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»Wenn die Menschen gestorben sind, werden sie zu Sternen, hat Mama gesagt. Natürlich weiß Louise, dass Sterne eigentlich kleine Himmelskörper sind. Aber schließlich ist das Weltall noch nicht so ganz erforscht. Kann also immerhin sein, dass Mama jetzt tatsächlich ein Stern ist, der vom Himmel runterleuchtet und deshalb immer bei ihnen sein wird, oder?« Karen-Susan Fessels berührender Trauerklassiker, vielfach ausgezeichnet und in zahlreiche Sprachen übersetzt, erzählt vom Abschiednehmen und vom Umgang mit Trauer und Tod – ein Buch für Kinder ab neun Jahren, aber auch für die ganze Familie. Für Kinder ab vier Jahren ist das gleichnamige Bilderbuch besonders geeignet.
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Seitenzahl: 194
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Karen-Susan Fessel ist Schriftstellerin und lebt und arbeitet in Berlin. Seit 1994 sind mehr als vierzig Romane und Erzählungen für Kinder, Erwachsene und Jugendliche erschienen, die teils mehrfach ausgezeichnet und übersetzt wurden. 2020 wurde ihr für ihr literarisches Schaffen und soziales Engagement das Bundesverdienstkreuz verliehen. »Ein Stern namens Mama«, erstmals 1999 im Verlag Friedrich Oetinger erschienen, ist ihr erstes Kinderbuch. Es wurde sowohl auf die Bestenliste des Züricher Kinderbuchpreises »La vache qui lit« als auch auf die Empfehlungsliste des Evangelischen Buchpreises gesetzt und unter anderem in Japan ein Beststeller. Neben der erfolgreichen Theaterfassung liegt seit 2018 auch eine Bilderbuchfassung mit Illustrationen von Heribert Schulmeyer vor.
Für Papa
Karen-Susan Fessel
EIN STERN NAMENS MAMA
Cover
Titel
Der Knoten
Kraft für Mama
Mama stirbt nicht und basta!
Bessere Zeiten
Abschied von Mama
Impressum
Heute Morgen bin ich aufgewacht und habe als Erstes auf den Kalender geguckt, der neben meinem Bett hängt.
Noch acht Tage, dann habe ich Geburtstag. Ich werde elf.
Janni sagt, dass der elfte Geburtstag ein ganz besonderer ist. Das sagt er aber jedes Mal, wenn ich Geburtstag habe. Letztes Jahr zum Beispiel. Wir haben alle um den Tisch rumgesessen und Abendbrot gegessen, Mama, Papa, Ruben, Janni und ich. Und plötzlich hat Janni gesagt: »Alle Achtung, Louise wird zehn! Das ist ungeheuer bedeutsam!« Dazu hat er ein ganz wichtiges Gesicht gemacht und die Stirn gerunzelt, und ich musste lachen, weil er so komisch ausgesehen hat. Da hat Janni streng geguckt und gesagt: »Lach nicht, Louise, der zehnte Geburtstag ist ein ganz besonderer!« Und als ich gefragt habe, warum, hat er geantwortet: »Na, weil man nur einmal zehn Jahre alt wird! Das stelle man sich mal vor: Ein einziges Mal im ganzen Leben wird man zehn Jahre alt! Wenn das mal kein ganz besonderer Geburtstag ist!«
Papa hat sich an die Stirn getippt und gegrinst, und Mama musste auch lachen, genau wie ich. Nur mein kleiner Bruder Ruben hat ein bisschen dumm geguckt. Aber das ist kein Wunder, denn Ruben war da erst fünf, und manche Witze hat er damals eben noch nicht so richtig verstanden.
Aber ich glaube, diesmal hat Janni wirklich recht, wenn er sagt, dass mein elfter Geburtstag ein ganz besonderer ist.
Es ist nämlich mein erster Geburtstag ohne Mama. Mama ist vor drei Monaten gestorben, und deshalb ist sie jetzt nicht mehr hier, bei uns, sondern ein Stern am Himmel.
Mama ist jetzt ein Stern.
