Snakeroot - Stephen Cole - E-Book

Snakeroot E-Book

Stephen Cole

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Beschreibung

Eine atemberaubende Action-Jugendbuchreihe mit viel Witz und Spannung – Fans von James Bond und Indiana Jones werden voll auf ihre Kosten kommen! Vier Jugendliche, vier außergewöhnliche Talente, ein Auftrag und das Geheimnis des ewigen Lebens ... Jonah ist sofort klar, dass damit ein neues Leben für ihn beginnt. Was er nicht weiß, ist: In diesem Leben wird es tödliche Gegner geben, gefährliche Zweikämpfe und eine Existenz jenseits von Gut und Böse! Hat er den Mut sich alldem zu stellen – und vor allem: Hat er eine Wahl? "Snakeroot" ist der erste Band einer Trilogie.

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INHALT

GEFANGEN

FLUCHT

COLDHARDTS KINDER

SKYTALE-CODE

DER AUFTRAG

IM ZEICHEN DER SCHLANGE

KAIRO

ERSTES TRAINING

AUFGEMISCHT

SIENA

ZWEIFEL

VERLETZT

ABSCHIED

UM LEBEN UND TOD

ALTE BEKANNTE

VERRAT

GEFANGEN

Eine Tür zu öffnen und nicht zu wissen, was einen auf der anderen Seite erwartete. Das war es, wovon Jonah Tag und Nacht träumte. Das bedeutete Freiheit.

Schlafen konnte er nicht. Er lag auf seiner dünnen Matratze, hatte die Decke zurückgekickt und lauschte auf die immer gleichen Geräusche der Nacht: das schleppende Klacken von Absätzen draußen auf dem Flur, leise Stimmen und das Gelächter der Wärter, die mit ihren Schritten den Rhythmus der Nacht bestimmten.Lautes Klopfen weiter unten im Gang, eine vulgäre Aufforderung, Ruhe zu geben. Andere Gefangene, die zu gelangweilt oder zu aufgedreht waren zum Schlafen, machten natürlich gleich mit bei diesem Lärmkonzert.

Jonah vermutete stark, dass bei der Planung von Jugendstrafanstalten süße Träume nicht unbedingt im Vordergrund standen.

Zwei Monate hatte er hinter sich. Zwei Monate von einem Jahr, und schon jetzt kam es ihm vor wie eine Ewigkeit. Man saß hier seine Zeit ab, wie sie es nannten, aber Jonah hatte das Gefühl, als säße die Zeit ihm im Nacken und piesackte ihn ganz gewaltig. Jeder Tag schlotterte um ihn herum wie die Jacke um eine Vogelscheuche, egal womit er die Stunden auszufüllen versuchte.

Es gab Lese- und Schreibworkshops, wo er Mitgefangenen eine Stunde lang half – oder zumindest so lange, bis sie die Schnauze voll hatten und drohten, ihm die Bücher um die Ohren zu hauen. Dann gab es Gesundheitskurse, bei denen es hauptsächlich um Drogen und Sex ging. Da einem die Typen dort jedoch nicht verrieten, wie man sowohl an das eine als auch an das andere kam, waren diese Kurse nur spärlich besucht. Man konnte es auch mit ein bisschen Musik oder Schauspielerei versuchen, wenn es einem nichts ausmachte, hinterher von den schweren Jungs zusammengeschlagen zu werden … All diese Angebote konnte man nutzen, so viel man wollte, solange man sich nur Zeit nahm für die größte Freude überhaupt – die Berufsberatung. Dort musste man Bewerbungen schreiben für Jobs, die man nicht haben wollte und ohnehin nie im Leben bekommen hätte.

»Ich möchte irgendwo mit Computern arbeiten«, hatte Jonah gesagt und sich nicht davon abbringen lassen.

»Nach dem, was du gemacht hast, um hier zu landen?« Sein persönlicher Betreuer hatte gelacht, wie es unpersönlicher nicht ging. »Träum weiter, Junge.«

Jonah wusste schon nicht mehr, wie das ging, schlafen, geschweige denn träumen. Da war er nun, 17Jahre alt und mit einer Zukunft so trostlos wie seine Vergangenheit. Er schaute zum zehnten Mal innerhalb einer Minute auf seine billige Uhr mit den Leuchtzeigern.

Fast fünf Minuten vor drei Uhr morgens.

Irgendwo draußen krachte es. Jonah reagierte nicht, fragte sich nicht, was es sein mochte. Draußen war eine andere Welt, eine, die hier drinnen nur wenig Bedeutung hatte. Nichts kam an den Toren und den Wachen und den hohen Mauern vorbei. Selbst das Sonnenlicht war ein anderes – eine halbherzige Sache, dünn und grau hing es über den Gärten und dem Sportplatz, so als hätten die Tage schon genug getan, wenn sie sich gerade mal über den Sonnenaufgang hinausgeschleppt hatten.

Jonah schloss die Augen und stellte sich vor, wie er über die tristen Mauern der Jugendstrafanstalt hinwegflog, draußen barfuß über endlose Felder lief, im Meer schwamm – all den Quatsch, den er nicht eine Sekunde in Erwägung gezogen hatte, als er die Chance dazu gehabt hätte. Während andere sich in der Sonne aalten, hatte Jonah sie immer nur durch die geschlossenen Vorhänge gespürt und verbissen dafür gesorgt, dass sie nur ja nicht zu viel Licht auf seinen Monitor warf. Der war sein Fenster zu einem leichteren Leben, einem Leben, in dem er gegen die Regeln verstoßen konnte und das okay war, sogar clever …

Jonah Wish – der große Codeknacker. Aber auch der große Freak in den Augen von so gut wie allen anderen. Geheimcodes knacken. Eigene erfinden. Sachen verschlüsseln, Sachen übersetzen – das alles war nur ein spannendes Spiel für ihn gewesen, bis – Schritte auf dem Flur lenkten seine Gedanken in eine andere Richtung. Er stellte sich die Wärter in ihrer grauen Uniform vor, schwarze Stiefel auf elfenbeinfarbenen Fliesen, wie sie murrten, weil irgendetwas sie zwang, aktiv zu werden. War wieder einer mit Drogen erwischt worden? Wieder mal ein Selbstmord?

Jonah seufzte. Und wennschon. Bis zum Frühstück war es durch den ganzen Block, dann würde er es früh genug erfahren.

Die Zeiger seiner Uhr waren eine Minute weitergewandert.

Unruhig wälzte er sich auf die Seite. Starrte zornig auf seine Zellentür – ein schwarzes Rechteck, die Ränder eingefasst von einem schwachen Lichtschein, der sich vom Flur hereinstahl. In der Zelle selbst war es stockfinster – nicht, dass viel zu sehen gewesen wäre, das war es auch um halb acht nicht, wenn die Lichter wieder angingen.

Es war seltsam. Er hatte schon in so vielen Räumen gelebt – in Kinderheimen, Obdachlosenheimen, bei Pflegefamilien überall im Land –, dass sie in seinem Kopf alle zu einem bedeutungslosen, schäbigen Ort verschmolzen. Das Einzige, woran er sich noch deutlich erinnern konnte, waren die Hersteller und Fabrikate der Computer, die er im Lauf der Jahre benutzt und missbraucht und mit deren Hilfe er sein wachsendes Talent gefördert hatte. Er hatte ihre Speicher mit Diagrammabgleichungen und Zeichenwechseln vollgestopft, ihre Prozessoren unter einem Berg von Berechnungen, für die sie nicht gemacht waren, zusammenbrechen lassen, hatte Abstürze provoziert –

Das Krachen. Da war es wieder, nur ein klein wenig lauter, ein klein wenig deutlicher. Und aufgeregte Stimmen irgendwo in der Nähe.

Das schwache Licht, das an den Rändern der Zellentür döste, leuchtete für ein paar Augenblicke in der Stärke einer Neonlampe. Rufe ertönten, überrascht und erschrocken, dann legte sich urplötzlich Stille über alles, eine Stille so drückend wie die Dunkelheit in Jonahs Zelle.

Unterbrochen wurde sie nur von flinken Schritten auf den Fliesen. Die lauter wurden. Näher kamen.

Irritiert stand Jonah vom Bett auf.

Die Schritte waren nicht mehr zu hören.

Er lauschte nach irgendwelchen Geräuschen draußen auf dem Flur. Warum hämmerte nach dem Geschrei eben nicht alles an die Türen, rief und brüllte und schlachtete diese Unterbrechung der Langeweile bis zur Neige aus?

