Aztec Code (Band 2) - Stephen Cole - E-Book

Aztec Code (Band 2) E-Book

Stephen Cole

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Beschreibung

Fünf Jugendliche, fünf außergewöhnliche Talente, ein Auftrag und ein verborgener Tempel ... Jonah gerät unter Druck! Von seiner Fähigkeit, schnell und fehlerfrei Codes zu knacken, hängt einiges ab: die Suche nach dem vermissten Schwert des Cortés, die Lösung des Rätsels um die seltsame Gruppe "Die Sechste Sonne" und nicht zuletzt die Rettung eines entführten Gruppenmitglieds. Doch war es überhaupt eine Entführung? Oder trüben Jonahs Gefühle seinen sonst messerscharfen Verstand? Die fünf Jugendlichen, werden auf eine harte Loyalitätsprobe gestellt! Denn Gut und Böse, Falsch und Richtig sind auch bei diesem Auftrag kaum zu unterscheiden ... Eine atemberaubende Action-Jugendbuchreihe mit viel Witz und Spannung – Fans von James Bond und Indiana Jones werden voll auf ihre Kosten kommen! "Aztec Code" ist der zweite Band einer Trilogie. Der Titel des ersten Bandes lautet "Snakeroot".

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INHALT

DER AUFTRAG

DAS SCHWERT DES CORTES

KABACRA

ENTFÜHRUNG!

IN DER HÖHLE DES LÖWEN

RAMEZ

DIE SECHSTE SONNE

ZWEIFEL

TYES ENTSCHEIDUNG

DAS OPFER

AZTEKENCODE

RÜCKKEHR

PIZZA FOIE GRAS

INTERSTATE HIGHWAY 40

SHOWTIME

RAMEZ’ LETZTE NACHT

Für Linda Chapman,

DER AUFTRAG

Sie kamen wie Schatten aus der schwülwarmen Nacht. Drei Gestalten in Schwarz, die sich schnell und leise durch das hohe Gras neben dem unbefestigten, kurvenreichen Pfad bewegten. Ihr Ziel tauchte vor ihnen auf: ein weitläufiger Komplex aus fleckigem Beton, der im silbernen Licht des Mondes ruhige Gelassenheit ausstrahlte.

Jonah Wish überkam ein ungutes Gefühl, als er ihn sah. Er hatte Seitenstechen und rieb sich die Leiste, während seine Freunde im selben Tempo weiterliefen. Es war Samstagabend und was tat er – die Nacht durchfeiern? Von einem Klub zum nächsten ziehen? Sich mit seinen Freunden besaufen?

Von wegen! Er brach irgendwo im Hinterland von Guatemala in ein Atomkraftwerk ein.

Er strich sich das feuchte blonde Haar aus der Stirn. Das alte Lied, immer das alte Lied.

Wie verrückt es auch scheinen mochte, so sah jetzt sein Leben aus.

Noch vor wenigen Monaten hatte er in einer Jugendstrafanstalt eingesessen, ein Loser ohne Freunde und Familie, einer, der mit Codes und Computern besser konnte als mit Menschen. Internetbetrug hatte ihn in den Knast gebracht – und ihn ins Blickfeld eines mächtigen und höchst ungewöhnlichen Mannes gerückt …

»Du hast dir einen super Platz zum Stehenbleiben ausgesucht, Freak!« Mottis wütendes Zischen kam hinter einem dichten tropischen Gebüsch hervor und durchschnitt die schwüle Nacht. »Alle Welt kann dich sehen! Beweg deinen Arsch hier rüber, sonst tret ich dir in den Hintern, dass du in hohem Bogen über den Zaun fliegst.«

»Dann wär ich wenigstens schon mal drin«, murmelte Jonah und lief zu den anderen.

Motti war Amerikaner, hoch aufgeschossen, Spitzbart, mit grundsätzlich grimmiger Miene, das schwarze Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. »Wird aber auch Zeit.« Durch seine Brille mit den runden Gläsern blickte er angestrengt auf irgendein Hightechgerät. »Ich dachte, du wolltest eine Pinkelpause machen oder so.«

»Nö, meine Blase muss voll sein, damit ich mir nachher, wenn wir ihre Überwachungsanlage austricksen, richtig in die Hose machen kann.«

Motti erlaubte sich ein winziges Lächeln. »Das glaub ich dir gern.«

»He, hack nicht immer auf Jonah rum«, kam eine Stimme mit dem rauen Akzent der Südlondoner aus dem Gebüsch.

»Er ist achtzehn, Patch, er hat’s nicht nötig, dass ihn ein dürrer Baby-Zyklop in Schutz nimmt.«

»Dass ein schlaksiger Bartaffe ihm ans Bein pinkelt, hat er auch nicht nötig.« Patchs schmales, sommersprossiges Gesicht erschien zwischen fleischigen Blättern. Im Mondlicht sah die lederne Augenklappe über seinem fehlenden linken Auge gespenstisch aus, wie eine leere Augenhöhle.

»Stimmt«, knurrte Motti, den Blick weiterhin konzentriert auf das Gerät gerichtet. »Das kann er nämlich selber.« Alle drei grinsten, doch dann begann ein rotes Licht zu blinken und Motti wurde augenblicklich ernst. »Okay, wir haben ein Signal. Die Stromversorgungseinheit für den Elektrozaun ist dreißig Meter nördlich von hier.«

Auch Patch war wieder voll bei der Sache. Wie Motti wusste er ganz genau, wann Schluss mit lustig war. »Ich nehm an, du kannst sie ausschalten?«

»Klar kann ich sie ausschalten«, antwortete Motti. Er veränderte diverse Einstellungen an seiner Trickkiste. »Und die Dumpfbacken in der Kontrollstation werden es nicht mal merken. Vorausgesetzt, Tye und Con sind auf Zack.«

»Hoffentlich ist alles in Ordnung bei ihnen«, murmelte Jonah.

Sie warteten angespannt und schweigend. Still war es deshalb trotzdem nicht. Die Zikaden ringsherum machten einen Lärm wie ein monströser Riesengenerator. Der Regenwald war zwar ein gutes Stück entfernt, doch die Geräusche, die von dort herüberkamen, das Heulen und Kreischen unbekannter Tiere, wirkten in der Nacht unheimlich. Aber Jonah war überzeugt, dass sein hämmernder Herzschlag alle anderen Geräusche locker übertönte.

Er biss sich auf die Lippe und versuchte an die vielen Vorteile seines neuen Lebens zu denken – die Reisen, das Geld, die Freiheit, das Gefühl, nach all den Jahren irgendwo dazuzugehören. Es gelang ihm nicht; im Augenblick sah er nur die Nachteile. Okay, sie beklauten nur Leute, die es verdienten, dass man sie beklaute – halbseidene, superreiche Typen, denen, wenn sie zur Polizei gingen, wahrscheinlich eine ganze Menge mehr abhanden käme. Doch während der aufwendigen, nervenaufreibenden Vorbereitung auf einen Job hatte Jonah, mit dem Eisengeschmack der Angst im Mund, immer nur einen Gedanken: Bitte holt mich hier raus. Ich bin nicht zum Dieb geboren.

Am wenigsten für diese gruselige, freakige Art von Diebstahl, auf die sich der Boss spezialisiert hatte.

»Wisst ihr was?«, flüsterte Patch. »Ich glaube, mir würd’s sehr viel besser gehen, wenn das Ding hier tatsächlich nur ein Atomkraftwerk wäre.«

»Mir auch«, sagte Jonah. »Und das will was heißen.«

»Schluss mit dem Gesabbel, es geht los«, sagte Motti. »Und nicht vergessen: Wir haben einen Job zu erledigen. Wenn wir die Sache versemmeln …«

Er deutete mit dem Handrücken ein Messer an, das langsam über seine Kehle fuhr. Dann entfernte er sich rasch durchs hohe Gras. Patch rieb nervös über das Leder seiner Augenklappe und huschte hinter ihm her.

