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Was ist noch blutgieriger als ein Vampir? Brandheiße Action trifft eiskalte Spannung im 20. Abenteuer-Thriller mit Kult-Ermittler Aloisius Pendergast, dem berühmtesten Special Agent des FBI. In den Straßen von Savannah im Süden der USA tauchen Leichen auf, die vollkommen blutleer sind. Kein Wunder, dass eine alte Legende der Stadt plötzlich nicht nur wohligen Grusel verursacht: Geht etwa tatsächlich der »Vampir von Savannah« um? Special Agent Pendergast und sein Partner Agent Coldmoon werden mit dem bizarren Fall betraut und erkennen bald, dass es einen Zusammenhang mit einer nie aufgeklärten Flugzeug-Entführung aus dem Jahr 1971 gibt. Doch weder Pendergast noch Coldmoon ahnen, dass hinter beiden Fällen etwas steckt, das unfassbar viel böser ist als ein Vampir. Und längst ist nicht mehr sicher, ob die FBI-Agents Jäger oder Gejagte sind. »Pendergast [ist] eine Mischung aus Holmes und Bond […].« Frankfurter Neue Presse über den Pendergast-Thriller »Labyrinth – Elixier des Todes« Die Abenteuer-Thriller mit Special Agent Aloisius Pendergast sind in folgender Reihenfolge erschienen: 1. Relic – Museum der Angst 2. Attic – Gefahr aus der Tiefe 3. Formula – Tunnel des Grauens 4. Ritual – Höhle des Schreckens 5. Burn Case – Geruch des Teufels 6. Darc Secret – Mörderische Jagd 7. Maniac – Fluch der Vergangenheit 8. Darkness – Wettlauf mit der Zeit 9. Cult – Spiel der Toten 10. Fever – Schatten der Vergangenheit 11. Revenge – Eiskalte Täuschung 12. Fear – Grab des Schreckens 13. Attac – Unsichtbarer Feind 14. Labyrinth – Elixier des Todes 15. Demon – Sumpf der Toten 16. Obsidian – Kammer des Bösen 17. Headhunt – Feldzug der Rache 18. Grave – Verse der Toten 19. Ocean – Insel des Grauens 20. Bloodless – Grab des Verderbens
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Seitenzahl: 550
Douglas Preston / Lincoln Child
Ein neuer Fall für Special Agent Pendergast
Thriller
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Widmung
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
51. Kapitel
52. Kapitel
53. Kapitel
54. Kapitel
55. Kapitel
56. Kapitel
57. Kapitel
58. Kapitel
59. Kapitel
60. Kapitel
61. Kapitel
62. Kapitel
63. Kapitel
64. Kapitel
65. Kapitel
66. Kapitel
67. Kapitel
68. Kapitel
69. Kapitel
70. Kapitel
71. Kapitel
72. Kapitel
73. Kapitel
74. Kapitel
75. Kapitel
76. Kapitel
77. Kapitel
78. Kapitel
79. Kapitel
80. Kapitel
Anmerkungen der Autoren
Über die Autoren
Leseprobe »Poison - Schwestern der Vergeltung«
Lincoln Child widmet dieses Buch seiner Tochter Veronica.
Douglas Preston widmet dieses Buch Brady Nickerson und Mike Requa.
Mittwoch, 24. November 1971
Flo Schaffner war alles andere als glücklich über die neuen Uniformen, die die Northwest Orient Airlines ihren Stewardessen aufzwang – insbesondere über die Narrenkappe mit dem Schirm und den Ohrenklappen, mit der sie wie Donald Duck aussah. Nichtsdestotrotz stand sie mit strahlendem Lächeln an der Tür von Flug 305 von Portland nach Seattle, begrüßte die eintretenden Passagiere und kontrollierte deren Tickets. Sie war nicht unzufrieden angesichts der relativ wenigen Passagiere auf diesem Flug. Sie hatte geglaubt, einen Tag vor Thanksgiving würde es voll werden, doch heute war nur rund ein Drittel der Hauptkabine besetzt, was ihrer Erfahrung nach einen stressfreien Flug versprach.
Während die Menschen sich auf ihren Plätzen einrichteten, begannen sie und die andere Stewardess, Tina Mucklow, jeweils vom entgegengesetzten Ende der Hauptkabine damit, Getränkebestellungen aufzunehmen. Schaffner kam vom Heck. Einer ihrer ersten Kunden saß auf Platz 18C der Boeing 727, ein höflicher, zurückhaltender Herr mittleren Alters in weißem Hemd und schwarzer Krawatte. Sie kannte seinen Namen, denn zu ihren Aufgaben beim Kontrollieren der Tickets gehörte der Versuch, sich möglichst die Namen aller Passagiere und die Nummern ihrer Plätze zu merken. Normalerweise war das unmöglich, aber dank des leeren Flugzeugs war es ihr heute gelungen.
»Darf ich Ihnen etwas zu trinken bringen, Mr Cooper?«
Er bat sie höflich um einen Bourbon und Seven. Als sie ihm das Gewünschte brachte, reichte er ihr einen Zwanziger.
»Haben Sie es vielleicht kleiner?«
»Nein.«
Sie sagte ihm, er müsste etwas warten, bis sie ihm das Wechselgeld bringen könnte.
Der Pilot William Scott, allgemein nur Scotty genannt, forderte die Stewardessen über den Bordlautsprecher auf, die Ausgänge zu schließen und alles für den Start vorzubereiten. Flo Schaffner holte die Achtertreppe ein und setzte sich auf einen Notsitz daneben, nicht weit von dem Passagier auf Platz 18C. Das Flugzeug hob genau pünktlich um 14:50 Uhr zum halbstündigen Flug nach Seattle ab.
Als die Maschine die Flughöhe erreicht hatte und die Gurtsignale erloschen waren, winkte der Passagier auf 18C sie heran. Sie ging zu ihm in der Annahme, dass er noch etwas zu trinken bestellen wollte, aber stattdessen drückte er ihr einen Umschlag in die Hand. So etwas passierte Schaffner oft. Ein einsamer Reisender, der ihr eine Nachricht schrieb, die Bitte, etwas mit ihm zu trinken, zu Abend zu essen und manchmal mehr. Sie hatte gelernt, die beste Art, mit solchen Annäherungsversuchen umzugehen, war, sich nicht darauf einzulassen. Sie dankte dem Passagier höflich und steckte den Umschlag ungelesen in die Tasche.
Der Mann beugte sich freundlich lächelnd vor und flüsterte: »Miss, Sie sollten das lieber lesen. Ich habe eine Bombe.«
Schaffner war nicht sicher, ob sie ihn richtig verstanden hatte. Sie holte den Umschlag wieder hervor und zog die Nachricht heraus. Sie war mit Filzstift in säuberlichen Großbuchstaben geschrieben und besagte tatsächlich, dass er eine Bombe hatte und nichts Schlimmes passieren würde, solange alle kooperierten.
»Bitte setzen Sie sich neben mich«, sagte er, nahm ihr die Nachricht wieder ab und steckte sie in seine Brusttasche. Sie tat wie geheißen, und er öffnete die Verschlüsse des Aktenkoffers auf seinem Schoß und hob den Deckel ein paar Zentimeter an. Darin konnte sie ein Bündel roter Zylinder erkennen, an denen Drähte hingen, die mit einer großen Batterie verbunden waren.
Er schloss den Aktenkoffer und setzte eine dunkle Brille auf. »Bitte notieren Sie.«
Sie nahm ihren Füller und schrieb eine Reihe von Anweisungen auf.
»Bringen Sie das ins Cockpit«, sagte er.
Schaffner stand auf, lief den Gang hinunter und betrat das Cockpit. Während sie die Tür hinter sich schloss, sagte sie dem Piloten, dass das Flugzeug von einem Mann mit einer Bombe entführt wurde. Dann las sie von dem Umschlag die Liste seiner Forderungen vor.
»Hat er wirklich eine Bombe?«, fragte Scotty.
»Ja«, erwiderte sie. »Ich habe sie gesehen. Sie sieht echt aus.«
»Au Backe.« Scotty funkte die Zentrale von Northwest Orient in Minnesota an. Seine Worte wurden in einem Teletext zusammengefasst.
PASSAGIER HAT FLUGZEUG ENTFÜHRT. AUF DEM WEG NACH SEATTLE. DER STEW WURDE NACHRICHT ÜBERGEBEN. ER FORDERT BIS17:00UHR200.000 $ IN EINEM RUCKSACK. ER WILL ZWEI RÜCKENFALLSCHIRME UND ZWEI FRONTFALLSCHIRME. ER WILL DAS GELD IN GÜLTIGER AMERIKANISCHER WÄHRUNG. NENNWERT DER BANKNOTEN UNWICHTIG. HAT EINE BOMBE IN AKTENKOFFER UND WIRD SIE ZÜNDEN, FALLS FORDERUNGEN NICHT ERFÜLLT WERDEN.
Des Weiteren forderte der Entführer die Bereitstellung eines Tanklastzugs an der Landebahn in Sea-Tac, um das Flugzeug für eine neue Reise aufzutanken, zu der nähere Angaben folgen würden. Und er forderte, dass für den nächsten Abschnitt der Reise ein Bordingenieur an Bord kam.
Den Grund dafür nannte er nicht.
Im Cockpit von Flug 305 diskutierten Scotty und sein Co-Pilot Bill Rataczak, wie sie mit der Situation umgehen sollten. Bis jetzt hatten die Passagiere keine Ahnung, dass das Flugzeug entführt wurde – und Scotty wollte, dass das so blieb.
Nach dem Funkgespräch mit Minnesota hatte die Zentrale von Northwest Orient Don Nyrop, den Präsidenten der Fluglinie, und das FBI verständigt. Das FBI wollte das Flugzeug stürmen, aber Nyrop sagte, er würde es vorziehen, mit dem Entführer zu kooperieren, dass die Fluglinie versichert war und das Lösegeld zahlen würde. Das FBI stimmte widerwillig zu. Aber die Forderungen des Entführers zu erfüllen, würde einige Zeit in Anspruch nehmen.
