Blue - Verschollen in der Lagune - Dirk Ahner - E-Book

Blue - Verschollen in der Lagune E-Book

Dirk Ahner

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Beschreibung

Zwei Kinder, gestrandet auf einer einsamen Insel, und ein kleiner Held, der keine Gefahr scheut!

Als Juna wach wird, traut sie ihren Augen nicht: Sie ist auf einer Insel mitten im Nirgendwo. Um sie herum nur tiefblaues Meer und keine Spur von dem kleinen Flugzeug, mit dem sie unterwegs waren. Außer ihr ist nur Finn hier gestrandet, das Großmaul, ohne den das Ganze gar nicht erst passiert wäre. Als die Vorräte ausgehen und Juna schon fast aufgeben will, trifft sie auf Blue, einen kleinen Delfin. Blue gibt Juna die Kraft, die sie braucht, um über sich selbst hinauszuwachsen. Gemeinsam mit Finn baut sie ein Floß, doch ein gewaltiger Sturm nähert sich der Insel ...

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Seitenzahl: 217

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© privat

Dirk Ahner wurde 1973 in Horb am Neckar geboren. Bereits während seines Studiums an der Ludwig-Maximilians-Universität in München begann er zu schreiben. Heute lebt er als erfolgreicher Roman- und Drehbuchautor (Hui Buh – Das Schlossgespenst, Frau Ella, Die Pfefferkörner und der Fluch des Schwarzen Königs, Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer) mit seiner Familie in München.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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1. Auflage 2018

© 2018 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Geviert, Grafik & Typografie

Umschlagillustration und Kapitelvignetten: Bente Schlick

aw • Herstellung: AnG

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-22638-1V002

www.cbj-verlag.de

Inhalt

Verschollen

In bester Gesellschaft

Das Meeresungeheuer

Blue

Die weite Welt

Finns Dämonen

Der Schatz

Licht im Dunkel

Das Festmahl

Schatztauchen

Das Floß

Zerbrochen

In tiefster Dunkelheit

Ein verzweifelter Plan

Der große Spiegel

Die dunkle Insel

Im Käfig

Die Büchse der Pandora

Die Hand des Teufels

Hals über Kopf

Familienbande

Bruder, wo bist du?

Im Auge des Sturms

Zurück im Paradies

Der letzte Tag

Abschied

Auf dem Baum

Verschollen

Der Sturm war heimtückisch. Er wartete ab, bis sie über dem Meer waren und ihre planmäßige Flughöhe ­erreicht hatten. Dann fiel er über die kleine Propellermaschine her, rüttelte an den Tragflächen, jagte sie mit Blitz und Donner durch die Wolken und spie ihr Hagel entgegen.

Juna klammerte sich an den Armlehnen fest. Sie war in einem stählernen Sarg gefangen, dem Geschick eines Piloten ausgeliefert, der ihre Sprache nicht verstand. Sie schloss die Augen und versuchte, an zu Hause zu denken, an ihr Zimmer mit den kleinen silbernen Sternen, die ihr Vater ihr an die Decke geklebt hatte. Sie sah das Gesicht ihrer Großmutter über sich. Ihre trüben alten Augen waren in Lachfältchen gebettet.

»Schreckliche Sachen passieren nun mal, Juna, ob wir das wollen oder nicht. Aber das Leben geht seinen Weg, und wenn du ganz genau hinschaust, wirst du sehen, dass manches Unglück bereits den Keim für etwas Gutes in sich trägt.«

Es fiel Juna schwer, den Worten ihrer Oma Glauben zu schenken. Ihr Flugzeug würde ins Meer stürzen. Was sollte daran bitteschön gut sein?

Sie blickte auf ihre Mutter, die ihr mit geschlossenen Augen gegenübersaß und voller Inbrunst ein Kinderlied sang, als wollte sie sich damit selbst beruhigen. Sven, ihr Freund, beugte sich nach vorne, soweit es sein Sicherheitsgurt zuließ, und brüllte etwas ins Cockpit. Der Pilot reagierte nicht; Juna sah nur seine Fingerknochen, die weiß hervortraten, als er mit aller Kraft am Steuerknüppel zog. Die Nervensäge Finn schwieg, wahrscheinlich zum ersten Mal, seit sie sich begegnet waren.