»Dann wollen wir mal«, murmelte Jonah und folgte den beiden.

Ein neuer Tag, ein neuer Job, sagte Tye sich. Nur dass dieser für ihren Geschmack zu viele schlimme Erinnerungen weckte. Sie war auf Haiti geboren und aufgewachsen und hatte, seit sie elf war, fünf Jahre in der Karibik und Südamerika Waren aller Art geschmuggelt. Zwei Mal wäre es ihr in Guatemala bei der Überquerung der Grenze nach Honduras beinahe an den Kragen gegangen. Aber sie hatte noch mal Glück gehabt. Sie konnte nur hoffen, dass das Glück sie auch beim dritten Mal nicht im Stich ließe.

Denn jetzt war sie hier, kauerte dicht beim Haupteingang des offenbar leeren Komplexes neben einem Schild, das für saubere, billige Atomenergie für alle warb.

Doch Tye wusste, was hier wirklich abging. Und wie ungeheuer gefährlich der Überfall war. Dass ihr der Schweiß in Strömen über den Rücken lief, lag nicht nur an der feuchtschwülen Nachtluft.

Sie schaute Con an, ihre Begleiterin und Kollegin, und wünschte, sie könnte ihre Ängste mit einer Freundin teilen. Doch Con schloss keine Freundschaften – Zweckgemeinschaften waren mehr ihr Ding. Sie war platinblond und sah fantastisch aus und das Einzige, was sie an sich heranließ, war Geld.

Con hob eine perfekt gezupfte Augenbraue. »Alles in Ordnung?« Sie sprach mit einem ganz leichten europäischen Akzent und ihre Stimme war wie eine kühle Brise in der Hitze.

»Ja, alles klar.« Tye richtete sich auf, strich das eng anliegende pinkfarbene Top glatt, das, wie Con ihr versichert hatte, super aussah zu ihrer dunklen Haut. »Glaubst du wirklich, dass es hinhaut?«

»Die Männer, die hier arbeiten, sind allein und langweilen sich.« Con knöpfte die oberen Knöpfe ihrer Spitzenbluse auf. »Sie werden die Gelegenheit, ein wenig weibliche Gesellschaft zu haben, nicht ausschlagen, solange der Boss weg ist.«

»Bist du dir da sicher?«

Con lächelte und zog ihren kurzen schwarzen Rock noch ein Stückchen höher. »Sie werden uns aus der Hand fressen, okay?«

Tye nickte unglücklich. »Sie werden meine Faust zu schmecken kriegen, wenn sie mir zu nahe kommen.«

»Es wird schon alles gut gehen.« Damit stöckelte Con auf den Haupteingang zu. »Wir müssen für unsere Jungs für Ablenkung sorgen.«

Jungs abzulenken fällt dir nicht schwer, dachte Tye. Wenn du in der Nähe bist, werde ich zum Mauerblümchen.

Und bisher hatte ihr das nicht das Geringste ausgemacht – bis Jonah Wish in ihr Leben getreten war.

Es war nicht so sehr sein Aussehen, obwohl er wirklich nicht schlecht aussah – etwas zu langes blondes Haar, ernste Augen, ein Lächeln, das vermuten ließ, dass er über Dinge Bescheid wusste, die er besser nicht weitererzählte. Es war mehr seine Persönlichkeit. Tye besaß die Gabe, Menschen zu durchschauen – in ihrer Zeit als Schmugglerin hatte ihr diese Gabe das Leben gerettet und sie hatte vom ersten Tag an gewusst, falls sie sich einem anderen Menschen gegenüber einmal wirklich öffnen sollte, würde Jonah derjenige sein.

Ja. Falls.

»Los, komm«, drängte Con, »es wird Zeit.« Sie drückte auf einen Knopf an der Sprechanlage neben dem Tor und schaute unbefangen zur Überwachungskamera hinauf.

Tye holte tief Luft und trat zu ihr.

Ein Knacken und Knistern und ein Schwall Spanisch kamen aus der Sprechanlage. Die Männerstimme klang unwirsch und drohend, doch Con quasselte mit ihrem schönsten Lächeln drauflos. Sie beherrschte acht Sprachen fließend und elf weitere für den Hausgebrauch. Nur schade, dass man ihr kaum ein Wort von dem, was sie sagte, glauben konnte, egal in welcher Sprache sie gerade redete.

Tye konnte ausreichend Spanisch, um zu verstehen, worum es bei der Unterhaltung ging. Wie besprochen erklärte Con, sie seien Rucksacktouristen, die von zwei bastardos hier herausgelockt worden waren, denen der Sinn nach mehr gestanden habe als nach einem Spaziergang im Mondschein. Sie seien weggerannt, hätten jetzt aber keine Ahnung, wo sie sich befanden. Gab es vielleicht irgendjemanden, der ihnen helfen konnte?

Die Stimme sagte Con, sie solle warten.

Tye schaute in die Kamera und versuchte einen Bitte-bitte-Blick hinzukriegen.

Kurz darauf knackte es wieder in der Sprechanlage und eine andere Männerstimme wies sie an, am Tor zu warten, bis jemand sie abholen käme.

»Sie wollen uns«, murmelte Con durch ihr dankbares Kameralächeln hindurch.

Tye ließ ihre Wimpern klimpern. Aus der Ferne röhrte bereits ein Motor heran. Gelbe Scheinwerfer kamen rasch vom Hauptgebäude herüber. Die Tore klapperten, als eine unsichtbare Verriegelung gelöst wurde, und schwangen langsam nach innen.

»Beeil dich, Motti«, flüsterte Tye.

Dann gingen Flutlichter an. Tye schützte die Augen mit der Hand, als drei Farbige in einem zerbeulten offenen Jeep neben ihnen hielten. Ihre Automatikgewehre hatten sie lässig über die Schulter geworfen. Sie waren verschwitzt und schauten Tye und Con mit grimmiger Miene an.

Dann begann der Fahrer zu lächeln, wobei er Zähne zeigte, die so faulig waren, wie er roch. »Steig ein«, sagte er zu Con und klopfte auf den Sitz neben sich. Was bedeutete, dass für Tye nur die winzige Lücke hinten zwischen seinen beiden Lieblingsgorillas blieb. Sie kletterte auf den Jeep. Die zwei stanken nach Schweiß und Knoblauch und machten keine Anstalten, ihr zu helfen oder Platz zu machen. Offenbar gingen sie tatsächlich davon aus, dass sie es mit zwei hilflosen Mädchen zu tun hatten, die sie einschüchtern konnten.

Tye quetschte sich zwischen sie und erlaubte sich ein winziges Lächeln. Ihr habt ja keine Ahnung, dachte sie.

Motti hörte das leise Brummen eines Elektromotors, das die Nachtluft zu ihnen herübertrug.

»Das Haupttor geht auf«, zischte Jonah neben ihm.

»Bin doch nicht taub«, knurrte Motti. Und blind auch nicht, dachte er, als Flutlichter angingen und sich lange Schatten von dem Gebäudekomplex in Richtung Elektrozaun zogen – ein stinknormales 21-Drähte-Teil mit drei Meter hohen Pfosten. Zum Glück reichten die Flutlichter nur bis knapp vor den Graben, in dem er und die beiden anderen kauerten. Sie hatten ihn ausgehoben, damit sie, ohne einen Alarm auszulösen, den Kabelkanal freilegen konnten, der den gesamten Komplex mit Strom versorgte. Wenn er sich ansah, wie verkommen hier alles war – den ganzen Zaun entlang Unkraut und Abfall, Knicke im Draht und Schlimmeres – überraschte Motti ihr Erfolg nicht. Aber er war ohne Ende erleichtert.

So weit, so gut.

Patch richtete den Strahl einer Taschenlampe auf die diversen Kabel im Kanal und Jonah hievte daneben eine hocheffiziente Blackbox mit jeder Menge Kondensatoren in Position. Fachmännisch schloss Motti Überbrückungskabel von seinem selbst gebastelten Gerät an die richtigen Ausgänge an.

