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Fünf Jugendliche, fünf außergewöhnliche Talente, ein Auftrag und ein geheimnisvolles uraltes Schriftstück ... Die Grenzen zwischen Gut und Böse, richtig und falsch sind schon lange nicht mehr klar. Doch als Jonah und sein Team von Meisterdieben auf einen finsteren alten Code stoßen, wird alles bisher Bekannte infrage gestellt. Ein todbringendes Geheimnis um die Blutlinie katapultiert die fünf in einen Wettstreit mit einer anderen Bande. Doch wer steckt hinter all dem? Und was hat es mit diesem Code auf sich? Auf der Suche nach Antworten hetzten die fünf Jugendlichen von den Philippinen bis in die düsteren Straßen von Los Angeles. Und letztlich scheinen alle Fäden zusammenzulaufen – beim Meister selbst: Nathaniel Coldhardt. Eine atemberaubende Action-Jugendbuchreihe mit viel Witz und Spannung – Fans von James Bond und Indiana Jones werden voll auf ihre Kosten kommen! "Bloodline" ist der letzte Band einer Trilogie. Die Vorgängertitel lauten "Snakeroot" und "Aztec Code".
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Seitenzahl: 422
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INHALT
SANTA MONICA BOULEVARD
LAGEBESPRECHUNG
RUHE VOR DEM STURM
ALTE UND NEUE BEKANNTE
NICHT GANZ NACH PLAN
MISSION IMPOSSIBLE
VERHÖR
ERSTE ANNÄHERUNG
ABSCHIED
ÜBERRASCHUNGEN
NOMEN OBLITUM
KLEINE SIEGE
HEIDELS KOFFER
INDIZIEN
MISSTRAUEN
KLARTEXT
Für Ele
Je länger wir über unglückselige Ereignisse nachgrübeln,
SANTA MONICA BOULEVARD
Man könnte meinen, das Ende der Welt stünde bevor, dachte Jonah Wish.
Verschwitzt lief er einen Bürgersteig in West Hollywood entlang und betrachtete den Himmel, der schwarz war und gleichzeitig leuchtete. Massive Wolkenbänke, beschienen von der Spätnachmittagssonne, standen wie Kohleberge über den niedrigen Mietshäusern. Die Luft schien aufgeladen, als wartete das gesamte heruntergekommene Viertel darauf, dass etwas passierte. Als könnte ein Unwetter es kaum erwarten loszubrechen.
Für Jonah war dies alles ein böses Omen.
Früher wären ihm solche Gedanken gar nicht gekommen. Er war als Computerfreak aufgewachsen und aus dem Hacker von früher war ein Codeknacker geworden, der an wenig mehr als Einer und Nullen glaubte. Doch im vergangenen Jahr hatte Jonah Dinge erlebt, die ihn dazu gebracht hatten, an allen möglichen dunklen Hokuspokus zu glauben. »Seltsam und unheimlich?«, murmelte er. »Abspeichern unter ›Leben‹.«
»Was hast du gesagt?« Die ruppige Stimme mit amerikanischem Akzent gehörte Motti, der neben ihm herlief – eine Gestalt mit Ziegenbärtchen in zerknittertem Schwarz.
»Ich …« Jonah schluckte. »Ich fürchte, es sieht nach Regen aus.«
»Mann, ich hab echt Schwein gehabt, dass du mir als Back-up für diese Mission zugeteilt worden bist«, sagte Motti und guckte ihn durch seine Brille mit den runden Gläsern finster an. »Deine anregende Unterhaltung, die Superstimmung, die du verbreitest … was will man mehr?«
Jonah lächelte bitter; der Sarkasmus prallte an ihm ab. Mottis Standardeinstellung schien auf »schlechte Laune« zu stehen und Beleidigungen waren einfach seine Art der Interaktion mit der Welt.
»Nein, bitte, ich kann von Glück sagen, dass ich dich als Begleiter habe – ein langhaariger Miesmacher, der es immer noch cool findet, Grufti zu sein. Und der eine halbe Frühlingsrolle im Ziegenbart hat.«
Motti schrubbte mit den Fingern über seinen Bart. »Scher dich zum Teufel, Freak.«
»Den halben Weg haben wir doch schon geschafft, oder?«, fragte Jonah, während er den Himmel betrachtete, der ihn ganz nervös machte, und die vergrämten Gesichter der Leute, die an ihnen vorbeieilten. Er blieb stehen, zog einen Stadtplan aus der hinteren Tasche seiner Jeans und faltete ihn auf. »Ich schau nur rasch nach, wie weit es noch ist, bis wir den Blinker links setzen müssen.«
»Würdest du das Ding wegstecken?«, knurrte Motti leise und schaute sich um, ob Gefahr im Verzug war. »Touristen sind hier in der Gegend leichte Beute. Wir fallen auf wie Nudisten bei einer Beerdigung.«
Jonah checkte rasch die Route und setzte sich wieder in Bewegung. Der Gestank von Mülltonnen und Pökelfleisch stieg ihm in die Nase und drehte ihm den Magen um. Er wünschte sich zurück ins sichere Genf, in die weiße Kühle seines minimalistisch eingerichteten Zimmers oder mit dem Rest der Gang in den Hobbyraum, wo Patch Bier ausschenkte, Con sich zur Musik aus der Anlage wiegte, Tye ihm in die Augen lächelte und das Leben einfach gut war. Aber man muss sich seinen Lebensunterhalt verdienen, erinnerte er sich. Wobei mir von den Leuten hier die wenigsten zustimmen würden.
Jonah hatte sich unter Hollywood nur Glanz und Glamour vorgestellt. Aber diese Straße mit den heruntergekommenen Backsteinhäusern und Maschendrahtzäunen war weit entfernt von den Boulevards und Boutiquen, in denen die Stars verkehrten. Dies war ein Ort, an dem sich Jäger und Gejagte in aller Öffentlichkeit mischten, Risiko gegen Notwendigkeit abwogen und danach handelten. Jonah erkannte es an der Art, wie junge Mütter und ältere Ehepaare beim Gehen den Kopf gesenkt hielten und sich nach Kräften bemühten, die an den Straßenecken herumlungernden Gangs zu ignorieren. Zwei Betrunkene wankten mit übertriebener Vorsicht an Jonah vorbei, so als fürchteten sie, durch Risse im Asphalt rutschen zu können. Halb geschlossene Augen hinter schmutzigen Cafeteria-Fenstern blickten ihm anklagend ins Gesicht.
All das erwartet dich, schienen sie zu sagen, falls du versuchen solltest, Coldhardt hängen zu lassen. Er ernährt dich, er kleidet dich, er hat dich reich gemacht …
Du musst nur lange genug leben, um es auch genießen zu können.
Jonah hatte in Coldhardts Hauptquartier in Genf einen Ferrari F430 stehen – kein schlechter Cruiser für einen achtzehnjährigen Fahranfänger – und er stand direkt neben Mottis BMW M6-Cabrio. Aber teure Schlitten fielen auf, nicht nur in einer Gegend, in der die meisten geparkten Autos auf Backsteinen aufgebockt waren. Deshalb hatten sich Motti und Jonah am Van-Nuys-Flughafen ein Taxi bis in die Stadt genommen und gingen jetzt zu Fuß; sie hatten eine unverdächtige Strecke zum Santa Monica Boulevard gewählt.
Jonah beobachtete, wie auf seiner Armbanduhr dreißig Minuten dahinkrochen, zählte in zittrigen Atemzügen, Schritten und beschleunigten Herzschlägen mit.
Wenigstens hält sich der Regen noch zurück, dachte er, während der aschgraue Himmel immer dunkler wurde.
Kurz darauf wurde der Abend schreiend bunt von Neonreklame erleuchtet. Grelle Werbeplakate säumten die Straßen, priesen alles Mögliche an, von Tattoos über Tarot-Sitzungen bis hin zu Hilfe bei der Steuererklärung. Die Menschentrauben wurden dichter und lärmender. Dröhnende Rhythmen schallten aus dunklen Hauseingängen. Blinkende Schriftzüge schrien die Namen von Kinos und Steakhäusern, von Girlie-Shows und Tankstellen hinaus.
»Ganz schön was los hier«, bemerkte Motti und sah sich staunend um.
