leicht, bevor er mich auf beide Wangen küsst.

Ich öffne die Augen und sehe genau in seine. Er ist direkt vor mir. Ich kann ihn sehr gut sehen. Den Ausschnitt: Oscars grüngraue Augen, die langen, dichten Wimpern darüber, die dunklen Brauen, seine glatte, helle Stirn.

»Tschüs, du«, sagt Oscar weich. »Und wann immer du endlich mal gedenkst, mir zu erzählen, was los ist – ich freu mich drauf.«

Und dann ist er weg.

 

Damian. Wieso weiß ich schon jetzt, wie er aussieht?

3

»Lon?« Mama ist heiser, sie hat heute Morgen mit ihrer Freundin Badminton gespielt, danach ist sie immer heiser. »Lon, kannst du nächste Woche mit Annie zum Zahnarzt gehen? Mittwoch um halb fünf? Ich bin dann noch nicht hier?«

Warum muss sie eigentlich jeden Satz mit Fragezeichen beenden? Jeden, wirklich. Aber nur, wenn sie mit mir spricht. Seit ein paar Monaten ist das so, und irgendwie steht sie auch immer einen halben Meter zu weit von mir weg. Als wäre sie unsicher. Oder als hätte sie Angst.

Cord hat keine Angst. Cord, mein Stiefvater. Annies Vater.

Cord, die Cordhose. Cord, die Hose. Was für ein Name! Und der findet den auch noch gut. »Meine Eltern haben mich nach dem großen Biologen und Tierforscher Cord Riechelmann benannt«, hat er mir einmal erklärt. Da war ich zwölf und habe noch geredet wie ein Wasserfall. Man konnte es richtig prasseln hören. Als hätte ich alles vorwegnehmen müssen.

»Lon?«

Ich dreh mich im Aufstehen halb zu ihr, aber das reicht nicht.

»Lon? Nimmst du die Schüssel bitte mit?«

Früher hätte sie gesagt: Nimm bitte die Schüssel mit!

Aber heute fragt sie nur noch. Meine Mutter fragt sich durchs Leben.

Aber leider gibt’s keine Antwort.

»Nimmst du sie bitte mit?«

»Bin doch schon dabei!« Da: eine runde Form, weiß, aber eigentlich dunkel. Griffe, altes Erbstück, von Oma Lisa.

»Lon?«

»Was denn?« Meine Stimme klingt schrill. Annie zuckt zusammen. Cord schnaubt. Eine glatte Form in meinen Händen.

»Lon, vorsichtig?«

»Was denn, was?« Genervt. Lon B., sechzehn, ist genervt. Die Schüssel. Glatt, schwer, rund.

»Lon?«

»Verdammt!«, brüllt Cord und springt auf. Und dann knallt es, heiße Tropfen spritzen auf, Scheppern, Klirren, Schreie.

»Sag mal, kannst du nicht aufpassen, du … das gibt’s doch gar nicht. Mist, die ganze Suppe!«

Die ganze Suppe. Jajaja.

Löffelt sie aus. Bitte! Tut es für mich. Ich hab doch gesagt, das Leben ist eine dunkle, graue Soße. Mit Brocken drin. Ich könnte, könnte, könnte

Einfach nur weinen.

4

An der Decke sind Lichtflecken, große schraffierte Flächen mit Krümeln drin. Wenn ich blinzele, werden aus den Krümeln Schleier. An den Ecken ist alles unscharf. Oder eher dunkel, als würde ich mit den Händen ein Fernglas um meine Augen bilden.

Ein bisschen ist es so wie früher. Früher, ich kann mich gut erinnern, habe ich manchmal, wenn wir unterwegs waren, einen Ausflug machten oder so, dann habe ich draußen auf einem Feld gestanden, einem weiten Feld, in der Ferne einige Bäume, über mir der Himmel mit ein paar Krähen, die flügelschwingend vorüberschwebten. Unten irgendwo am Rande vielleicht das graue Asphaltband der Straße, aber alles weit, weit, weit.