»Okay. Von jetzt an wird die gesamte Stromladung in diesem Zaunabschnitt von der Motti-Box absorbiert. Das sind 10000 Volt.«

»Gut, dass sie hier reinlaufen und nicht in uns«, meinte Patch.

»Das wird aber passieren, wenn du nicht in sechzig Sekunden auf der anderen Seite bist«, informierte Motti ihn. Er trat an den Zaun und begann hinaufzuklettern. »So viel Zeit haben wir ungefähr, bis die Kapazitäten der Box ausgeschöpft sind und der Strom wieder in den Zaun zurückfließt.«

Jonah und Patch sprinteten zu dem Maschendraht und kletterten ebenfalls hinauf. »Und du bist sicher, die Wachen merken nicht, dass in diesem Abschnitt kein Strom fließt?«, fragte Jonah im Weiterklettern. »Du hast doch selbst gesagt, sie haben Manipulationsmelder.«

»Computer und Codes sind dein Ding, meines ist Sicherheit, okay?« Motti schwang sich über den Zaun und rechnete im Kopf rasch nach. Noch 35Sekunden. »Punkt eins: Die gesamte Kontrolle des Zauns geht von der Überwachungsstation aus – also vom Kontrollraum. Von dort können sie den ganzen Zaun oder einzelne Abschnitte unter Strom setzen oder den Strom abschalten.«

»So wie sie den Strom im Eingangsbereich gerade abgeschaltet haben«, keuchte Patch dicht hinter ihm.

»Genau. Und wenn sie das machen, geht ein Spannungsstoß durch das gesamte System. Deshalb habe ich mich erst in diesem Moment eingeklinkt.« Noch 25Sekunden. »Es kommt zu einer Spannungsspitze, aber da jeder lumpige Einkaufswagen in einem Supermarkt besser gewartet wird als dieser Elektrozaun, werden sie es als normalen Verschleiß abtun – wenn es ihnen überhaupt auffällt.«

»Hoffentlich hast du recht«, sagte Jonah, der sich als Letzter über den Zaum schwang.

»Noch zehn Sekunden, Freak!«, zischte Motti. »Los, beweg dich!«

Jonah sprang und legte sich sofort flach auf den Boden.

»Das Haupttor sollte sich jeden Augenblick wieder schließen«, flüsterte Motti. Und tatsächlich hörten sie es schon klappern. Die Flutlichter gingen aus und der ganze Komplex wurde wie zuvor nur vom Mondlicht erhellt.

»Gleich fließt der Saft in den Zaun zurück …«

»Jetzt!«, sagte Patch, als das gespenstische Sirren wieder einsetzte.

»Nicht schlecht, Motti«, wisperte Jonah.

»Vergiss es«, knurrte Motti. »Den Zaun lassen sie verkommen. In den Sicherheitsbehälter reinzukommen wird bestimmt um einiges schwieriger.«

»Was du nicht sagst.« Patch seufzte und schüttelte den Kopf. »Ich kann’s nicht glauben, dass wir einen Atomreaktor überfallen.«

»Er ist seit Jahren nicht mehr in Betrieb«, erinnerte ihn Motti.

»Aber radioaktiv könnte er immer noch sein! Wart’s ab, vielleicht leuchten unsere Hintern neongrün, bis wir hier wieder rauskommen.«

»Cool. Dann kann ich dir im Dunkeln leichter eine reintreten.« Motti holte schon mal aus. »Und jetzt sieh zu, dass wir in diesen Sicherheitsbehälter kommen.«

Jonah schaute sich nach allen Richtungen um. »Die Luft scheint rein zu sein.«

Motti nickte. »Wenn wir Glück haben, gehen die Wachen die beiden Süßen angucken, die da plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht sind.«

»Gut für uns«, stimmte Jonah grimmig zu. »Schlecht für Tye und Con.«

Die Fahrt zum Kontrollraum schien ewig zu dauern, aber wenigstens war eine Unterhaltung bei dem lauten Knattern des Motors nicht möglich. Im Licht der Scheinwerfer sah Con, dass die gesamte Anlage verrottete wie eine große Industrieleiche. Aus den Rissen im Asphalt wuchs hohes Gras. Vor sich hin rostende Gabelstapler und vergammelte Paletten standen und lagen auf ansonsten leeren Höfen herum. Nicht mehr genutzte Bauten waren bereits halb verfallen.

Der Jeep hielt vor dem Kontrollraum, der direkt neben dem Empfangsbereich lag. Dieser musste früher einmal ziemlich beeindruckend gewesen sein, doch jetzt war das verspiegelte Glas zwischen verrosteten Stahlträgern gesprungen und voller Spinnweben. Con nahm an, dass nur noch ein Bereich wirklich gut in Schuss war – die Sicherheitsbehälter, in denen früher einmal der Reaktorkern war.

Jetzt bargen sie einen geheimen Schatz. Wenn sie an das Geld dachte, das er ihr einbringen konnte, schlug ihr Herz schneller. Dafür lohnte es sich, dass sie sich in Gefahr begab. Dafür lohnte sich alles.

Sie betrachtete die Wachen; beeindrucken konnten sie sie nicht. Würde man Dreck, Schweiß und die Tattoos von ihnen abschrubben, stünde auf ihrer Stirn »Söldner« geschrieben. Am Beruf des Söldners war nichts auszusetzen, ganz bestimmt nicht – ohne den finanziellen Anreiz wäre Con selbst auch nicht hier –, aber dieser Haufen konnte nicht sonderlich gut sein, wenn er dazu abkommandiert war, einen Ort zu bewachen, der schon anderweitig gut gesichert war. Der Besitzer musste wissen, dass kein Dieb, der etwas auf sich hielt und seine fünf Sinne beisammenhatte, hier eindringen würde.

Es sei denn, es wären Diebe wie wir, dachte Con.

»Da rein«, sagte der Fahrer auf Spanisch zu ihr.

»Können wir mal telefonieren?«, fragte sie. Er lachte ihr ins Gesicht und schob sie aus dem Jeep. Er roch stark aus dem Mund. Tye war der unmissverständlichen Aufforderung ihrer beiden großen, kräftigen Begleiter bereits gefolgt und ausgestiegen.

»Besonders freundlich sind sie ja nicht«, wisperte Tye. »Kannst du nicht etwas tiefer in die Charmekiste greifen?«

»Bitte, wir sind stundenlang herumgelaufen«, sagte Con Mitleid heischend zum Fahrer. »Wir wollen uns nur ein wenig ausruhen und dann –«

»Da rein«, wiederholte der Fahrer nur und öffnete die Tür zum Überwachungsraum.

Was einmal eine blitzsaubere Sicherheitszentrale gewesen war, war jetzt ein großes, schäbiges und völlig verqualmtes Wohnzimmer. Auf dem verfleckten Boden lag jede Menge Müll. Von den in die Decke eingelassenen Spots funktionierten nur noch wenige. Mehr Licht kam von den Überwachungsmonitoren, auf denen flackernde Schwarzweißansichten der Anlage zu sehen waren. Ein Pokertisch war in eine Ecke geschoben worden; Karten und Chips lagen zwischen halb vollen Tequila- und Whiskyflaschen.

Ein drahtiger Weißer, der vor den Monitoren saß, schwang auf seinem Drehstuhl herum, um die Neuankömmlinge in Augenschein zu nehmen. Con nickte ihm höflich zu. Hungrig ließ er den Blick zwischen ihr und Tye hin- und herwandern wie ein Kind, das nicht weiß, welches Geschenk es zuerst aufreißen soll.

Die beiden großen Farbigen aus dem Jeep standen hinter ihnen und blockierten den Ausgang; der Fahrer hatte sich ihnen vorn in den Weg gestellt. Arschlöcher. Können nichts als einschüchtern. Con bemühte sich nach Kräften, verängstigt auszusehen, und beobachtete in stiller Wut, wie die Männer sich daran aufgeilten.