Draußen herrschte Grabesstille.

Alles in Ordnung, sagte er sich und wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn. Alles in Ordnung. Du bist eingesperrt. Durch diese Tür kommt nichts.

Auf dem Gang war kurz ein unmelodisches Pfeifen zu hören sowie ein undefinierbares Kratzen und Rascheln.

Dann öffnete sich unter dem Knirschen der schweren Zuhaltungen die Tür einen Spaltbreit.

Jonah hatte das Gefühl zu erstarren wie ein Kaninchen im Scheinwerferlicht eines Lastwagens. Es gab keine Möglichkeit, sich zu verstecken. In seiner Verzweiflung ließ er sich fallen und kroch unters Bett.

Die Tür wurde weit aufgestoßen und grelles gelbes Licht strömte herein. Von seinem Versteck aus sah Jonah einen Jungen, ein paar Jahre jünger als er, vielleicht 14 oder 15. Er sah pfiffig aus mit seinem sommersprossigen Gesicht. Die schwarze Jogginghose und der enge Rollkragenpullover ließen deutlich erkennen, wie mager er war. Über dem linken Auge trug er eine Augenklappe wie ein Pirat.

»Hey«, sagte der Dürre, »Jonah Wish?«

Jonah hielt den Atem an und schloss die Augen.

»He! Du unterm Bett, ich rede mit dir.« Der Eindringling sprach mit starkem Londoner Akzent. »Jonah?«

Leise vor sich hin fluchend kroch Jonah aus seinem Versteck hervor. »Wer zum Teufel bist du? Wie bist du hier reingekommen?«

»War nicht schwer, bei dem Schloss. Jeder Hochbegabte hätte es knacken können.«

»Aber du bist doch noch ein halbes Kind!«

»Was du nicht sagst.«

»Ich meine, wie bist du an den Wärtern vorbeigekommen, an den Sicherheits –«

»›Verschaffe dir Zutritt zur Zelle der Zielperson, identifiziere Zielperson und beobachte.‹ Das war mein Job. Das hab ich gemacht.«

Jonah kam langsam auf die Beine. »Was meinst du mit ›Zielperson‹?«

»Oh, oh.« Der Junge schob seine Augenklappe hoch. Darunter kam ein vollkommen gesund aussehendes Auge zum Vorschein. »Die schwierigen Fragen beantworte ich nicht, das ist Cons Job.«

»Con? Was redest du …?«

»Sorry, Kumpel, ich muss dich jetzt weiter beobachten.« Mit einem frechen Grinsen schob er die Augenlider auseinander und ließ seinen Augapfel herausspringen. Der nun zwischen Daumen und Zeigefinger merkwürdig glänzte. »Mein Name ist Patch. Und ich behalt dich im Auge, Jonah Wish.«

Jonah starrte ihn an, sprachlos und entsetzt. Er hatte keine Ahnung, wie er darauf reagieren sollte.

Auf dem Flur rührte sich etwas.

»Hat Patch schon sein Auge rausgenommen?« Eine weibliche Stimme, hoch und spröde. Ein leichter Akzent war herauszuhören, vielleicht war das Mädchen, das sich nun scheinbar auch der Zelle näherte, Französin. »Er versucht dich einzuschüchtern. Aber lass dich nicht ins Bockshorn jagen, es ist nur Glas.«

»Ach, Con«, beklagte sich Patch, drückte seinen künstlichen Augapfel wieder an Ort und Stelle und schob die Klappe darüber. »Warum musst du mir immer den ganzen Spaß verderben?«

Eine schlanke Gestalt erschien hinter Patch im Türrahmen. Das war dann also Con – für Constance? Connie? Kontrolle, allem Anschein nach.

»Entschuldigung«, sagte Jonah, der endlich seine Sprache wiedergefunden hatte, »wollt ihr mir nicht sagen, was hier gespielt wird?«

Das Mädchen ignorierte ihn und wandte sich an Patch. »Ich dachte, Motti kümmert sich ums Licht?«

Surrend wurde es hell in der Zelle, blendend und grell.

»Genau aufs Stichwort«, sagte Patch.

Jonah blinzelte heftig und wartete ungeduldig, dass er wieder etwas sah. Als es so weit war, betrachtete er Con. Sie war groß, fast so groß wie er. 18 oder 19Jahre alt, schätzte er, und eher faszinierend als schön: die schmale Nase ein ganz klein wenig krumm, die Augen nur ein Stückchen zu weit auseinander. Ihr Haar war blonder als das von Jonah, fast weiß, und wurde von einem breiten Band aus der Stirn gehalten, das so schwarz war wie alles andere, was sie trug.

Sie wirkte gebildet und weltgewandt, während Jonah in seinem Gefängnispyjama dastand wie ein Trottel.

»Jetzt haltet mal die Luft an«, sagte er. »Ich hab keine Ahnung, was für eine Show ihr hier abzieht, aber –«

Con schnitt ihm das Wort ab: »Du bist Jonah Wish, der Hacker?«

Jonah schnitt eine Grimasse. »Hacker?«

»Er ist es, wer sonst?«, meinte Patch und schaute kurz auf den Flur, um zu sehen, ob die Luft noch rein war. »Er hat sich ein bisschen verändert, seit die Fotos gemacht wurden, aber es ist die richtige Zelle. Und es gibt keinen Zellengenossen, um den wir uns Gedanken machen müssten, genau wie der Mann gesagt hat.«

Con kam lässig in die Zelle geschlendert. »Du siehst gar nicht aus wie ein Computerfreak, Jonah.« Sie redete langsam und überlegt, so als ließe sie sich jedes Wort auf der Zunge zergehen. »Du siehst süß aus, sogar wenn du so verschlafen bist.«

»Das mit dem Hacker hab ich ja noch geschluckt«, sagte Jonah und fuhr sich mit der Hand durch das verstrubbelte Haar, »aber jetzt weiß ich, dass ihr mich verarscht.«

»Fast.« Con lächelte. Es war ein Lächeln, wie man es auf Plakaten im Wartezimmer von Zahnärzten sieht. »Wir verschleppen dich.«

»Verschleppen?« Er ballte die Fäuste. »Das ist doch verrückt! Was soll das?«

»Zieh dich an. Beeil dich!«

»Warum?«

Con warf ihm einen Blick zu, von dem er locker einen blauen Fleck hätte kriegen können. »Weil wir nicht wollen, dass du dich da draußen erkältest.«

»Da draußen?« Er sah sie verständnislos an. »Wollt ihr mich etwa hier rausholen?«

»Erfasst!«, rief Patch. »Bisschen früh für normale Besuchszeiten, oder?«

»Und bald zu spät für unseren Abgang. Also, beweg dich!« Con hob seine blaue Gefängnisjeans vom Boden auf und warf sie ihm zu.

»Zu spät. Genau.« Jonahs Gehirn kämpfte benommen mit den Ereignissen und zog den Kürzeren dabei.

Als er umständlich die abgetragene Jeans anzog, bemerkte er, dass der Wärter auf dem Flur sich zu regen begann. War das gut oder schlecht? Wollte er gerettet werden – wieder in die Zelle gesteckt und weggeschlossen? Hatte er nicht gerade davon geträumt, hier rauszukommen?

Komisch, aber eine große Blonde und ein Junge mit herausnehmbarem Augapfel waren in diesen Träumen nicht vorgekommen.

Die Lider des Wärters flatterten, dann öffnete er die Augen ganz. Er war neu – Wilson hieß er. Zuerst betrachtete er die ungewöhnlichen nächtlichen Besucher verwirrt, dann alarmiert.

Während Jonah sich weiter anzog, sah er aus den Augenwinkeln, wie Wilson langsam und lautlos aufstand. Sollte er etwas sagen, Con und Patch warnen? Oder sollte er froh sein, dass da einer war, der diesem Irrsinn ein Ende setzte? Er versuchte, ohne zu zittern in ein weißes T-Shirt zu schlüpfen, und spürte, wie die leichte Baumwolle an seinem verschwitzten Rücken klebte.

»Beeil dich!«, drängte Con.

Wilson zog seinen Schlagstock und hob den Arm, bereit, den Stock auf Patchs Hinterkopf heruntersausen zu lassen. Falls Jonah etwas sagen wollte, musste er es jetzt tun, bevor –

Er kam nicht dazu.