Regen peitschte gegen die kleinen Bullaugen-Fenster. Ein Donnerschlag warf die Maschine zur Seite. Juna hörte Schreie und presste ihre Hände auf die Ohren. Durch die Fenster im Cockpit konnte sie einen Felsen sehen, der aus den brodelnden Gewitterwolken hervortrat. Der Pilot streckte seinen Kopf nach hinten und brüllte etwas Unverständliches.

Juna spürte es in den Eingeweiden: Sie fielen. Durch die Cockpitscheibe sah sie das Meer auf sich zurasen. Ihre einzigen Gedanken waren:

Wir stürzen ab. Wir sterben.

Seltsamerweise hatte sie keine Furcht. Ihre Großmutter sah auf sie herab und streichelte sie tröstend, wie sie es immer getan hatte, wenn es Luna nicht gut ging.

»Du wirst sehen, meine Kleine. Es wird alles wieder gut«, sagte sie.

Das Flugzeug klatschte auf die Oberfläche des Meeres wie ein rohes Ei auf Beton. Glasscheiben barsten, der Rumpf riss der Länge nach auf, Gepäckstücke fielen durcheinander. Der metallische Geschmack von Blut machte sich in Junas Mund breit. Salziges Wasser drang in ihre Lunge ein.

Dann wurde es still.

Juna fragte sich, ob es sich wohl so anfühlte, wenn man starb. Sie glitt durch die Tiefen des Ozeans wie eine Meerjungfrau. Mit kräftigen Zügen strebte sie dem Licht der Sonne entgegen, doch wie schnell sie auch schwamm, es wurde immer dunkler und dunkler.

»Bitte nicht«, hörte sie sich rufen. »Geh nicht. Bleib hier!«

Die Sonne verschwand. Dunkelheit hüllte Juna ein. Sie ließ sich durch kühle Tiefen treiben und kämpfte nicht länger. Es war so still und friedlich hier, dass sie sich fragte, warum sie überhaupt jemals gekämpft hatte. Sie wollte sich einfach nur treiben lassen, schwerelos und frei.

Doch etwas packte sie und zerrte an ihr, schubste sie und kniff sie. Sie schüttelte sich, wütend. Sie wollte in Ruhe gelassen werden. Das Ding, was immer es auch war, ließ einfach nicht locker. Juna spürte einen Stoß in ihrem Rücken, und noch einen. Und wieder einen. Es tat weh.

Sie schlug um sich. »Verschwinde!«, wollte sie schreien. Aber ihre Lunge war voll Wasser, sie brachte nur ein Gurgeln hervor. Sie gab auf. Es war ihr egal, was mit ihr geschah. Sie wollte einfach nur die Augen schließen. Bald schon hüllte sie tiefer, traumloser Schlaf ein.

Juna wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte. Waren es Stunden, Tage oder gar Wochen gewesen?

Sie hörte das Rauschen des Meeres. Mühsam öffnete sie die Augen und sah die Sonne, die über den Rücken eines grauen Berges stieg. Nebel tanzte auf einem dichten Dschungel und floss leise zum Strand hin, wo er sich über der Brandung auflöste. Juna wunderte sich über diese seltsame, fremdartige Schönheit. Nie zuvor hatte sie dergleichen gesehen. Sie war der festen Überzeugung, dass sie träumte.

Sie öffnete und schloss ihre Hände und spürte feinen Sand zwischen ihren Fingern. Sie bewegte ihre Zehen hin und her, was ein wenig kitzelte. Dann wurde sie mutiger und hob den Arm, was mit einem stechenden Schmerz quittiert wurde. Nein, auch wenn ihre Sinne ihr Streiche spielen mochten, tot war sie gewiss nicht. Jedenfalls noch nicht.

Das Aufstehen war schwierig. Alles tat ihr weh, selbst das Denken. Juna hielt die Augen geschlossen, bis Schwindel und Schmerzen ein wenig nachgelassen hatten. Vorsichtig wagte sie ein paar Schritte. Ihr war, als ob sie ihre Füße zum ersten Mal bewegte, zum ersten Mal das Spiel der Muskeln und Knochen in ihrem Körper spürte.