»Zieht eure Schuhe aus«, sagte der Fahrer leise.

Sie schaute ihn verständnislos an. »Warum?«

»Du hast gesagt, ihr wärt stundenlang herumgelaufen. Dann lasst mal eure Füße sehen.«

Doch nicht ganz so blöd. Mit einem Schulterzucken schaute Con zu Tye hinüber und tat, was man von ihr verlangte. Zum Glück waren sie tatsächlich eine ganze Zeit lang durch das unwirtliche Gelände auf der Rückseite des Komplexes gelaufen, damit sie nicht entdeckt wurden. Ihre Füße waren aufgescheuert und rot und sie hatte fast so viele Blasen wie Tye. Sie versprach sich eine Fußpflege, sobald sie wieder im Hauptquartier waren.

Der Fahrer betrachtete ihre Füße und schien danach etwas entspannter. »Und ihr zwei habt ganz zufällig hierhergefunden, wie?«

»Wir haben vom Berg aus die Lichter gesehen«, antwortete Tye in stockendem Spanisch. »Die Typen haben uns an der Hauptstraße aufgegabelt und gesagt, sie würden uns bis Livingston mitnehmen.«

»Tatsächlich?«, höhnte der Fahrer. Er wandte sich an seine dämlichen Kollegen, die die Tür bewachten. »Nehmt Samuel und Kristian mit und sucht die Gegend ab. Fangt mit dem Hauptweg an. Wenn ihr irgendjemand herumlungern seht, bringt ihr ihn her. In einem Stück oder in mehreren – Kabacra ist es egal.«

»Wer seid ihr?« Con heuchelte Entsetzen. Mit der Möglichkeit, dass das passieren würde, hatten sie rechnen müssen. Wenigstens mussten sich Motti und die anderen dann um weniger Wachen innerhalb des Zauns Gedanken machen. »Wo sind wir denn hier gelandet?«

»Und wer ist Kabacra?«, fragte Tye und drehte sich um, als die Männer den Raum verließen.

»Ihr wollt doch, dass wir euch wieder laufen lassen, ja?« Der Fahrer grinste anzüglich und zeigte dabei seine kaputten Zähne. »Dann haltet die Klappe, bis ihr etwas gefragt werdet.« Er goss Tequila in ein schmutziges Glas. »José, behalt sie im Blick.«

Der Mann auf dem Drehstuhl lachte dreckig in sich hinein. »Und wie ich sie im Blick hab, Mann!«

Nur zu, dachte Con unbeeindruckt, als hinter ihm drei dunkle Gestalten über einen der diesigen grauen Monitore flitzten.

Patch blieb abrupt stehen, als er tiefe Männerstimmen hörte. Sofort ließ er sich auf den Boden fallen und Motti und Jonah folgten seinem Beispiel. Sie blieben regungslos liegen, bis die Stimmen sich entfernten.

»Was war das jetzt?«, überlegte Patch.

»Vielleicht glauben die Wachmänner den Mädchen nicht, dass sie allein gekommen sind«, zischte ihm Motti ins Ohr. »Falls sie davon ausgehen, dass es ein Ablenkungsmanöver ist, gibt’s Zoff.«

Jonah fluchte leise. »Aber wenn sie deine Box finden und merken, dass sie an die Stromversorgung angeschlossen ist –«

»Beeilen wir uns einfach, ja? Patch, die Tür, die du aufmachen musst, ist direkt da drüben.« Motti zeigte auf ein hohes Gebäude, das am Himmel einen breiten Sternenstreifen verdeckte. »Die Tür ist etwas zurückgesetzt und nicht besonders gut beleuchtet. Du hast also gute Chancen, dass die Überwachungskameras dich dort nicht erfassen. Du musst nur schnell rüberflitzen und darfst keine abrupten Bewegungen machen und dann sieh zu, dass wir irgendwie reinkommen.«

Patch schaute ihn finster an. »Du brauchst mich nicht zu behandeln, als wär ich noch ein Kind.«

»Mit vierzehn ist man noch ein Kind.«

»Rein technisch gesehen vielleicht.«

»Dann lass es jetzt technisch krachen, bevor ich dir eins aufs Auge haue.«

Patch schob seine lederne Augenklappe nach oben, griff unter sein Augenlid und holte sein Glasauge heraus. Es gab ein leises, schmatzendes Geräusch. Vergnügt stellte er fest, dass Motti zusammenzuckte und würgte.

»Du gottverdammter Zyklopenkopf«, keuchte er. »Hört dieser Schwachsinn mit dem Mehrzweckauge nicht endlich auf?«

»Jonah findet’s cool. Stimmt doch, Kumpel, oder?« Patch schraubte das Glasauge auf. Zum Vorschein kam eine weiche Masse.

»Plastiksprengstoff?«, fragte Jonah.

»Knete«, erwiderte Patch. Dann zog er die Lederklappe wieder herunter und sprintete zur Tür. Seine Nervosität legte sich, als er sich genau anschaute, mit welchen Hindernissen er es zu tun hatte. Fingerabdruckscanner – aus Marke und Modell schloss er, dass der Scanner circa zwei Jahre alt war – verbunden mit einer älteren, für acht Ziffern ausgelegten Tastatur.

Ein Klacks.

Er presste die Knetmasse auf die Eins der Tastatur. Es musste ein Abdruck darauf sein, denn sie war seit einer Ewigkeit nicht gereinigt worden. Er legte die weiche Masse auf die Scannerplatte. Ein sauberer Abdruck war es sicher nicht, aber die Platte war schon so lange den Elementen ausgesetzt, dass sie bestimmt nicht mehr so empfindlich war und –

Ein grünes Licht blinkte; der Fingerabdruck war erkannt und akzeptiert worden. »Wer sagt’s denn«, murmelte Patch und steckte die Masse in sein Glasauge zurück. »Und jetzt der Schlüsselcode.«

»Los, beeil dich, Zyklop!«, zischte Motti von der anderen Seite des zugewucherten Hofes.

»Ich brauche den Bitbuster.« Schon zog Patch ein Gerät in der Größe einer TV-Fernbedienung aus seiner hinteren Hosentasche, klappte den kleinen Bildschirm mit Hintergrundbeleuchtung auf und schloss es an die Tastatur an. Zahlenkolonnen flimmerten über das Display. Der Bitbuster loggte sich über eine drahtlose Verbindung in den Chip in der Tastatur ein und suchte nach dem letzten erfolgreich eingegebenen Code. Manchmal dauerte es eine Weile, bis die Verbindung zwischen den beiden kleinen Computern zustande kam, aber –

Mit einem stolzen Piepsen beendete der Bitbuster sein digitales Schwätzchen. Auf dem Monitor standen jetzt acht Ziffern. Aber waren es auch die richtigen?

Patch hielt den Atem an, während er die Ziffernfolge eintippte: 1-5-3-0-9-0-1-5.

Ein lautes Klicken ertönte, als die Verriegelung sich löste und die Tür aufging, doch Patch traute sich immer noch nicht zu atmen. Misstrauisch blickte er in die pechschwarze Dunkelheit hinein.

Was wartete da drin auf sie?

DAS SCHWERT DES CORTES

Eine dunkle, bewegte Schliere auf dem Monitor sagte Tye, dass Patch sich jetzt an der Tür zum Sicherheitsbehälter an die Arbeit machte. Con hatte es auch gesehen und hielt Augenkontakt mit José. Sie lächelte verhalten und stellte damit sicher, dass er sich ausschließlich auf sie konzentrierte.