Wilson schlug zu und Patch duckte sich weg. Gleichzeitig schlüpfte Con hinter den Wärter. Jonah blinzelte und hätte fast den Moment verpasst, in dem sie Wilson den Stock aus der Hand schlug und ihm in den Magen boxte. Als Nächstes sah er, wie Patch den Schlagstock schwang, während Wilson lang ausgestreckt auf dem Boden lag und nach Luft schnappte.

»Seid vernünftig, Kinder«, sagte Wilson schwach, als glaubte er, die Situation noch irgendwie unter Kontrolle zu haben. »Ich weiß zwar nicht, was für ein Spiel ihr da spielt, aber lasst es gut sein. Ihr kommt hier nicht raus, das könnt ihr vergessen.«

»Kinder?« Con zerrte ihn an einem Arm hoch. »Schau mich an, Kleiner.« Sie blinzelte nicht, ihre grünen Augen waren so kalt wie die Arktis. »Wie heißt er, Jonah?«

Der Wärter schaute ihn warnend an.

»Sie hat dich was gefragt, Jonah«, sagte Patch leise. »Bist du jetzt auf seiner Seite, oder was?«

Seine Seite verstehe ich wenigstens, dachte Jonah. Sein Mund war ganz trocken.

»Wilson«, krächzte er schließlich, »er heißt Wilson.«

»Nun denn, MrWilson. Ich bin froh, dass Sie aufgewacht sind. Wir brauchen Sie nämlich.«

»Wenn ihr glaubt, dass ihr mich als Geisel –« Er brach ab und zuckte zusammen, als sie ihm eine Hand in den Nacken legte.

»MrWilson, Sie werden uns jetzt einen Gefallen tun. Sie werden zum Haupteingang gehen und denen dort sagen, sie sollen aufschließen.«

»Ihr habt sie doch nicht mehr alle –«

»Schhh.« Con brachte ihr Gesicht so dicht an das des Wärters, als wollte sie ihn küssen. Ihr Blick bohrte sich in seine Augen und ihre Stimme war leise und beruhigend, als sie seinen Nacken streichelte. »Du wirst zum Haupteingang gehen«, versicherte sie ihm, »du wirst den Wachen sagen, sie sollen aufschließen, damit ein weißer Lieferwagen in den Hof fahren kann.«

Wilson starrte sie nur mit leicht glasigem Blick an.

»Die Fahrerin wird keine Papiere bei sich haben, aber du kannst für sie bürgen. Bitte deine Kollegen, dass sie die Bestimmungen umgehen und sie durchlassen. Sie ist … eine Überraschung, die du für Doug Hurst arrangiert hast. Er hat doch heute Geburtstag, oder?«

»Überraschung«, sagte Wilson und nickte, als sei dies eine durch und durch glaubhafte Erklärung.

»Für Dougs Geburtstag«, erinnerte Con ihn mit sanfter Stimme. Es war merkwürdig, die Art, wie sie sprach, ihre Worte … Sie klang so viel älter, als sie aussah.

Patch nicht. »Sag, dass du ihnen später ein paar schlüpfrige Fotos von dem Auftritt zeigst.« Er grinste. »Echt schlüpfrige Fotos.«

Con beachtete ihn nicht, ihre ganze Aufmerksamkeit galt Wilson. »Wenn du ihnen das gesagt hast, gehst du wieder rein, setzt dich an den ersten Schreibtisch und schläfst ein.« Ihre Stimme wurde leiser, heiserer. »Du wirst ganz tief schlafen, und wenn du wieder aufwachst, wirst du dich an nichts von alldem erinnern, was heute Nacht geschehen ist. Hast du mich verstanden, Wilson?«

Der Wärter nickte brav.

»Dann fort mit dir.«

Sie ließ ihn los und er ging mit schleppenden Schritten den Flur hinunter.

»Ich bin derjenige, der hier ganz tief schläft«, murmelte Jonah und zog seine Turnschuhe an. »Ich träume das alles, ja?« Er lehnte sich an die Zellenwand und schaute auf seine Uhr. Es war genau drei. »Kann gar nicht anders sein. Vor fünf Minuten war meine Lage zwar beschissen, aber ich hab’s wenigstens geblickt. Jetzt dagegen …«

»In zwei Minuten ist Motti am Haupteingang«, zischte Patch. »Los, Con, gib’s dem Freak, damit wir hier wegkommen.«

»Wer ist Motti?«, wollte Jonah wissen. »Und was meinst du mit ›gib’s dem –‹«

»Wie lang warst du hier drin, Jonah?« Con kam langsam auf ihn zu.

»Zu lange«, erwiderte er steif.

»Ich wette, du hast davon geträumt, was du alles gerne machen würdest.« Sie öffnete den Reißverschluss ihrer schwarzen Jacke. Darunter trug sie eine hochgeschlossene Bluse. »Du hast von diesem Augenblick geträumt, stimmt’s? Dem Augenblick deiner Freilassung.«

»Freilassung?«

»Im Leben geht es um Gelegenheiten.« Sie stellte sich dicht vor ihn hin und ihre schlanken Finger legten sich um die winzigen schwarzen Knöpfe oben an ihrer Bluse. »Und das ist die beste Gelegenheit, die du jemals bekommen wirst, Jonah. Das ist die Chance deines Lebens.«

Fasziniert schaute er zu, wie ein kleiner Knopf nach dem anderen aufsprang. »Was machst du … du kannst doch nicht … Wir haben uns doch gerade erst …«

Doch Con hatte bereits den Ausschnitt ihrer Bluse geöffnet. Jonah blieb das Wort im Hals stecken, als er die beiden gläsernen Ampullen, die direkt unter ihrem Schlüsselbein klebten, in einem blassen Gelb leuchten sah.

»Doch wie das mit den Chancen so ist – bevor du sie ergreifst, musst du ein gewisses Risiko eingehen.« Sie zog die beiden Ampullen mit einem Ruck von ihrer hellen Haut, ohne hinzuschauen. »Eine für dich und eine für mich.«

»Was ist da drin?«, fragte Jonah, als sie ihm eine in die Hand drückte.

»Es könnte sein, dass wir sie brauchen, wenn Wilson die Wachen nicht überzeugen kann. Und falls wir auf dem Weg nach draußen Schwierigkeiten bekommen.«

Jonah spürte, wie die Realität um ihn herum langsam wegbröselte. Das war alles nur ein Witz, es konnte gar nicht anders sein – ein großer, raffiniert eingefädelter Jux. »Ihr wollt das wirklich machen? Mich hier rausholen?«

»Gib das nicht aus der Hand, bevor ich es dir sage.« Con schloss Jonahs Finger um die Ampulle. »Phosphorzündkapseln sind bei Körpertemperatur ziemlich ungefährlich, doch sobald sie nicht mehr mit Haut in Berührung sind, kühlen sie rasch ab und …« Sie blies die Backen auf und stieß die Luft aus, um es zu demonstrieren.

Jonah starrte auf seine Faust. »Damit seid ihr also reingekommen.«

»Unter anderem.«

»Warum ist es da draußen so still geworden? Was habt ihr mit den ganzen Typen gemacht?«

»Deine Fragen können warten. Wir nicht.«

Patch nickte. »Kommst du dann oder was ist?«

Jonah schaute sie hilflos an. »Wer, verdammt, seid ihr?«

»Vielleicht deine besten Freunde. Vielleicht dein schlimmster Albtraum.« Cons Augen schienen zu glitzern, als sie auf die Zellentür wies, die immer noch weit offen stand. Davor wartete der im Halbdunkel liegende Flur. »Willst du herausfinden, was zutrifft?«

FLUCHT

Jonahs Herz begann zu rasen, als er aus der Zelle gestoßen wurde. Wie oft war er den Flur hinuntergegangen, den Blick auf den Boden gerichtet, um möglichst keinen Ärger zu bekommen. Doch plötzlich kam ihm der Trakt vor wie eine andere Welt, fremd und unwirklich. Das Licht war heruntergedreht. Weißer Rauch ringelte sich um seine Fußgelenke. Er begann zu laufen. Con hatte eine Hand auf seine Schulter gelegt und dirigierte ihn vorwärts. Es war unnatürlich ruhig, kein Mensch weit und breit, außer einigen Wärtern, die mit dem Rücken zur Wand auf dem Boden hockten oder alle viere von sich gestreckt hatten.