»Coldhardt hat gesagt, diese Krücke Budd sei der größte und raffgierigste Hehler der gesamten Westküste«, erinnerte Jonah sich. »Er muss stinkreich sein. Warum treffen wir uns dann in einem solchen Dreckloch mit ihm?«
»Vielleicht wird er beobachtet.« Motti warf automatisch einen Blick über die Schulter. »Vielleicht fürchtet er, dass ihn an seinen Stammplätzen jemand sieht.«
»Möglich.« Jonah wies mit dem Kinn auf das pinkfarbene Neonschild, das über einem Klub flackerte. »Oder unser Budd geilt sich einfach bei ›Live Girls Dancing‹ auf.«
»Was allemal besser ist als tote Girls auf einer Gummimatte angucken, nehm ich an.« Motti wies über die Straße. »Da drüben ist jedenfalls das Apartment, das wir suchen. Im Erdgeschoss, gegenüber dem Animierlokal.«
»Wir sind zu früh«, stellte Jonah fest. »Unser Date ist erst in zwanzig Minuten.«
»Warte hier, ich checke das Ding erst mal aus, damit wir nicht in eine Falle tappen.«
Jonah nickte. »Lass dich möglichst nicht erwischen. Ich bin hier der Codeknacker, nicht die schnelle Eingreiftruppe.«
»Wem sagst du das.« Motti schlappte Richtung Apartment davon. Sein dunkler Pferdeschwanz wippte zwischen den Schulterblättern auf und ab.
Jonah lehnte sich an die Wand und versuchte unauffällig auszusehen, als Motti in einer Seitenstraße verschwand. Es ist okay, sagte er sich beruhigend, lass den Mann seine Arbeit machen. Als Sicherheitsexperte ihrer kleinen Truppe war Motti darauf spezialisiert, sie rein- und auch wieder rauszuschleusen, wo immer es nötig war. Er war Profi. Auf ihrem jeweiligen Gebiet waren Coldhardts Talente das alle. Tye, der menschliche Lügendetektor, Patch, der jüngste Schlosser in der Stadt, Con, das mesmerisierende Sprachtalent, die es schaffte, auch den stursten Dickschädel auf Linie zu bringen … Jeder Einzelne war ein Plus für das Team.
Warum sollte der alte Herr uns sonst um sich haben wollen?, überlegte Jonah verdrossen. Weil er ein mitfühlendes Herz hat?
Minuten voller Anspannung vergingen. Als Motti wieder auftauchte und über den Boulevard schlenderte, stieß Jonah einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus.
»Okay, Freak«, sagte Motti, legte Jonah eine Hand auf den Rücken und schob ihn vorwärts. »Die Bude ist sauber, keine Spione. Es kann losgehen.«
Sie hatten gerade mal die Mitte der Straße erreicht, als die ersten dicken Tropfen fielen. Bald ging ein Platzregen nieder, als schwitzte der Himmel seinen Frust aus. Jonah lief neben Motti her durch den dreckigen, mit Unrat übersäten Vorgarten von Budds Unterschlupf.
Als Motti an die Tür hämmerte, blätterte die Farbe in großen Flocken ab. »Aufmachen, wir ersaufen hier draußen!«
Die Tür ging fast im selben Moment auf und ein kräftiger, dunkelhäutiger Mann zog sie mit Schwung aus dem Regen in den spärlich beleuchteten Flur. Sein teuer riechendes Aftershave war ein klein wenig zu dezent gegen seinen Schweißgeruch. Jonah hielt ganz still, als der kräftige Kerl ihn fachmännisch durchsuchte und sich dann Motti vornahm.
»Sie sind sauber«, rief er durch die offene Tür hinter sich.
»Zumindest waren wir es, bis du uns mit deinen feuchten Pfoten betatscht hast«, beklagte Motti sich.
»Bring sie rein«, sagte eine Stimme mit starkem, nordenglischem Akzent. Jonah war überrascht, zu seiner allgemeinen Nervosität und Übelkeit plötzlich auch noch Heimweh zu verspüren. Er war ein ganzes Jahr lang nicht mehr in Großbritannien gewesen – seit Coldhardt ihn aus der Jugendvollzugsanstalt geholt hatte, um ihn zu einem Teil seiner Truppe zu machen.
Jonah wurde hinter Motti her in ein fast leeres Wohnzimmer geschoben. Ein Sortiment brennender Stumpenkerzen war auf dem schäbigen Teppich verteilt. Sie knisterten in dem Luftzug, den ihre Ankunft auslöste, und erfüllten das Zimmer mit einem widerwärtig süßlichen Duft. Die Vorhänge waren zugezogen und schlossen das Leben auf der Straße aus. An den Wänden hingen kunstvoll gemusterte Samtüberwürfe. Jonah und Motti wurden angewiesen, sich mit dem Rücken zum Fenster zu stellen; sie schauten auf einen hochlehnigen Ledersessel in der Mitte des Zimmers. Dort saß steif wie eine Schaufensterpuppe ein kleiner, stämmiger Mann mit blondem, an den Kopf geklatschtem Haar. Seine Augen waren groß und blau und sein Blick hinterhältig – echte Psychopathenaugen – und die schmalen Lippen waren zwischen einem Lächeln und einer Grimasse festgefroren.
Der Mann betrachtete sie eingehend. »Nun, nun«, sagte er in gemäßigterem Ton als zuvor, »wie es aussieht, sucht sich Coldhardt immer Jüngere.«
Jonah zuckte mit den Schultern und leckte sich über die trockenen Lippen. »Du bist Budd, richtig?«
»Nette Wohnung hast du hier«, bemerkte Motti.
»Nach heut Abend werd ich sie nie mehr von innen sehen. Ich miete für jedes Treffen eine andere. So findet mich keiner.« Budd gab dem Farbigen ein Zeichen, der daraufhin herüberkam und sich direkt hinter ihn stellte. »Das ist Clyde. Mein Beschützer. Nur für den Fall, dass ihr ein krummes Ding vorhabt.«
»Wir sind hier, um ein Geschäft zu machen, und nicht, um dich reinzulegen«, entgegnete Motti. »Also lass uns zur Sache kommen.«
Budd nickte. »Ihr habt das Honorar mitgebracht?«
Motti hob langsam die Hand und zeigte Budd den Mittelfinger. Jonah geriet in Panik – bis ihm klar wurde, dass Motti mit dieser Geste lediglich den glänzenden Ring präsentierte, den er am Finger trug.
»Wie ausgemacht, ein emaillierter Goldring. Dreizehntes Jahrhundert vor Christus.« Motti zog ihn über den Knöchel und legte ihn auf seine Handfläche, als wollte er ihn wiegen. »Aus einem mykenischen Grab auf Zypern.«
»Angemessenes Honorar.« Budd holte tief Luft und erhob sich; er zitterte praktisch vor Erregung. »Gib ihn her. Ich will ihn sehen.«
»Nö-hö.« Motti steckte den Ring in die Tasche. »Zuerst gibst du uns wie ausgemacht die Ware – den Laptop von diesem Morell. Jetzt sofort.«
»Für jemand mit ’nem Pferdeschwanz reißt du das Maul ganz schön weit auf.« Budd lächelte und wandte sich an Jonah. »Clyde könnte euch in einer Sekunde mit bloßen Händen um die Ecke bringen.«
Jonah folgte Mottis Beispiel und versuchte den Großspurigen zu geben: »Ich an deiner Stelle würd mir ein Paar Gummihandschuhe überziehen, Clyde. Du kannst schließlich nicht wissen, wo wir waren.«
»Aber ich kann dir sagen, wo du hingehst, Budd, wenn du uns reinlegen willst«, sagte Motti cool. »Nämlich zur Hölle. Coldhardt war drauf und dran den Laptop zu stehlen, bevor sie Morell ermordet haben und seine Bude in L.A. abgebrannt ist. Dass er für das Ding jetzt blechen muss, gefällt ihm gar nicht.«
»Dann hätte er das Teil eben vor mir orten müssen.« Budds Grinsen wurde breiter.
»Wie hast du es gefunden?«, wollte Jonah wissen.