Sie trug noch das gelbe T-Shirt, in dem sie zu dem Ausflug aufgebrochen war. Es war an der Schulter zerrissen. Einer ihrer Schuhe lag am Strand, der andere war verschwunden. Ihr langes dunkelrotes Haar klebte auf der Stirn. Sie wischte es zur Seite und sah sich um. Sie war auf einer Insel, wie es den Anschein hatte. Palmen säumten das sandige Ufer vor einem dichten grünen Dschungel. Im Zentrum erhob sich ein felsiger Berg, grau und an der Spitze abgeflacht, als hätte ein Riese seine Spitze abgeschlagen. Er erinnerte sie an einen abgebrochenen Zahn. Wellen rollten sanft am Strand aus, und das Wasser war so klar und blau wie der Himmel an einem Sommertag. Ein Paradies. Juna konnte der Schönheit nichts abgewinnen. Sie fühlte sich schrecklich allein. Wo war ihre Mutter? Wo war Sven? Im Augenblick vermisste sie sogar Finn, den Klugschwätzer.

»Mama! Sven! Finn! Wo seid ihr?«, rief sie.

Das Rauschen der Wellen und das Spiel des Windes in den Blättern blieben die einzige Antwort.

Juna ging am Strand entlang und versuchte, die schrecklichen Gedanken zu verdrängen, die sie plagten. Sie konnte nicht die Einzige sein, die den Absturz überlebt hatte. Ihrer Mutter ging es gut, ganz bestimmt sogar! Und den anderen ebenfalls. Der Pilot musste das Flugzeug irgendwie runtergebracht haben, sonst wäre sie wohl kaum hier.

Die Wellen spülten ein paar Kleidungsstücke an den Strand. Juna erkannte sie wieder: Es waren Sachen aus ihren Koffern. Auch ihr fehlender Schuh war dabei. Sie zog ihn an, sammelte die Kleidung auf und hielt Ausschau nach Fußspuren. Vielleicht lebten Menschen auf dieser Insel.

Während sie am Strand entlangging, hatte sie das Gefühl, dass sie jemand beobachtete. Eine Gestalt streckte ihren Kopf aus dem Meer und verfolgte heimlich jeden ihrer Schritte. Immer wenn Juna genauer hinsah, verschwand sie wieder. Sie war sich nicht sicher, ob ihre überreizten Sinne ihr nicht einen Streich spielten. Aber wer mochte sich hier draußen im Meer herumtreiben? Ungeheuer aus der Tiefe vielleicht, mit Reißzähnen und Tentakeln? Sirenen, jene unheimlichen Kreaturen aus der Welt der Sagen, die nur darauf warteten, mit ihren Gesängen einen armen Teufel ins Wasser zu locken? Meermenschen vielleicht? Juna schüttelte sich. Was für ein Unsinn!

Und doch war ihr unwohl bei dem Gedanken.

»Wer bist du? Zeig dich, du Feigling!«, rief sie.

Nichts rührte sich. Juna sah nur einen Schwarm bunter Fische, der zwischen Korallen nach Nahrung suchte. Sie kam sich plötzlich sehr dumm vor. Wenn sie hier draußen überleben wollte, dann durfte sie keine Angst haben vor kindischen Märchen. Sie musste die Nerven behalten.

Ihr Weg führte sie weiter am Strand entlang, bis ihre Beine schwach wurden. Die Sonne stand am höchsten Punkt und brannte so unbarmherzig, dass es besser war, im Schatten zu bleiben und sich auszuruhen. Juna setzte sich in den warmen Sand. Hunger und Durst quälten sie. Mit dem Hunger konnte sie fertigwerden. Der Durst war viel gefährlicher. Wenn sie bei dieser Hitze nicht bald etwas zu trinken fand, war es aus mit ihr. Es war eine grausame Ironie, dass sie umgeben war von Wasser, das so salzig war, dass es sie umbringen würde, wenn sie es trank.

Sie spürte einen Kloß im Hals, der langsam anschwoll. Tränen sammelten sich in ihren Augen, die sie zornig beiseitewischte. Sie wollte jetzt nicht weinen. Es gab immer einen Ausweg. Es musste einfach einen geben!

Im Gebüsch raschelte es, und als Juna schon glaubte, ein Raubtier würde über sie herfallen, sah sie etwas, das ihr Herz höherschlagen ließ: Ein Junge kämpfte sich durch das Dickicht zum Strand.

In bester Gesellschaft

Finn stand vor ihr, Finn der Dummschwätzer, Finn das Großmaul. Ausgerechnet Finn.