Er wollte gar nicht wissen, ob sie tot waren oder nur schliefen. Sein Gehirn ließ nur noch einen einzigen Gedanken zu, glänzend wie das Glasröhrchen in seiner schwitzenden Faust: Du kommst hier raus. Jonah wurde schneller, seine Füße klatschten auf die Fliesen, als er unsicher zu rennen begann. Es ist wirklich wahr.

Sie steuerten den nächsten Flügel an. Offenbar ging es über Umwege zum Haupteingang. Jonah blickte Con fragend an.

»Es ist nicht gut, denselben Weg hinauszugehen, den man hereingekommen ist«, erklärte sie ihm. »Die Kapseln betäuben nur. Die Wärter, die wir ausgeschaltet haben, kommen bald wieder zu sich.«

Sie bogen um eine Ecke und eine schwere Eisentür versperrte ihnen den Weg.

»Was zum Teufel ist das denn?« Con schaute Jonah vorwurfsvoll an, als hätte er sie höchstpersönlich eingebaut. »Die war auf den Plänen nicht eingezeichnet.«

»Sieht neu aus.« Patch schnupperte. »Ja, das Schloss riecht noch nach Öl.« Er steckte zwei dünne Metallstäbe ins Schlüsselloch und schüttelte den Kopf. »Sie bauen Schließzylinder mit fünf Zuhaltungen ein und behaupten allen Ernstes, ein Ort sei sicher. Das ist eine echte Beleidigung.«

»Könntest du aufhören, beleidigt zu sein, und das verdammte Ding einfach knacken?«

»Was hast du gesagt, Con?« Die Tür ging auf und Patch grinste. »Ich hab dich nicht verstanden. War zu sehr darauf konzentriert, das verdammte Ding zu knacken.«

»Das ging schneller, als die Wärter es mit einem Schlüssel können«, sagte Jonah.

Con schob ihn durch die Tür. »Loben kannst du ihn später.«

»Lass dir nichts vorschreiben, Jonah«, sagte Patch. »Du kannst mich auch jetzt schon loben. Ich halte das aus.«

Con schob sie jetzt beide den Flur hinunter und zwang sie zu rennen. Es wurde laut, heisere Rufe und Flüche kamen aus den Zellen, Lachen und Gejohle. Als keine Wärter die Insassen zusammenstauchten, wurden diese forscher, noch lauter, begannen an ihre Zellentür zu hämmern. Jonah spürte, wie sich um ihn herum Angst und Aufregung aufbauten.

»Tiere«, sagte Con düster. »Wir hätten sie alle lahmlegen sollen und nicht nur die in deinem Flügel.«

»Ihr habt den gesamten Flügel lahmgelegt?« Jonah blieb abrupt stehen. »Wie zum Teufel habt ihr –?«

»Lauf weiter«, drängte ihn Con.

»Wir haben das Hähnchen und den Thunfisch in der Kantine ein bisschen nachgewürzt«, erklärte Patch. Den bösen Blick von Con ignorierte er. »Du bist Vegetarier, stimmt’s?«

»Woher habt ihr das gewusst?«

»In deinem ganzen Flügel gibt’s nur vier Salatfresser.« Wieder grinste Patch. »Ich geh mal davon aus, dass die anderen drei tief und fest schlafen.«

»Wir wussten, dass du bei einem solchen Lärm nur noch mehr Angst gehabt hättest«, sagte Con. »Und wir hätten es noch schwerer gehabt mit dir.«

Jonah verschränkte die Arme. »Ach ja? Und damit, dass du deinen fiesen Hypnosetrick nur machen kannst, wenn es still ist, hat es nichts zu tun?«

»Mesmerismus«, korrigierte sie ihn mit einem dünnen Lächeln. »Es heißt Mesmerismus, okay? Und jetzt beweg dich.«

Sie stieß Jonah vorwärts und drängte ihn, im grellen Licht über den Flur zu laufen. Doch seine Gedanken waren ihm weit voraus. Betäubungsmittel im Essen? Betäubungskapseln? In was manövrierte er sich da hinein? Die Typen hatten das Geld und das Wissen, um einen spektakulären Gefängnisausbruch zu inszenieren, und waren mehr oder weniger genauso alt wie er! Con beherrschte Hypnosetricks, bei denen einem die Haare zu Berge standen, und Patch konnte schneller ein Schloss knacken als Jonah einen Umschlag aufreißen. Aber dieser Motti – war das ihr Boss oder lediglich ein weiterer Spezialist, der sich vielleicht mit Elektrik auskannte?

Egal. Jedenfalls riskierten sie einiges, um Jonah rauszuholen. Man musste kein Genie sein, um zu wissen, dass sie ihn wegen seiner Spezialität brauchten – Jonah Wish, der Hacker.

Aber was würde passieren, falls er nicht mitspielte? Was würden sie dann mit ihm machen?

»Geschafft!« Patch stieß die Tür auf, die zum Eingangsbereich führte. Jonah rannte hindurch, sah zwei Wärter halb über dem Schreibtisch liegen und leise schnarchen. Einer davon war Wilson. Er hatte eindeutig genau das getan, was ihm aufgetragen worden war.

Die Eingangstür war entriegelt.

»Die reinste Zauberei. Niemand hat auch nur einen Finger gerührt, um uns aufzuhalten!« Con lächelte. »Schließ die Tür da hinten ab, Patch.« Während ihr Komplize sich an die Arbeit machte, hielt sie Jonah die Hand hin. »Okay, und du gibst mir die Kapsel wieder.«

Jonah ließ den Blick zwischen ihr und der Eingangstür hin und her wandern. Dann lächelte er, streckte die Hand aus …

… schloss die Augen und warf ihr die Kapsel vor die Füße.

Das Glas zerbrach, ein grelles Licht blitzte auf und dann stieg dichter Rauch auf. Er hörte Patch fluchen. Con schrie, als sie zur Seite sprang und in den Empfangstresen knallte. Doch Jonah war schon auf dem Weg zur Tür.

»Sorry«, rief er über die Schulter, »aber du hast gesagt, im Leben ginge es um Gelegenheiten.«

Mit klopfendem Herzen stieß er einen der beiden Türflügel auf. Er spürte die kalte Nachtluft auf seinem Gesicht und einen kurzen Moment lang Euphorie. Sie hatten gewollt, dass er mitkam, und das hatte er getan – bis zum Ausgang. Jetzt war es an der Zeit, eigene Risiken einzugehen und Gelegenheiten zu ergreifen.

Im Hof war alles dunkel und still. Nicht weit entfernt parkte ein weißer Lieferwagen – das musste Cons und Patchs Freundin sein, für die Wilson gebürgt hatte und die durch das Haupttor hereingelassen worden war. Jonah ging rasch in die andere Richtung und um die Ecke des Empfangsgebäudes. Zu Fuß würde er es nie schaffen, an den Wachen vorbeizukommen, aber es musste eine andere Möglichkeit geben, hier rauszu–

Er keuchte, als etwas – oder besser: jemand von oben auf ihn herunterfiel und ihn zu Boden warf. Noch bevor er richtig Atem holen konnte, wurde er auf die Füße gezerrt und von einem großen, schlaksigen Typen an die Wand gedrückt. Er hatte schwarzes Haar, das zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war, und einen mit dem Rasierapparat gestutzten Ziegenbart.