Indessen hatte die 727 Tacoma erreicht und begann zu kreisen. Das FBI und die Fluglinie überschlugen sich, um Lösegeld und Fallschirme zu besorgen.
Scotty verkündete den Passagieren über den Bordlautsprecher, dass das Flugzeug kleinere technische Probleme hatte, es keinen Anlass zur Besorgnis gab und sie in einer Stunde oder so landen würden. Im Heck des Flugzeugs hatte der Entführer Dan Cooper die ganze Zeit Kette geraucht. Er bot Schaffner eine Zigarette an, die sie nahm, um ihre Nerven zu beruhigen, obgleich sie das Rauchen vor einiger Zeit aufgegeben hatte.
Draußen entwickelte sich ein Unwetter. Bald begann es zu regnen.
Die Fluglinie setzte sich mit der Seattle National Bank in Verbindung, deren Kunde sie war. Die Bank war gern bereit zu helfen. Tatsächlich hielt sie für solche Zwecke Bargeld bereit: einen Vorrat an Zwanzig-Dollar-Scheinen, die für den Fall eines Raubs oder Überfalls mikroverfilmt und deren Seriennummern aufgezeichnet waren. Zehntausend Zwanzig-Dollar-Scheine, in Bündeln zu je fünfzig Stück, wurden in einen Rucksack gestopft und dem FBI übergeben. Er wog über zwanzig Pfund.
Die Fallschirme besorgte man aus einem Sprungzentrum östlich des Flughafens: zwei Front- oder Reservefallschirme und zwei Rücken- oder Hauptfallschirme. Wie von Cooper verlangt, handelte es sich um zivile, nicht militärische Fallschirme. Auch diese wurden dem FBI übergeben.
Unterdessen kreiste das Flugzeug weiter über Sea-Tac. Tina, die andere Stewardess, lief den Gang auf und ab und beruhigte die Passagiere. Dan Cooper erklärte Schaffner, wie die Sache ablaufen würde.
»Nach der Landung«, sagte er, »möchte ich, dass Sie hinausgehen, das Geld in Empfang nehmen und es zu mir bringen.«
»Was, wenn es zu schwer ist?«
»Das wird es nicht. Sie schaffen das. Dann«, fuhr er fort, »holen Sie die Fallschirme und bringen sie an Bord.« Er zog ein Fläschchen Benzedrin-Tabletten aus der Tasche. »Bringen Sie die ins Cockpit, für den Fall, dass die Crew während des nächsten Flugs müde wird.«
Sie fragte, ob er das Flugzeug nach Kuba entführen wollte, zu jener Zeit das häufigste Ziel von Flugzeugentführungen.
»Nein«, sagte er. »Nicht Kuba. Ein Ort, der Ihnen gefallen wird.«
Sie fragte ihn, warum er das Flugzeug entführte. Hegte er einen Groll gegen Northwest?
»Ich hege keinen Groll gegen Ihre Fluglinie, Miss«, sagte er. »Ich hege einfach einen Groll.«
Der Flughafen am Boden war geschlossen und alle abgehenden Flüge gestrichen worden. Eintreffende Flüge hatte man entweder umgeleitet oder ließ sie kreisen. Kurz nach siebzehn Uhr funkte die Bodenkontrolle das Flugzeug an und teilte mit, dass Geld und Fallschirme wie angewiesen in einem Wagen am Ende der Landebahn bereitstanden.
Die Piloten setzten mit der 727 zum Landeanflug an, ihr Ziel war, wie vom Entführer angewiesen, ein abgelegener Abschnitt der Landebahn. Mittlerweile war es dunkel, und der Regen dauerte an, begleitet von gelegentlichen Blitzen. Das Gebiet war mit Flutlicht erleuchtet.
Das Flugzeug kam zum Halt. »Holen Sie das Geld«, befahl Cooper Schaffner.
Schaffner lief den Gang hinunter zum Ausgang, stieg die Stufen hinunter und ging auf wackligen hohen Absätzen zum wartenden Fahrzeug. Ein FBI-Agent nahm den Rucksack aus dem Kofferraum und reichte ihn ihr. Schaffner lief zurück zum Flugzeug, erklomm die Treppe und trug den Sack zu Cooper. Er öffnete ihn, schaute hinein, ergriff ein paar Bündel und nahm sie heraus.
»Für Sie«, sagte er.
Schaffner war überrascht. »Es tut mir leid, Sir. Kein Trinkgeld. Northwest-Orient-Regeln.«
Er schien schwach zu lächeln. »Also gut. Holen Sie die Fallschirme.«
Schaffner stieg erneut die Stufen hinunter und brachte Cooper in zwei weiteren Ausflügen die vier Fallschirme.
Er beugte sich zu ihr. »Jetzt kommt der wichtige Teil, Flo. Hören Sie gut zu. Der Kapitän muss jetzt allen an Bord mitteilen, dass das Flugzeug entführt worden ist. Der Entführer hat eine Bombe. Er muss den Befehl zur Räumung erteilen. Alle gehen direkt hinaus – kein Öffnen der Handgepäckabteile, keine Mitnahme von Gepäck oder irgendetwas anderem, das mit an Bord gebracht wurde. Falls diese Anweisungen nicht buchstabengetreu befolgt werden oder falls irgendein Held kehrtmacht und versucht, sich mit mir anzulegen, zünde ich die Bombe. Bitte übermitteln Sie das dem Kapitän. Nur Pilot, Co-Pilot und Sie bleiben an Bord.«
»Ja, Sir.« Schaffner stand auf, ging zum Cockpit und übermittelte die Forderung. Einen Moment später ließ sich der Kapitän über Bordlautsprecher vernehmen.
»Hören Sie aufmerksam zu und bleiben Sie bitte ruhig«, ertönte Scottys neutrale Stimme. »In diesem Flugzeug befindet sich ein Entführer mit einer Bombe.«
Darauf folgte ein Durcheinander von Ausrufen, Keuchen, ein oder zwei schrille Schreie.
»Geraten Sie nicht in Panik. Alle Passagiere sind aufgefordert, das Flugzeug unverzüglich zu verlassen. Öffnen Sie keine Handgepäckfächer. Sie dürfen keinerlei Handgepäck mitnehmen. Sie müssen das Flugzeug mit leeren Händen verlassen.«
Wieder Keuchen, Gemurmel.
»Beginnen Sie jetzt mit dem Verlassen des Flugzeugs. Gehen, nicht laufen.«
Alle Passagiere erhoben sich gleichzeitig, verwirrt und mit erhobenen Stimmen durcheinanderredend, und strömten zur vorderen Treppe. Mehrere Passagiere streckten sich nach den Handgepäckfächern, und einem gelang es, eines davon zu öffnen.
Bei diesem Anblick sprang Cooper auf, hielt seinen Aktenkoffer hoch und schwang ihn wie eine Waffe. »Sie!«, brüllte er, plötzlich wütend, und zeigte auf den anstößigen Passagier. »Zurück! Ich habe eine Bombe! Ich werde sie zünden, wenn Sie die Anweisungen nicht befolgen!«
Der Passagier, ein alter Mann, wich unter den Schreien und Pöbeleien der Passagiere um ihn herum mit schreckerfülltem Gesicht zurück. Jemand stieß ihn nach vorn; er ließ das geöffnete Fach zurück und wurde mitgerissen, als alle anderen aus dem Flugzeug taumelten. Innerhalb weniger Minuten war die Kabine leer, abgesehen von Schaffner und Tina.
»Sie steigen auch aus«, sagte Cooper zu Tina. »Und sagen Sie dem Ingenieur, er soll an Bord kommen.« Dann schnappte er sich das Kabinentelefon. »Wie lange dauert das Auftanken noch?«, brüllte er hinein.
»Fast fertig«, versicherte ihm der Co-Pilot.
Der Ingenieur von Northwest, den man hergefahren hatte, kam die Treppe hoch, blieb im Eingang stehen und wartete auf Befehle.
Cooper wandte sich an Schaffner. »Schließen Sie alle Blenden. Auf beiden Seiten.«
Schaffner war mittlerweile vollkommen verängstigt. Die gelassene, höfliche Version von Cooper war verschwunden, ersetzt durch einen angespannten, wütenden Mann. »Ja, Sir.«
Während Schaffner herumging und die Blenden schloss, sprach Cooper mit dem Bordingenieur. »Sie. Hören Sie gut zu. Ich will, dass Sie Kurs auf Mexiko nehmen, sobald das Flugzeug aufgetankt ist. Flughöhe unter zehntausend Fuß – nicht höher. Trimmen Sie die Klappen auf fünfzehn, lassen Sie das Fahrwerk unten und setzen Sie die Kabine nicht unter Druck. Fliegen Sie mit der niedrigsten Geschwindigkeit, die die Konfiguration zulässt, das sollten nicht mehr als hundert Knoten sein.« Er hielt kurz inne, dann sagte er: »Ich beabsichtige, die Achtertreppe draußen zu lassen und in dieser Konfiguration zu starten. Ist das machbar?«
»Alles, was Sie gesagt haben, ist machbar«, antwortete der Bordingenieur, »aber ein Startversuch mit ausgefahrener Achtertreppe ist gefährlich. Und mit der von Ihnen verlangten Konfiguration müssen wir mindestens einmal zwischenlanden und tanken.«
Nach kurzem Hin und Her erklärte sich Cooper einverstanden, die Achtertreppe einzuholen und in Reno aufzutanken.
»Sie gehen jetzt zur Crew ins Cockpit und schließen die Tür«, befahl Cooper dem Ingenieur. »Und starten die Show.«
Nachdem der Bordingenieur im Cockpit verschwunden war, zog sich der Tankwagen zurück, die Turbinen heulten auf, das Flugzeug wendete und rollte über die Zufahrt zur Startbahn.
Der Entführer wandte sich an Schaffner. »Erklären Sie mir, wie man die Achtertreppe bedient.«
Sie zeigte es ihm und reichte ihm eine Karte mit Gebrauchsanweisungen.