Und jetzt stehe ich in einem großen Pappkarton, ganz hinten, an die Pappwand gepresst, und sehe hinaus aus einem kleinen, mit einem Teppichmesser hineingeritzten unscharfen Viereck als Fenster.

Und draußen dämmert es gerade.

So ist das.

Ungefähr.

Ich drehe mich auf die Seite und schließe die Augen. Blitze, ein Zucken, Schlieren, eigentlich kein großer Unterschied. Augen auf, Augen zu. Augen auf.

Doch lieber zu.

Es gibt nur ein paar Handvoll Leute in meinem Alter hier im ganzen Land, denen es gerade genauso oder ähnlich geht. Höchstens. Eher weniger.

Usher-Syndrom: erblich bedingte Kombination von langsam fortschreitender Netzhautdegeneration und früh einsetzender Innenohrschwerhörigkeit oder Gehörlosigkeit von Geburt an. Häufigste Ursache für erblich bedingte Taubblindheit. Selten: ungefähr 6.000 Betroffene in Deutschland. Drei verschiedene Typen. Bei Typ 2 gleichbleibende hochgradige Schwerhörigkeit, die beginnende Retinopathia pigmentosa setzt – nicht immer, aber wenn, dann – während der Pubertät ein. Führt zur Erblindung. Sehr selten.

So was wie mich gibt es also nur sehr selten. Ich bin eine sehr seltene Spezies.

Aber es gibt garantiert absolut niemanden, nicht nur hier in Deutschland, sondern auf der ganzen Welt, auf der ganzen weiten Welt, der so sein möchte wie ich.

Garantiert nicht.

Und ich möchte auch nicht so sein.

Ich möchte nicht ich sein.

Ich möchte nicht.

Mit der Hand über das Kissen streichen. Fühlen geht immer.

Fühlen. Über Haut. Weiche Haut. Jungshaut.

Mir wird warm.

Aber nicht nur da, wo es guttut. Auch in der Brust. Im Kopf. Überall.

Ich knülle mein Kissen zusammen, presse mein Gesicht hinein.

Ich kann die Federn spüren. Unter dem Bezug.

Nasse Federn.

Meine Augen können so wenig. Aber weinen geht noch.

Fühlen geht immer.

5

»Der ist in der Zwölften«, sagt Nelly. »Kennst du vom Sehen, zeig ich dir.«

»Alles klar.«

Nelly geht neben mir. Hallende Schritte auf dem Boden, überall Rauschen. Wie laut das ist. Ich möchte zurück in mein Bett.

»Lon, hi! Na, alles gut?«

»Lon! Was hattest du denn, Grippe?«

»Du hast nichts verpasst!«

Gelächter, Kichern. Die Gestalten der anderen sind mir vertraut, viele der Mädchen sehen sich ähnlich: lange Beine und Haare, das Kinn immer ein wenig nach unten, aber wenn man sie anspricht, dann hoch damit. Alle bewegen sich auf ihre eigentümliche Art, ich weiß genau, wem ich ausweichen muss und wem nicht.

Kurze Oberteile, Tops, Jacken, lange Cardigans. Alles lang, alles fließt. Lauter Schatten, direkt da, wo mein Blickfeld zu Ende ist. Aber alle huschen hinein und hinaus. Ich drehe den Regler hoch, das Rauschen minimiert sich. Oscar stößt mich an.

»Da ist er.«

»Wer?«

»Na, der Neue.«

Er nickt nach vorn, aber ich hab ihn schon gesehen. Schlank, ziemlich groß, blond.

Wusst ich’s doch.

Als er sich halb umdreht, stockt mir der Atem.

Ein kurzer Blick aus sehr dunklen Augen.

»Na?« Oscar stupst mich an. »Süß, wa?«

Ich kann nichts sagen.

Gehe weiter. Seine Augen folgen mir.

Aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein.

Wo ist der Makel?