»Die Bullen sind davon ausgegangen, dass ein paar Kids Morells Bude auf den Kopf gestellt haben. Ein Haus, vollgestopft mit unbezahlbaren Antiquitäten, aus dem sie, bevor sie es abgefackelt haben, seinen Flachbildschirm geklaut haben, seine Stereoanlage, seine Computer, seine Kreditkarten …« Budd schüttelte amüsiert den Kopf. »Ich kenn die Typen, die solche Sachen verhökern. Und ich weiß, dass Leute wie Coldhardt für die Art von dunklen Geheimnissen, die Morell gern gehütet hat, ein Vermögen hinblättern …« Er schnaubte. »Mich wundert’s nur, dass er sich nichts Besseres leisten kann als zwei Niedriglohn-Kids, die die Drecksarbeit für ihn machen.«
»In einem Punkt hast du recht«, sagte Motti. »Coldhardt will die Info auf der Festplatte dieses Laptops. Er will sie unbedingt.« Motti klopfte auf die Tasche mit dem Ring. »Also gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder wir machen den Deal und du verdienst dir ein Stück Geschichte oder ihr zwei versucht, uns ›Niedriglohn-Kids‹ zu verarschen, dann wirst du Geschichte. Ganz wie du willst.«
Budd schwieg. Clyde sah sie ausdruckslos an.
Der Regen trommelte an die Scheiben, in Jonahs Ohren laut wie Maschinengewehrfeuer. »Nun?«, fragte er. Er musste sich zusammenreißen, damit seine Stimme nicht zitterte.
»Nun …« Budd fixierte zuerst Jonah, dann Motti mit seinen hellen blauen Augen, die einen fertigmachen konnten. »Ihr habt nicht nur Nerven gezeigt, sondern auch das richtige Honorar. Schätze, ich kann euch dafür den Laptop zeigen.« Er drehte sich zu seinem Sessel um und zog einen schmalen Titanlaptop darunter hervor. »Überlegt euch gut, was ihr macht, Jungs«, sagte er gelassener. »Wenn ihr euch wie Morell auf schwarze Magie einlasst, passieren schlimme Dinge.«
»Danke für den Tipp, aber auf Friedhöfen rumhängen und Hühner opfern ist nicht unbedingt unser Ding.« Motti wies mit dem Kinn auf Jonah. »Er ist außerdem Vegetarier.«
Jonah nickte. »Wir wollen lediglich –«
Budd schnitt ihm das Wort ab. »Geschenkt. Mich interessiert nur mein Honorar. Wenn Coldhardt bereit ist, für das gestohlene Zeug von irgendeinem verrückten Teufelsanbeter zu zahlen, ist das sein Bier.«
Verrückter Teufelsanbeter? »Antiquar mit einer Vorliebe für das Geheimnisvolle« war Coldhardts Beschreibung von Morell gewesen, aber Jonah glaubte zu wissen, welcher der beiden den Nagel auf den Kopf traf. »Und du bist sicher, es ist der richtige Laptop?«
»Hältst du mich für einen Amateur, oder was?« Budd sah ihn finster an. »Ich hab die Fingerabdrücke auf dem Gehäuse abgleichen lassen.« Er trommelte geistesabwesend mit den Fingern, als ahme er den Regen an den Scheiben hinter den dicken Samtvorhängen nach. »Ich weiß nicht, was Coldhardt sich von dem Ding erhofft – und ich will es auch gar nicht wissen.«
»Wir verraten es dir nicht, damit du nachts weiter gut schlafen kannst.« Motti nickte Jonah zu. »Los, Freak, check die Dateien.«
Budd legte den Laptop zwischen die Kerzen auf den Boden und fuhr ihn hoch. Er warf Jonah einen drohenden Blick zu. »Auf die Knie, Junge.«
Jonah kauerte sich hin – da es außer dem einen Sessel keine weiteren Möbel gab, blieb ihm nichts anderes übrig. Der Computer verlangte ein Passwort. Trotz der Spannung, die in der Luft lag, merkte Jonah, wie er ruhiger wurde, als seine Finger die Tastatur bearbeiteten und er sich in das Betriebssystem einhackte. Die Minuten verstrichen ergebnislos, während er den Inhalt der Festplatte durchging und nach Dateien suchte, die zu den Zeiten, die Coldhardt ihm genannt hatte, erstellt worden waren. Nachdem er eine Handvoll verschlüsselter E-Mail-Anhänge entdeckt hatte, zog er eine Chipkarte aus seiner hinteren Hosentasche und lud sie.
»Was soll das werden?«, wollte Budd wissen.
Jonah schaute nicht auf. »Ich checke die digitale Unterschrift auf den Kodierungen. Wir wollen schließlich sicher sein, dass die Dateien von Morell selbst erstellt worden sind.«
»Dann mach endlich«, drängte Motti.
»Schon passiert.« Jonah stieß einen leisen, erleichterten Pfiff aus. »Die Zeitmarken und die Unterschrift stimmen überein.«
»Könnte Buddy-Boy daran herumgepfuscht haben?«
»Nö.« Jonah schloss den Laptop und richtete sich auf. »Jede Veränderung an der Datei oder Versuche, sie zu kopieren, hätten die Unterschrift annulliert. Alles in Ordnung.«
»Ich haue meine Kunden nicht übers Ohr.« Buddy nickte Clyde zu, der von irgendwo Gläser und eine Flasche Scotch hergezaubert hatte. Der kräftige Mann begann auszuschenken. »Gut. Dann besiegeln wir den Deal mit einem Drink, ja? Das ist so Brauch bei mir. Und dann können wir alle aus dieser Bruchbude hier verschwinden – nachdem du mir den Ring gegeben hast, versteht sich.« Budd streckte ungeduldig die Hand aus, als Motti in seine Tasche griff und den Ring herauszog. »Mach schon, gib her!«
Wie auf ein Stichwort schoss ein Metallpfeil durchs Fenster und bohrte sich in Budds Brust. Bis Jonah das Geräusch von splitterndem Glas registriert hatte, färbte sich Budds Hemd bereits rot und Blut spritzte in hohem Bogen aus der Wunde.
»Oh Gott«, keuchte Budd heiser. Er hatte die Augen fest zusammengekniffen. »Was war das? Clyde, was hat mich getroffen? Was war es? Ist es schlimm?« Das Kraftpaket wollte gerade zu ihm stolpern und nachsehen, da fiel Budd schon nach vorn aufs Gesicht.
Jonah starrte ihn an, wie gelähmt vor Panik. Doch Motti war bereits auf dem Weg zur Tür. »Komm, Freak!«, brüllte er. »Raus hier!«
Bevor Jonah sich in Bewegung setzen konnte, schlüpfte eine maskierte Frau in einem maßgeschneiderten schwarzen Kampfanzug und mit einem Bogen in der Hand geschmeidig durch das zerbrochene Fenster ins Zimmer. Mit einem wütenden Aufschrei stürzte sich Clyde auf sie, noch bevor sie den nächsten Pfeil einlegen konnte. Doch die geheimnisvolle Fremde riss einen der Samtvorhänge herunter, warf ihn über ihn und trat ihm in den Magen. Clyde fiel rückwärts auf einige der Kerzen – brüllte und schlug dann mit Händen und Füßen um sich, als der schwere Stoff Feuer fing.
Instinktiv riss Jonah einen Überwurf von der Wand, weil er dachte, er könnte das Feuer damit ersticken. Doch die Frau war schneller und jagte einen Pfeil in Clydes Körper – was ihn zum Schweigen brachte, während die Flammen sich weiter in den Stoff fraßen.
Dann wandte sich die Fremde Jonah zu und hob erneut den Bogen.
Jonah war schlecht. In Panik drehte er sich um und rannte los, den Laptop an die Brust gedrückt. Motti wartete kreidebleich an der Haustür auf ihn. »Los, schneller!«
Als sie auf den nassen Bürgersteig stürmten, schoss ein Pfeil an ihnen vorbei und zerschlug die Scheibe eines neben ihnen geparkten Wagens; die Alarmanlage heulte los. Erschrockene Fußgänger in der Nähe kreischten und stolperten auf die Straße – direkt vor einen Bus, dessen Fahrer gerade noch auf die Bremse steigen konnte. Jonah hörte das chaotische Durcheinander, während er schon die Straße hinunterlief. Keine zwei Schritte hinter Motti schlängelte er sich zwischen Fußgängern, Pfützen und Straßenlaternen durch. Der Gedanke an eine Stahlspitze, die sich in seinen Rücken bohrte, ließ sein Herz rasen und trieb ihn vorwärts. Der Regen prasselte auf ihn ein und das Dröhnen und Geplärre aus Bars und Stripteaselokalen wurde zum Soundtrack seiner Flucht. Er und Motti rannten und rannten, bis sie fast eine ganze Meile zurückgelegt hatten.