»Gehen Sie ins Cockpit«, sagte er. »Schließen Sie auf dem Weg den Vorhang zur ersten Klasse. Sorgen Sie dafür, dass niemand herauskommt.«
»Ja, Sir.«
Sie war erleichtert, dass sie sich nicht wieder neben ihn setzen musste, aber sein abrupter Verhaltenswechsel machte ihr immer noch Angst – besonders jetzt, wo all seine Bedingungen erfüllt waren. Sie ging nach vorn, und als sie sich umdrehte, um den Vorhang zu schließen, konnte sie einen kurzen Blick auf den Entführer werfen. Er befestigte den Rucksack mit Geld an seiner Hüfte. Das Flugzeug hatte das Ende der Zufahrt erreicht und bog auf die Startbahn ab, beschleunigte zum Abheben. Es war 19:45 Uhr.
Der Mann, der sich Dan Cooper nannte, verknotete den Geldsack um seine Mitte. Dann ging er zu einem der Handgepäckfächer, dem über Sitz 12C – das von dem alten Mann geöffnet worden war. Er zog einige Handgepäckstücke heraus und verteilte sie in der Kabine, bis er auf eine abgewetzte braune Aktentasche stieß. Er nahm sie vorsichtig heraus und legte sie auf seinen eigenen Sitz. Dann öffnete er weitere Fächer und holte zufällig gewähltes Gepäck heraus – Taschen, Handtaschen, Mäntel, Schirme – und warf sie in die Kabine. Das Unwetter war heftiger geworden, und ihr Kurs führte sie durch Turbulenzen, wodurch das Flugzeug hin und wieder absackte und weitere Gepäckstücke aus den offenen Fächern fielen.
Cooper trat darüber hinweg, legte mit raschen und effizienten Bewegungen den Rückenfallschirm an, dann den vorderen Reservefallschirm. Er lief zur Achtertreppe, befolgte die Anweisungen der Karte, die Schaffner ihm gegeben hatte, entriegelte die Klappe im Tosen des Windes und fuhr die Treppe in die Dunkelheit aus.
Die plötzliche Druckveränderung alarmierte die Piloten im Cockpit. Co-Pilot Rataczak griff nach dem Bordfunk. »Können Sie mich hören?«, rief er. »Alles in Ordnung da draußen?«
»Alles in Ordnung.«
Der Entführer langte nach hinten und schnappte sich seinen eigenen Aktenkoffer – den mit der Bombenattrappe – und schleuderte ihn durch die Klappe in die tosende Dunkelheit. Als Nächstes wählte er willkürlich ein paar Gepäckstücke und schleuderte auch diese hinaus. Schließlich knotete er die braune Aktentasche aus dem Gepäckfach mithilfe von Leinen, die er von einem Fallschirm abgeschnitten hatte, der nie zum Einsatz kommen sollte, gegenüber dem Geldbeutel fest an seine Hüfte. Inzwischen hatte er leichte Ähnlichkeit mit dem Michelin-Männchen: Fallschirme vorn und hinten, den Rucksack mit Geld an der einen und die Aktentasche an der anderen Seite. Es sah vielleicht witzig aus, war aber sicher.
Als er fertig war, trat er vorsichtig auf die Stufen und sprang einen Moment später in die Nacht. Alle im Cockpit bemerkten den plötzlichen Anstieg, verursacht durch das verminderte Gewicht, und der Kapitän notierte die Zeit: 20:13 Uhr. Aber sie waren nicht sicher, was das bedeutete. Sie hatten keine Möglichkeit festzustellen, ob sich der Entführer noch an Bord befand, deshalb flogen sie weiter nach Reno.
Cooper warf sich in den stürmischen Wind. Er wartete einen Augenblick, bis er weit genug von den beiden Turbinen entfernt war, die bei der Boeing 727 am Heck angebracht waren, stabilisierte seinen freien Fall, zählte volle sechzig Sekunden ab – und zog dann die Reißleine. Diese Aktion zog eine zehn Fuß lange Leine heraus, die wiederum den Fallschirm aus der Tasche riss. Cooper spürte befriedigt die Abfolge. Sobald sich der Fallschirm vollständig geöffnet hatte, orientierte er sich anhand der schwachen Lichter von Packwood, die ihm als Anhaltspunkt dienten und trotz des Sturms noch sichtbar waren.
Dann langte er nach unten zu dem Rucksack mit Geld, zog die Schnur auf und griff hinein. Dank des geöffneten Schirms war der Wind beträchtlich schwächer, und Bewegungen wurden einfacher. Er schnappte sich eine Handvoll Scheine, zog sie heraus und schleuderte sie fort. Dann begann er, so rasch wie möglich den Sack zu leeren, warf das Geld mit vollen Händen in die Nacht.
Plötzlich spürte er ein Reißen an den Gurten. Er schaute nach oben und erkannte, dass mehrere Bündel nach oben gerissen worden waren und im Hauptschirm festhingen, den sie teilweise nach außen stülpten. Gleichzeitig spürte er, wie sich sein Fall zu tödlicher Geschwindigkeit steigerte.
Er geriet nicht in Panik. Mit geübter Bewegung trennte er den Hauptschirm ab, indem er die Reißgriffe an den Schultergurten zog. Nun war er im freien Fall. Rasch zog er den anderen Griff, um den Reserveschirm manuell auszulösen. Aber als dieser aufsprang, wurde ihm bewusst, dass auch damit etwas nicht stimmte; er hatte sich entfaltet, aber nicht vollständig. Vielleicht Sabotage, wahrscheinlicher war jedoch, dass er zu lange nicht neu gepackt worden und deshalb steif geworden war. Durchaus kein ungewöhnliches Problem.
Aber ein tödliches Problem für ihn.
Cooper spürte einen ungewohnten Anfall von Panik, während er durch die Dunkelheit stürzte und der Wind den Rucksack mit dem Rest des Geldes losriss. Nichts, was er versuchte, konnte den Notschirm korrigieren. Er fiel weiter. Der teilweise kollabierte Rettungsschirm rüttelte in den Turbulenzen, eine letzte Wolke von Zwanzig-Dollar-Scheinen zerplatzte wie Konfetti und flatterte in die Nacht, während die kämpfende Gestalt auf den Wald unter sich zuraste und im heulenden Sturm aus dem Blickfeld verschwand.
Gegenwart
Der Augusta Westland 109 Grand schoss mit kraftvoll dröhnenden Rotoren nach Nordwesten, er flog so niedrig, dass die Landekufen beinahe die azurblaue Oberfläche des Atlantiks zu streifen schienen. Er stieg höher, als er die Riffe, Barrier-Inseln und Buchten überflog, die zum Festland von Florida führten.
In der luxuriösen Kabine des Helikopters saßen drei Personen: ein Mann in zerrissenen Jeans und kariertem Hemd, eine junge Frau in weißem Faltenrock und Bluse, mit dunkler Sonnenbrille, einen großen Sonnenhut im Schoß, und eine geisterhafte Gestalt in streng geschnittenem schwarzen Anzug, die mit entrücktem Ausdruck auf den wie gemeißelten Zügen aus dem Kabinenfenster starrte. Trotz der getönten Scheiben verwandelte der grelle Sonnenschein draußen die silberblauen Augen in eine seltsame Platinfarbe und verlieh dem hellblonden Haar den Schimmer eines Schneeleopardenpelzes.
Das war Special Agent A. X. L. Pendergast vom Federal Bureau of Investigation. Mit ihm in der Passagierkabine befanden sich sein Mündel Constance Greene und sein Partner Special Agent Armstrong Coldmoon. Sie verließen den Schauplatz eines erfolgreich abgeschlossenen Falls auf Sanibel Island, Florida, und obwohl nur relativ wenig gesprochen wurde, herrschte in der Kabine eine Atmosphäre des Abschlusses, das Gefühl, dass es Zeit war, das Leben wieder aufzunehmen.
Der Helikopter gewann an Höhe und flog eine Rechtskurve, um den Hotels und luxuriösen Apartmenthäusern von Miami Beach auszuweichen, die vor dem Sand und dem blauen Wasser dahinter wie ein alabasternes Oz gleißten.
»Nett von dem Piloten, uns diese Show zu bieten«, sagte Coldmoon. »Fast wie eine Fahrt in Disneyland.«
»Das kann ich nicht beurteilen«, sagte Pendergast in seinem seidigen New-Orleans-Akzent.
»Sie gehen davon aus, dass es Absicht ist«, sagte Constance, während sie sich vorbeugte, um das Buch aufzuheben, das ihr aus den Händen geglitten war, als der Helikopter sich auf die Seite legte: Clouds without Water von Aleister Crowley. »Heftige Nick- und Rollbewegungen sind oft die ersten Anzeichen für ein Problem mit dem Hubschrauber, bevor der Druck von Wirbelströmungen ihn in einen unkontrollierten Sinkflug zwingt.«
Das darauf folgende Schweigen wurde nur vom Winseln der Motoren unterbrochen.
»Ich bin sicher, dass wir einen ausgezeichneten Piloten haben«, sagte Pendergast. »Oder zeigt sich hier nur dein exzentrischer Sinn für Humor?«
»Ich finde die Aussicht, dass meine Person verbrannt und zerstückelt an einem öffentlichen Strand für alle sichtbar verstreut wird, nicht lustig«, erwiderte die junge Frau.
Hinter der Ray Ban konnte Coldmoon ihre Augen nicht erkennen, aber er war überzeugt, dass sie ihn anschaute und sich an der Wirkung erfreute, die diese morbide Bemerkung auf ihn hatte. Nicht nur, dass diese seltsame, schöne, hochgebildete und leicht verrückte Frau ihm höllische Angst einjagte – in der vergangenen Woche hatte sie ihn sowohl gerettet als auch gedroht, ihn umzubringen –, es schien ihr auch eindeutig Vergnügen zu bereiten, ihm auf den Sack zu gehen. Vielleicht, so sagte er sich, war es ein Anzeichen für ihr Interesse an ihm. In diesem Fall – nein danke.
Er holte tief Luft. Es lohnte nicht, darüber nachzudenken. Geistig war er bereits Tausende Meilen entfernt an seiner neuen Stelle im Field Office von Denver, weit weg von der feuchten Luft und drückenden Hitze Floridas.