»Na, du Heulbaby? Hast du ordentlich die Hosen voll? Dann ist es ja gut, dass ich dich gefunden habe«, lachte er.

Juna kamen die Tränen. Sie konnte Finn nicht ausstehen, und doch war es das größte Glück, ihn hier zu sehen, lebendig und unversehrt. Er hatte seine Jeans nach oben gekrempelt und stand breitbeinig am Strand, die Hände auf einen Stock gestützt wie ein Soldat. Sein dunkelblaues Hemd hatte ein paar Knöpfe verloren. Das lockige Haar, um das sie ihn immer beneidet hatte, klebte in nassen Strähnen in seinem Gesicht. Selbst durch die dicken Brillengläser konnte man das spöttische Funkeln in seinen Augen sehen, das so typisch für ihn war. Sie fiel ihm um den Hals und schluchzte.

»Du lebst, Finn! Du lebst!«

»Klar, was dachtest du denn?«

Juna riss sich los und sah ihn forschend an. »Wo ist Mama? Wo ist Sven? Wo sind die anderen?«

Für einen Moment erstarb das Funkeln in Finns Augen und er wirkte wie ein ganz normaler, etwas ängstlicher 13-jähriger Junge.

»Ich habe überall gesucht. Niemand zu sehen, nirgends«, sagte er.

»Und das Flugzeug?«

Finn schüttelte den Kopf. »Der Pilot konnte uns irgendwie nach unten bringen, sonst hätte der Absturz uns in tausend Stücke gerissen. Bestimmt sind Papa und die anderen irgendwo in der Nähe.«

»Und hast du eine Ahnung, wo wir hier sind?«

Finn sah sich um. »Naja, auf einer Insel irgendwo im Indischen Ozean, würde ich sagen. Wir waren kaum eine Stunde in der Luft, als uns der Sturm erwischt hat. Also, was willst du zuerst hören, die gute Nachricht oder die schlechte?«

»Die schlechte«, sagte Juna, die ganz sicher nicht wollte, dass Finn sie für ein Heulbaby hielt.

»Okay, also ich habe die Insel erkundet. Sie ist ziemlich klein. Hier gibt es absolut nichts: keinen Strom, kein Internet, kein Telefon, keine Straßen, keine Lebensmittel, keine Spur von Menschen …«

»Schon gut, ich hab’s verstanden. Und die gute Nachricht?«

»Ich weiß, wo wir Trinkwasser finden«, sagte Finn stolz.

Sofort spürte Juna wieder ihren brennenden Durst. »Ist es weit von hier?«

»Auf dieser Insel ist nichts weit, kleine Schwester«, sagte Finn.

Juna schenkte ihm einen bösen Blick. Sie konnte es nicht leiden, wenn er sie »kleine Schwester« nannte.

»Zeig’s mir!«, bat sie.

»Komm mit.«

Finn packte seinen Stock und marschierte ein Stück ins Landesinnere. Dichter grüner Urwald umgab sie. Überall summte, krabbelte und kreuchte es. Juna wollte lieber nicht daran denken, welche Kreaturen sich in dem Grün verbargen.

»Wir sind hier mitten im Dschungel«, sagte Finn. »Am besten, du bleibst dicht bei mir. Ich war mal Pfadfinder. Ich weiß, was in so einer Situation zu tun ist.«

Juna tat ihm nicht den Gefallen, nachzufragen, aber das störte Finn nicht. Die Worte sprudelten einfach aus ihm heraus: »Als Erstes muss man immer Trinkwasser finden. Das habe ich zum Glück schon erledigt. Dann sollte man ein Lager bauen, in dem man vor Wind und Wetter geschützt ist. Anschließend muss man sich Nahrung beschaffen. Und ein Feuer machen. Das spendet Wärme und schützt vor wilden Tieren. Wenn es hier überhaupt welche gibt.«

Juna hielt inne. Da war ein leises Rauschen zu hören. »Was ist das für ein Geräusch?«

»Sieh selbst.« Mit einer großen Geste nahm Finn ein paar Blätter zur Seite und bedeutete Juna, weiter in den Dschungel zu gehen.

Juna musterte ihn skeptisch. Finn liebte es, böse Scherze auf ihre Kosten zu machen. Seine ganze dumme Familie hatte einen seltsamen Sinn für Humor. Man durfte ihnen nicht trauen.