Natürlich weiß ich, dass Sterne eigentlich kleine Himmelskörper sind, die von der Sonne angestrahlt werden oder so. Aber schließlich hat Mama selber gesagt, dass sie ein Stern wird. Und außerdem ist das Weltall ja noch gar nicht so ganz erforscht. Kann also doch immerhin sein, dass die Menschen tatsächlich zu Sternen werden, wenn sie gestorben sind, so wie Mama behauptet hat. Papa glaubt es ja irgendwie auch. Dass Mama ein Stern ist. Ab und zu, abends, wenn es dunkel ist, geht er mit Ruben und mir raus in den Garten, und dann stehen wir da und gucken hoch in den Himmel.
»Seht ihr die Sterne da oben?«, hat Papa uns gefragt, als wir das zum ersten Mal gemacht haben. »Einer davon ist Mama. Mama ist jetzt ein Stern und leuchtet zu uns herunter.«
»Und welcher?«, wollte Ruben wissen.
Papa hat den Kopf geschüttelt. »Ich weiß nicht genau.
Es sind einfach zu viele. Aber einer davon ist Mama, das weiß ich genau.«
»Und wie weit weg sind die Sterne?«, habe ich gefragt. Da hat Papa eine ganze Weile geschwiegen, und dann hat er den Arm um mich gelegt und mich fest an sich gedrückt.
»Unendlich weit weg, weiter als wir jemals gehen können«, hat er geantwortet. »Wir können zwar nicht zu den Sternen hin, aber sie können uns sehen.«
»Und kommt Mama wirklich nie wieder?«, hat Ruben gefragt. Das fragt er immer noch manchmal, wenn wir von Mama reden, und dann werde ich jedes Mal ganz traurig.
»Nein«, hat Papa gesagt. »Mama kommt zwar nicht wieder zurück, aber sie bleibt für immer da oben. Und deshalb ist sie auch nicht ganz fort, versteht ihr? Mama ist für immer da oben und leuchtet zu uns herunter.
Und eines Tages, wenn wir sterben, dann werden wir selber zu Sternen und leuchten den anderen Menschen.«
»Aber ist Mama nicht einsam da oben?«, hat Ruben gefragt, und Papa hat den Kopf geschüttelt.
»Nein, Ruben«, hat er geantwortet. »Guck doch, da sind ganz viele Sterne um sie herum. Die haben es so gemütlich da oben wie ihr beide in euren kuschligen Betten. Und jetzt wird es höchste Zeit, dass ihr euch da hineinlegt.«
Eigentlich darf ich länger aufbleiben als Ruben, aber an jenem Abend bin ich gerne so früh ins Bett gegangen.
Ich habe mich tief in die Kissen gekuschelt und aus dem Fenster geguckt, und so, wie ich da gelegen habe, konnte ich sogar ein paar Sterne sehen, ganz weit oben am Himmel. Und ich glaube fast, einer davon ist Mama gewesen.
Janni hat versprochen, mir nächste Woche wieder einen richtig tollen Geburtstagskuchen zu backen mit Kerzen und Marzipanherzen und allem Drum und Dran. Genau wie letztes Jahr. Janni kann echt tolle Kuchen backen, er ist der beste Kuchenbäcker in der ganzen Stadt. Janni behauptet, dass er sogar der beste Kuchenbäcker auf der ganzen Welt ist, aber ob das stimmt, weiß ich nicht.
Schließlich war ich noch nicht auf der ganzen Welt, wie soll ich so was dann wissen?
Aber eins weiß ich: Janni ist der liebste Onkel auf der ganzen Welt. Dabei ist er eigentlich gar nicht mein richtiger Onkel, so wie Onkel Lutz, der Bruder von Papa.
Aber das macht nichts. Janni ist trotzdem mein Onkel. Mein Lieblingsonkel sogar.
Janni ist der beste Freund von Mama. Das war er schon, als die beiden noch klein waren, und Janni sagt, das bleibt auch so, egal ob Mama nun ein Stern am Himmel ist oder sonst was. Janni meint, genauso, wie Mama meine Mama bleibt, für immer und ewig, genauso bleibt sie auch für immer und ewig seine beste Freundin. »Das war so und das bleibt so, basta, punktum und aus!«, sagt Janni, und es gefällt mir, wenn er das sagt.