Sein Blick schweifte von Constance Greene zu Pendergast. Noch so ein seltsamer Mensch. Obwohl er gerade erst zwei Fälle hintereinander mit dem höherrangigen Agenten abgeschlossen hatte, war Pendergast ein weiterer Grund, warum Coldmoon so rasch wie möglich nach Colorado wollte. Der Typ mochte eine FBI-Legende sein und der beste Detektiv seit Sherlock Holmes, aber er war genauso berüchtigt für die Anzahl der von ihm gelösten Mordfälle, bei denen der Täter »bei der Festnahme getötet« worden war, und Coldmoon hatte auf die harte Tour gelernt, dass jeder, der den Mann als Partner hatte, nur geringfügig bessere Überlebenschancen besaß als der Täter.
Während die Zuckerbäckerstrände der Küste Floridas unter ihm entlangglitten und er sich immer weiter dem Flugzeug näherte, das ihn nach Westen tragen würde, verspürte Coldmoon ein gewisses Gefühl von Freiheit, als käme er aus dem Gefängnis. Beim Gedanken an die ungläubigen Gesichter, die seine in Colorado Springs lebenden Vettern machen würden, weil seine Versetzung so oft verschoben worden war, dass sie sich weigerten zu glauben, dass er wirklich kommen würde, musste Coldmoon beinahe lächeln. Von der Vorstellung erheitert, schaute er wieder aus dem Fenster. Die Küste war genauso zugebaut wie weiter im Süden, jedoch waren die Gebäude nicht annähernd so hoch. Unter sich sah er die an der Küste verlaufende I-95, auf der sich in beiden Richtungen die Autos stauten. Auch das war etwas, das er nicht vermissen würde, obwohl er gehört hatte, dass der Verkehr in Denver in den letzten Jahren wahnsinnig geworden war. Von oben war nur schwer zu erkennen, wo sie sich befanden. Der Flug dauerte länger, als er erwartet hatte. Aus dem Augenwinkel sah er, dass Pendergast und Constance die Köpfe zusammengesteckt hatten und sich leise unterhielten. Irgendwie seltsam – er wusste nicht viel über Miami, trotz der Zeit, die er dort verbracht hatte, aber er war ziemlich sicher, dass der Flughafen westlich der Stadt lag, nicht nördlich … schon gar nicht so weit im Norden. Sie hatten, was er für Miami hielt, schon vor geraumer Zeit hinter sich gelassen.
Er lehnte sich in seinem Ledersitz zurück. Waren sie unterwegs zu einem Militärflugplatz oder einem Hubschrauberlandeplatz des FBI? Ihr Boss, Assistant Director Walter Pickett, hatte ihm sein Flugticket nach Denver noch nicht übergeben. Vielleicht flogen sie ihn mit einem Regierungs- oder Militärjet nach Denver. Angesichts der Scheiße, die er durchgemacht hatte, war es das Mindeste, was das Bureau tun konnte. Unwahrscheinlich. Jetzt, da Picketts Beförderung zum Associate Deputy Director in Kürze bekannt gegeben würde, war er vermutlich zu beschäftigt damit, seine Taschen für Washington zu packen, um an etwas anderes zu denken.
»Hey, Pendergast«, sagte er.
Pendergast blickte auf.
»Ich dachte, wir wären unterwegs zum Miami International.«
»Davon bin ich ausgegangen.«
»Und was ist dann das hier?« Er schaute wieder aus dem Fenster. »Sieht aus, als hätten wir Miami ausgelassen.«
»In der Tat. Es scheint, wir sind über den Flughafen hinausgeschossen.«
Bei diesen Worten spürte Coldmoon, wie ein unangenehmes Prickeln – eine Art Déjà-vu, aber entschieden unerfreulicher – im Hintergrund seines Verstands einsetzte. »Hinausgeschossen? Sind Sie sicher, dass wir nicht wenden und landen?«
»Wären wir tatsächlich nach Miami unterwegs gewesen, befänden wir uns im Moment wohl kaum über Palm Beach.«
»Palm Beach? Was zum Teufel –?« Coldmoon blickte nach unten. Eine weitere schmale Insel voller Villen glitt unter ihm entlang, darunter eine besonders scheußliche pseudomaurische Anlage, auf die ihr Schatten gerade fiel.
Er lehnte sich zurück, kurzfristig benommen vor Überraschung und Verwirrung. »Was geht hier vor?«, fragte er.
»Ich muss gestehen, ich habe nicht die geringste Ahnung«, sagte Pendergast.
»Vielleicht sollten Sie den Piloten fragen«, sagte Constance, ohne von ihrem Buch aufzusehen.
Coldmoon betrachtete die beiden mit leichtem Misstrauen. War das eine Art Witz? Aber nein, sein Bauchgefühl, dem er stets vertraute, sagte ihm, dass sie genauso im Dunkeln tappten wie er.
»Gute Idee«, sagte Coldmoon, löste seinen Gurt, stand auf und machte sich auf den Weg von der Passagierkabine zum Cockpit. Die beiden Piloten mit ihren Headsets, Kaki-Uniformen und zu gleicher vorgeschriebener Länge geschnittenen Haaren hätten Zwillinge sein können.
»Was gibt’s?«, fragte der Chefpilot auf dem rechten Sitz, den Steuerknüppel zwischen den Knien.
»Wir sollten Miami anfliegen.«
»Jetzt nicht mehr«, sagte der Chefpilot.
»Was soll das heißen, nicht mehr?«
»Direkt nach dem Start haben wir von der Zentrale neue Anweisungen bekommen. Wir sind auf dem Weg nach Savannah.«
»Savannah?«, wiederholte Coldmoon. »Sie meinen in Georgia? Da muss ein Irrtum vorliegen.«
»Kein Irrtum«, sagte der Pilot. »Die Anweisung kam von Assistant Director Pickett persönlich.«
Pickett. Dieser Mistkerl. Coldmoon stand im Eingang zum Cockpit und dachte an das letzte Gespräch zurück, das sie mit dem Assistant Director vor dem Start geführt hatten. Ich habe gerade von einem äußerst seltsamen Vorfall erfahren, der sich gestern Nacht in einem Ort nördlich von Savannah … Pickett musste bis nach dem Start gewartet haben, ehe er den Befehl gab, den Flug umzuleiten.
Von allen hinterhältigen, undankbaren … Nun, Coldmoon hatte sich gerade erst breitschlagen lassen, einen zweiten Fall mit Pendergast und seinen unorthodoxen Methoden zu übernehmen – das würde mit tödlicher Sicherheit nicht noch einmal passieren.
»Kehren Sie um«, befahl er.
»Tut mir leid, Sir«, erwiderte der Pilot. »Das darf ich nicht.«
»Haben Sie was an den Ohren? Ich sagte, kehren Sie um. Wir fliegen nach Miami.«
»Mit allem Respekt, Sir, wir haben unsere Befehle«, sagte der andere Pilot. »Und es sind zufällig dieselben wie Ihre. Wir sind auf dem Weg nach Savannah.« Er nahm die Hand vom Ruder und zog den Reißverschluss seiner leichten Windjacke gerade weit genug nach unten, um den Blick auf den Kolben einer Handfeuerwaffe freizugeben, die in einem Schulterhalfter aus Nylon steckte.
»Agent Coldmoon?« Pendergast sprach aus scheinbar weiter Ferne zu ihm. »Agent Coldmoon?«
Coldmoon drehte sich um, schwankte leicht mit der Bewegung des Hubschraubers.
»Was?«
»Es ist offensichtlich, dass wir gegen den unerwarteten Lauf der Ereignisse nichts ausrichten können.«
»Haben Sie nicht gehört?« Coldmoon tobte. »Wir fliegen nach Savannah. Verfluchtes Savannah, während ich eigentlich unterwegs nach –«
»Selbstverständlich habe ich das gehört«, sagte Pendergast. »Es muss etwas äußerst Ungewöhnliches vorgefallen sein, wenn Pickett uns so entführt.«
»Klar. Er wird befördert und ist zu einem noch größeren Arschloch mutiert. Was zum Teufel machen wir denn jetzt?«
»Unter diesen Umständen würde ich vorschlagen, gar nichts – außer sich zu setzen und die Aussicht zu genießen.«
Doch Coldmoon konnte sich nicht beruhigen. »Das ist doch Mist. Ich hätte nicht übel Lust –«
»Agent Coldmoon?«
Diesmal war es Constance. Sie hatte seinen Namen mit ihrer tiefen, ungewöhnlich akzentuierten Stimme ohne besondere Betonung ausgesprochen.
Coldmoon klappte den Mund zu. Diese Frau war fähig, alles zu sagen oder zu tun.
Tatsächlich tat sie nichts, außer ihn sanft zu mustern. »Sie finden es womöglich beruhigend, wie paradox diese Situation ist.«
»Was wollen Sie damit sagen?«, fragte Coldmoon aggressiv.
»Ich meine, wie oft geschieht es, dass ein FBI-Agent von seinen eigenen Leuten entführt wird? Fragen Sie sich nicht fasziniert nach dem Grund?« Und damit wandte sie sich wieder ihrer Lektüre zu.
Rund fünfundvierzig Minuten später landeten sie in einem abgelegenen Bereich des Hunter Army Airfield. Coldmoon blieb gerade genug Zeit, verärgert seinen Rucksack aus der Kabine zu zerren, als er auch schon den Klang eines zweiten Hubschraubers hörte, der sich rasch näherte. Einen Augenblick später erschien er am Himmel. Es war ein Bell 429, nach den Kennzeichen auf dem Heck eine Regierungsmaschine, und schien tatsächlich identisch mit dem, in dem ihr Vorgesetzter Pickett früher am Tag auf ihrer Privatinsel aufgetaucht war. Coldmoon verzog das Gesicht. Warum sollte ihn das überraschen?
Beinahe zum gleichen Zeitpunkt, als hätte es jemand choreografiert, fuhr ein Escalade vor, dessen Scheiben fast so schwarz getönt waren wie seine Lackierung, kam zum Stillstand und wartete mit laufendem Motor.