»Wenn du mich reinlegen willst, wirst du es bereuen«, warnte sie.

»Das ist kein Trick. Immer hereinspaziert!«

Juna schob sich an ihm vorbei ins Unterholz. Sie musste über weit auslaufendes Wurzelwerk klettern und sich durch Sträucher kämpfen, die ihr blutige Striemen in die Haut rissen. Gerade als sie umkehren und Finn verfluchen wollte, tat sich vor ihr ein atemberaubender Ausblick auf: Ein Felsen erhob sich aus dem Grün des Dschungels, bewachsen mit Moos und exotischen Pflanzen. Weit oben aus seiner Spitze entsprang ein Wasserfall, der sich in eine grün leuchtende Lagune ergoss. Einen Steinwurf entfernt davon war das Meer. Nur ein schmaler, sandiger Uferstreifen grenzte es von der Lagune ab. An manchen Stellen war das Ufer so flach, dass Salz- und Süßwasser ineinanderflossen. Die Sonne spielte mit ihren schönsten Farben darin, mal leuchtend blau, mal grün, mal silbern funkelnd. Der Anblick war so schön, dass Juna für einen Moment ihre Sorgen vergaß.

Rasch ging sie zum Wasserfall und hielt ihre Hand darunter. Gierig schöpfte sie sich den Mund voll. Das Wasser schmeckte frisch wie aus einer Gebirgsquelle. Juna war fest davon überzeugt, niemals in ihrem Leben etwas Köstlicheres getrunken zu haben.

Finn beobachtete sie grinsend. »Na, was sagst du?«

»Nicht übel hier.«

Er sollte sich bloß nichts darauf einbilden.

Finn rammte seinen Stock in den Boden wie ein Eroberer, der ein Stück Land für sich beanspruchte, und deutete auf ein Plateau, das sich auf halber Höhe des Felsens befand. »Dort oben ist eine kleine Höhle. Da können wir unser Lager aufschlagen.«

»Von mir aus«, sagte Juna. Tatsächlich konnte sie sich keinen besseren Ort vorstellen.

Sie kletterten zu der Stelle, die Finn entdeckt hatte. Die Höhle war kaum größer als eine Gartenhütte, aber bot Schutz vor Wind und Regen. Das schmale Felsplateau, das sich davor befand, hielt einen prächtigen Blick auf die Lagune und das Meer bereit, was ein unschätzbarer Vorteil war, wenn man auf Hilfe wartete.

Finn verteilte sofort Aufgaben. Juna sollte die Höhle von Dreck und Unrat befreien und sie mit trockenen Ästen ausfegen, damit sie sich ihr Nachtlager bereiten konnten. Er selbst wollte Feuerholz sammeln und nach etwas Essbarem Ausschau halten.

»Ach ja? Und warum fegst du nicht und ich hole das Holz, du Neandertaler? Spiel dich bloß nicht so auf«, sagte Juna.

Finn lachte nur und ließ sie einfach stehen, was sie noch mehr zur Weißglut trieb. Sie nahm sich vor, es diesem aufgeblasenen Großmaul zu zeigen.

Die Höhle zu säubern, war eine schweißtreibende Arbeit. Juna schleppte Steine, befreite den Boden von Laub und Erde und entfernte Spinnweben von den Felswänden. Mit knurrendem Magen kletterte sie ans Ufer der Lagune und sammelte Reisig, das sie mit trockenem Gras zu einem passablen Besen zusammenbinden konnte. Dann fegte sie den Boden, bis er sauber genug war, dass sie darauf schlafen konnten.

Zufrieden blickte sie in die Ferne. Das Meer sah von hier oben so still und friedlich aus. Aber war da nicht ein Schatten, der in den blauen Tiefen des Meeres verschwand? Dieses Mal war sie sich sicher, dass ihre Augen ihr keinen Streich gespielt hatten: Da war etwas, das sie verfolgte. Ein seltsames Wesen mit breitem Maul und blitzenden schwarzen Augen.

»Wer bist du?«, rief sie, und ihr Herz schlug heftig in der Brust. »Komm raus und zeig dich! Ich habe keine Angst vor dir!«

Niemand zeigte sich. Die Meeresoberfläche war wieder klar und blau. Dann sah sie Finn am Strand und Juna wusste, dass sie in Schwierigkeiten waren.