Die Hand des Typs schloss sich schmerzhaft um seinen Hals. »Willst du noch irgendwohin, Jonah?«

»Wohl eher nicht«, keuchte Jonah und der Druck um seinen Hals ließ etwas nach. Der Neue war vielleicht 20 und dem Akzent nach Amerikaner. Sein finsteres Gesicht hätte mehr Eindruck gemacht, wenn seine Brille mit den runden Gläsern bei dem Sprung vom Dach nicht verrutscht wäre – das linke Glas hing jetzt auf seiner Nase. »Du musst Motti sein, der Boss.«

»Der Boss? Er?«

Jonah drehte sich um und sah Patch und Con in der Dunkelheit auf sich zukommen. Patch gurgelte vor Lachen wie ein verstopftes Abflussrohr. »Das lass mal Coldhardt hören!«

Jonah runzelte die Stirn. »Coldhardt?«

»Halt deine blöde Klappe, Patch«, zischte Motti und rückte rasch seine Brille zurecht. »Wie kommt’s, dass der Freak abhauen konnte, Con? Packst du’s nicht mehr?«

»Er hat mehr Mumm, als wir dachten.« Con zuckte mit den Schultern. »Ich wollte ihn nicht ausschalten. Ich hielt es für besser, wenn er auf sich selbst achtgeben kann, falls es Probleme gegeben hätte.«

»Wie es aussieht, ist er ein Problem«, meinte Motti. »Vielleicht sollten wir ihn besser umlegen. Sag sayonara.«

Con zog eine Augenbraue in die Höhe. »Und wie willst du das Coldhardt erklären?«

Er zuckte mit den Schultern. »Dumm gelaufen.«

»Sieht so aus, als wäre es das jetzt schon für jemanden.« Jonah zwang sich, Motti in die Augen zu schauen. In den vergangenen zwei Monaten im Bau hatte er einiges über den Umgang mit solchen Typen gelernt. »Was ist passiert? Hast du es mit der Angst zu tun bekommen, so ganz allein im Dunkeln auf dem Dach?«

Patch kicherte, doch Motti verstärkte seinen Griff um Jonahs Hals wieder. »Vorsicht, Freak. Die Lichter von da oben aus zu manipulieren, war ein Kinderspiel – und dir deines auszupusten fällt mir genauso leicht. Du hast eine ziemlich große Klappe.«

»Und ziemlich viel Hirn«, keuchte Jonah. Er gab sich 20-mal cooler, als er in Wirklichkeit war. »Deshalb hat Coldhardt euch schließlich hergeschickt, um mich hier rauszuholen. Wie wäre es also, wenn ihr nicht noch mehr Zeit vertrödelt und die Sache zu Ende bringt?«

»Er hat recht«, meinte Con. »Wir strapazieren unser Glück ohnehin schon. Los, Tye wartet.« Sie nahm Jonah bei der Hand und zog ihn aus Mottis Griff.

Zu seiner Angst kam jetzt noch Verlegenheit. Als Con ihn zum weißen Lieferwagen zog, spürte sie bestimmt, wie er zitterte. Doch zu seiner Überraschung drückte sie seine Hand nur beruhigend, als Motti und Patch sie einholten.

Motti öffnete die hintere Tür. »Steig ein, Patch. Du auch, Con. Die Wachen am Tor müssen glauben, Tye komme allein zurück.«

Con schüttelte den Kopf. »Ich gehe nach vorne. Ich ducke mich, dann sieht mich keiner.«

»Kommt nicht infrage. Was ist, wenn die Wachen am Tor ins Fahrerhaus schauen und dich sehen?«

»Sie schauen schon nicht rein. Das wird cool.«

»Himmel, Con! Du weißt, was abgemacht war. Sobald wir hier weg sind, kannst du umsteigen und –«

»Ich sitze vorn!« Con öffnete die Beifahrertür, stieg schnell ein und schlug sie hinter sich zu.

»Was war das denn?«, zischte Jonah.

»Frag nicht«, murmelte Motti. Er schob Jonah unsanft in den Wagen, nachdem Patch eingestiegen war, und kletterte dann hinterher.

Kaum hatte er die Tür hinter sich zugezogen, wurde der Motor angelassen. Es war stockfinster – die Fenster waren mit Farbe überstrichen worden und zwischen dem Fahrerhaus und dem hinteren Teil des Lieferwagens hatten sie eine Trennwand eingezogen. Jonah war ganz schlecht vor Aufregung.

»Keinen Mucks«, warnte Motti. »Tu irgendetwas, das die Wachleute auf dich aufmerksam macht, und ich bring dich um. Ich schwör’s dir.«

»Sachte, Mot«, murmelte Patch.

Der Wagen fuhr an. Als er 30Sekunden später abrupt wieder hielt, blieb auch Jonahs Herz fast stehen.

Ein leises Sirren: Das Fenster wurde elektrisch abgesenkt. Schritte.

»Ist Dougies Show schon vorbei, Schätzchen?« Eine Männerstimme, selbstgefällig und wissend; fast hörte man das anzügliche Grinsen heraus. »Hat aber nicht lang gedauert.«

»Was denkst du denn? Bei Dougie dauert das nie lang!«, erwiderte eine Mädchenstimme zu schallendem Gelächter. Das musste Tye sein. Sie hatte eine angenehme Stimme – ein wenig rauer als die von Con, wärmer und mit einem ganz leichten karibischen Akzent.

»Hör auf, Süße«, sagte ein zweiter Wachmann plötzlich, »wem willst du hier eigentlich was vormachen?«

Pause. Tye spielte die Unschuldige. »Wie meinst du das?«

Jemand schlug kräftig gegen die Seitenwand des Lieferwagens. Jonah rührte sich nicht; er wagte nicht einmal zu atmen.

»Du hast den armen Kerl doch gefesselt da hinten drin, stimmt’s? Nimmst ihn mit für ’ne private Nummer, hab ich recht?«

Wieder Gelächter. Jonah atmete aus und legte den Kopf auf die Arme.

»Das hätt er wohl gern«, sagte Tye. »Dann macht’s mal gut, Jungs. Oh – hier ist die Karte meiner Agentur. Wenn ihr wissen wollt, was euch entgangen ist – ruft einfach an. Und wenn ihr mich nett darum bittet, komme ich vielleicht wieder …«

Unter anerkennenden Pfiffen und dreckigem Lachen fuhr der Lieferwagen wieder an. Jonah hörte ein Sirren und Knirschen, als das Tor nach oben ging, um sie durchzulassen. Dann gab Tye Gas und bog scharf in die Straße ein.

»Geschafft!«, schnaufte Motti. Dann stieß er einen Jubelschrei aus. »Wir haben’s geschafft!« Er und Patch rutschten nach vorn und zogen die Trennwand weg. Plötzlich sah Jonah vor sich Straßenlaternen und Läden und Bürohäuser. Sah Fenster mit Rollläden davor, nicht mit Gittern. Er sah den weiten schwarzen Himmel und die Sterne über der schlafenden Stadt.

»Ich bin draußen«, murmelte er. »Frei.«

Con kroch mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht aus dem Fußraum auf der Beifahrerseite. Keine Spur mehr von ihrer eben noch so schlechten Laune. »Seht mal, worunter ich mich versteckt habe!« Sie hob eine große braune Papiertüte voller Fettflecken hoch. »Der Geruch hat mich fast verrückt gemacht.«

»Mac-Attacke!«, brüllte Patch. »Her damit!«

»Ich hätte am liebsten gleich reingehauen, Wachmänner hin oder her!« Con reichte Burger und Fritten nach hinten und bald stank der ganze Wagen nach Fast Food.

»Das Zeug ist ja schon kalt«, beklagte sich Tye. Sie blickte stur auf die Straße, drehte sich nicht um. Jonah sah lediglich die zarte dunkle Haut ihres Nackens und wie das seidige schwarze Haar bei jedem Schlagloch mitfederte.

»Big Macs schmecken kalt noch besser«, informierte Patch sie. »Das ist amtlich. So hat Gott sie gewollt.«

»Nö, der liebe Gott ist ein Cheeseburger-Fan.« Motti biss ein großes Stück ab. »Deshalb schmecken sie so himmlisch.«

»Ich hab dir einen Beanburger mitgebracht«, sagte Tye. »Wie findest du das?«

Jonah war sprachlos. Vor gerade mal ein paar Minuten hatten die Typen in aller Seelenruhe ein Gefängnis gestürmt. Und ihn tatsächlich rausgeholt. Es war wie im Film gewesen. Und jetzt war das plötzlich alles vergessen und es waren nur noch junge Leute, die in einem Lieferwagen durch die Gegend fuhren und sich mit Fast Food vollstopften.

Con gab ihm den Burger. »Iss.«

»Warum nicht?«, erwiderte er, zog das fettige Papier ab und biss in die Pappbrötchen mit kalter Pampe dazwischen. »Es ist Viertel nach drei Uhr morgens, man hat mich gerade aus dem Gefängnis befreit, ich habe keine Ahnung, wer ihr seid oder was ihr wirklich wollt oder was jetzt passiert –«

»Hast du einen Erdbeershake für mich mitgebracht, Tye?«, fragte Patch. »Du weißt doch, ich liebe Erdbeershakes.«

»Sie hatten nur Vanille.« Sie reichte ihm den Becher über die Schulter.