Coldmoon schaute zu Pendergast, der soeben sein und Constances Gepäck aus dem Helikopter holte. Zuvor hatte Pendergast deutlich gemacht, wie sehr ihm an seiner Rückkehr nach New York lag – um es zurückhaltend auszudrücken. Dennoch schien er diese Entwicklung gleichmütig hinzunehmen. Mehr als das – er protestierte kein bisschen.
Coldmoon wandte sich an ihn. »Sie wussten davon, oder?«
»Ich versichere Ihnen, das tat ich nicht«, erwiderte Pendergast über den Luftwirbel hinweg.
»Warum zum Teufel benehmen Sie sich dann, als würden wir für ein Picknick halten? Ich dachte, Sie wollen nach Hause.«
»Es verlangt mich sehr, nach New York zurückzukehren.« Die Taschen in Händen, ging er auf den wartenden SUV zu.
Coldmoon folgte ihm. »Warum dann –?«
»Mein lieber Armstrong.« Coldmoon verabscheute es, wenn Pendergast einen seiner kleinen Vorträge auf diese Weise einleitete. »Ich kann nicht erkennen, was diese Zurschaustellung von Verärgerung bezwecken soll. Pickett kennt unsere Wünsche. Er muss einen guten Grund haben, sie zu ignorieren. Vielleicht hat es etwas mit diesem Senator aus Georgia zu tun, der beim FBI über viel Einfluss verfügt. Ja … Ich vermute, wir wurden umgeleitet, weil ein Fall hier möglicherweise das Potenzial für schlechte Publicity hat.«
Coldmoon schaute ihn an. »Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, Sie klingen fasziniert.«
»Ich bin fasziniert.« Pendergast schaute sich auf dem Flugplatz um, seine silberblauen Augen glitzerten im Freien. »Savannah ist reizend. Sind Sie jemals dort gewesen?«
»Nein, und ich will auch nicht dorthin.«
»Eine charmante Stadt voll schöner alter Villen, grausamer Geschichte und zahlreichen Geistern. Ein wahres Juwel des Südens. Sie erinnert mich sehr an unsere alte Familienplantage Penumbra – wie sie einst war.«
Während Pendergast noch sprach, wandte Coldmoon sich ab und stieß dabei einen langen und anatomisch präzisen Lakota-Fluch aus. Er wusste ehrlich nicht, wer schlimmer war – Pickett oder Pendergast. Es passte, dass der Typ einst eine Plantage besessen hatte.
Die Schiebetür des Bell glitt auf, und die schlanke Gestalt von Pickett marschierte auf sie zu. »Der kleine Umweg tut mir sehr leid«, sagte er, ehe Coldmoon etwas einwenden konnte. Er winkte in Richtung des SUV. »Wenn Sie bitte alle einsteigen würden, ich erkläre es auf der Fahrt.«
»Fahrt wohin?«, fragte Coldmoon. Aber Pickett sprach bereits mit dem Fahrer. Von hinten ertönte ein wildes Aufheulen, dann noch eins. Coldmoon drehte sich um und sah ihren Helikopter und den Picketts nacheinander abheben, während der Luftstrom über sie hinwegfegte.
Die Chopper stiegen mit nach vorn geneigter Nase wie ungelenke Bussarde. Er war beinahe versucht, hinzurennen und sich an die Kufen zu klammern, ehe sie außer Reichweite waren. In stillem Zorn warf er seinen Rucksack in das Heck des SUV, stieg ein und setzte sich auf den hintersten Sitz. Constance glitt neben ihn. Pendergast setzte sich gemeinsam mit Pickett in die Mittelreihe. Der Fahrer legte den Gang ein und trat heftig aufs Gas. Militärhangars und Lagerhäuser huschten vorüber, und dann waren sie Richtung Norden auf der I-516 unterwegs.
Pickett schloss sämtliche Fenster, bat den Fahrer, die Klimaanlage einzuschalten, und räusperte sich dann.
»Ich möchte Ihnen versichern, dass es sich um eine unvorhergesehene Entwicklung handelt«, sagte er. »Ich wusste vorher nichts davon, und ich schwöre, dass mein Besuch kein Versuch war, Sie zu überfallen. Tatsache ist, dass hier ein Problem aufgetaucht ist, das unverzügliche Aufmerksamkeit erfordert. Es handelt sich um gemeinsame Ermittlungen des FBI und der hiesigen Behörden.«
»Sicher haben Sie hier in Georgia bereits reichlich Kräfte«, sagte Pendergast, »die fähig sind, dem Problem die gewünschte Aufmerksamkeit zu widmen.«
Pickett zuckte zusammen. »Ich möchte es so formulieren: Dieser Fall verlangt nach Ihren besonderen Fähigkeiten. Die Lage gerät zunehmend außer Kontrolle, und wir müssen das in den Griff bekommen und Fortschritte nachweisen.«
»Ich verstehe. Wie geht es denn Senator Drayton dieser Tage?«, fragte Pendergast.
»Ich werde so tun, als hätte ich das nicht gehört«, sagte Pickett.
»Aber er ist doch ein Bekannter von Ihnen, nicht wahr?«
»Sie machen sich keinen Begriff«, erwiderte Pickett freudlos lächelnd. Eine kurze, aber unangenehme Pause entstand. »Ich bitte Sie nur, sich das einmal anzusehen, mehr nicht.«
»Gewiss«, sagte Pendergast. »Obgleich ich mich zu erinnern glaube, dass Sie diese präzise Wortwahl vor einigen Wochen genutzt haben, als Sie mich baten, nach Sanibel zu fliegen.«
Coldmoon ergriff die Gelegenheit, sich einzuschalten. »Und was hat das mit mir zu tun? Ich muss mich in Denver zum Dienst melden.«
»Das ist mir bewusst. Da kann man leider nichts machen.«
»Aber, Sir, meine Ankunft wurde bereits einmal verschoben. Falls Sie sagen, Sie brauchen Pendergasts Stärken, fein, aber ich muss wirklich –«
»Agent Coldmoon?«, sagte Pickett. Seine Stimme klang unnatürlich ruhig, aber der Unterton ließ Coldmoon verstummen. »Wir sind das FBI, nicht irgendein Country Club, in dem Sie Ihre Golfrunde nach Belieben anmelden können.«
Im folgenden Schweigen bog der SUV auf die I-16 in Richtung Savannah ab. Pickett klappte seine Aktentasche auf und entnahm einen dünnen Ordner.
»Vor drei Tagen«, sagte er, »wurde die Leiche eines hiesigen Hotelmanagers ans Ufer des Wilmington gespült. Sein Körper war vollständig blutleer.«
»Wie vollständig?«, fragte Constance.
Pickett blickte sie überrascht an. »Ein Leichenbestatter hätte es nicht besser machen können. Anfangs glaubten die örtlichen Behörden an das Werk eines Wahnsinnigen oder einer Sekte – oder vielleicht auch an Vergeltung einer Gang. Aber heute Morgen wurde eine weitere Leiche im Hof eines Hauses in der Abercorn Street entdeckt. Auch diese enthielt keinen einzigen Tropfen Blut mehr.« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Der Grund für die Eile ist, dass man den neuen Schauplatz abgeriegelt hat, damit wir ihn untersuchen können.«
Coldmoon schaute zu Pendergast. Wie immer verriet die Miene des Mannes nichts – abgesehen vielleicht von einem unnatürlichen Glitzern in den Augen. Mittlerweile hatte der SUV den Freeway verlassen, und sie fuhren durch eine schmale Straße namens Gaston Street. Unheimliche Backsteinhäuser säumten beide Seiten, und die Straße war so holprig, als wäre sie mit Kopfstein gepflastert – vielleicht war es Kopfsteinpflaster. Sie kamen an einem Park zu ihrer Rechten vorbei, dessen dicht stehende, wuchtige alte Bäume so von Spanischem Moos überwuchert waren, dass sie zu tropfen schienen. Eine Szenerie wie aus einem Horrorfilm. Coldmoon hatte Florida herzlich satt, die Hitze, die Feuchtigkeit, die Menschenmengen, diesen ganzen Süden. Aber das hier – diese gruselige Stadt mit ihren knorrigen Bäumen und schiefen Häusern –, sie war sogar noch schlimmer.
Warum protestierte Pendergast nicht? Immerhin war er der höhergestellte Beamte. Ein Sprichwort, das sein Großvater sehr gemocht hatte, kam ihm in den Sinn: Nimm dich in Acht vor dem Hund, der nicht bellt, und dem Mann, der nicht spricht.
»Unci Maka, Großmutter Erde, gib mir Kraft«, murmelte er vor sich hin, während der Escalade tiefer und tiefer in das Herz dieser, wie ihm schien, bösen und fremdartigen Stadt vordrang.
Der Escalade passierte eine Polizeiabsperrung auf der Abercorn Street und hielt vor einem herrschaftlichen Gebäude aus rötlichem Stein mit Säulenportal. Coldmoon stieg aus in einen Schwall feuchter Luft und sah sich um. Das Haus lag an einem weiteren Platz mit moosbewachsenen Eichen, auf dem die Statue eines längst vergessenen Mannes mit Dreispitz und gezogenem Schwert auf einem Marmorsockel stand. Coldmoon fühlte sich in seinen alten Jeans und dem Hemd unbehaglich; alle Übrigen trugen Uniform oder dunkle Anzüge. Pickett hätte ihn wenigstens vorwarnen können, dass er einen neuen Fall hatte – falls das tatsächlich so war. Der Gedanke versetzte ihn in noch schlechtere Laune.
Ein Cop – nicht in Uniform, aber trotzdem unverwechselbar – stand an der Pforte zum Vorgarten des Anwesens, das von einer Steinmauer umgeben war. Daneben eine Frau in Uniform mit Abzeichen, die Coldmoon für die Polizeichefin hielt.
»Das ist Benny Sheldrake, Detective der Mordkommission der Polizei von Savannah«, sagte Pickett, als sie die Pforte erreichten, »und Commander Alanna Delaplane vom Bezirk Southwest –«
»Der Tatort wartet«, unterbrach Pendergast glatt. »Vielleicht könnten wir die Vorstellung auf später verschieben. Wenn Sie jetzt so freundlich wären, uns den Weg zu zeigen?«
Coldmoon spürte ein leichtes Kribbeln bei Pendergasts Verweis. Je rascher er sich unbeliebt machte, desto schneller konnten sie verschwinden – hoffte er.