Tye beschloss, ein Spiel zu spielen, für das sie besser geeignet war. Sie räusperte sich, und als der Fahrer sie anschaute, legte sie den Kopf zur Seite und sagte: »Es tut uns wirklich leid, wenn wir verbotenes Gelände betreten haben. Wir wussten es ehrlich nicht. Sie glauben uns doch, oder? Sie lassen uns wieder gehen?«

Er zögerte weniger als eine Sekunde, doch Tye konnte Körpersprache lesen, wie Patch Comics las, und dieser Blödmann hatte sich über die Lippen geleckt, zu seinem Freund hinübergeschaut und sein Gewicht auf die Fußballen verlagert, noch bevor er Luft geholt hatte – klassische Hinweise darauf, dass er gleich eine glatte Lüge von sich geben würde. »Klar. Das sind nur Vorsichtsmaßnahmen. Egal was geschieht, euch passiert nichts.«

Klar. Haha. »Danke.«

»Pass du kurz auf sie auf, José. Ich muss mal.«

Ja, geh nur. Geh! Und bitte ohne vorher noch einmal auf den Monitor zu schauen!, suggerierte Tye ihm. Zum Glück hatte er genug damit zu tun, sich im Schritt zu kratzen. Nachdem er gegangen war, sagte sie zu Con leise auf Englisch: »Er lügt und ist überzeugt, dass wir ebenfalls lügen. Wir sind tot, wenn wir hier zu lange rumhängen.«

»Und noch schneller, wenn er sieht, dass die Tür geöffnet wurde«, murmelte Con.

Tye schaute hoch und sah eine dunkle Gestalt – sie nahm an, dass es Patch war – vorsichtig durch die inzwischen offene Tür gehen.

Con lächelte. »Ich mache mich dann besser an die Arbeit.«

»Was sagst du da?«, fragte José, plötzlich misstrauisch.

»Meine Freundin hat überlegt, welche von uns dir besser gefällt. Ich glaube, du magst mich lieber. Schau mir in die Augen, José, in die Augen.«

»Keine Tricks«, warnte er. »Weder von ihr noch von dir.«

»Keine Tricks«, stimmte Con zu. Ihre Stimme war leiser geworden, beruhigend und exotisch. »Schau mir einfach in die Augen, José, und vergiss sie. Vergiss alles um dich herum.«

Tye nahm eine Bewegung auf dem Monitor wahr. Eine zweite Gestalt war aufgetaucht und blickte nervös zu der Überwachungskamera hinauf. In dem Geflimmer erkannte sie Jonahs hübsches Gesicht, das jetzt voller Sorge war.

In derselben Sekunde unterbrach José aus einem Instinkt heraus den Augenkontakt mit Con, drehte sich auf seinem Stuhl herum und sah Jonah ebenfalls.

Er brüllte, sprang auf und zielte mit einer Pistole auf Con. Sie warf sich zur Seite, als er abdrückte. Tye hob einen ihrer Stiefel auf und ließ ihn wie ein Geschoss durch die Luft sausen. Die Stahlkappe traf den Mann an der Stirn und er fiel rückwärts über seinen Drehstuhl. Er stand nicht wieder auf.

»Danke, Süße«, sagte Con etwas zittrig, als sie sich von dem dreckigen Boden aufrappelte. Doch Tye hörte schnelle Schritte. Der Fahrer kam mit wutverzerrtem Gesicht zurück, sein Hosenladen stand offen. Con warf sich nach vorn und platzierte einen Karatetritt genau dorthin. Es verschaffte ihr ungeheure Befriedigung. Der Fahrer krümmte sich mit einem heiseren Quieken. Tye ließ einen Kinnhaken folgen, der ihn gegen den Pokertisch taumeln ließ. Der Tisch brach unter seinem Gewicht zusammen.

Con kauerte sich neben den Fahrer und tätschelte seine Wange, damit er wieder zu sich käme. »Du liebe Güte, musstest du so hart zuschlagen, Tye?«

»Kannst du ihm was einflüstern?«, fragte Tye besorgt.

»Ich mache keinen Voodoozauber«, erwiderte Con schroff. »Was ich mache, ist Mesmerismus. Und es funktioniert nicht, wenn die Leute bewusstlos sind.«

Tye biss sich auf die Lippe. Die Art und Weise, wie Con fast jeden hypnotisieren und dazu bringen konnte, beinahe alles zu tun, war in ihren Augen Zauberei. Ihr Plan war gewesen, dass Con wenigstens einen der Typen so beeinflussen sollte, dass er die anderen Wachleute von der Stelle weglockte, an der die Diebe ihren Abgang machen wollten. Wenn die Söldner sich jetzt über Funk in der Zentrale meldeten, war niemand da, der ihnen antworten konnte – und dann war etwas sehr Ekliges am Dampfen.

Con zog ihr Handy heraus und drückte auf die Kurzwahltaste. »Motti? Beeilt euch da drin bitte.«

Jonah lief hinter Patch eine Betontreppe hinauf, die an einer feuersicheren Tür endete. Wie vorherzusehen, war sie verschlossen – und ebenfalls nur über einen Fingerabdruckscanner zu öffnen.

Patch war schon wieder mit seiner Knete am Werk. »Wo ist Motti?«

Nervös drehte Jonah sich um. »Mot?«

»Bin schon da«, zischte der, während er lautlos die Treppe heraufkam. »Con hat gerade angerufen. Wir haben nicht viel Zeit.«

»Dann ist es ja gut, dass dieses altmodische Teil hier genauso eine Lachnummer ist wie die Eingangstür«, meinte Patch. Das System reagierte auf den mit der Knete abgenommenen Fingerabdruck und die feuersichere Tür schwang auf. Dahinter lag ein Zimmer mit feuchten Betonwänden; es war leer bis auf einen hochspezialisierten PC auf einem klapprigen Campingtisch. Dicke Kabel stellten eine nicht zu unterbrechende Verbindung zu einer Stromversorgungseinheit her. Eine Webcam mit hoher Auflösung war mit Knetmasse auf dem Monitor befestigt.

»Das ist eine richtige Bruchbude hier«, stellte Jonah fest.

»Vielleicht will der Besitzer, dass man genau das glaubt«, warnte Motti, »damit er dich dann überrumpeln kann.« Er zeigte auf eine zweite feuersichere Tür. »Der Hauptsicherheitsbehälter sollte direkt dahinter sein. Das heißt, das hier ist die letzte Bastion zu seiner Verteidigung.«

Jonah kniete sich vor den PC, der leise vor sich hin summte, und stupste die Maus an, um den Bildschirm zu wecken. Sofort erschien ein Kästchen, das nach dem Passwort verlangte. Er zog eine CD aus der Innentasche seiner Sommerjacke und lud sie. Sie enthielt genügend Hack-und-Knack-Software, um auch die verzwicktesten Verschlüsselungsalgorithmen zu knacken.

Das hoffte er zumindest.

Während er sein Wissen und seine CD gegen den Computer ins Rennen schickte, ging er vollkommen in der Herausforderung auf. Er hätte sonstwo sein können: in seinem abgedunkelten Zimmer bei einer der vielen Pflegefamilien oder im Computerraum einer der vielen trostlosen Schulen. Es war, als sei der Monitor das Fenster zu einer anderen Welt, in die er sich zurückziehen konnte. Eine geordnete Welt, die glasklar und herrlich sinnerfüllt war, wenn man sie nur mit den richtigen Augen sah. Und je unerfreulicher die äußeren Umstände während seiner Jugendzeit wurden, desto stärker wurde der Drang, immer schwierigere Codes zu knacken.

Verglichen mit der Schwierigkeit, das richtige Leben zu knacken, war das ein Klacks.

»Ich bin im Sicherheitssystem«, verkündete er und schaute auf seine Uhr. Drei Minuten. Nicht schlecht.