Mama hat immer aufgepasst, dass Janni sich die Haare rechtzeitig hat schneiden lassen. Janni hat normalerweise ganz ratzeputzekurze Haare, ungefähr so lang, wie ein Streichholz breit ist. Und immer, wenn sie ein bisschen länger geworden waren, hat Mama früher zu Janni gesagt:
»Mensch, Janni, du musst dir mal dringend wieder die Haare schneiden lassen!« Dann hatte Janni beim nächsten Besuch wieder ratzeputzekurze Haare.
Na ja, weil Mama ja nicht mehr da ist, pass ich jetzt jedenfalls darauf auf, dass Janni sich rechtzeitig die Haare schneiden lässt. Ab und zu messe ich seine Haare mit einem Streichholz nach, und wenn sie länger sind, als der Streichholzkopf breit ist, dann sage ich zu Janni: »Mensch, Janni, du musst dir mal dringend die Haare schneiden lassen!« Und schwupp! – Beim nächsten Mal hat er wieder ganz kurze Haare.
»Ach, wenn ich dich nicht hätte, dann sähe ich jetzt schon aus wie ein Pudel«, sagt Janni manchmal, und dabei zieht er eine solche Schnute, dass ich jedes Mal lachen muss.
Janni schneidet oft komische Grimassen, und man weiß dann gar nicht, ob er ernst meint, was er gerade sagt. Aber ein bisschen ernst meint er es meistens doch.
Ich glaube, das mag ich besonders gerne an Janni: dass er oft so fröhlich ist. Mit Janni kann ich immer viel lachen, anders als mit den anderen Erwachsenen. Die sind immer so ernst, vor allem jetzt, seit Mama gestorben ist. Aber auch schon vorher.
Angefangen hat das, als Mama krank geworden ist. Da haben fast alle Erwachsenen meistens nur noch ernst geguckt und geseufzt und so komisch leise geredet. Die Nachbarn und die Ärzte und die Krankenschwestern im Krankenhaus. Sogar meine Lehrerin, Frau Schlömer.
»Wie geht es dir denn, Louise?«, haben sie mich gefragt und dabei so furchtbar ernst geguckt. Manchmal habe ich gedacht, dass sie mich lieber gefragt hätten, wie es meiner Mutter geht, aber dass sie sich das nicht so richtig trauten.
Jedenfalls haben alle immer nur noch ernst geguckt, und ich habe mich schon ganz schlecht gefühlt, wenn ich mal im Garten laut gelacht habe und die Nachbarin über den Zaun zu mir rübergesehen hat.
Aber Mama selber war oft fröhlich. Auch als sie schon so schlimm krank war und im Krankenhaus lag. »Das Leben ist schön, Louise«, hat Mama gesagt, bei einem der letzten Male, wo ich sie besucht habe. »Auch wenn alles ganz traurig und düster aussieht und man weinen muss und Schmerzen hat: Es gibt so viel schöne und lustige Sachen im Leben. Vergiss das nie.« Dann hat sie mich angelächelt und mir in die Seite gepufft, so wie früher, und ich musste ein bisschen lachen, obwohl ich schrecklich traurig war, weil ich da schon gewusst habe, dass Mama bald stirbt. Oma war auch dabei und hat mich ganz komisch angeguckt, so, als ob sie das nicht gut fände, dass ich jetzt lache. Aber ich glaube, Mama fand das in Ordnung.
Sie hat auch ein bisschen gelacht, und manchmal, wenn ich wieder einmal besonders traurig bin, denke ich daran, wie Mama da ausgesehen hat: müde und krank und trotzdem irgendwie fröhlich.
Mama ist an Krebs gestorben. Es gibt viele unterschiedliche Sorten von Krebs, und viele Leute sterben auch daran, aber das habe ich damals, als es angefangen hat, noch nicht gewusst. Aber damals habe ich eben viele Sachen noch nicht gewusst. Ich habe noch nicht mal so richtig mitbekommen, wie es eigentlich angefangen hat mit dem Krebs.