Nachdem Jonah sich durch einen Blick über die Schulter vergewissert hatte, dass niemand sie verfolgte, lehnte er sich taumelnd an eine Ladenfront. Er hatte Krämpfe in den Beinen und sein Magen zog sich zusammen, als er den Tod von Budd und Clyde noch einmal durchlebte. Er beugte sich vornüber und würgte – und zuckte zusammen, als sich eine Hand auf seinen Rücken legte.
»Hey!« Es war nur Motti. »Alles klar?«
Jonah wischte sich Regen aus den Augen und zähen Speichel vom Mund. »Diese Frau hat Budd und Clyde kaltblütig umgebracht.«
Motti runzelte die Stirn; er rang immer noch nach Atem. »Hast du Frau gesagt?«
»Wenn das ein Kerl war, hat er ein ernstes Männerbusenproblem.«
»Mal abgesehen davon, wer sie war – wo zum Teufel ist sie so plötzlich hergekommen?« Motti spuckte in den Rinnstein. »Sie muss Budd observiert haben. Muss genauso dringend hinter dem Laptop her gewesen sein wie Coldhardt.«
»Wahrscheinlich arbeitet sie für jemanden wie ihn«, meinte Jonah düster. »Einen Unberührbaren.«
»Böse Welt, was?« Motti nahm Jonah den Computer ab. »Aber lass uns jetzt, da wir das verdammte Ding haben, abhauen und es Coldhardt bringen, und zwar rapido.«
Jonah nickte und suchte die verregnete Straße nach einem Taxi ab. Doch er wurde das Bild von dem Pfeil nicht los, der aus Budds Brust ragte, von dem Blut, den Flammen, dem brüllenden Clyde. Er atmete flach und musste seine ganze Willenskraft aufbieten, damit er sich nicht übergab. Motti stellte sich neben ihn.
»Stimmt das, was Budd über Morell und die Teufelsanbeterei gesagt hat?«, fragte Jonah leise. »Ist das Buch, hinter dem Coldhardt her ist, eine Art Bibel der schwarzen Magie?«
»Wen kümmert’s?« Motti strich sich nasse Haarsträhnen aus der Stirn. »Wir brauchen nichts anderes zu tun, als zu gehen, wohin die verdammten Dateien uns schicken, das Ding zu klauen und es abzuliefern. Fertig, aus, Ende. Oder?«
Jonah sagte nichts darauf. Er zitterte, als er in das stürmische, regengetränkte Schwarz des Himmels hinaufschaute. Etwas sagte ihm, dass diese spezielle Sache noch sehr lange nicht zu Ende war.
LAGEBESPRECHUNG
Tye umkreiste ihre Gegnerin misstrauisch und wappnete sich gegen den Schlag, der jeden Augenblick kommen konnte. Sie hatte jahrelang vom Schmuggel in der Karibik gelebt und sich immer wieder selbst aus brenzligen Situationen heraushauen müssen. Das hatte sie mit gerade mal siebzehn Jahren bereits zu einer Expertin in Sachen Kampftechniken gemacht – aber sie wusste, dass sie ihre Deckung keine Sekunde lang aufgeben durfte.
Nicht bei Con.
Die Arme vor den Schultern, die Fäuste vor dem Kinn, blieb sie in Verteidigungshaltung. Auch wenn es nur ein Trainingskampf war – ein freundschaftliches Gerangel in der Sporthalle auf Coldhardts riesigem Anwesen in Genf –, Con verlor nicht gern, egal wo und egal unter welchen Umständen.
Wie auf ein Stichwort hin machte Con plötzlich einen Schritt nach vorn und fuhr die rechte Hand aus. Die Fingerspitzen und die Oberseiten der äußersten Knöchelreihe strichen über Tyes Augen. Ein Schlag aufs Auge. Nett. Doch noch während sie den Schmerz verarbeitete, presste Tye das Kinn auf die Brust, peilte mit der geballten rechten Hand Cons Rippen an, zielte durch ihre Gegnerin hindurch und nicht nur auf die Oberfläche – und schlug eine kurze Gerade, wobei sie Schulter und Hüfte mitnahm, um noch mehr Kraft hineinlegen zu können. Con keuchte, als die Faust sie traf, und taumelte rückwärts.
»Miststück!« Cons grüne Augen blitzten gefährlich. Dann lachte sie plötzlich, dass ihre Zähne zu sehen waren, so weiß und perfekt wie ihre Haut. »Ich muss endlich aufhören dich zu schonen, was?«
Tye biss die Zähne zusammen. »Ja, vielleicht solltest du das.« Cons kultivierter, leicht slawischer Akzent klang cool und chic, doch es gab Zeiten, da tat er wahnsinnig in den Ohren weh. Sie rannte auf Con zu, den Oberarm parallel zum Boden, den Ellbogen nach vorn gerichtet, und versetzte ihr einen Schlag gegen den Brustkorb. Con hielt dem Aufprall stand und konterte mit einer linken Geraden, der sofort ein doppelter Punch gegen Tyes Wange folgte. Tye unterdrückte einen Schmerzensschrei und wich rasch zurück, die Arme wieder in Verteidigungshaltung.
»Dass du den nicht hast kommen sehen, überrascht mich, Süße.« Con strich sich weißblonde Haarsträhnen aus dem Gesicht und zwinkerte. »Du bist doch der Profi, wenn es um Körpersprache geht, oder?«
Tye zwang sich zu einem Lächeln und ging auf die Flachserei ein. »Na ja, du sprichst fünfzehn verschiedene Sprachen – vielleicht hat dein Körper auch ein paar gelernt, nur um mich auszutricksen.«
»Ich trickse dich mit Freuden aus«, sagte Con und kam wieder auf sie zu. »Über welche Schulter würdest du denn gern fliegen?«
Sie umkreisten sich erneut. Wenn Tye mit Con kämpfte, ging es irgendwie nie nur darum, in Form zu bleiben. Mit ihrer europäischen Erziehung, ihrem Selbstbewusstsein und ihrer Intelligenz war Con für Tye ein Symbol des privilegierten Lebens, das sich Tye ihre gesamte einsame Kindheit lang gewünscht hatte, als sie sich in den tristen Slums von Haiti durchschlagen musste. Während Tye für sich selbst trotz der beschränkten Möglichkeiten das Beste aus ihrem Leben gemacht hatte, war Con alles auf dem Silbertablett serviert worden – bis auf die Zuneigung, nach der sie sich so verzweifelt sehnte.
Tye wollte gerade einen Roundhousekick gegen die schlanke Taille ihrer Gegnerin treten, als Con ihre Kampfhaltung mit einem Ruck aufgab, warnend die Hand hob und sich dem Berg Crashmatten neben sich zuwandte. »Was zum –?«
Sie machte einen Satz nach vorn und zerrte eine wohlbekannte, dürre Gestalt in abgewetzten Jeans und einem grauen Kapuzenshirt aus dem Versteck. Das sommersprossige Gesicht wurde nicht nur von einer schwarzen Augenklappe, sondern auch von einem frechen Grinsen beherrscht. »Alles in Butter, Ladys?«
»Patch!« Tye blickte ihn finster an. »Was haben wir zum Thema Nachspionieren gesagt?«
»Ich kann nichts dafür!«, protestierte Patch. »Ich hab nur zufällig gesehen, dass die Tür zur Sporthalle abgeschlossen war – und ihr wisst, dass ich einer abgeschlossenen Tür nicht widerstehen kann. Ich bin Profi, ja? Wenn ich eine abgeschlossene Tür sehe, muss ich sie öffnen.« Er grinste wieder. »Und wenn ich zwei fitte Chicks in Gymnastikanzügen beim Training sehe, muss ich einfach hingucken.«
»Wenn du das noch mal tust, verpass ich dir einen Hingucker auf dein gesundes Auge, dass alles zu spät ist«, warnte Con ihn.
»He, ich bin fünfzehn! Das sind alles die Hormone, ja?« Patch redete an Cons Busen gewandt. »Ich hab gesehen, wie Tye dir einen auf die Möpse gegeben hat. Ich könnte sie ein bisschen streicheln, damit der Schmerz nachlässt.«
»Du kannst die streicheln, damit der Schmerz nachlässt«, sagte Con und drückte ihm leicht das Knie in die Eier. Patch ließ sich stöhnend auf den Boden fallen. Con wandte sich an Tye und streckte ihr die Hand zum Einschlagen hin. »Machen wir Schluss?«
»Machen wir Schluss«, stimmte Tye zu. Doch als sie nach Cons Hand griff, packte die ihr Handgelenk, zog, sodass sie das Gleichgewicht verlor, und trat ihr die Beine weg. Tye fluchte auf Haitianisch, als sie neben Patch auf dem Boden landete.