Patch und Motti untersuchten die Doppeltür. »Kriegst du die auf, Freak?«, fragte Motti. »Es gibt keinen Eingangscodierer, nichts, was man außer Kraft setzen müsste.«

Jonah klickte Dateien an und ging Verzeichnisse durch. »Ich finde nichts, was etwas mit der … Moment.« Beim Öffnen einer Datei hatte er ein Softwareprogramm in Gang gesetzt; sein Herz kam ins Stolpern. »He, Leute, das hier könnte das Aus für uns bedeuten.«

»Was?« Motti und Patch kamen herüber.

»Ich hab den Schlüssel für die Tür gefunden.« Er deutete auf den Monitor, wo die Darstellung eines Gesichts als Wireframe Map in Blau und Grün zu sehen war. »Gesichtsscanner, verbunden mit der Webcam. Und er ist so eingestellt, dass er nur ein Gesicht erkennt.«

»Welches?«, fragte Patch.

Motti gab ihm einen Schubs. »Das von dem Typ, dem das alles hier gehört, Hirschkopf.«

»Das ist das Wireframe-Bild. Jetzt wollen wir mal sehen.« Jonah klickte es an: Kabacra.jpg. »Man kann nie wissen. Vielleicht sieht er ja aus wie einer von uns.«

Das war nicht der Fall.

Das hagere, kantige Gesicht eines Hispano-Amerikaners mit wildem Blick stierte sie an. Narben überzogen die Haut in alle Richtungen.

»Himmel!«, sagte Patch. »Der sieht ja aus, als hätte jemand versucht, sein Gesicht mit einem Messer auszumerzen.«

»Der Schweinehund hat uns noch nicht besiegt«, knurrte Motti finster. »Hat der PC Bluetooth, Jonah?«

»Ja, aber –«

»Okay, mein Handy auch und eine hochauflösende Kamera ebenfalls. Einer von uns lächelt jetzt in meine Kamera, wir schicken das Bild über Bluetooth auf den PC, du packst es in diese Datei und –«

»Das dauert doch viel zu lang«, wandte Patch nervös ein. »Diese Systeme untersuchen doch jedes Detail in deinem Gesicht – Augenabstand, Länge der Nase, alles.«

»Er hat recht«, bestätigte Jonah. »Diese Infos für die Gesichtserkennung hier zu codieren kann ewig dauern.«

Motti fluchte. »Okay, dann Plan B. Patch, lass die Hosen runter und bück dich.«

Patch runzelte die Stirn. »Du könntest mir wenigstens zuerst einen Drink spendieren.«

»Wir brauchen ein Gesicht mit weniger charakteristischen Einzelheiten. Ich nehme mal an, dass ein Arsch sich schneller erfassen lässt als ein Gesicht. Hab ich recht, Freak?«

»Das nenn ich Denken ohne Grenzen. Oder in diesem Fall ohne Hosen.« Jonah war beeindruckt. »Ich kann mir sogar vorstellen, dass es funktionieren könnte, wenn ich ein bisschen was umprogrammiere.«

»Warum geht es nicht mit meinem Rücken?«, versuchte Patch abzuwiegeln. »Oder meinem Arm?«

Jonah rief bereits den Code auf. »Ich muss weniger umprogrammieren, wenn es was Rundes ist.«

»Dein Arsch, dein Gesicht – da ist kein Unterschied.«

Patch seufzte und öffnete seinen Gürtel. »Ihr müsst mir aber versprechen, dass ihr Con nichts sagt, falls meine Unterhose Bremsspuren hat.«

Motti brachte mit grimmiger Miene sein Handy in Position. »Ich sag’s keiner Menschenseele, Mann.«

Tye richtete sich auf. Sie stand an der Überwachungskonsole, wo sie sämtliche elektrischen Leitungen unterbrochen hatte, sodass jetzt keine der Überwachungskameras mehr funktionierte. Vielleicht hielt das die Söldner ein wenig auf, wenn sie zurückkamen. Und Con fesselte die beiden Männer mit einem Stück Nylonschnur, das sie hinter dem Haus gefunden hatte.

Plötzlich begann das Funktelefon des Fahrers zu quäken. Tye verstand den aufgeregten Redefluss auf Spanisch nicht, dafür aber Con, und die versuchte sofort, den Mann wachzurütteln. »Sie haben den Geländewagen gefunden und wollen wissen, was sie jetzt machen sollen. Wir müssen diesen Blödmann dazu bringen, dass er mit ihnen redet.«

Der Fahrer regte sich benommen. »Fahrt zur Hölle«, zischte er.

»Für Mesmerismus ist jetzt keine Zeit mehr«, sagte Con mit einem bedeutungsvollen Blick auf Tye.

»Dann versuchen wir es mit der direkten Methode.« Tye hob Josés Pistole vom Boden auf und drückte sie dem Fahrer ans Schlüsselbein. Dass sie nie im Leben abdrücken würde, konnte er ja nicht wissen.

Con nickte mit stahlhartem Blick. »Sag Kristian, er soll den Wagen zum Haupteingang bringen. Sag ihm, er soll dort warten, während die anderen weitersuchen.«

Der Mann schaute sie finster an, sagte aber nichts.

Das Radiotelefon begann erneut, wütend zu quäken. Con schnappte es sich und hielt es ihm vors Gesicht. »Du hast gehört, was ich gesagt habe. Tu es – jetzt.«

Mit zusammengebissenen Zähnen tat der Fahrer, was sie verlangte. Als er fertig war, warf Con ihm eine Kusshand zu.

»Ich öffne das Haupttor«, sagte Tye und drückte auf den entsprechenden Schalter.

Con nickte. »Sieh zu, dass es offen bleibt, ja?«

Tye schlug mit einem Gewehrkolben fest auf die Schalttafel, die dabei wie gewünscht zu Bruch ging.

»Ihr kommt nicht ungestraft davon, selbst wenn ihr an meinen Jungs vorbeikommt«, zischte der Fahrer. »Ihr könnt gehen, wohin ihr wollt, Kabacra findet euch überall.«

Er sagte das mit so viel Überzeugung, dass Tye ein Schauer über den Rücken lief. Es war sein Ernst. Doch Con ignorierte ihn und begann erneut in leisem, beruhigendem Spanisch: »Pssst, Kleiner. Schau mir in die Augen. Siehst du, wie sie glänzen? Ich glaube, du bist müde. Ruh dich ein wenig aus … Wenn noch mal jemand anruft, sagst du, sie sollen draußen bleiben und weiter den Wald durchkämmen. Sie sollen nicht hierherkommen. Du willst doch nicht gestört werden, wenn du so müde bist, nicht wahr? Also tu, was ich dir sage …«

Der Fahrer bekam glasige Augen. Es war unglaublich, wie Con so ziemlich jeden in Trance versetzen konnte, wenn sie genügend Zeit hatte. Aber Tye hatte das ungute Gefühl, dass ihnen die Zeit – genauso wie ihr Glück – davonlief.

»Geschafft«, sagte Jonah. »Patchs Hintern hat nun überall Zutritt. Dann wollen wir mal sehen, ob der Computer das Original erkennt.«

Patch ließ noch einmal die Hosen runter und streckte der Webcam den Hintern hin. Seine Hinterbacken zierten den Monitor als Stereodarstellung, als die Software das neue Bild gegen das gespeicherte Foto abglich. Es waren lediglich neun Knotenpunkte erfasst worden, sodass es mit etwas Glück nicht zu lange –

Der Computer piepte. ZUTRITT GEWÄHRT.

»Yes!«, flüsterte Jonah.

Patch drückte einen Schmatz auf den Monitor. »Du kannst mich mal.«

Jonah zog eine Grimasse. »Ich würde ihm nicht mal die Hand schütteln.«

Motti beteiligte sich nicht an dem Gefrotzel, sondern ging direkt zu der Drucktür, die sich nun problemlos öffnen ließ. Unter dem Türrahmen zögerte er. »Dann wollen wir mal ein bisschen Licht in die Angelegenheit bringen«, sagte er und suchte nach seiner Taschenlampe. »Damit wir überhaupt sehen, was wir klauen.«

Als die Lampe aufleuchtete, ging er entschlossen hinein. Jonah blieb mit Patch an der Tür stehen; ihm wurde wieder mulmig. Er hatte noch nie einen Atomreaktor von innen gesehen, aber er ging davon aus, dass nicht viele so aussahen wie dieser hier.