Bis Mama den Krebs bekommen hat, war sie immer gesund. Eigentlich war Papa viel öfter krank als Mama.
Papa hat oft Kopfweh gehabt oder Grippe, meistens hat er sich bei Ruben oder mir damit angesteckt. Manchmal haben wir alle drei krank im Bett gelegen. Dann hat Mama uns allen der Reihe nach Tee und Grießbrei gebracht und den Kopf geschüttelt. »Oh, lauter kranke Hühner! Eins kränker als das andere! Ein Wunder, dass ich noch auf den Beinen stehe!«
Aber sie selber ist nie krank geworden. Mama war immer gesund, und deshalb war es besonders merkwürdig, als sie dann auf einmal doch krank geworden ist. Da war ich noch neun und in der dritten Klasse.
Eines Tages, ein paar Wochen vor den Sommerferien, kam ich aus der Schule nach Hause, und Mama war nicht da. Stattdessen saß Janni in der Küche und wartete auf mich. Janni passte öfter mal auf Ruben und mich auf, wenn Mama was anderes zu tun hatte, deshalb habe ich mich nicht weiter gewundert. Ich fand es nur komisch, dass Mama mir vorher nichts davon gesagt hatte, das machte sie nämlich sonst immer.
»Wo ist denn Mama?«, habe ich Janni gefragt.
»Mama ist beim Arzt«, sagte er und stellte mir einen frisch gebackenen Pfannkuchen mit Apfelmus hin. Pfannkuchen mag ich schrecklich gerne.
»Ist Mama denn krank?«, fragte ich und tat mir noch ein bisschen Zucker auf den Pfannkuchen.
»Das weiß ich nicht, sie muss sich untersuchen lassen. Aber wir holen sie gleich ab, dann kannst du sie ja fragen.«
Ich habe zwei Pfannkuchen mit dick Apfelmus und Zucker gegessen, und dann sind Janni und ich losgefahren. Erst haben wir Ruben von der Kindertagesstätte abgeholt und dann sind wir zum Arzt gefahren, und da saß Mama schon im Wartezimmer und sah ein bisschen bedrückt aus.
»Bist du krank, Mama?«, fragte ich sie, aber Mama schüttelte den Kopf und küsste mich laut schmatzend auf beide Backen und Ruben auch.
»Ich musste mich nur untersuchen lassen, das müssen alle erwachsenen Frauen ab und zu«, sagte Mama, aber ich habe gesehen, wie sie Janni einen merkwürdigen Blick zuwarf. Und ich glaube, damals hat es angefangen mit dem Krebs.
Später, kurz bevor Mama zum ersten Mal ins Krankenhaus musste, hat sie mir erzählt, dass der Arzt damals einen Knoten in ihrer Brust gefunden hatte. Erst habe ich gar nicht gewusst, was für einen Knoten Mama meinte.
Ich dachte, sie meint einen Wollknoten oder so was, der irgendwie in ihre Brust reingekommen ist.
Aber dann hat Mama es mir erklärt: Ein Knoten in der Brust, das ist so ein kleiner Hautknubbel, der immer weiterwächst und einen krank macht. Und so einen Knoten hatte der Arzt eben damals in Mamas Brust gefunden. Er hat Mamas Brust in ein Röntgengerät reingelegt, wo die Brust ein bisschen zusammengedrückt und durchleuchtet wird, und auf dem Röntgenbild konnte man dann den Knoten sehen.
Auf der Fahrt nach Hause haben Mama und Janni vorne im Auto leise miteinander geredet, und als ich wissen wollte, worüber, haben sie beide erst mal geschwiegen.
Dann hat Mama sich zu mir umgedreht und gesagt:
»Ich habe Janni gerade erzählt, dass der Arzt gesagt hat, ich müsse mich morgen noch mal untersuchen lassen. Deshalb kommt Janni morgen wieder und passt auf euch auf.«
Weiter hat sie nichts gesagt, aber ich habe auch so schon gewusst, dass irgendetwas nicht stimmte. Mama und Janni haben nämlich den Rest der Fahrt über geschwiegen. Und das taten sie eigentlich nie.