»Huch.« Con schaute mit blitzenden Augen auf sie hinunter. »Ich hab gelogen.«
Tye sprang wütend auf, bereit, wenn es sein musste, bis zum K.o. gegen Con zu kämpfen – als das schrille Klingeln eines Telefons die Stille durchbrach.
Der Klang, der der Freizeit ein Ende setzte.
Tye schluckte ihre Wut hinunter und half Patch auf, während Con zu dem Wandtelefon neben der Tür lief. »Ja, Coldhardt?«
Tye und Patch wechselten besorgte Blicke. Das nächste Treffen mit dem Boss war erst auf den nächsten Morgen angesetzt, wenn Jonah und Motti mit dem Laptop des Toten zurückerwartet wurden.
»Irgendwas ist in die Hosen gegangen«, stellte Patch fest.
Tye stieß ihn in die Seite. »In deine vielleicht.«
Con legte auf, schürzte die Lippen und verkündete dann: »Coldhardt will uns in einer Viertelstunde im Konferenzraum sehen. Zum Kriegsrat.«
»Ist etwas mit …?« Tye biss sich auf die Lippe und begann noch einmal: »Die Jungs … ist etwas mit den Jungs?«
»Keine Bange, Jonah geht es gut«, erwiderte Con; ihre Augen funkelten jetzt leicht unterkühlt. »Und Motti genauso. Sie sind vor einer Stunde zurückgekommen.«
»Gut.« Tye versuchte das heiße Prickeln in ihren Wangen zu ignorieren.
»Jetzt«, sagte Con und reckte die Arme über den Kopf, »müssen wir uns erst mal ausruhen und duschen, bevor wir zu dem Treffen gehen, oder?«
»Wir sehen uns dann dort«, sagte Patch und steuerte ergeben die Tür an.
Con hielt mitten im Räkeln inne und blinzelte überrascht. »Er hat gar keine blöde Bemerkung gemacht und gefragt, ob er mir den Rücken einseifen darf.«
Tye ging kopfschüttelnd zu den Umkleideräumen. »Dann muss es was Ernstes sein.«
Tye brauchte nur ein paar Minuten unter der Dusche. Sie wischte sich Wasser aus den Augen, trat aus der Kabine – und direkt in ein warmes weiches Handtuch von der Größe eines Segels, das ihr jemand hinhielt. Sie keuchte erschrocken, riss die Augen auf, zog schnell das Handtuch vor ihren nackten Körper – und sah Jonah vor sich stehen. Er war ganz offensichtlich hundemüde, lächelte aber anerkennend.
»Was zum Teufel denkst du dir eigentlich dabei?«, zischte sie, doch ihre Wut war größtenteils gespielt. »Wenn Con dich hier drin sieht …«
»Sie ist längst weg, du lahme Ente. An die Seite ihres Herrn und Meisters geeilt.« Er hob die Augenbrauen. »So wie ich zu meiner Geliebten geeilt bin.«
»Oh, dann bin ich jetzt also deine Geliebte?«, neckte sie ihn, während sie das Handtuch unter den Armen festklemmte. »Was ist passiert, habt ihr in Kalifornien geheiratet, du und Motti?«
»Na ja, du weißt doch, wie das ist – wir haben einen Abstecher nach Las Vegas gemacht, dann kam dieser Elvis-Verschnitt vorbei …«
Tye konnte nicht anders. Sie musste lächeln. Mit seinem blonden Wuschelkopf, den glatten, strengen Zügen und nervösen Augen hatte Jonah sie immer an einen Chorknaben erinnert, der seine schmutzigen Gedanken unbedingt mit jemandem teilen wollte. Doch in letzter Zeit trieb er regelmäßig Sport, sein Körper war gebräunt und muskulös und er strahlte mehr Selbstbewusstsein aus. Er mauserte sich vom Chorknaben aus der letzten Reihe zum Frontmann einer Indie-Band. Doch im Moment stimmte sein relaxter Ton nicht mit seiner angespannten Haltung überein. Sie betrachtete ihn sekundenlang. Er versuchte so zu tun, als sei alles in Ordnung, auch wenn es ganz eindeutig nicht so war. Seine Augen waren glasig, als hätte er nicht geschlafen, und seine Schultern wirkten verspannt.
»Was ist los, Jonah?« Sie legte ihm die flache Hand auf die Brust. »Warum seid ihr früher zurückgekommen?«
»Du bist doch nicht etwa enttäuscht?«
»Blödmann.« Sie beugte sich vor und küsste ihn nass und warm auf den Mund. Er erwiderte den Kuss ein wenig zu gierig und versuchte seine Hand unter das Handtuch zu schieben.
»Hey«, flüsterte sie und stieß ihn sanft zurück. »Ich bin froh, dass du heil zurück bist, aber es darf niemand wissen, dass wir mehr als Freunde sind. Hast du das vergessen? Hier könnte jeder reinmarschieren.«
»Sie sind schon alle im Konferenzraum. Motti und ich mussten ihm sofort Bericht erstatten. Mich hat er noch mal rausgelassen, damit ich frische Luft schnappen kann.«
»Aber stattdessen schnappst du dir mich.«
»Tye …?« Jonah streckte die Arme aus. »Hältst du … mich noch eine Weile fest? Bitte?«
Sie runzelte die Stirn. »Jonah, was ist passiert?«
»Die Männer, die wir getroffen haben …« Er blickte auf seine Schuhe hinunter, seine Stimme war so ausdruckslos wie seine Augen. »Sie wurden beide ermordet. Mit Pfeil und Bogen erschossen und in Brand gesteckt, direkt vor meiner Nase. Und mich hätte es fast als Nächsten erwischt.«
»Scheiße«, murmelte Tye, legte die Arme um ihn und zog ihn an sich.
Sie war neun gewesen, als sie zum ersten Mal gesehen hatte, wie jemand ermordet wurde, und seither war sie Zeugin von so viel Blutvergießen geworden, dass Gewalt sie kaum noch schockte. Da vergaß man leicht, dass Jonahs Leben so ganz anders verlaufen war. Er hatte seine Jugend in Pflegestellen, verteilt über ganz Großbritannien, verbracht, hatte sich in abgedunkelten Räumen verschanzt, auf geborgten Computern Codes und Geheimschriften geknackt und sein Talent immer weiter ausgebaut. Klar, er war im Gefängnis gewesen, aber wegen einer einmaligen Sache. Er hatte fremde Gelder auf das Konto seiner Pflegemutter geschaufelt, weil er ihr helfen wollte, ein neues Leben anzufangen – ohne sich richtig bewusst zu sein, dass er dadurch selbst ein neues Leben angefangen hatte, eines außerhalb des Gesetzes: ein Leben als Coldhardts Angestellter.
Seither war das Blut entschieden reichlicher geflossen. Sie hielt ihn weiter ganz fest.
»Ich bin nicht für dieses Leben gemacht und werd’s auch nie sein.« Jonah rieb sein Gesicht an ihrem Hals. »Oder?«
Sie seufzte. »Es wird mit der Zeit leichter.«
»Aber will ich das?« Jonah ließ sie los und trat einen Schritt zurück.
»Manchmal spielt es keine Rolle, ob wir etwas wollen oder nicht«, sagte sie leise. Ihre Augen suchten seine. »Du weißt das selbst.«
Jonah schwieg.
Sie zog ihn wieder an sich. »Es wird alles gut.« Die Worte klangen hohl in ihren Ohren, aber ihn schienen sie zu trösten. Einen langen Augenblick hielten sie sich in den Armen, dann merkte sie, dass er sich langsam entspannte, und spürte seine Hand, die sich wieder unter das Handtuch stahl.
»Hey!« Sie trat zurück. »Lass das! Wir müssen gehen.«
»Bist du sicher?« Jonah schaute sehnsüchtig zu, als sie sich anzuziehen begann.
»Sicher bin ich sicher.« Sie zog das blaue Top an, hell auf ihrer dunklen Haut. »Wir sind ohnehin schon spät dran.« Doch auch wenn sie nach außen hin streng klang, lächelte sie insgeheim. Trotz allem, was sie in ihrem Leben schon gesehen hatte und über das Leben wusste, vermittelte ihr Jonah zuweilen das Gefühl, als könnte wirklich alles gut werden. Vielleicht war das der Grund, weshalb es sich manchmal, wenn sie ihn betrachtete, anfühlte wie …
Nein. Tye verbot sich hastig an dieser Stelle weiterzudenken. Das Leben war auch so schon viel zu kompliziert. Sie zog ihre Zöpfe hinten aus ihrem Top und küsste ihn federleicht auf den Mund.