Das Meeresungeheuer

Finn winkte aufgeregt und rief etwas, das Juna kaum verstehen konnte. Sie ließ alles stehen und liegen und rannte ihm entgegen.

»Ich habe etwas gefunden«, schrie er. »Komm schnell.«

Sie kämpften sich durch das Unterholz zum Strand. Wieder riss sich Juna an den Ästen blutige Kratzer in die Haut. Sie spürte es nicht einmal.

Finn war schnell wie der Wind und deutete auf etwas, das die Wellen an den Strand gespült hatten. Ein Stück der Tragfläche. Juna konnte sich noch gut an die roten Streifen erinnern, die sich über die ganze Länge der kleinen Propellermaschine gezogen hatten. Sie waren deutlich zu erkennen.

Finn hatte sich immer wieder eingeredet, dass der Absturz glimpflich verlaufen war und alle Passagiere überlebt hatten. Das Wrackteil sprach eine andere Sprache. Er ging in die Knie und musste sich mit den Händen stützen, um nicht in den feuchten Sand zu fallen. Juna konnte ihn leise schluchzen hören. Er war plötzlich gar nicht mehr so stark und großmäulig. Sie wollte ihm tröstend die Hand auf die Schulter legen und traute sich nicht.

»Das hat nichts zu bedeuten«, sagte sie leise.

»Sie sind tot …«, gab er zurück.

»Dann müssten wir wohl auch tot sein, Finn. Schließlich waren wir auch in der Maschine. Mama und Sven leben noch. Ganz sicher sogar. Bestimmt suchen sie schon nach uns.«

Finn sah sie mit einem kalten Blick an, der Juna erschrecken ließ. »Wir hätten niemals mitkommen dürfen auf diese bescheuerte Reise! Aber deine Mutter wollte es ja unbedingt. Und mein Papa tut immer alles, was deine Mutter sagt.«

»Was soll denn das schon wieder heißen?«

»Gemeinsamer Urlaub, so ein Schwachsinn! Wären wir zu Hause geblieben, dann wäre das nie passiert.«

Jetzt wurde auch Juna wütend. »Nur damit du’s weißt, Finn: Ich hatte genauso wenig Lust auf diese Reise wie du. Urlaub mit deinem Vater und dir? Lieber geh ich zum Zahnarzt!«

Finn biss sich auf die Lippen, fegte sich die Tränen aus dem Gesicht und sprang auf. »Es wird langsam dunkel. Wir sollten zurück zum Lager.«

Er schnappte sich ein Bündel Holz, das er gesammelt hatte, und ging wortlos zur Lagune. Juna blickte hinaus aufs Meer. Die Sonne versank darin in leuchtenden Farben. Doch Juna war viel zu wütend, um der Schönheit etwas abzugewinnen. Sie folgte Finn in gehörigem Abstand. Seine Worte wollten ihr nicht aus dem Kopf gehen. Tatsächlich hatte sich ihre Mutter den gemeinsamen Urlaub gewünscht. »Damit wir uns alle ein bisschen besser kennenlernen können«, hatte sie gesagt. »Und wer weiß, vielleicht wirst du Finn ja richtig mögen, wenn du etwas mehr Zeit mit ihm verbracht hast. Er ist ein netter Junge.«

Juna hatte energisch den Kopf geschüttelt: »Finn ist ein widerlicher Besserwisser und Dummschwätzer, genau wie sein Vater! Genau wie alle in seiner Familie.«

Wie recht sie damit gehabt hatte!

Und jetzt war sie dazu verdammt, mit diesem Dummschwätzer auf einer kleinen Insel zu leben, bis man sie fand, was vielleicht niemals geschehen würde. Der Gedanke legte sich bleischwer auf ihre Schultern.

In dieser Nacht fanden sie kein Essen mehr und es gelang ihnen auch nicht, Feuer zu machen. Juna lag auf einem Bett aus Blättern und konnte kein Auge zutun. Sie hatte schrecklichen Hunger und sie fror. Immerzu musste sie an ihre Mutter denken. Wenn Finn nun recht hatte und sie die Einzigen waren, die den Absturz überlebt hatten? Ihr Blick wanderte zum Himmel, der bedeckt war und keinerlei Hoffnung spendete.