An jenem Abend ist Papa ziemlich spät von der Arbeit nach Hause gekommen, und ich habe ihn und Mama unten leise miteinander reden hören. Papa arbeitet bei der Post und kommt normalerweise nachmittags um vier nach Hause, aber damals ist er eine Weile lang ziemlich oft später gekommen. Mama und er hatten manchmal Streit deswegen, aber an jenem Abend nicht. Sie haben einfach leise miteinander geredet. Sie haben nicht gestritten, wie sonst manchmal, und das hat mich so beruhigt, dass ich ziemlich bald eingeschlafen bin.
Am nächsten Tag war dann Janni wieder da, als ich von der Schule gekommen bin, und kurz darauf ist auch Mama gekommen. Sie war schrecklich blass, und ich konnte sehen, dass sie geweint hatte. Da ist mir ganz komisch zumute geworden.
»Was ist denn los, bist du doch krank, Mama?«, habe ich gefragt, aber Mama wollte mir keine richtige Antwort geben.
»Mach doch erst mal deine Schularbeiten, Louise. Ich muss mich ein bisschen ausruhen«, hat sie gesagt, und dann hat sie sich mit Janni ins Wohnzimmer gesetzt, und ich bin nach oben in mein Zimmer gegangen. Aber ich hatte keine Lust, meine Schularbeiten zu machen. Stattdessen habe ich dagesessen und überlegt, was wohl mit Mama los war und wer eigentlich Ruben aus dem Kindergarten abholen würde. Und nach einer Weile habe ich gehört, wie Mama die Treppe raufgekommen ist.
»Louise?«, hat sie gerufen, und ich bin in den Flur gegangen, und da hat Mama gestanden und ihre Arme weit aufgemacht, und ich habe mich an sie gedrückt.
»Janni ist eben losgefahren und holt Ruben ab«, hat Mama gesagt. »Und hör mal, Louise, ich muss in nächster Zeit öfter zum Arzt und mich untersuchen lassen. Das ist ganz normal bei erwachsenen Frauen. Wenn ich nicht da bin, kommt Janni, oder ich sag Nadja Bescheid. Nur, dass du’s weißt.«
»Ist gut«, habe ich gesagt und mich noch enger an sie gedrückt. Ich mochte immer gerne, wie Mama gerochen hat und wie sie sich angefühlt hat, so ganz weich und warm.
Und in den nächsten Wochen ist dann weiter nichts Besonderes mehr passiert, außer dass Mama eben ab und zu zum Arzt musste und dass statt Mama dann Janni oder Nadja auf mich warteten, wenn ich nach Hause kam.
Das Einzige, was mir aufgefallen ist, war, dass Mama und Papa sich wieder viel besser verstanden haben als in der Zeit vorher. Sie haben sich so gut wie gar nicht mehr gestritten, und Papa ist meistens wieder um vier von der Arbeit nach Hause gekommen.
Neulich habe ich Papa gefragt, warum er und Mama sich damals so oft gestritten hatten. Papa hat zuerst so getan, als wüsste er gar nicht, wovon ich rede.
»Was denn, was meinst du denn, Louise?«, hat er gefragt. Aber ich hab irgendwie gemerkt, dass er es ganz genau wusste.
»Na, damals, bevor Mama krank geworden ist. Da habt ihr euch oft gestritten. Das hab ich gehört, wenn ich im Bett lag. Einmal hast du sogar geschrien.«
»Ach, und was soll ich da geschrien haben?«, hat Papa gefragt und den Kopf geschüttelt. Aber zufällig wusste ich das noch sehr genau.
»So ein kleines Leben hab ich nicht gewollt! Das hast du geschrien. Und Mama hat geweint.«
Papa ist rot geworden, und dann hat er den Kopf gesenkt und auf seine Schuhe geguckt. Und dann hat er mich wieder angesehen.