»Solltet ihr die Karre hier nicht loswerden?«, fragte Jonah. »Die Phosphorkapseln betäuben ja nur, habt ihr gesagt.«

»So ungefähr. Ein heller Blitz und ein bisschen Rauch.« Con hatte ihr Chickensandwich bereits verdrückt und sah mit Mayo um den Mund um einiges weniger intellektuell aus. Kichernd versuchte sie, mit dem kleinen Finger ein Salatblatt von der Lippe zu schnippen. »Trotzdem ziemlich scheußlich, wenn man direkt danebensteht. Du kannst von Glück sagen, dass ich nicht nachtragend bin. Sonst könntest du dich jetzt nicht mehr sehen lassen.«

»Sie lässt leider auch nichts sehen«, sagte Patch mit einem Seufzer. »Nicht mal für Geld.«

»Dann können sie also jeden Augenblick wieder zu sich kommen und nach uns suchen«, meinte Jonah mit vollem Mund. »Sie werden nach einem weißen Lieferwagen Ausschau halten und meinen Steckbrief rausgeben. Und den von Tye und Con und –«

»Meinst du wirklich?«, fragte Motti.

»Sie kriegen uns nicht.« Con schien sich ihrer Sache hundertprozentig sicher. »Keine Chance.«

Jonah sah, dass sie aus der Stadt hinausfuhren und auf die schmalen Streifen offener Landschaft zuhielten, die dahinterlagen. Er rieb sich den Nasenrücken; plötzlich war er müde. »Wohnt dieser Coldhardt denn hier in der Nähe?«

Wissende Blicke wurden ausgetauscht, das eine oder andere Lächeln. Aber sie sagten nichts.

»Okay, amüsiert euch über den kleinen Insiderjoke«, meinte Jonah. »Ich werd’s früh genug erfahren.«

»Sorry, Kumpel.« Patch drückte ihm den Ellbogen in die Rippen. »Aber Kopf hoch, bald verstehst du die Witze auch. Coldhardt findet, dass du bei uns einsteigen solltest.«

»Was für ein Glück für uns«, spottete Motti. Con warf ihre letzte Fritte nach ihm.

»Warum macht er sich wegen mir die ganze Mühe? Was will er von mir?« Jonah ließ den halb aufgegessenen Burger sinken. Er war nicht nur müde, ihm war jetzt auch schlecht. »Und wer zum Teufel ist dieser Coldhardt überhaupt?«

Con zwinkerte ihm zu. »Der Mann, der dein Leben verändern wird.«

Motti nickte. »Oder ihm ein Ende setzen wird, je nachdem.«

»Du bist vielleicht mies drauf heute«, bemerkte Patch.

»Lieber mies drauf als mies drunter«, erwiderte Motti und die beiden prusteten los vor Lachen.

Jonah schüttelte den Kopf. »Womit hab ich das verdient?«

»Man ist auf dich aufmerksam geworden«, mischte sich Tye mit leiser Stimme wieder in die Unterhaltung ein, während sie den Wagen auf eine kleine Seitenstraße lenkte. »Du bist aufgefallen.«

»Ich habe mein ganzes Leben lang versucht nicht aufzufallen«, meinte Jonah. »Gut zu wissen, dass ich nicht mal das fertiggebracht habe.« Er wusste, dass er sich anhörte wie ein nörgelndes Kind, aber das war ihm egal. Er war sauer, müde und ihm war schlecht wie nie. »Hört mal zu … was ist, wenn ich nicht bei euch und eurem heiß geliebten Coldhardt mitmachen will? Lasst … lasst ihr mich dann gehen?«

Keine Antwort.

»Nur … wenn ich gesehen habe, wo er wohnt und so, und ich dann aussteigen will … dann bin ich eine Gefahr für ihn, ja? Ich könnte – ich könnte ihm die Bullen ins Haus schicken …«

»Nur wenn du schlafwandelst«, meinte Con fast freundschaftlich. »Du wirkst ziemlich müde. Zu müde, um dich zu bewegen. Keine Gefahr – für niemand.«

»Darauf würd ich nicht wetten. Ich kann schnarchen, dass dir das Trommelfell platzt.« Jonah schüttelte den Kopf, um wieder klar denken zu können. »Es ist früher Morgen, ich hab die ganze Nacht nicht geschlafen …«

Er zuckte zusammen, als Patch ihm den Arm um die Schultern legte und sich vertrauensvoll zu ihm herüberbeugte. »Es könnte auch etwas damit zu tun haben, wie wir gestern Abend das Hähnchen und den Thunfisch in deinem Flügel präpariert haben.«

»Ich habe nichts davon gegessen.«

»Stimmt.« Patch knüllte eine leere Papiertüte zusammen. »Aber einen einzelnen Beanburger zu präparieren, ist noch viel einfacher.«

»Ihr …« Jonah versuchte, einen klaren Blick zu bekommen, aber es gelang ihm nicht. Er hatte das Gefühl, als falle er in ein sehr, sehr dunkles Loch. »Ihr elenden –«

»He, pass auf, was du sagst, Kumpel.« Patchs Stimme drang wie aus weiter Ferne durch die Schwärze. »Ich bin doch noch ein Kind, hast du das vergessen?«

COLDHARDTS KINDER

Jonah wachte in seinen Boxershorts auf. Er hatte Kopfschmerzen, Kreuzschmerzen und keine Ahnung, wo zum Teufel er war. Sein Bett im Gefängnis hatte eher einer Bahre im Leichenschauhaus geglichen; jetzt lag er tief eingesunken in einem weichen Doppelbett. Dunkelblaue Vorhänge bewegten sich vor dem offenen Fenster und ließen goldene Sonnenstrahlen über die makellos weißen Wände tanzen.

Er schob die große weiche Daunendecke zurück, setzte sich auf und ließ den Blick über die gewachsten Bodendielen und das marmorne Badezimmer gleiten, das er durch die offen stehende Tür sah. Auf einer klobigen dunklen Kommode standen jede Menge Pflegeprodukte und der offene Schrank war vollgestopft mit Kleidern für so ziemlich jede Gelegenheit – Anzüge und Jeans und Kapuzenshirts. Einige Labels kannte er: so teuer wie anscheinend alles andere, was hier herumstand.

Doch dann blieb Jonahs Blick auf einem unglaublichen Hightech-PC mit großem Flachbildschirm und Surround-Sound hängen, der einen Schreibtisch in der Ecke beherrschte. Er erkannte die Marke und riss überrascht die Augen auf – die Version hier war brandneu und noch längst nicht für den Verkauf bestimmt.

Jonah ließ die Fingerknöchel knacken und wühlte sich aus dem Bett. Er hatte immer davon geträumt, ein solches Teil zu besitzen. Und es war schon so lange her, seit er das beruhigende Klicken einer Tastatur gehört hatte –

Er zuckte zusammen, als ihm einfiel, was man ihm früher bezüglich Bonbons und Fremden eingebläut hatte. Das musste Coldhardts Wohnung sein.

In wessen Zimmer war er?

Ein Sessel war neben das Bett gerückt worden. Auf der Lehne stand ein Glas Wasser mit einem Zettel dabei. Darauf stand in einer leicht schnörkeligen Schrift: Trink mich – ich erfrische dich. PS: Mir wurde nichts zugesetzt.

»Hah«, knurrte Jonah düster. Und trank das Glas trotzdem leer. Fast augenblicklich schien sein Kopf ein wenig klarer zu werden.

Er zog eine Seite des Vorhangs auf und schützte die Augen vor dem leuchtend blauen Himmel. Der Blick hatte wie das Zimmer fünf Sterne verdient: ein leicht abfallender Weinberg, Rasen, der aussah wie mit der Nagelschere getrimmt, und in der Ferne eine schmale Landstraße, die sich zwischen Kornfeldern dahinschlängelte.

Keinerlei Hinweis darauf, wo er war oder wie lange er geschlafen hatte. Er sah keine Menschenseele, kein einziges Auto. Die Zivilisation konnte meilenweit entfernt sein, weshalb Weglaufen wohl kaum eine gute Idee war, selbst wenn er das Haus unentdeckt hätte verlassen können.

Jonah legte sich wieder aufs Bett. Er schwitzte leicht. Seine Entführer hatten alles perfekt geplant. Doch was jetzt?

Er hörte ein Geräusch vor der Zimmertür. Jemand näherte sich. Sofort schloss er die Augen, rollte sich auf der Seite zusammen und stellte sich schlafend.

Die Tür ging lautlos auf. Jonah öffnete die Augen einen Spaltbreit und sah, dass Motti hereingekommen war. Schwarz war ganz offensichtlich die Lieblingsfarbe des Typs – wie letzte Nacht (war das letzte Nacht gewesen?) trug er schwarze Jeans und ein schwarzes T-Shirt mit einem völlig verwaschenen weißen Logo vorne drauf.