6

»Los, mach dich lang! Den kriegst du noch!«

Johlen, Pfeifen. Ich strecke mich, hebe ab. Knapp an den Fingerspitzen vorbei.

»Scheiße!« Jakob rennt wütend zurück, rückwärts.

»Kann doch mal passieren«, tröstet mich James. Nächster Ball, wieder von hinten. Durchgespielt. Weiter zu Gina, die passt zurück.

»Achtung!«

Wieder vorbei. Hoa schnappt ihn aus der Ecke, wirft rüber zu Jana.

»Manndeckung!«, schreit der Sportlehrer. »Gina, Lon, vorrücken! Los, Beeilung!«

Das Quietschen der Sohlen auf dem Hallenboden. Gekreische, hochgerissene Arme. Stöhnen.

Hinten sehe ich James den Ball aufheben. Ein Blick, und der Ball fliegt quer übers Spielfeld zu mir rüber.

Den kriege ich. Den muss ich kriegen.

Meine Finger verkrampfen sich. Geschrei. Mein Gerät übersteuert. Der Ball klatscht mir direkt in die Hände. Absatzdrehung, das Tor direkt vor mir, die Torfrau – Nadja? – ein Schemen. Fallrückzieher, kann ich im Schlaf.

Drin.

»Cool!« Nelly klatscht mich ab.

»Lon? Komm mal raus!«

Ich trabe rüber zum Lehrer, lasse mich auf die Bank fallen. Keuche. Wo ist meine Wasserflasche?

»Lon. Ist was mit dir?«

Ich trinke lange, lasse die anderen auf dem Spielfeld nicht aus den Augen. James passt zu Nelly rüber, Gina rennt vorwärts. »Nee, wieso?«

»Du bist so merkwürdig in letzter Zeit. Als wenn du nicht bei der Sache wärst. Hast du irgendwelche Probleme, vielleicht privat oder so?« Bohrender Blick. »Oder gefällt dir Handball einfach nicht? Nächstes Jahr ist ja dann Volleyball dran. Das spielst du doch im Verein, oder? Vielleicht findest du das besser?«

»Nein, alles gut.«

Er nickt, sieht zu den anderen. Pfeift auf zwei Fingern und fuchtelt mit einer Hand. »Gina! Vorwärts, an die Linie! Rennen müsst ihr, nicht faul rumstehen.«

Wir gucken zu, wie James und Nelly nach vorne ziehen. Nelly kriegt den Ball, gibt weiter, Jakob hebt ab, knallt den Ball voll daneben.

Der Lehrer sieht auf die Uhr und steht auf, um nach seiner Pfeife zu angeln. Ich guck auch hoch. Die große Uhr an der Stirnwand ist gut zu erkennen. Die Stunde ist um.

7

Als ich mich umziehe, sehe ich oben in den Luken unter der Decke die Dämmerung in die Umkleide scheinen, und mein Herz fängt an zu klopfen. Letzte Stunde, wird schon dunkel um diese Zeit.

Ich hasse die Dunkelheit. Dämmerung noch mehr. Wenn der Tag so verwischt und alles blau wird.

Dann verschwimmt alles. Je dunkler, desto schlechter für mich.

Draußen stürzt die beginnende Finsternis wie ein Schwall Wasser auf mich ein. Ich bleibe einen Moment im Lichtkegel der Lampe über dem Eingang stehen und versuche, mich zu orientieren.

»Ciao, Lon. Lass mal telefonieren!« Nelly küsst mich auf beide Wangen, dann läuft sie los.

»Tschüs, Hoa.«

»Tschüs, Lon.«

»Bis morgen!«

»Geht ihr noch zu Burger King?« Jakobs Stimme klingt hoffnungsvoll. Jakob will nie sofort nach Hause. Aber ich habe keine Ahnung, wie sein Zuhause so aussieht.