»Stimmt«, sagte er. »Das hab ich tatsächlich gesagt.
Da war ich unzufrieden. Mir war alles so langweilig geworden. Die Arbeit und … Ach, ich war so unzufrieden.«
»War Mama dir auch langweilig geworden? Und Ruben und ich auch?«
Papa hat mich ganz lange angeguckt, und dann hat er gelächelt. »Nein«, sagte er. »Mama ist mir nie langweilig geworden. Und ihr erst recht nicht.« Papa und Mama haben sich an der Uni kennengelernt, als sie beide zwanzig Jahre alt waren. Da waren sie gerade beide hier in die Stadt gezogen, um zu studieren. Mama hat auch zu Ende studiert, Sozialarbeit, aber Papa hat mit dem Studieren aufgehört und stattdessen angefangen, bei der Post zu arbeiten. Und da arbeitet er immer noch.
Als Mama mit dem Studium fertig war, ist sie mit mir schwanger geworden, und kurz nachdem ich auf die Welt gekommen bin, haben sie geheiratet.
Die Geschichte haben Mama und Papa mir beide schon viele Male erzählt, vor allem dann, wenn wir zusammen alte Fotos angeguckt haben. Seit Mama tot ist, mag Papa keine Fotos von früher mehr angucken, aber vorher haben wir das oft gemacht. Es gibt viele Fotos von Mama und Papa, als sie jünger waren. Die Fotos liegen in fünf großen alten Keksdosen unten im Wohnzimmerschrank, und manchmal, wenn ich Sehnsucht nach Mama habe, hole ich sie raus und gucke sie mir an.
Früher hatten Mama und Papa beide ganz lange Haare.
Papas Haare waren sogar ein bisschen länger als die von Mama. Er hatte wilde blonde Locken, die fast bis zum Po reichten. Heute sieht man fast gar nicht mehr, dass Papa eigentlich Locken hat, weil er sie jetzt immer kurz geschnitten trägt. Mama hat auf den Fotos schulterlange Haare, genauso glatt und dunkel wie meine. Mama und Papa sehen beide sehr jung und fröhlich aus, Papa schneidet meistens irgendwelche komischen Gesichter und Mama lacht viel. Und oft sind viele andere Leute mit auf den Fotos drauf, auch alle mit langen Haaren und bunten Klamotten, genauso wie Mama und Papa.
Ein Foto mag ich besonders gerne. Auf dem liegen Mama und Papa nebeneinander auf einer Wiese und lachen in die Kamera, Papa hat eine dicke Zigarette in der Hand und die Beine übereinandergeschlagen, und Mama hat ihren Arm um seine Schultern gelegt. Ich würde meine Lieblingsturnschuhe darauf verwetten, dass diese dicke Zigarette, die Papa da in der Hand hält, ein Joint ist, aber Papa streitet es jedes Mal ab, wenn ich ihn frage.
Wenn ich dieses Foto ansehe, dann muss ich immer daran denken, wie Mama mir erzählt hat, dass ich zu jenem Zeitpunkt, als es aufgenommen wurde, schon in ihrem Bauch war. Ich stelle mir dann immer vor, dass Mama und Papa sich gerade darüber freuen, dass ich unterwegs bin, und deshalb so lachen. Aber vielleicht lachen sie über was ganz anderes. Trotzdem, ich finde die Vorstellung einfach schön.
Janni ist übrigens auch auf einigen Fotos mit drauf, auch mit langen Haaren. Es gibt sogar ein Bild, auf dem er zu sehen ist, wie er gerade mit einem anderen Mann knutscht. Janni ist nämlich schwul. Beim ersten Mal, als ich das Foto gesehen habe, dachte ich, dass der andere Mann eine Frau ist – wegen seiner langen Haare natürlich.
»He, Janni, da knutschst du ja mit einer Frau!«, habe ich gesagt.
Janni grinste. »Irrtum, Louise. Guck mal genau hin!« Na ja, da habe ich es dann auch gesehen, dass Janni auf dem Foto keine Frau, sondern einen Mann küsste. War mir fast ein bisschen peinlich, dass ich nur auf die Haare geachtet hatte und nicht aufs Gesicht.