»Komm«, sagte sie, drehte sich um und ging zur Tür. »Und nicht vergessen: Wir sind lediglich befreundete Arbeitskollegen. Versuch dich normal zu verhalten.«
Jonah seufzte, als er ihr folgte. »Sag mir doch bitte, wie das geht.«
Alles erschien fast zu ruhig und friedlich, als Jonah hinter Tye über die stillen Wege auf Coldhardts riesigem Anwesen ging. Die Abendsonne spiegelte sich in Fensterflügeln und künstlich angelegten Teichen. Die frischen grünen Rasenflächen dazwischen sahen aus, als würden jeden Tag die Platzwarte der Premier League eingeflogen, um sie zu pflegen.
Coldhardt bewegte sich routinemäßig zwischen seinen diversen Stützpunkten hin und her, gerade wie und wann die Geschäfte es erforderten. Während der letzten zwölf Monate hatte Jonah in einem Schloss in Siena gewohnt, auf einer Ranch in Neumexiko, einer Plantage auf Jamaika, in einem ehemaligen Hotel in Bulgarien … Doch sein abenteuerliches Leben hatte hier in Genf begonnen, nachdem Motti, Tye und die anderen ihn aus der Jugendvollzugsanstalt befreit hatten. Vielleicht war das der Grund, weshalb er nur in diesem Anwesen sein wirkliches Zuhause sah.
Man schaute von hier aus auf Kornfelder und Weinberge und hatte einen Postkartenblick auf die französischen Alpen in der Ferne. Auf dem Gelände lagen alte Nebengebäude verstreut; von außen sahen sie idyllisch und ein wenig heruntergekommen aus, doch hinter den Mauern der meisten verbargen sich mit allen Schikanen ausgestattete Apartments. Das nach den neuesten sportmedizinischen Erkenntnissen eingerichtete Fitnesscenter lag nur ein paar Schritte von einem großen Hallenbad entfernt, einer Spielhalle mit Hobbyraum und der Tiefgarage – und natürlich dem riesigen Klubraum, in dem die Talentgang abhängen oder die ganze Nacht Partys feiern konnten, wenn ihnen danach war. Anschließend brauchten sie nur nach oben zu wanken und in ihren luxuriösen Suiten aufs Bett zu fallen …
Nein, für Coldhardt zu arbeiten hatte auch seine guten Seiten, das musste Jonah zugeben. Und nach dem Start, den er ins Leben gehabt hatte, hoffte er, einen solchen Luxus nie für selbstverständlich zu nehmen.
Das Wissen um die reale Möglichkeit, auf irgendeiner gefährlichen, gruseligen Mission jeden Augenblick ums Leben kommen zu können, trug natürlich wie nichts anderes dazu bei, das zu schätzen, was man hatte.
Oder wen man hatte. Jonahs Blick ruhte auf Tye, die zu dem vor ihnen liegenden Chateau vorausging, auf ihrem geflochtenen Haar, das über der glatten, dunklen Haut ihres Nackens auf und ab hüpfte. »Hey«, rief er, »kannst du mir nach der Besprechung noch einmal eine Fahrstunde geben?«
»Du musst dich ausruhen«, antwortete sie leichthin und schob etwas Efeu neben der Eingangstür zur Seite. Zum Vorschein kam eine kleine Hightechtastatur. »Ich will nicht, dass du einschläfst.«
Er senkte die Stimme. »Auch nicht bei dir?«
Sie gab den Eingangscode ein. »Platz, Bello.«
Bei Fuß zu gehen hat sie mir jedenfalls schon beigebracht, stellte Jonah fest, als sie die große marmorne Halle betraten. Er und Tye hatten bereits vor ein paar Monaten ihre Gefühle füreinander entdeckt, aber sie wollte nichts überstürzen, es noch geheim halten. Jonah wusste, dass Coldhardt eine Affäre zwischen zwei seiner Agenten nicht gutheißen würde. Ergebnisse hingen davon ab, dass die Talentgang als Team arbeitete, jeder gleich behandelt wurde und die Urteilsfähigkeit jedes Einzelnen nicht durch verworrene Gefühle getrübt wurde.
Doch es war schwer, hier ein Geheimnis zu haben, besonders vor Coldhardt, der das Wort »Geheimnis« praktisch erfunden hatte. Auf dem Weg über die Wandelgänge mit den Türbögen und Bleiglasfenstern ging er in Gedanken noch einmal die Verhaltenstipps durch, die Tye ihm gegeben hatte, damit seine Körpersprache ihn nicht so leicht verriet. Doch obwohl er wusste, dass Vorsicht angebracht war, machte das ständige Auf-der-Hut-Sein ihn verrückt. Und die letzte Nacht hatte ihm eindringlich vor Augen geführt, wie kurz das Leben war.
Nun war er hier und musste diese Ereignisse für Coldhardt und die Gang noch einmal im Detail durchleben.
Tye öffnete die Doppeltür am Ende des Wandelganges und sie stellten sich zusammen auf den Ausschnitt des Steinbodens, der ruckelte und sich zu der geheimen Welt im Untergrund absenkte.
Coldhardts Konferenzraum war ausgesprochen geräumig, teils Sitzungssaal, teils Arbeitszimmer, teils gespenstischer Sci-Fi-Bunker. Beherrscht wurde er von einem riesigen ovalen Tisch. Entlang einer Wand standen in Reih und Glied schwarze Aktenschränke, die den leeren Blick von einem Dutzend Plasmabildschirmen auf der gegenüberliegenden Wand aushalten mussten.
Motti, Con und Patch saßen bereits auf Stühlen aus gebürstetem Stahl um den Tisch herum. »Jonah!«, rief Patch gut gelaunt wie immer. »Du hast es überlebt!«
Jonah zuckte mit den Schultern. »Gerade eben.« Tye setzte sich zwischen Motti und Patch und lächelte beiden zu. Für Jonah blieb der Platz neben Con. »Sei froh, dass du den Job ausgelassen hast«, sagte er zu ihr.
»Wo ich doch sonst kaum etwas auslasse«, erwiderte sie und blickte ihn mit diesen verunsichernden grünen Augen an. Es war, als versuchte sie in ihr Gegenüber hineinzusehen und dessen Gedanken zu lesen. Das Problem war nur, dass Con als selbst ernannte Expertin für NLP und Mesmerismus – oder Hypnose in den Augen aller anderen – einen unvorbereitet erwischen und genau das tun konnte – hypnotisieren. Jonah hatte selbst erlebt, dass Leute Con ihre intimsten Geheimnisse anvertrauten, und zwar so locker, als bestellten sie einen Drink.
»Schiebst du mir einen Kaffee rüber, Mott?« Jonah reckte sich.
Motti schaute Patch an und grunzte etwas Unverständliches, worauf Patch eine weiße Porzellantasse mit den letzten Tropfen Kaffee füllte. Tye schob die Tasse zu ihm hinüber.
»Himmel.« Jonah blickte auf die dunkle, ölige Flüssigkeit. »Konzentriertes Koffein. Da schlaf ich garantiert nicht mehr bei der Arbeit ein.«
»Bei dieser speziellen Arbeit schläft niemand von uns ein, Jonah.« Die Stimme hatte einen vollen Klang, gewürzt vom Alter und mit einem leichten irischen Akzent.
Coldhardts Stimme.
RUHE VOR DEM STURM
Wie immer zog der Boss Jonahs gesammelte Aufmerksamkeit auf sich. Coldhardt war aus seinem privaten Büro am hinteren Ende des Konferenzraumes gekommen, eine große, hagere Gestalt, die ein voller weißer Haarschopf krönte. Obwohl er schon weit in den Sechzigern war, bewegte er sich mit dem lässigen Selbstbewusstsein eines wesentlich Jüngeren. Seine hellen blauen Augen sprachen allerdings eine andere Sprache – eine Sprache der Erinnerung an etwas so Schlimmes, dass Coldhardt es keine Sekunde lang vergessen konnte. Und als er sich ans Tischende setzte, konnten sein dunkles Samtjackett und das frisch gestärkte weiße Hemd nicht verbergen, wie entsetzlich mager er war. Er war im letzten Jahr sichtlich gealtert.