Etliche Sekunden lang stand Motti einfach nur in seinen gruftigen Klamotten im Türrahmen, dann näherte er sich vorsichtig dem Bett.

Jonah spannte alle Muskeln an und tat weiter so, als schliefe er tief und fest. Doch als Motti die Hand nach seiner Kehle ausstreckte, trat Jonah zu und versetzte ihm einen kräftigen Tritt in seine kostbarsten Teile. Motti brüllte vor Schmerz und krümmte sich. Aber Jonah war noch nicht fertig mit ihm. Er sprang aus dem Bett und rang Motti auf den Boden.

»Okay, lass gut sein, Freak«, keuchte Motti und versuchte freizukommen.

»Ich heiße Jonah.« Er hockte sich auf Mottis Brustkorb und nagelte ihn am Boden fest. »Was willst du von mir? Warum schleichst du dich hier rein?«

»Ich wollte dich aufwecken, du Wichser.« Motti verzog das Gesicht, hörte auf zu kämpfen und lag nur noch schlaff da. »Wir wollten dir alles zeigen. Deine Fragen beantworten und so.«

Jonah sah ihn misstrauisch an. »Woher weiß ich, ob ich dir trauen kann?«

Motti lächelte. »Gar nicht.«

Plötzlich bäumte sich sein ganzer Körper auf. Jonah war nicht darauf gefasst und kippte zur Seite. Im nächsten Augenblick war Motti über ihm und drückte ihn auf den Boden.

»Ihr beide lernt euch wohl gerade besser kennen, was?«

Jonah schaute auf und sah Con in der Tür stehen, in Jeans und einem engen roten Top.

»Soll ich die Tür zumachen und ein Bitte-nicht-stören-Schild aufhängen? Damit ihr unter euch bleibt?«

»Sehr witzig«, murmelte Motti. Er blickte auf Jonah hinunter. »Sind wir quitt?«

»Wie du meinst.«

Con nickte. »Wir sehen uns dann unten.«

Motti stand auf und rückte seine Brille zurecht. »Der war nicht von schlechten Eltern«, gab er widerwillig zu und rieb sich die Eier. Dann streckte er Jonah zu dessen Überraschung die Hand hin.

Der zog eine Grimasse. »Ich nehm die saubere, danke.«

Motti lächelte schief, tauschte die Hände und half ihm auf. »Du hast im Bau wohl gelernt, auf dich aufzupassen, was?«

»Ich hab öfter Besuch von Typen bekommen, die sich einen Spaß daraus gemacht haben, Batterien in eine Socke zu stopfen und dich damit windelweich zu schlagen. Wenn du da nicht schneller warst …« Er zuckte mit den Schultern. »Sorry. Sollte ich wohl sagen.«

»Schon okay. Ich weiß, wie es ist.«

»Hast du auch gesessen?«

»Ein paarmal.« Motti schwieg einen Augenblick. Dann fuhr er fort: »Aber, Mann, du wirst jetzt ’ne ganz neue Art zu kämpfen lernen. Coldhardt hat uns ’n paar echte Kracher beigebracht.«

»Mir ist gar nicht aufgefallen, dass du was Besonderes draufhast.«

»Ich darf dich schließlich nicht gleich am ersten Tag umbringen.« Motti lächelte bedauernd und wies auf den Schrank. »Pass auf, da drin sind Klamotten – Con hat sie für dich ausgesucht, also beschwer dich bei ihr, wenn sie nicht passen. Aber du wirst zuerst duschen wollen – wär zumindest nicht schlecht.« Er ging zur Tür. »Wir treffen uns dann in zwanzig Minuten unten, okay?«

Jonah starrte ihn an. »Con hat die Sachen für mich ausgesucht?«

»Plus die Vorhänge und den ganzen anderen Kram. Alles. Wenn du was verändern willst, nur zu. Es ist dein Zimmer, Freak.«

»Mein Zimmer?« Jonah sah sich verwirrt um. »Dann wohnt ihr also hier?«

»Wohnen. Planen. Spielen. Eine der Vergünstigungen des Jobs.« Motti wirkte ungeduldig; er rieb sich immer noch seine empfindlichsten Körperteile. »Komm runter, halt die Klappe und sperr die Ohren auf – in zwanzig Minuten. Dann erfährst du alles, was du wissen willst.«

Das Wasser in der Dusche war heiß und der Strahl kräftig, die parfümierten Gels und die ganzen restlichen Pflegeprodukte Lichtjahre entfernt von dem Zeug, das er im Bau gehabt hatte. Eingewickelt in ein flauschiges weißes Handtuch wählte Jonah eine dunkle Bootcut-Jeans und ein schwarzes T-Shirt mit V-Ausschnitt. Beides passte wie angegossen.

Seine alten Turnschuhe waren im Mülleimer gelandet und er konnte nur zu gut verstehen, weshalb. Sie konnten es kaum mit den Nikes und New Balances aufnehmen, die sich auf dem gewienerten Boden des Schrankes den Platz streitig machten.

Er schaute in den Spiegel über der Kommode und zog eine Grimasse, weil er so bleich und teigig aussah. Dann fiel sein Blick auf eine offene Dose Haargel. Im Deckel lag ein Zettel, auf dem in derselben extravaganten Schrift wie auf der Botschaft bei dem Glas stand: Für »verlegenes« Haar.

»Diese Con scheint ja an alles zu denken«, murmelte er und empfand erneut das schon bekannte Unwohlsein. Er schaute zum PC hinüber. Bestechung? Oder lediglich ein Arbeitsgerät, damit er das tun konnte, wozu er hier war?

Vorsichtig öffnete Jonah die Zimmertür und spürte einen kühlen Luftzug. An der hohen, mit Spots gespickten Decke drehten sich fast lautlos zwei gewaltige Ventilatoren. Er trat hinaus, auf eine Art Galerie mit gebohnertem Mahagoniboden, die sich an einen Treppenaufgang anschloss. Vor der reich verzierten Balustrade stand irgendwie völlig unpassend ein RetroVideospiele-Gerät für Scramble.

Links führte eine breite hölzerne Wendeltreppe nach unten. Sie war mit einem weichen weißen Treppenläufer ausgelegt.

»Wohin du wohl führst?«, murmelte Jonah, als er ans Geländer trat und nach unten schaute, auf eine riesige Fläche, die mehr einem Gemeinschaftsraum oder einem Klub ähnelte als der prächtigen Eingangshalle, die er erwartet hatte. Auf dem schwarz lackierten Fußboden standen diverse fette braune Sofas aus Antikleder und in der Mitte ein Billardtisch in Turniergröße, der den Raum beherrschte. Getränke- und Snackautomaten bildeten auf der rechten Seite neben Spielautomaten eine Wand aus flackerndem Neon.

»Vergünstigungen des Jobs«, flüsterte er und musste wider Willen lächeln.

Doch eigentlich war es die Wand gegenüber der Galerie, die Jonah am meisten faszinierte: Ein riesiges Wandbild bedeckte sie, vage Farbkleckse vor einer verschwommenen Landschaft. Dunklere Strichgebilde, die Bäume hätten sein können oder Personen, stachen als undefinierbarer Blickfang aus der Szene hervor, wobei die Striche bei einigen senkrecht nach oben gingen, bei anderen zur Seite oder abgeknickt nach unten. Es gefiel ihm, obwohl es ein wenig gespenstisch wirkte und nicht gerade dazu beitrug, das ungute Gefühl in seiner Magengegend zu vertreiben.

Er kannte das. Es waren die Nerven. Wie oft hatte er sich mental für seine Bitte-habt-mich-lieb-Nummer aufbauen müssen – am ersten Tag in einer neuen Schule oder in einer neuen Pflegefamilie. Neue Gesichter, die ihn abcheckten. Sein ganzes Leben hatte er zu ergründen versucht, was die anderen von ihm erwarteten, hatte versucht sich anzupassen.

Nur dass er dieses Mal gar nicht dazugehören wollte.

Alles, was er wollte, waren Antworten.

Jonah schaute auf seine Uhr – die 20Minuten waren um. Rasch ging er die Wendeltreppe hinunter.

Als er die letzte Windung erreichte, blieb er stehen. Sie warteten auf ihn, aufgereiht am Fuß der Treppe: Motti, Patch, Con – und Tye.