»Ich habe noch nie im Leben mit einer Frau geknutscht«, hat Janni gesagt. »Noch nicht mal mit deiner Mama!«
»Na, das wäre ja auch noch schöner!«, hat Papa gebrummt.
Da hat Janni seinen Arm um Mama gelegt und Papa zugezwinkert. »Keine Bange, mein Freund«, hat er gesagt.
»Selbst wenn ich gewollt hätte – keine Chance! Diese wunderbare Frau hier hat schließlich nur Augen für dich gehabt!«
Papa hat zwar immer noch ein bisschen mürrisch, aber trotzdem erfreut ausgesehen, erst recht, als Mama ihm dann ebenfalls zugezwinkert hat.
Janni ist allerdings nur auf ganz wenigen Fotos mit drauf, weil er nämlich die meisten gemacht hat. Janni ist Fotograf, aber damals war das noch gar nicht sein richtiger Beruf, sondern sein Hobby. Seit letztem Jahr hat er sogar sein eigenes Atelier, und jetzt macht er fast nur noch Auftragsfotos und fast gar keine mehr für sich selbst. Ich hab ihn mal gefragt, warum, und da hat er gesagt, dass er einfach schon zu viele Fotos gemacht hat. Und dass er deshalb nur noch das Nötigste fotografiert.
Ich finde das schade. Aber Janni meint, ich könnte ja selber fotografieren. Und als ich gesagt hab, dass das nicht geht, weil ich schließlich keinen Fotoapparat habe, da hat er mich nachdenklich angeguckt. »Wann hast du eigentlich noch mal Geburtstag, Louise?«, hat er gefragt, so, als ob er das nicht ganz genau wüsste! Und dann hat er bis über beide Ohren gegrinst. Wer weiß, vielleicht schenkt er mir ja einen Fotoapparat zum Geburtstag!
Aber Janni braucht mir eigentlich gar nichts zu schenken, fällt mir gerade ein. Denn ich habe ja immer noch seinen Gutschein vom letzten Geburtstag.
Jedenfalls seh ich mir gerne die alten Fotos von Mama und Papa an, obwohl ich dabei meistens ganz traurig werde. Manchmal muss ich sogar ein bisschen weinen. Aber irgendwie ist es auch schön: Ich kann Mama angucken und daran denken, wie es war, als wir alle zusammen die Fotos angeguckt haben.
»Was wir da noch für Träume hatten!«, hat Papa dann manchmal gesagt, und er hat dabei immer ganz verträumt ausgesehen, aber irgendwie auch ein bisschen wütend.
»So viele wilde Ideen, so viele verrückte Pläne! Und was ist draus geworden?«
Mama hat dann meistens lachen müssen. »Nur zu, kauf dir ein Motorrad und reise um die Welt!«, hat sie einmal gesagt. »Wir bleiben solange hier, Louise, Ruben und ich.«
Da ist Papa ganz kleinlaut geworden. »Ach nee«, hat er gesagt. »Das will ich nun auch nicht gerade. Ihr bleibt gemütlich hier, und ich soll um die Welt reisen, ganz allein? Und in der Wüste Durst kriegen und von Kamelen runterfallen?«
»Genau, und am Nordpol frieren!«, hat Mama gesagt.
»Und in Afrika fällt dir eine Kokosnuss auf den Kopf!«, hab ich gerufen.
»Und auf dem Meer geht dein Schiff kaputt und du musst auf einer Insel wohnen, bis einer dich findet! Und dann kommen Piraten!«, hat Ruben gekreischt, und da hat Papa sich geschüttelt.
»Bloß nicht, nein danke! Ohne mich!« Und dabei hat er so ein schiefes Gesicht gezogen, dass wir alle lachen mussten.
Aber manchmal glaube ich, Papa hätte das alles doch gerne getan. Und ich glaube, deswegen haben er und Mama sich damals, als Mama krank geworden ist, so oft gestritten. Aber dann ist Mama immer kränker geworden, und mit den Streitereien war irgendwann Schluss.