»Selbstverständlich«, sagte Commander Delaplane. »Wenn Sie mir bitte folgen würden? Die Leiche wurde im Hinterhof gefunden, direkt neben dem Sklavenquartier.«
»Sklavenquartier?«, fragte Pendergast.
»Korrekt. Zum Owens-Thomas-Haus – eines von Savannahs historischen Herrenhäusern, falls Ihnen das nicht bewusst war – gehört ein bemerkenswert gut erhaltenes Sklavenquartier. Die Leiche wurde im alten Arbeitsbereich gefunden. Wir müssen durch das Haus und den Garten gehen, um dorthin zu gelangen.«
»Wer hat die Leiche entdeckt?«, fragte Pendergast.
»Der Museumsdirektor, als er frühmorgens zur Arbeit kam. Er ist im Haus.«
»Ich würde gern mit ihm sprechen, wenn wir hier fertig sind.«
»Wie Sie wünschen.«
Sie marschierten durch eine spektakuläre Marmor-Empfangshalle und liefen durch einen Hauptkorridor, von dem zu beiden Seiten luxuriös möblierte Räume abgingen, ehe sie an einem Säulenvorbau an der Rückseite des Herrenhauses herauskamen. Dahinter lag ein streng symmetrischer Garten mit einem Springbrunnen. Delaplane führte sie eine Treppe hinunter und durch den Garten – Coldmoon hatte Mühe, Schritt zu halten –, dann durch eine Pforte in einen mit Ziegeln gepflasterten Hof. Vor ihnen stand ein einfaches zweistöckiges Backsteingebäude mit kleinen Fenstern, eindeutig das Sklavenquartier.
Im Hof lag die Leiche eines jungen Mannes auf dem Rücken, die Arme weit ausgebreitet, beinahe als wäre er vom Himmel gefallen.
»Die Spurensicherung ist hier fertig«, sagte Delaplane. »Der Schauplatz gehört Ihnen.«
»Verbindlichsten Dank«, sagte Pendergast in höflicherem Ton. Er näherte sich der Leiche, die Hände hinter dem Rücken verschränkt.
Coldmoon fragte sich, ob er ihm folgen sollte, entschied sich aber dagegen – sollte Pendergast sein Ding machen. »Wo ist Pickett hin?«, fragte er, während er sich umsah. »Und Constance?«
Pendergast war zu vertieft, um zu antworten. Er umkreiste die Leiche und musterte sie so intensiv, als würde er einen seltenen Perserteppich untersuchen. Das Opfer schien um die dreißig zu sein. Coldmoon hatte noch nie ein so bleiches Gesicht gesehen oder so weiße Hände. Verstärkt wurde der Kontrast durch die schwarzen Locken und leuchtend blauen Augen des Toten, die nach oben starrten. Im Vergleich zu der Leiche schien Pendergast beinahe rotgesichtig. Das Gesicht war vor Grauen verzerrt. Das rechte Hosenbein war aufgeschlitzt wie von einem Messer oder Gartengerät, aber es war kein Blut in oder um die Wunde zu sehen. Nicht ein Tropfen.
Pendergast blickte zu Commander Delaplane. »Was können Sie mir bis jetzt sagen?«, fragte er.
»Alles vorläufig«, sagte sie, »doch es scheint, als wäre das Blut aus der Oberschenkelarterie entnommen worden, dort, wo das Hosenbein zerrissen ist.«
»Entnommen – wie?«
»Die Vorgehensweise scheint dieselbe zu sein wie beim ersten Opfer: eine großvolumige Nadel, vielleicht auch ein Trokar, wurde an der Innenseite des Oberschenkels eingeführt, um Zugang zur Oberschenkelarterie zu erhalten.«
»Wie merkwürdig.« Pendergast streifte rasch ein Paar Nitril-Handschuhe von einem Spender auf einem Tisch neben der Leiche über, kniete sich hin und öffnete vorsichtig die zerrissene Hose, sodass man eine saubere Öffnung an der Innenseite des Oberschenkels sehen konnte. Am Rand klebten ein einzelner Blutstropfen sowie eine klebrige gelbe Substanz. Bernsteinfarbene Spuren derselben Substanz befanden sich auf dem rechten Schuh des Manns. Für Coldmoon sah es wie getrockneter Rotz aus.
Reagenzglas und Tupfer erschienen in Pendergasts Hand, und er nahm eine Probe, dann in rascher Folge noch eine und noch eine, und verkorkte sie schnell in kleine Glasfläschchen, die er in seinem schwarzen Anzug verschwinden ließ.
»Zeitpunkt des Todes?«, fragte er.
»Gegen drei Uhr früh, plus/minus zwei Stunden, basierend auf der Körpertemperatur«, sagte Delaplane. »Die Entnahme des Bluts erschwert die Schätzung.«
»Und diese schleimähnliche Substanz an der Wunde und auf dem Schuh?«
»Wir haben Proben genommen. Bis jetzt ohne Ergebnis.«
Nun redete Sheldrake. »Die Spurensicherung des FBI hat ebenfalls umfangreiche Proben genommen und an das Labor in Atlanta geschickt.«
»Ausgezeichnet«, sagte Pendergast.
Es wurde still, als er sich hinkniete und verschiedene Körperteile untersuchte – Augen, Ohren, Zunge, Hals, Haare, Schuhe – und dazu gelegentlich eine kleine Lupe benutzte. Er bewegte sich zum Kopf und untersuchte den Nacken.
»Das erste Opfer hatte Blutergüsse im Oberschenkel-, Torso- und Bauchbereich«, sagte Delaplane, »die auch hier vorhanden sind.«
»Ein ziemlich kurzer Kampf, wie es aussieht«, sagte Pendergast und erhob sich. »Wurden Ein- und Ausgänge überwacht?«
»Das ist das wirklich Merkwürdige«, sagte Delaplane. »Wir haben nichts. Das Anwesen ist sehr gut gesichert. An allen Zugängen, von denen es nur drei gibt, befinden sich Überwachungskameras. Auf den Bändern ist nichts, und es gibt auch keine Lücken. Absolut nichts, außer dass zwei der Kameras gegen drei Uhr morgens ungewöhnliche Geräusche aufgezeichnet haben.«
»Was für Geräusche?«
»Schwer zu bestimmen. Wie ein grunzender oder schnüffelnder Hund, dann ein lautes klatschendes Geräusch. Ich besorge Ihnen eine Kopie der Aufnahme.«
»Danke, Commander.« Pendergast wandte sich an Coldmoon. »Schauen Sie sich das mal an.«
Coldmoon wagte sich zur Leiche. Pendergast drehte vorsichtig den Kopf – steif wegen der Leichenstarre – auf die Seite.
Coldmoon streifte ein Paar Handschuhe über und kniete sich ebenfalls hin.
»Tasten Sie den Hinterkopf ab.«
Er folgte Pendergasts Anweisung und spürte eine Beule. Pendergast teilte die Haare, und man sah eine Art Abschürfung.
»Sieht aus, als hätte er kurz vor seinem Tod einen Schlag auf den Kopf bekommen«, sagte Coldmoon.
»Exakt. Das und die übrigen Merkwürdigkeiten müssen bei der Obduktion geklärt werden.«
Coldmoon fragte nicht, welche Merkwürdigkeiten genau Pendergast meinte.
»Wurde das Opfer identifiziert?«, fragte Pendergast.
»Ja. Er hatte seine Brieftasche dabei. Er war einer der Leiter dieser Fahrradtouren, die man hier überall sieht.«
»Und wo ist sein Fahrrad?«
»Wurde an der Ecke Abercorn und East Macon gefunden.«
»Ist das nicht ziemlich weit entfernt von hier?«
»Nur ungefähr ein Dutzend Blocks.«
»Wo hat er gewohnt?«
»In der Liberty, nicht weit vom Fundort des Fahrrads. Vermutlich war er auf dem Heimweg, als er überfallen wurde.«
Pendergast erhob sich, streifte die Handschuhe ab und ließ sie in den nahe gelegenen Abfallbehälter fallen. Coldmoon tat dasselbe.
»Sollen wir uns ins Haus zurückziehen?«, fragte Pendergast.
Delaplane erwiderte nur »Sicher«, drehte sich um und ging voran.
Commander Delaplane führte sie zurück ins kühle Innere des Herrenhauses. Pendergast marschierte schnurstracks in das elegante Wohnzimmer und nahm so selbstverständlich in einem vergoldeten Polstersessel Platz, als befände er sich in seinem eigenen Haus. »Mein Partner und ich sind seit Tagesanbruch unterwegs. Wäre es möglich, einen Tee zu bekommen?« Er schlug ein Bein über das andere und sah sich suchend um.
»Nun, ich weiß nicht«, sagte Delaplane. »Das ist ein Museum.«
Aber ein dünner, ernster Mann, der sich im Hintergrund gehalten hatte, trat vor. »Ich denke, das lässt sich einrichten.«
»Ausgezeichnet!«
»Ich bin Armand Cobb, Direktor des Owens-Thomas-Hauses«, sagte der Mann. »Also dieses Hauses, falls Sie das nicht bereits wussten.«
Pendergast nickte träge. »Vergeben Sie mir, wenn ich sitzen bleibe. Ich bin furchtbar erschöpft von dem Fall, den wir soeben in Florida abgeschlossen haben.«
Der Museumsdirektor trat zurück, und Pendergast richtete seinen Blick auf den Commander. »Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Commander Delaplane. Danke für Ihre Kooperation.«
»Gern«, sagte Delaplane. »Und das hier ist Detective Sergeant Benny Sheldrake von der Mordkommission, der die Ermittlungen leitet.«
Der Detective trat vor, und Pendergast gab ihm die Hand. »Sehr erfreut.«
Ein weiterer Mann, ein Neuankömmling, tauchte aus den Schatten auf. »Gordon Carracci, Verbindungsmann zum FBI«, stellte er sich vor. »Ich habe gerade die Spurenproben nach Atlanta geschickt.«
»Sehr erfreut, Sie kennenzulernen«, sagte Pendergast.