Zum ersten Mal konnte Jonah sie richtig anschauen und er war nicht enttäuscht. Sie war dunkelhäutig, sah süß aus, war vielleicht 16 und trug Armeekleidung. Ihr Haar hing nicht mehr glatt herunter, sondern war zu zwei kurzen Zöpfen geflochten, die am unteren Ende mit schmalen roten Bändern zusammengehalten wurden. Sie hatte ein ovales Gesicht mit wohlproportionierten Zügen. Sie trug kein Make-up und die Brauen waren nicht in Form gezupft wie bei Con. Doch das Auffälligste waren die großen dunklen Augen, die ihn durch dichte Wimpern von unten herauf ansahen. Ihr Blick hatte etwas Hartes, etwas, das älter war als sie selbst, und etwas Wachsames. Sie lächelte nicht, als sie ihn sah.

»Hi, Codeknacker«, sagte Con und hatte sofort seine Aufmerksamkeit, »das hier ist die Vergnügungsmeile. Willkommen im Armenhaus.«

»Wo sind wir hier?«, fragte er und schaute sie der Reihe nach an.

»Kaffee?« Patch trug eine ausgeleierte blaue Trainingshose und ein Anime-T-Shirt. Er ging zur Rückseite des Raums, zu dem Teil, den Jonah von der Galerie aus noch nicht wahrgenommen hatte. Es sah dort aus wie in einem Starbucks-Kaffeehaus – ein Tresen aus Chrom mit Kaffeemaschinen und Saftpressen im Gaststättenformat. Selbst einen Wasserspender mit gecrashtem Eis gab es. »Café latte? Espresso?«

»Nein, danke.«

»Wirklich nicht? Wir haben Haselnusssirup hier, Vanille –«

»Ihr habt jede Menge Zeug hier«, bestätigte Jonah. Sein Blick wanderte zu einer breiten Nische rechts von ihm. Sie war in einen waschechten Spielsalon verwandelt worden, mit Fahrsimulatoren, Ballerspielen und Flippern.

»Wart ab, bis du erst die Sporthalle gesehen hast«, meinte Con. »Und den Pool. Beheizt, mit Wellenerzeuger …«

»Und die Werkstatt ist ein Traum«, fügte Motti hinzu. »Wir haben eine Rennstrecke, wo wir Fahrzeuge testen. Magst du Autos, Freak?«

»Ich kann nicht fahren.«

»Hier brauchst du keinen Führerschein.« Motti grinste. »Du nimmst dir einfach einen Wagen und gibst Gas. Die beste Art, es zu lernen.«

»Die beste Art, dich umzubringen«, meinte Tye. Sie ging zum nächstbesten Sofa und ließ sich darauffallen.

»Tye ist die offizielle Fahrerin hier«, erklärte Con mit einem leicht abschätzigen Blick. »Sie nimmt das alles sehr ernst.«

»Sie kann auch fliegen!«, rief Patch voll echter Bewunderung vom Tresen herüber. »Sie hat uns hergeflogen.«

Sie waren mit dem Flugzeug gekommen? Dann wunderte es Jonah nicht, dass sie sich keine Sorgen gemacht hatten, mit dem Lieferwagen entdeckt zu werden. Und wenn sie hierher geflogen waren, konnten sie so ziemlich überall auf der Welt sein.

»Wie lang habt ihr mich schlafen gelegt? Welches Datum haben wir heute?«

»Schau selber nach.« Con warf ihm etwas zu. Zum Glück konnte er es fangen. Es war eine Rolex-Uhr, wunderschön, eine Datejust mit Stahlband. Musste ein Vermögen gekostet haben. Als Datum stand auf dem coolen blauen Zifferblatt der 26. – derselbe Tag, an dem sie ihn rausgeholt hatten. Allzu weit weg konnte er also doch nicht sein …

Aber sie hatten an alles gedacht. Warum nicht auch daran, das Datum entsprechend einzustellen?

Er ließ die Rolex auf die Treppe fallen. »Ich habe schon eine Uhr«, sagte er eisig. »Danke.«

Con drehte ihm den Rücken zu und Motti lächelte. »Oh, jetzt hast du sie verletzt, Freak. Sie hat das Ding speziell für dich geklaut.«

»Der arme Kerl wollte ihr nur einen Drink spendieren«, sagte Tye mit einem Sandpapierton in der Stimme. »Sie hat ihm gesagt, er soll ihr lieber das Geld geben.«

»Daran scheint es hier ja nicht zu fehlen«, stellte Jonah fest und ließ den Blick über das beeindruckende Ambiente gleiten. »Vom Zeitungenaustragen allein kann man sich das Zeug sicher nicht leisten.«

Patch gesellte sich mit einer dampfenden Kaffeetasse und einem amüsierten Lächeln zu der Runde. »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass wir die Sachen hier geklaut haben, oder?«

»Alles, was du hier siehst, haben wir verdient«, erklärte Motti, »ehrlich und redlich.«

»Mit so verrückten Sachen wie meiner Befreiung?«

»Leute, ich glaube, wir haben uns hier einen Chorknaben an Land gezogen.« Con lächelte nicht. »Ich dachte, wir hätten dich aus dem Gefängnis geholt und nicht aus dem Kloster, Jonah. Was bildest du dir eigentlich ein? Baust dich hier auf und willst uns verurteilen.«

Motti setzte sich neben Tye auf die Ledercouch. »Wir haben gehört, dass du deinem letzten Pflegevater geholfen hast, ein Geschäft zu eröffnen – was war es gleich wieder, Patch?«

Patch antwortete, ohne zu zögern: »Die Erstellung sicherer Codierungen für Lohnabrechnungssysteme von Firmencomputern.«

»Ganz richtig. Nur hast du, als das Geschäft lief, deinen eigenen Code geknackt und die Kohle für dich selber abgezogen.«

Jonah ging wütend einen Schritt auf ihn zu. »So war das nicht.«

Motti grinste. »Komm schon, wem willst du denn hier was vormachen?«

»Ich hatte meine Gründe.«

»Nur gute, versteht sich.« Patch lachte. »Du wolltest Kohle und hast gewusst, wie du problemlos drankommst.«

»Du hast nur nicht gewusst, was man tun muss, um nicht erwischt zu werden«, fügte Con hinzu.

Jonah blickte Tye finster an; er wartete darauf, dass sie ebenfalls ihren Senf dazugab, doch sie schaute auf ihre Hände und schwieg.

»Es ist mir egal, was ihr denkt«, sagte er, »aber wenn ihr mich rausgeholt habt, damit ich ein verschlüsseltes Bankkonto für euch knacke oder so etwas und euch und diesen Coldhardt noch reicher mache –«

Motti lachte. »Ach du liebe Zeit! Ein bisschen Fantasie könntest du uns schon zutrauen.«

»Dann sagt mir endlich, was ihr von mir wollt!« Wütend wies er auf seine Kleider. »Die Designerklamotten, der Computer da oben … ihr wollt mich doch kaufen.«

»Nein. Wir versuchen nur, dir zu helfen; damit du dich wohlfühlst.« Con ließ den Anflug eines Lächelns erkennen. »So sieht das Leben aus, wenn du eines von Coldhardts Kindern bist.«

»Seine Kinder?« Jonah brachte fast den Mund nicht mehr zu. »Okay, das ist mir jetzt nicht mehr ganz geheuer. Ich nehme an, wir reden hier nicht von Adoption?«

»Coldhardt hat uns gerettet«, sagte Con. »Vor uns selber.«

Motti gähnte. »Du meinst wohl vor tödlicher Langeweile.«

Patch setzte noch einen drauf: »Vor einem Leben ohne alles. Ohne Ferien, ohne Zukunft. Nur auf der Stelle treten, sich an die Gesetze halten … versuchen, so zu sein wie all die anderen Loser.«

»Und er hat euch alle hierher gebracht. Langsam verstehe ich.« Jonah sah sie der Reihe nach an. »Ihr seid alle was Besonderes, habt alle bestimmte Talente.«

Motti schaute Patch an. »Meint er uns?«

»Talente, die Coldhardt gebrauchen kann.« Jonah ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. »Du kannst Schlösser knacken, Patch. Tye kann fahren und fliegen. Con macht ihren Hypnosetrick –«

»Mesmerismus!«, protestierte sie.

»Du weißt ja nicht mal, was Mesmerismus wirklich bedeutet«, höhnte Motti.