Jonah wartete wie die anderen darauf, dass er etwas sagte.
»Entschuldigt, dass ich dieses Treffen früher als vorgesehen anberaumt habe«, begann er. »Die Probleme, mit denen Jonah und Motti bei einer Mission, die eigentlich Routine hätte sein sollen, konfrontiert wurden, erfordern unsere sofortige Aufmerksamkeit.« Er blickte zu Jonah und Motti. »Erzählt uns, was geschehen ist. In allen Einzelheiten.«
Gemeinsam berichteten sie, was sie erlebt hatten, von ihrer entspannten Ankunft in Van Nuys am gestrigen Morgen bis zu dem mitternächtlichen Sprint zum Internationalen Flughafen von L.A. und dem glücklicherweise ereignislosen Rückflug.
»Klingt so, als hätte Budd sich einen besseren Buddyguard nehmen sollen«, witzelte Patch nervös.
»Wir hätten auch einen Beschützer brauchen können.« Motti lächelte nicht. »Hey, Freak, vielleicht hätten wir die Tussi mit dem Bogen fragen sollen, ob sie irgendwelche Freunde hat.«
»Ich bin froh, dass sie allein war«, erwiderte Jonah und wandte sich dann an Coldhardt. »Wie sieht’s aus? Hatte Budd recht? Enthält das Buch, hinter dem du her bist, okkulte Texte?«
»Es ist ein Grimoire«, antwortete Coldhardt. »Ein uraltes Buch mit angeblich magischem Wissen und entsprechenden Praktiken. Das Guan-Yin-Manuskript, wie sein voller Name lautet.«
»Guan Yin?« Patch runzelte die Stirn. »Klingt so, als wär’s aus einem chinesischen Schnellimbiss gekommen.«
»Guan Yin ist die chinesische Göttin der Barmherzigkeit«, erklärte Coldhardt geduldig, »obwohl ihre Ursprünge in der buddhistischen Mythologie liegen. Auf der Titelseite des Grimoire ist ein Bild von ihr.« Er legte eine kurze Pause ein. »Das Guan-Yin-Manuskript soll im vierzehnten Jahrhundert zusammengetragen worden sein, es ist in einer unbekannten Sprache geschrieben und soll ein Geheimnis von unschätzbarem Wert enthalten. Etwas, das weise Männer von Europa bis zum Orient heiß begehrten. Sie nannten es ›Bloodline Code‹.«
»Ein Code aus dem vierzehnten Jahrhundert?« Jonah setzte sich aufrecht hin. »Zu der Zeit hat es mit Codes und Geheimschriften ja erst so richtig angefangen. Die ersten kryptografischen Handbücher sind 1379 erschienen, hauptsächlich Ersatzalphabete –«
Motti gähnte laut. »Kryptografische Handbücher aus dem Mittelalter. Sehr schön. Erinnere mich daran, dass ich mir die Schinken aus der Bibliothek hole.«
»Bloodline Code?« Con blickte fragend in die Runde. »Was soll das überhaupt bedeuten? Eine Art verschlüsselter Familienstammbaum?«
»Vielleicht hat ein Buddhist ihn verfasst und seine ganzen Reinkarnationen aufgelistet«, meinte Motti schnoddrig. »Du weißt schon, er hat als Insekt angefangen, wurde dann ein Fisch, danach eine Katze, dann ein Mensch …«
»Klingt nach einem echten Knaller«, sagte Tye und verzog das Gesicht.
»Ungeachtet des Inhalts waren die Besitzer des Guan-Yin-Manuskripts über die Jahrhunderte angeblich alle vom Pech verfolgt.« Coldhardts Ton ließ keinen Zweifel daran, dass die Zeit für Scherze vorbei war. »Man dachte, das Buch sei für immer verloren, nachdem ein türkisches Museum, in dem es ausgestellt war, 1867 abgebrannt war. Ich hoffe, dass wir mehr über seinen Inhalt erfahren, wenn ihr es gestohlen habt.«
»Es ist bestimmt eine Menge wert, ja?«, fragte Con. Es fehlte nicht viel, und sie hätte sich dabei die Lippen geleckt.
»Eine unschätzbare Menge. Für mich könnte sein Wert unermesslich sein.«
Jonah lief ein Schauer über den Rücken. »Die Frau, die Budd und Clyde umgebracht hat – oder wer immer sie geschickt hat –, muss den Wert des Buches ebenfalls gekannt haben.«
»Auf Morells Laptop müssen haufenweise geheime Infos sein«, vermutete Tye. »Wir wissen doch gar nicht, ob sie genau wie wir hinter der Information her war, wie man an dieses Grim-Dingsbums herankommt.«
»Nur hat Morell praktisch überall hinausposaunt, dass ihm diese Information vorlag«, erwiderte Coldhardt trocken. »Er war ein gebildeter Mann, aber gleichzeitig naiv. Anscheinend hat er zufällig erfahren, wo das Grimoire sich befand, und wollte es für seine eigene Sammlung erwerben. Es stand nicht zum Verkauf – offenbar war es inoffiziell erworben worden, illegal –, deshalb brauchte er jemanden, der es für ihn stahl. Morell setzte sich mit verschiedenen Leuten in Verbindung – selbstverständlich auch mit mir –, um Angebote für den Job einzuholen. Ich machte ihm einen sehr moderaten Kostenvoranschlag.«
Con lächelte. »Weil du das Grimoire, wenn er akzeptiert und dir gesagt hätte, wo es zu finden ist, für dich selbst hättest stehlen können. Richtig?«
Coldhardt erwiderte das Lächeln ohne Wärme. »Wie gut du mich kennst, meine liebe Con.«
»Ich kapiere immer noch nicht, wie jemand auf die Idee kommen konnte, dass er die Info auf seinem Laptop hat«, gab Patch zu.
»Von dem Augenblick an, als er Verbindung mit mir aufgenommen hatte, ließ ich ihn beobachten – und wie es scheint, haben andere es genauso gemacht.« Coldhardt legte die Fingerspitzen aufeinander, sodass seine Hände ein spitzes Dreieck bildeten. »Morell wollte so kompromittierende E-Mails nicht von seiner eigenen Adresse aus verschicken, aus Angst, sie könnten zurückverfolgt werden – entweder von der Polizei oder von … anderen Behörden.« Wieder dieses eisige Lächeln. »Er verschlüsselte die Nachrichten zweifach, fuhr zu einem Hotel mit Wi-Fi-Zugang und schickte sie vom Parkplatz aus weg, damit sie nicht zu ihm zurückverfolgt werden konnten.«
Jonah schnalzte mit der Zunge. »Hat sich einfach ohne Erlaubnis in die drahtlose Verbindung anderer Leute eingeklinkt?«
»Mann, das ist ja – das ist ja gesetzeswidrig«, sagte Motti, ohne eine Miene zu verziehen. Patch kicherte.
Tye wandte sich an Coldhardt. »Wollte Morell uns den Auftrag, dieses Grimoire-Ding zu stehlen, nun geben oder nicht?«
»Nein.« Coldhardts Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Er beabsichtigte, ihn an einen meiner Mitbewerber zu vergeben – Karl Saitou, ein fähiger, wenn auch fantasieloser Krimineller.«
»Woher weißt du, was Morell zu tun beabsichtigte?«, hakte Tye nach.
»Weil Coldhardt an die Schlüssel gekommen ist, mit denen sich die Mails des Typen dechiffrieren ließen«, erklärte Jonah. »Daher wusste ich auch, dass die chiffrierten Dateien tatsächlich von Morell stammten und keiner sich daran zu schaffen gemacht hat.«
»Und die, die ich bis jetzt gelesen habe, waren hochinteressant«, berichtete Coldhardt. »Jedenfalls starb Morell, bevor er Saitou das Startsignal geben und die Bezahlung regeln konnte. Seine Leiche wurde von dem Feuer, dem sein ganzes Haus zum Opfer fiel, so übel zugerichtet, dass man nicht mehr genau sagen konnte, woran er gestorben ist.« Unvermittelt schlug er mit seiner knochigen Faust auf den Tisch. Alle zuckten zusammen. »Welch ein Jammer!«
Jonah räusperte sich. »Du hast ihn wohl gut gekannt.«
Der alte Herr warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Ich meinte seine Sammlung.«
Hätte ich mir denken können. Jonah schaute auf seinen kalten Kaffee hinunter. »Saitou wird das Grimoire also nicht stehlen, weil kein Geld mehr fließt.«
»Was für ein merkwürdiger Zufall, dass Morell von Jugendlichen umgebracht wurde, die sein Haus ausgeräumt und es dann angezündet haben, was?« Tye blickte in die Runde. »Da kommt kein Verdacht auf, oder?«
»Er hat sich mit schwarzer Magie und solchem Kram befasst …« Patch hatte die Stimme gesenkt. »Und das gruselige Manuskript hätte eigentlich schon früher verbrennen sollen. Vielleicht hat es Morell mit einem Fluch belegt.«
»Und vielleicht ist dein richtiger Name Dummsülzer«, konterte Motti.