Coldmoon staunte über die Entwicklung. Pendergast saß wie ein Pascha auf seinem Thron und nahm die Ehrerbietung der Leute entgegen, die einer nach dem anderen vortraten.
»Nun, Mr Cobb«, sagte Pendergast. »Entschuldigen Sie – oder ist es Doktor?«
»Doktor«, erwiderte der Mann steif.
»Dr. Cobb, meines Wissens haben Sie die Leiche entdeckt?«
»Ja.«
»Ihr Weg zu Ihrem Büro führt nicht an der Leiche vorbei, ist das richtig?«, fragte Pendergast. »Wie kam es, dass Sie darüber gestolpert sind?«
»Hin und wieder komme ich gern ein wenig früher, um Arbeit zu erledigen, ehe das Museum öffnet. Dann mache ich immer einen raschen Rundgang.«
»Warum?«
»Eine Angewohnheit. Das Anwesen ist schön. Es erfrischt mich. Abgesehen davon, ist es ein Museum … nun, es ist immer gut, alles zu kontrollieren.«
»Sehr wahr. Sie haben also die Leiche entdeckt. Was dann?«
»Ich habe unverzüglich geprüft, ob er noch am Leben war. Er fühlte sich kalt an. Ich habe mich zurückgezogen, um nichts durcheinanderzubringen, und die Polizei gerufen und dann in meinem Büro auf sie gewartet.«
»Ich verstehe.« Pendergast wandte sich an Delaplane. »Eine allgemeine Frage, wenn Sie gestatten, Commander: Gab es in letzter Zeit Meldungen über getötete oder verstümmelte Tiere, ungewöhnliche Zeichen oder Symbole in den Straßen oder etwas anderes, das auf eine aktive Sekte hinweisen könnte – oder die Gegenwart von Satanisten?«
»Gott, ja«, sagte Delaplane. »Savannah zieht solche Leute an wie ein Magnet. Selbstverständlich gehen wir dem nach, falls wir Grund haben anzunehmen, dass eine Straftat begangen wurde. Aber wir müssen vorsichtig sein. Unter Umständen fallen diese Aktivitäten unter die Religionsfreiheit.« Sie hielt einen Moment inne. »Sie glauben, es könnte so etwas sein?«
»Ich hüte mich davor, zu Beginn der Ermittlungen zu denken, Commander.«
»Was machen Sie stattdessen?«, fragte Delaplane trocken.
»Ich werde zu einem Sammelbehälter für Informationen.«
Delaplane warf ihm mit hochgezogenen Augenbrauen einen spitzen Blick zu.
Coldmoon zuckte mit den Achseln. Das war einfach Pendergast.
Pendergast starrte einen langen Moment zu Boden, dann wandte er sich abrupt an Cobb. »Wären Sie so freundlich, uns etwas über die Geschichte des Anwesens zu erzählen?«
»Mit Vergnügen. Aber ich bin nicht sicher, wie relevant sie ist.«
»Im Moment ist gar nichts irrelevant.«
Cobb begann mit einem offensichtlich oft gehaltenen Vortrag. »Das Owens-Thomas-Haus wurde 1819 im Stil des Regency von dem englischen Architekten William Jay für Richard Richardson und dessen Frau Frances erbaut. Richardson hatte sein Vermögen im Sklavenhandel gemacht. Er fand eine profitable Nische, indem er versklavte Kinder, die man gewaltsam von ihren Eltern getrennt hatte oder die verwaist waren, von Savannah nach New York verschiffte, wo sie verkauft wurden.«
Coldmoon spürte einen Anflug von Ekel angesichts des nüchternen Vortrags.
»Dieses Anwesen«, fuhr Cobb fort, »wurde mit Sklavenarbeit errichtet. Als es fertig war, zogen Richardson, seine Frau und Familie – gemeinsam mit ihren neun Sklaven – in das Anwesen ein. Die Sklaven wurden in dem alten Ziegelgebäude am hinteren Ende untergebracht. Im Lauf des nächsten Jahrzehnts starben Richardsons Frau und zwei Kinder. Er geriet in wirtschaftliche Schwierigkeiten und war gezwungen zu verkaufen, zog nach New Orleans und verstarb 1833 auf See. Das Haus wurde schließlich vom Bürgermeister von New Orleans, George Owens, erworben, der mit seinen fünfzehn Sklaven hier einzog.«
»Fünfzehn?«, wiederholte Coldmoon angewidert. Der Gedanke, dass ein Mann auch nur ein menschliches Wesen besaß, war schwer genug vorstellbar.
Cobb nickte. »Owens gehörten zudem rund vierhundert weitere Sklaven auf verschiedenen Plantagen in dem Gebiet.«
»Zuzeca«, murmelte Coldmoon.
»Nach dem Bürgerkrieg schrumpfte das Vermögen der Familie, aber es gelang ihr, das Anwesen bis 1951 zu halten, als der letzte Abkömmling ohne Erben starb. Das Anwesen ging dann an die Telfair Academy of Arts and Science, die es in das Museum verwandelte, das Sie jetzt sehen. Tatsächlich ist es eine von Savannahs beliebtesten Touristenattraktionen.«
Mittlerweile wurde der Tee serviert und dazu fade aussehende Kekse. Pendergast nahm sich eine Tasse. »Erzählen Sie mir mehr über das Sklavenquartier.«
»Gern. Die beiden Stockwerke verfügen über sechs Zimmer, in denen die versklavten Menschen lebten. Die Räume waren damals genauso kahl wie heute, und viele der Bewohner mussten auf dem Boden schlafen, ohne Matratze, nur mit dünnen Decken. Nach Abschaffung der Sklaverei wurden die meisten von ihnen Bedienstete, lebten weiter an der Rückseite des großen Hauses, taten dieselben Arbeiten wie vorher. Als die Owens verarmten, ließen sie die Bediensteten nach und nach gehen. Das Quartier blieb jedoch unverändert, bis das Anwesen in ein Museum verwandelt wurde.«
»Sehr anschaulich, danke«, sagte Pendergast. »Man könnte also sagen, Dr. Cobb – wenn wir all diese Schönheit und den zur Schau gestellten Wohlstand betrachten, die Gelehrsamkeit und Eleganz, das feine Kristall und Silber, die Teppiche und Gemälde –, dass all dies, das Anwesen und seine Ausstattung, die physische Manifestation des reinen Bösen sind?«
Dies wurde mit fassungslosem Schweigen quittiert, bis Cobb schließlich sagte: »Ich vermute, so könnte man es ausdrücken.«
»Die Aussage enthält keine Vermutung«, erwiderte Pendergast.
Stille trat ein. Pendergast schloss halb die Augen und hob die Hände. »Seltsam, nicht«, sagte er träge, »dass so ein Verbrechen ausgerechnet hier geschehen ist?« Und er trank seinen Tee aus und schenkte sich eine weitere Tasse ein.
Das Chandler House war ein historisches Hotel am Chatham Square, ein lang gestrecktes Gebäude mit Backsteinverkleidung und einer verschnörkelten schmiedeeisernen Veranda, die sich, gestützt von dekorativen Pfeilern, über die Länge des zweiten und dritten Stockwerks erstreckte. Für Coldmoon sah es eher wie ein überdimensionierter Puff aus.
»Welch ein Glück, dass es Constance gelungen ist, uns eine so weitläufige Zimmerflucht zu reservieren«, sagte Pendergast.
Nach dem Gespräch an diesem Morgen war Pendergast für mehrere Stunden verschwunden, ehe er im Hotel auftauchte. Coldmoon wusste es besser, als ihn zu fragen, wo er gewesen war. Nun saßen sie in Polstersesseln im üppig dekorierten Salon des Hotels und tranken Mint Juleps. Der kanariengelbe Raum war überfüllt mit historischen Erinnerungsstücken in Form von silbernen Pokalen und riesigen Suppenterrinen, Fotografien, verblichenen Flaggen, Marmorbüsten, Uhren, gerahmten Dokumenten und anderen obskuren Objekten, die hinter Glas, auf Kaminsimsen oder versteckt in schattigen Nischen ausgestellt waren.
»Ja, was für ein Glück«, sagte Coldmoon ohne Begeisterung. Sicher, es war eine »weitläufige Zimmerflucht«, aber seine eigenen Räume waren von Pendergasts und Constances getrennt. Er fragte sich nicht zum ersten Mal, was genau zwischen den beiden lief. Pendergast nannte sie sein »Mündel«, aber Coldmoon fragte sich häufig, ob das nicht einfach eine Gefälligkeitsbezeichnung war.
Der Julep war ihm in die Hand gedrückt worden, ehe er Gelegenheit hatte, etwas zu bestellen, und je mehr er davon trank, desto weniger mochte er ihn. Er fragte sich, ob er ihn gegen ein kaltes Bier tauschen konnte, hatte aber nicht den Nerv, danach zu fragen.
»Ist Ihnen der Julep herb genug?«, fragte Pendergast.
»Er ist herb«, bestätigte Coldmoon.
Pendergast schaute sich zufrieden um. »Das hier ist eins der bemerkenswertesten Gebäude im historischen Viertel von Savannah«, sagte er. »Keine Kleinigkeit, wenn man bedenkt, dass fast die Hälfte der Gebäude in der Stadt architektonisch oder historisch bedeutsam sind.« Seine Stimme hatte einen leicht didaktischen Ton angenommen, und in diesem antiken Salon, im Herzen dessen, was einst der Alte Süden gewesen war, schien er mehr in seinem Element, als Coldmoon ihn jemals zuvor erlebt hatte. Die Bezeichnung quietschfidel kam ihm in den Sinn, aber er sagte nichts.