Der große, quadratische Raum war in ein Museum umgewandelt worden. Ringsum an den Betonwänden hingen antike Waffen – in verschiedenen Formen und Größen, Degen und Dolche. Die Sammlung reichte vom primitiven, grob behauenen Messer bis zum Kavallerieschwert mit wunderschön gearbeitetem Griff und juwelenbesetzter Scheide. Doch so schön sie alle waren, Jonah überlief es kalt, wenn er sie so betrachtete. Er hatte das Gefühl, als seien sie allesamt benutzt worden, und zwar oft.

»Wie es aussieht, sind da unten Pistolen und Gewehre und so was«, sagte Patch und zeigte auf eine Wendeltreppe in der Ecke, die zur nächsten Ebene des Sicherheitsbehälters hinunterführte.

»Wir sind nicht wegen Pistolen und Gewehren und so was hergekommen«, tat Motti seine Entdeckung ab. Er ging von Schwert zu Schwert und betrachtete jedes ganz genau.

»Dann los jetzt«, drängte Jonah ungeduldig. »Du bist der Schatzsucher hier, wir sind doch nur dabei, um dir Zutritt zu verschaffen … Wo ist es? Wo ist das Schwert von Cortés?«

Hernando Cortés.

Bis vor Kurzem hatte der Name Jonah nichts gesagt, obwohl er in jedem Geschichtsbuch auftauchte. 1519 war Hernando Cortés mit nur 600Mann, 20Pferden und zehn kleinen Kanonen von Spanien aus losgesegelt, war in Mexiko an Land gegangen und hatte das gesamte Aztekenreich mit fünf Millionen Menschen unterworfen. Noch nie zuvor war ein so großes und reiches Gebiet von einer so kleinen Armee eingenommen worden. Da war es wohl in Ordnung, nahm Jonah an, dass das Schwert, das Cortés bei sich trug, als er die Hauptstadt unterwarf und den rechtmäßigen Aztekenherrscher gefangen setzte, ein bisschen was wert und ein begehrtes Objekt von Dieben war. Aber war es auch wert, dass er und die anderen ihr Leben dafür aufs Spiel setzten?

Arbeiten wir für den Boss oder hat er uns in der Hand?

»Es ist nicht da.« Motti schaute sich noch einmal um und aus der Ratlosigkeit, die sich auf seinem Gesicht gespiegelt hatte, wurde Wut. »Jetzt haben wir uns so viel Mühe gemacht und das verdammte Ding ist nicht da!« Er ballte die Hände zu Fäusten und boxte frustriert gegen die Wand. »Coldhardt hat sich vertan, seine Informationen waren Scheiße. Himmel, was für ein –«

»Schau dir das mal an.« Patch zeigte auf ein Stück leere Wand. »Vielleicht war das Schwert, das wir suchen, ja mal hier.«

»Jetzt ist es jedenfalls nicht mehr da.« Motti nahm wahllos einige Schwerter von ihren Befestigungen an der Wand. »Ich will verdammt sein, wenn wir nicht wenigstens etwas mitnehmen. Das Zeug hier muss irgendwelchen vertrottelten Sammlern doch ein Vermögen wert sein. Helft mir mal.«

»Sollten wir nicht möglichst schnell abhauen?«, fragte Jonah besorgt.

Motti ignorierte den Einwand und warf ihm ein Schwert zu. Jonah fing es ungeschickt auf und war heilfroh, dass es noch in der Scheide steckte.

»Ruhe!«, zischte Patch und wedelte aufgeregt mit der Hand. »Ich glaub, ich hab was gehört.«

Es stimmte. Auch Jonah hörte die schleichenden Schritte auf der Betontreppe. Er packte das Schwert fester und wandte sich an Patch und Motti. »Verstecken oder kämpfen?«

»Weder noch«, hörten sie eine vertraute Stimme sagen. »Ihr kommt mit uns.«

»Tye!« Jonah war ganz zittrig vor Erleichterung. »Was bin ich froh, dass du es bist!«

Sie wollte etwas erwidern, doch an ihrer Stelle antwortete Con. Sie war hinter ihr die Treppe heraufgerannt. »Wir müssen verschwinden«, sagte sie. »Sofort.«

»Lagebericht!«, raunzte Motti und sammelte weiter alte Waffen ein.

»Der Wagen steht am Haupteingang«, meldete Con. »Das Tor ist offen, ein Wachmann, um den wir uns kümmern müssen.«

»Und die anderen?«

»Suchen noch das Gelände ab, können aber jeden Augenblick zurückkommen. Falls sie kommen, wird ihr Boss sie zum anderen Ende des Komplexes dirigieren, zu den Turbinen, wo sie aus dem Weg sind.«

»Aber sie werden nicht allzu lang brauchen, um festzustellen, dass da niemand ist«, fügte Tye hinzu. »Habt ihr, was Coldhardt will?«

»Es ist nicht da«, antwortete Patch unglücklich.

»Deshalb nehmen wir die anderen Schwerter«, entschied Motti. »Auf geht’s.«

Tye setzte sich in Bewegung, doch Con rührte sich nicht. Sie starrte auf den Bildschirm des PCs und ihre Miene schwankte zwischen blankem Entsetzen und Belustigung. »Uuuahhh! Wessen pickliger Hintern ist das denn?«

»Mir tritt man selbst noch in den virtuellen Hintern«, murmelte Patch. Mit feuerrotem Gesicht riss er wütend Dolche von der Wand.

Auf dem Weg nach draußen ging Tye voran. Sie hatte an ihren antiken Trophäen ganz schön zu schleppen, als sie sich über den mondbeschienenen Hof schlich. Als der Wagen in Sicht kam, gab sie den anderen ein Zeichen, stehen zu bleiben. Das Auto war netterweise so geparkt, dass der Kühler zum offenen Tor zeigte, also in Fahrtrichtung. Der Wachmann saß am Steuer, hörte leise Radiomusik und rauchte.

»Ein seltener Augenblick beschaulichen Nachdenkens im Leben eines schlecht bezahlten Söldners«, bemerkte Jonah.

»Fast schade, dass wir ihn stören müssen, findet ihr nicht auch?«, bestätigte Tye.

»Erledigen wir die Knalltüte einfach und dann nichts wie weg«, sagte Motti.

»Erledigen – wie?«, erkundigte sich die praktische Con.

Motti wog den Stapel Waffen auf seinen Armen. »Wenn das nicht ausreicht …«

»Du willst doch nicht im Ernst eines von den Dingern nehmen?« Tye wechselte einen besorgten Blick mit Jonah, doch Motti zwinkerte ihr nur zu, ging in die Hocke und kroch rasch auf den Geländewagen zu. Die Waffen klapperten leise, als er die Beifahrertür ansteuerte …

»Was zum Teufel hat er vor?«, zischte Jonah.

Motti schmiss die Schwerter auf den Beton. Der Lärm war ohrenbetäubend. Selbst aus der Entfernung sah Tye den Wachmann auf dem Fahrersitz so erschrocken auffahren, dass er bestimmt mit dem Kopf gegen das Wagendach donnerte. Und bevor er wusste, wie ihm geschah, hatte Motti die Beifahrertür aufgerissen und ihm mit einer Schwertscheide eins übergebraten.

»Der spinnt doch!«, zischte Jonah. »Den Krach hat man bestimmt meilenweit gehört!«

»Dann nichts wie weg!«, sagte Patch.