»Es müssen Kids gewesen sein«, sagte Con unsicher. »Deshalb waren auch noch alle wirklich wertvollen Sachen im Haus. Sie haben nur das elektronische Zeug mitgenommen, das sie schnell weiterverhökern konnten.«
»Ein paar Jugendliche wurden festgenommen und angeklagt«, bestätigte Coldhardt, »aber einer davon hat ausgesagt, sie seien zu der Tat gezwungen worden.«
»Klar doch«, sagte Patch. »Mit dieser alten Leier kommen sie alle daher, wenn’s ihnen an den Kragen geht.«
»Jedenfalls«, meldete sich Jonah wieder, »habe ich auf dem Rückflug Morells sämtliche geschützten Dateien gecheckt, und keine wurde, nachdem er sie geschrieben oder abgeschickt hatte, je wieder geöffnet. Nicht einmal versucht hat man es. Es kann also keiner von deinen Mitbewerbern gewesen sein, der ihn ausgeraubt hat, oder?«
Coldhardt wedelte ungeduldig mit der Hand. »Solche Spekulationen sind ausgesprochen zwecklos – wir haben den Laptop, und wie Jonah sagte, hat sich niemand vor uns Zugang zu den Informationen darauf verschafft.« Er blickte zu Motti hinüber. »Wir sollten Mister Budd dankbar sein. Vielleicht habe ich meinen mykenischen Ring doch nicht umsonst geopfert.«
»Das mit dem Ring tut mir leid.« Motti bemühte sich um einen zerknirschten Gesichtsausdruck. »Aber mit der Pfeil-und-Bogen-Lady auf dem Kriegspfad, mit Rauch und Feuer und dem allem ringsherum …«
»Das Haus ist bis auf die Grundmauern abgebrannt«, fuhr Coldhardt nachdenklich fort. »Aber den Ring hat man nicht gefunden.«
»Wahrscheinlich hat ihn irgendjemand eingesackt«, vermutete Con.
Doch Coldhardt war bereits beim nächsten Thema. Er griff nach seiner Fernbedienung. Die Plasmabildschirme flackerten auf und zeigten Coldhardts Computer-Output – eine von Morells Dateien, die inzwischen dechiffriert worden war.
»Hier sehen wir ganz genau, wo sich das Guan-Yin-Manuskript befindet«, verkündete Coldhardt. »Du hast dich für Jonahs mittelalterliche kryptografische Handbücher in der Bibliothek interessiert, Motti? Nun, in der Bibliothek, die du besuchen wirst, befinden sich wahrscheinlich die Originale. Sie gehört einem Professor Dominic Blackland in San Antonio in Texas.«
»Ride ’em, Cowboy«, bemerkte Motti trocken.
»Es ist zwar richtig, dass Morells Dateien noch intakt sind«, fuhr Coldhardt fort, »aber wir dürfen die Möglichkeit nicht außer Acht lassen, dass er die Informationen mündlich an andere weitergegeben hat. Ich kann mir keine Verzögerung leisten. Ich erwarte, dass ihr mir bis heute Abend einen vernünftigen Plan vorlegt und das Guan-Yin-Manuskript bis morgen Abend in unserem Besitz ist.«
Tye hatte anscheinend beschlossen, dass es angebracht sei, das Offenkundige auszusprechen. »Das lässt uns nicht viel Zeit zum Ausarbeiten«, begann sie stockend. »Ich meine –«
»Ich habe nicht viel Zeit«, entgegnete Coldhardt kategorisch. Jonah fragte sich, was er damit wohl meinte. Es konnte alles Mögliche sein. »Und denkt dran, jeder Einzelne von euch: dieses Manuskript ist von allergrößter Wichtigkeit für mich! Geht kein Risiko ein, es muss unversehrt bleiben! Unter keinen Umständen darf es irgendeinen Schaden nehmen – sonst ist es wertlos für mich …«
Jonah tauschte kurze Blicke mit den anderen und besah sich dann pflichtschuldig die Bildschirme. Doch vor seinem geistigen Auge drängten sich Bilder von Feuer – Feuer, das Clydes Körper verzehrte, Morells Haus verschlang, sich in den stillen Räumen eines alten, muffigen Museums ausbreitete. Ein Buch der schwarzen Magie, das Unglück und Flammen mit sich brachte?
Zufall, sagte er sich und schluckte trocken. Zu bescheuert, um keiner zu sein.
»Wir kommen dich holen, Grimoire«, hörte er Patch düster murmeln. »Bedeutet das Pech für deinen Besitzer … oder für uns?«
Zwanzig Minuten später verließ Jonah als Erster den Konferenzraum. Die anderen folgten, blinzelten in die Sonne und steuerten den Klubraum an. Jonah war fix und fertig und von dem starken Kaffee brummte ihm der Schädel wie ein kaputter Transformator. Das alles gefiel ihm gar nicht.
»Morgen könnten wir alle sterben«, verkündete Con. »Lasst uns ein Picknick machen.«
»Lasst uns Liebe machen!«, schlug Patch vor.
»Vor oder nach dem Picknick, du Hengst?«, neckte Tye ihn.
»Das einäugige Monster und sein einäugiges Monster.« Motti hielt sich den Bauch. »Ich habe ganz plötzlich den Appetit verloren.«
»Wenn ich doch endlich die Unschuld verlieren würde!«, sagte Patch sehnsüchtig.
Jonah lächelte. »Solltest du nicht wenigstens bis zur Pubertät warten?«
»Was weißt denn du davon, Freak«, konterte Motti. »Du wartest doch immer noch!«
»Ha!« Patch hob die geballte Faust und Motti klopfte mit den Knöcheln dagegen. »Was würde ich bloß ohne dich und deine Schlagfertigkeit machen? Ich hätte niemand, der solche Sprüche für mich ablässt! Hiermit ist es dir offiziell verboten, dich von dem Buch verfluchen zu lassen und zu sterben.«
Mottis Laune änderte sich schlagartig. »Kein Wort mehr von diesem Fluch-Quatsch, Mutant. Okay?«, zischte er und ging schneller. »Ich hasse diesen abgedroschenen Schwachsinn.«
»So endet das Geplänkel«, sagte Jonah und warf Motti einen kurzen Blick zu. »Aber wenn ich einen so ungeheuer wertvollen antiken Ring verloren hätte, wäre ich wahrscheinlich auch schlecht drauf.«
Zu mehr als einem Grunzen und einem bösen Blick ließ Motti sich nicht hinreißen. Doch gerade als sie beide die Tür zum Hobbyraum erreichten, schlüpfte Con an ihnen vorbei und verstellte ihnen den Weg.
»Ich hab’s ernst gemeint«, sagte sie. »Das mit dem Picknick. Lasst uns ein paar Stunden abschalten.«
Tye runzelte die Stirn. »Hast du auf deinen Ohren gesessen, als Coldhardt gesagt hat, dass wir bis heute Abend einen Plan ausarbeiten sollen, wie wir in ein Fort einbrechen?«
»Kein Wunder, dass der arme Morell gezwungen war, günstige Angebote für den Job einzuholen.« Jonah seufzte. »Ich meine … Kann mir einer sagen, wozu der Typ seine eigene Festung braucht? Warum genügt nicht ein Bungalow?«
»In Texas ist eben alles größer und besser«, entgegnete Motti mürrisch.
Patch wandte sich an Tye. »Wie lange dauert der Flug?«
»Zu lange«, kam die Antwort. »Vielleicht würde uns ein bisschen frische Luft heute doch ganz guttun.«
»Prima.« Con lächelte. Sie freute sich, dass sie wie immer ihren Willen bekommen hatte. »Wir könnten auf den Salève steigen.«
»Und mit der Seilbahn fahren! Schnuckelig.« Patch nickte. »Ich mach für uns alle ein paar von meinen berühmten megadick belegten Supersandwiches, ja?«