Pendergast fuhr fort: »Savannah verdoppelte seine Größe während des Eisenbahnbooms im neunzehnten Jahrhundert, wissen Sie, und Gebäude mit einer Vielzahl von Funktionen schossen aus dem Boden. Dieses Hotel zum Beispiel war ursprünglich ein Krankenhaus für die Opfer des Gelbfiebers und danach eine Munitionsfabrik der Konföderierten, ehe es zu einer Herberge wurde. Wie so viele andere Bauten verfiel es in den 1950er-Jahren und schloss in den Sechzigern. Glücklicherweise erschien ein Schutzengel, der den alten Charme behutsam wiederherstellte.«
Coldmoon probierte noch einen Schluck und stellte das Glas dann beiseite. Zum alten Charme hatte er keine Meinung – wie charmant konnte ein Gelbfieberkrankenhaus sein? –, aber alt, ja, das war es. Sicher, die Renovierung war sorgfältig ausgeführt worden – alles war sauber, kein Staub auf den Möbeln –, doch die Holzdielen waren breit und uneben und knarrten bei jedem Schritt, bis es einem vorkam, als ob das ganze Gebäude nörgelte. Überall Stufen, und die Flure waren krumm. Und dann noch sein Schlafzimmer – riesig, mit Himmelbett und Spitzendeckchen über den Sessellehnen und Kissen … aber weder Fernsehen noch Internet. So etwas wie die Badezimmerausstattung hatte er noch nie gesehen, eine gewaltige Porzellanwanne und ein Marmorklo mit Holzsitz. Ganz zu schweigen von den Reihen kleiner Seifen und Shampoos und Körperlotionen. Ein Gelbfieberkrankenhaus … Himmel, das war perfekt. Was würde er jetzt nicht für ein Hampton Inn und dessen moderne Annehmlichkeiten geben.
Er hatte keine Lust auf weitere Geschichtslektionen, deshalb wechselte er das Thema. »Wo ist Constance? Sie hat den Schauplatz zur selben Zeit wie Pickett verlassen … und seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen.«
Pendergasts Lippen verzogen sich zu einem kurzen Lächeln. »Das ist kein Zufall. Nach ihrer vorherigen Erfahrung mit Picketts Vorstellung von Übernachtungsmöglichkeiten hat sie ihn begleitet, um dafür zu sorgen, dass er uns in einem komfortablen Hotel unterbringt. Und das war eine gute Idee von ihr – er wollte uns Zimmer in irgendeinem furchtbaren Kettenhotel irgendwo am Stadtrand besorgen.«
Coldmoon seufzte. »Dann ist Pickett nur vom Tatort aufgebrochen, um uns Zimmer zu reservieren? Erst verschleppt er uns hierher in die Rebell Yell Central, und dann verschwindet er. Nette Art, den Schwarzen Peter weiterzureichen.«
Pendergast leerte sein Glas und stellte es auf den Untersetzer. »Ich fand es ziemlich aufmerksam von ihm.«
Coldmoon schaute auf. »Aufmerksam? Er entführt uns beide, hindert mich daran, mich an meiner neuen Stelle zu melden – eine Stelle, die ich schon vor Wochen hätte antreten sollen –, und dann setzt er uns in diesem gruseligen alten Hotel ab, um irgendeinen verdammten čheslí-Fall zu bearbeiten?«
»Ich spreche kein Lakota, doch Ihren Tonfall erkenne ich mühelos. Und im Verlauf der letzten Stunden habe ich Ihre Verärgerung beobachtet. Als Ihr Partner würde ich Ihnen deshalb gern einen Vorschlag machen, wenn Sie gestatten.«
Obwohl Coldmoon wütend war, fiel ihm auf, dass Pendergast nicht vorgesetzter Partner gesagt hatte. Was war das – warf er ihm einen Knochen hin? Falls ja, würde er ihn nicht nehmen. Der Agent auf dem Sessel gegenüber mit seiner bleichen Haut, den bleichen Haaren und den bleichen Augen wirkte aufreizend zufrieden, wenn nicht geradezu selbstgefällig. Doch Pendergast bot so selten seinen Rat an, dass Coldmoons Instinkt ihm riet, den Mund zu halten und zuzuhören.
»Ich weiß mehr als Sie über diesen Fall und die politischen Hintergründe, die uns hierhergeführt haben. Senator Drayton ist ein mächtiger Mann, und vielleicht hat Pickett seine Beförderung in die höchsten Ränge des FBI seiner Unterstützung zu verdanken. Aber Pickett gefällt dieser Fall nicht besser als Ihnen. Und er hat sicherlich nicht vor, dafür die Lorbeeren zu ernten, wie auch immer das Ergebnis aussehen mag.«
»Woher wissen Sie das?«, fragte Coldmoon misstrauisch.
»Gerade wegen der Weise, in der er uns mit Commander Delaplane allein gelassen hat. Als wir den Schauplatz untersuchten, als wir mit potenziellen Zeugen sprachen … war er auffällig abwesend. Glauben Sie wirklich, jemand seines Rangs würde sich damit aufhalten, uns eine Unterkunft zu besorgen, statt sich persönlich um einen hochkarätigen Fall zu kümmern – einen, der für einen US-Senator von Bedeutung ist?«
»Was wollen Sie damit sagen – dass er auf uns aufpasst?«
»Ich sage, dass er vollkommen versteht, wie wir uns fühlen, und uns signalisiert, dass er uns den Fall auf unsere Art bearbeiten lassen wird – was, wie ich finde, eine bemerkenswerte Abwechslung ist.« Pendergast rieb sich die Hände, als würde er sich schon auf die fehlende Aufsicht freuen. Dann beugte er sich vor und senkte die Stimme. »Und die gierige Außenstelle in Denver – möge ihr Stamm schrumpfen – wird Ihnen den leeren Schreibtisch nicht vorenthalten, wenn die Zeit für Sie gekommen ist, ihn zu beanspruchen.« Er lehnte sich im Sessel zurück und sprach mit normaler Stimme weiter. »Jedenfalls fühlt man die Geschichte hier tief und stark. Ich habe zum Beispiel eben einen kleinen Spaziergang durch einige der malerischen Gassen unternommen.«
»Sind Sie deshalb verschwunden? Um etwas Sightseeing zu machen?«
»Natürlich nicht. Ich habe unseren braven Dr. Cobb beschattet.«
»Den Museumskurator? Warum?«
»Nach unserem Gespräch hatte ich so eine Ahnung, dass er jemandem einen Besuch abstatten würde … in ziemlicher Eile. Und tatsächlich verließ er das Museum und lief schnurstracks zum Haus einer wohlhabenden alten Witwe namens Lida Mae Culpepper. Anscheinend war sie zu ihrer Zeit eine große Schönheit, die leider trotz aller chirurgischen Heldentaten verblasst ist, doch reich geschmückt mit Saphiren, Diamanten und Gold.«
Coldmoon hatte keine Ahnung, wohin das führen mochte.
»Es scheint, die Witwe Culpepper hat vor Kurzem in Immobilien investiert. In eine alte säkularisierte Kirche in der Bee Road.«
»Und das hat mit genau was zu tun?«
»Zufällige Betrachtungen über den Fundus an Geheimnissen in dieser Stadt, die nur darauf warten, enthüllt zu werden. Ich habe einen Bekannten, der sich selbst als Rätselforscher bezeichnet und sein Augenlicht dafür geben würde, hier zu arbeiten.« Er wies mit einer weit ausholenden Geste auf den Salon. »In diesem Hotel zum Beispiel.«
»Was ist damit?«
Pendergast wirkte beinahe verletzt. »Finden Sie dieses Etablissement nicht faszinierend? Insbesondere, wenn man bedenkt, dass das erste Opfer hier angestellt war?«
Jetzt richtete sich auch Coldmoon auf. »Sie meinen –«
»Mein lieber Coldmoon, glauben Sie, Constance hätte dieses Hotel zufällig ausgewählt? Der Leichnam, der ans Ufer des Wilmington gespült wurde, war vor seinem Tod der Manager des Chandler. Hier wartet Arbeit auf uns.«
Wie aufs Stichwort betrat Constance den Salon. Sie blickte sich mit ihren seltsamen Augen um und nahm dann auf einem leeren Sessel neben Pendergast Platz.
»Ich gehe davon aus, dass die Zimmer zu deiner Zufriedenheit sind«, sagte sie zu ihm.
»In jeder Hinsicht perfekt. Darf ich fragen, was du beim Einchecken in Erfahrung gebracht hast?«
»Die üblichen Gerüchte und Klatsch. An dem Abend, an dem der Manager verschwand, ging er hinaus, um zu rauchen, und kurze Zeit später hörte man aus dem Park einen Schrei. Er kehrte nie zurück.«
Pendergast nickte. »Ein ausgezeichneter Anfang, Constance.«
»Soweit ich weiß, hat der stellvertretende Manager, ein Mr Thurston Drinkman, seinen Posten übernommen.«
»Ein reizender Südstaatenname. Wir werden mit ihm reden müssen. Und mit der Besitzerin.« Er wandte sich an Coldmoon. »Die Frau, die das Hotel restauriert hat, als es vor dem Abriss stand.«
Constance nickte. »Ihr Name lautet Miss Felicity Winthrop Frost. Sie ist eine Einsiedlerin in fortgeschrittenem Alter, die die gesamte oberste Etage des Hotels bewohnt und ihre Zimmer nie verlässt. Sie nimmt weder Anrufe entgegen, noch empfängt sie Besuch und hält nichts von E-Mails. Sie soll sehr reich sein und trotz ihres Alters und ihrer Gebrechlichkeit recht Furcht einflößend.«
»Constance, du bist ein Wunder«, sagte Pendergast. »Sie ist demnach der Howard Hughes von Savannah.«
Coldmoon war die oberste Etage bei ihrer Ankunft aufgefallen. Sie war kleiner als die darunter liegenden drei Stockwerke, mit einer Kuppel in der Mitte; die hohen alten Fenster waren mit Tüchern verhängt.
»Gibt es sonst noch etwas, das wir wissen müssen?«, fragte Pendergast. »Unser Freund Armstrong hier scheint das Gefühl zu haben, dieser Fall wäre unserer Talente nicht würdig.«
Constance musterte ihn. »Nicht würdig? Die Religion der Lakota umfasst ein Pantheon von Gottheiten, nicht wahr? Han, den Geist der Dunkelheit, Iktomi, den Spinnengott, der den Menschen die Sprache schenkte, Tatankan Gnaskiyan, Verrückter Büffel, der böse Geist, der Liebende zu Selbstmord und Mord treibt?«