Tye sprintete den anderen voraus zum Wagen. Motti öffnete bereits die hintere Klappe, damit die anderen ihre gestohlenen Waffen hineinwerfen konnten. Tye war ihre Last als Erste los. Sie schüttelte die Arme aus und öffnete die Fahrertür. Der Wachmann plumpste mit blutverschmiertem Gesicht heraus, sie machte einen Schritt über ihn weg und saß auch schon im Wagen. Der Schlüssel steckte und sie drehte ihn um. Der Motor sprang mit einem satten Grollen an.

Der Wagen machte einen Satz nach vorn. Die anderen luden schnell ihre Sachen ein und sprangen dann ins Auto, Motti, Patch und Jonah hinten und Con schließlich auf den Beifahrersitz.

»Das hast du großartig gemacht, Mot«, bemerkte Jonah kühl. »Warum weckst du nicht gleich die ganze Nachbarschaft auf –«

»Ich glaube, wir haben Besuch bekommen«, rief Con nach einem Blick in den Außenspiegel. Dann fluchte sie, als etliche Kugeln ins Heck des Wagens einschlugen. Die Rückscheibe ging zu Bruch.

»Himmel, Tye, bring uns hier weg!«, brüllte Motti, als Jonah ihn und Patch schon unsanft auf den Boden stieß, damit ihnen die Kugeln nicht um die Ohren flogen.

»Dann sind sie wohl dahintergekommen, dass wir uns nicht im Turbinenblock versteckt haben«, rief Patch mit zittriger Stimme.

Tye stieg aufs Gas und ließ gleichzeitig die Kupplung kommen. Mit quietschenden Reifen schoss der Wagen davon. Sie fuhr wie eine Bekloppte im Zickzack, spürte, wie die Kugeln in die Karosserie einschlugen und jedes Mal ein Ruck durchs Lenkrad ging. Jetzt brauchte nur ein Reifen zu platzen …

Aber der Wagen hielt stand. Sie lenkte ihn auf die holprige, unbefestigte Straße, die sie zur Autobahn bringen würde, und wollte schon in ein Triumphgeschrei ausbrechen, als zwei Wachmänner vor ihnen aus dem Dickicht sprangen und ihre Automatikwaffen in Anschlag brachten. »Festhalten!«, rief Tye, riss die Handbremse hoch und das Lenkrad nach links. Der Wagen drehte sich quietschend um 360° und fegte die Wachleute mit dem Heck von der Straße, bevor sie das Feuer eröffnen konnten. Tye schaltete in den Ersten, gab Gas und preschte im zweiten Anlauf den Weg hinunter, schleuderte um Kurven, bis endlich das breite, graue Band der Autobahn in Sicht kam. Es war kaum Verkehr in der Nacht und Tye gab Vollgas.

Sie waren bestimmt eine halbe Meile gefahren, bis sie merkte, dass sie das Lenkrad so fest umklammert hielt, dass sie kein Gefühl mehr in den Fingern hatte.

»Lebe ich noch?«, fragte Patch mit schwacher Stimme.

Motti zwickte ihn in den Arm. »Spürst du das?«

»Au! Ja!«

»Dann lebst du auch noch.«

»Aber dir hat er es bestimmt nicht zu verdanken«, fauchte Jonah Motti an. »Die Schwerter so hinzuschmeißen war einfach bescheuert.«

Motti kroch zitternd aus dem Fußraum. Das lange schwarze Haar hatte sich aus dem Gummiband gelöst und wehte durch die zerbrochene Rückscheibe. »Jedenfalls konnten wir dadurch den Fuzzi mit der Knarre aus unserem Truppentransporter schmeißen.«

»Und haben drei andere damit hergelockt!« Jonah schaute ihn wütend an. »Das hätte uns alle umbringen können.«

»Oh, hört euch den Neuen an, staucht mich hier zusammen, als sei er der Größte.«

»Ich meine nur, vielleicht hättest du uns vorher sagen sollen, was du –«

Motti lehnte sich zu Jonah hinüber und brüllte ihn an: »Es war keine Zeit für lange Diskussionen!«

»Wichtig ist doch nur, dass wir unverletzt da rausgekommen sind«, mischte Con sich diplomatisch ein. »Den Hauptpreis haben wir zwar nicht eingeheimst, aber ich denke, Coldhardt wird mit unserer Ausbeute trotzdem zufrieden sein, oder?«

»Quantität statt Qualität«, seufzte Patch.

»Ihr könnt schon mal beten, dass die Witzfiguren den Tank nicht durchlöchert haben«, sagte Tye. »Sonst können wir ›unsere Ausbeute‹ fünfzig Meilen durch die Pampa schleppen.«

»Dann sollten wir vielleicht vorsichtshalber an einer Raststätte anhalten«, schlug Patch vor. »So was muss es doch auch in Guatemala geben, oder? Ein Big Mac würde uns bei Kräften halten.«

»Filet-o-Fish«, korrigierte Con ihn. »Und ich nehm gleich zwei.«

»Ein Beanburger, Jonah?«, fragte Tye.

Er rang sich ein Lächeln ab. »Klar. Nichts macht mehr Appetit, als einem Kugelhagel auszuweichen.«

Tye schaute Motti erwartungsvoll im Rückspiegel an in der Hoffnung, er würde bei den Frotzeleien mitmachen. Aber er saß nur da und grübelte vor sich hin. Allein die Tatsache, dass seine Brille schief auf der Nase saß, ließ sein finsteres Gesicht etwas weniger finster erscheinen.

KABACRA

Es war zehn Uhr morgens, als Jonah seine Reisetasche auf den blitzsauberen Marmorboden im besten Hotel von Livingston fallen ließ. Er rieb sich die brennenden Augen und hätte sie am liebsten nicht mehr aufgemacht. Tye war am Telefon und versuchte ohne Hilfe der geschniegelten Damen und Herren am Empfang zu Coldhardt durchzukommen, um zu hören, ob a) der Chef bereits wach war und b) bereit für eine Audienz mit seinen Angestellten.

Das luxuriöse Haus schien Tausende Meilen von der Stadt entfernt zu sein, in der alles dreckig und ärmlich gewesen war und in der sie den Geländewagen abgestellt hatten. Als Jonah gesehen hatte, wie viele Kugeln die Karosserie durchlöchert hatten, war ihm schlecht und auch die anderen waren ziemlich kleinlaut geworden. Selbst Motti hatte seine für gewöhnlich beißenden Kommentare für sich behalten.

Während Patch sich in der Stadt auf die Suche nach Rucksäcken gemacht hatte, damit sie die Schwerter etwas diskreter transportieren konnten, hatte Tye bei einem Händler einen zerbeulten Subaru gekauft – und es abgelehnt, dass Con den Besitzer »überzeugte«, ihnen einen Wagen umsonst zu geben. »Sie hat keine Ahnung, wie das ist, in so einer Stadt zu wohnen«, hatte sie gesagt, »wie die Maus in der Falle zu sitzen.«

Jonah hatte nichts darauf erwidert. Klar, Con hatte überall in Europa die besten Schulen besucht, aber nur, weil sie nach dem Unfalltod ihrer Eltern von einer gleichgültigen Verwandten zur nächsten weitergereicht worden war. Vielleicht war sie sich damals auf ihre Art auch vorgekommen wie eine Maus in der Falle. Warum wäre sie sonst mit 15 abgehauen und hätte lüsternen alten Männern ihr Geld abgeknöpft, um überleben zu können?

Er beobachtete Con jetzt, wie sie einen großen Schluck Limonade trank und dabei Motti anschaute, der neben ihr an einem prunkvoll verzierten Pfeiler lehnte. Sie bot ihm die Dose an, doch er schüttelte nur den Kopf. Er hatte kaum ein Wort gesprochen, seit sie losgefahren waren, und Jonah machte sich jetzt Vorwürfe, weil er ihn so angefahren hatte. Wie oft hatte Motti ihm in der Vergangenheit bereitwillig verziehen, wenn er etwas versemmelt hatte! Und obwohl sie die Hosen voll gehabt hatten, waren sie mit heiler Haut davongekommen, und das war schließlich die Hauptsache, oder?