»Nee, ich muss nach Hause. Muss noch was lernen.«

»Ich kann nicht. Tschüs!«

»Oder zum Falafel-Laden?«

James hat schließlich Erbarmen und zieht mit Jakob davon. Ich gehe zu den Rädern rüber und schließe meins auf. Jedenfalls versuche ich es. Brauche vier Versuche, bis ich den Schlüssel hineinbekomme.

Als ich es auf die Straße schiebe, ist der Himmel ganz dunkel geworden. Alles verschwimmt. Die Häuser sind Schemen, ineinander verschlungene Schatten, die sich zum Himmel aufschwingen. Riesengroß, dunkel, unbezwingbar. Nur da, wo Licht brennt, ein heller Kreis aus Normalität.

Ich traue mich nicht, aufzusteigen. Vorsichtig schiebe ich los.

»Lon? Hörst du schlecht?« An der Ecke Singerstraße holt Nadja mich ein.

»Nein. Wieso?« Ich höre echt gut. Wenigstens das. Mit Hörgeräten, aber na und?

»Weil ich dich dreimal gerufen hab«, sagt sie und bremst. Dann springt sie ab und schiebt neben mir her. »Geht es dir gut?«

»Wieso?« Langsam hab ich es satt, dass alle Welt mich ständig nach meinem Befinden fragt. Aber nur halb, so als würden sie irgendwas riechen, aber nicht wissen, was. Unbewusst.

Entschuldigung, aber ich bin keine gute Adresse für so was. Lasst mich alle in Ruhe. Fragt lieber nichts. Ihr wisst doch sowieso nicht, was ihr eigentlich fragen wollt.

Nadja sieht mich schräg von der Seite an, das kann ich spüren. »Nur so«, sagt sie. »Weiß nicht. Keine Ahnung. Vergiss es.« Zwei Meter, drei Meter. Vor uns Dunkelheit. Dahinten die Kreuzung. Wenn sie mit mir bis dahin geht, wird es besser. Ab da ist die Straße beleuchtet.

Nett sein, Lon, nett sein.

»Was wollte denn Chrimzek von dir?«, erkundigt sie sich.

»Dass ich mich mehr anstrengen soll.«

Nadja lacht. »So ein Quatsch. Du stehst doch garantiert wie immer auf zwölf, dreizehn Punkten. Was will der denn?« Sie winkt und fährt davon.

Ich sehe ihr nach, wie sie davonfährt, ins Licht hinein.

Nur noch zwanzig Meter, dann bin ich selbst im Licht.

Lasse die Dunkelheit hinter mir.

8

»Lon? Bitte setz dich doch.«

Er rückt seinen eigenen Stuhl zurück, mustert mich, rutscht wieder nach vorn und studiert seine Akten.

Ich kann seine Halbglatze von oben sehen. Hell leuchtet die Haut zwischen dem Haarkranz hervor. Sieht einfach schlimm aus, kann man nicht anders sagen.

»Eigentlich«, sagt er, ohne aufzublicken, »eigentlich müsste ich dich jetzt ja siezen, sehe ich gerade. Du bist ja kürzlich sechzehn geworden.«

»Ja.«

Er blickt auf, Misstrauen im Gesicht. »Möchtest du, dass ich dich sieze?«

»Das ist mir ehrlich gesagt egal«, sage ich. »Aber können Sie gerne, wenn Sie wollen.«

Jetzt weiß er nicht mehr weiter. Will ich, oder will ich nicht?

Weiß ich selbst nicht.

Ist mir wirklich egal.

»Bei uns in der Schule siezen manche Lehrer einen ab der zehnten Klasse«, sage ich.

»Und du bist in der …«

»Zehnten.«

Und draußen vorm Fenster ist Frühling. Milder, noch grauer Frühling. Helllichter Tag. März. Zweige schwanken flatternd vor der Scheibe hin und her, das kann ich erkennen, dahinter sind Büsche. Und dann weiß ich nicht.

»Wie geht es dir denn inzwischen?«, fragt er und studiert wieder die Akten. Jedenfalls hat er sich entschieden. Auch schon mal was.

»Gut.«