Nach kurzem, unruhigem Schlaf wurde sie von einem leisen Hämmern geweckt. Sie streckte ihren Kopf aus der Höhle und sah das Licht der Morgensonne auf dem Meer glänzen. Unten am Ufer, dort wo sich die Lagune mit dem Meer vermählte, baute Finn eine seltsame Konstruktion ins flache Wasser. Er schlug Stöcke in den Sand und flocht Äste hinein. Er baute einen Käfig, der nur eine schmale Öffnung hatte, die zudem nach innen enger wurde. Fische konnten gut hineinschwimmen, kamen aber nur sehr schwer wieder raus.

Juna kletterte nach unten. »Wozu soll das gut sein?«, fragte sie.

»Eine Reuse«, sagte Finn. »Eine Falle für Fische und Krabben. Sie schwimmen hier rein, aber kommen nicht mehr raus. So fangen wir sie.«

»Und das soll funktionieren?«

»Klar, jedenfalls solange wir kein Netz oder eine Angel haben … aber wenn du eine bessere Idee hast, bitte sehr.«

Er war immer noch wütend auf sie. Juna war zu hungrig, um sich darüber zu ärgern.

»Was ist da oben? Kann man das vielleicht essen?« Sie deutete auf grüne Kugeln, die in den Wipfeln einer Palme hingen.

Finns Augen leuchteten. »Warte mal. Das könnten doch … na klar, ich glaube, das sind Kokosnüsse!«

Er schnappte sich einen langen Stock und kletterte am Stamm der Palme hoch.

»Vorsicht, Finn«, sagte Juna. »Du brichst dir noch den Hals.«

Er schnaubte. »So ein bisschen Kletterei ist doch kein Problem.«

Er schlug einige der grünen Kugeln herunter. Mit einem dumpfen Geräusch landeten sie vor Junas Füßen im Sand. Juna hob eine auf und betrachtete sie. Die Kokosnuss war so groß wie ihr Kopf und erstaunlich schwer. Wenn sie sie schüttelte, konnte sie ein Plätschern hören.

»Sie ist voll mit Kokosmilch. Jetzt müssen wir sie nur noch aufbekommen«, sagte sie.

Das war schwieriger als gedacht. Mit vereinten Kräften gelang es ihnen, die Kokosnüsse mit einem schweren Felsbrocken zu zertrümmern. Der Saft ging verloren, aber das weiche, faserige Kokosfleisch blieb. Gierig fielen sie darüber her.

»Sieh mal!«, rief Finn mit vollem Mund und deutete auf seine Reuse. Dort hatte sich tatsächlich ein kleiner Fisch verfangen. Er war zwischen Ästen hineingeschwommen und fand nun nicht mehr heraus. »Auch unser Abendessen ist gesichert!«

Das hob Junas Laune so sehr, dass sie ihren dummen Streit glatt vergaß. Finn schien es ähnlich zu ergehen. Sie liefen am Strand entlang, suchten weitere Kokosnüsse und schleppten sie zu ihrer Höhle. Als die Sonne am höchsten Punkt stand, verkündete Finn, dass nun der perfekte Zeitpunkt gekommen war, ein Feuer zu schüren und ihren ersten selbst gefangenen Fisch zu grillen. Er benutzte seine Brille wie ein Brennglas und lenkte den gebündelten Sonnenstrahl auf einen Ballen trockener Grashalme. Er qualmte und entflammte schließlich.

»Es funktioniert!«, rief Juna begeistert.

Finn fütterte die Flammen mit Holz und bald schon prasselte ein kleines Lagerfeuer auf dem Plateau vor ihrer Höhle. Juna musste sich eingestehen, dass Finn zwar ein Großmaul sein mochte, er aber tatsächlich etwas auf dem Kasten hatte.

Sie schichteten ein paar Steine neben dem Feuer auf und steckten Stöcke hinein.

»Ich könnte jetzt ein ordentliches Stück Fisch vertragen«, sagte Finn.

Juna musste grinsen. »Mit Gemüse und Salzkartoffeln?«

Er grinste zurück. »Kommt sofort!«

Er sprang auf, um den Fisch aus dem Wasser zu holen. Kurz darauf konnte Juna ihn vom Ufer der Lagune fluchen hören: »So ein verdammter Mist. Irgendjemand hat unsere Reuse zerstört!«

Rasch kletterte Juna zum Ufer und überzeugte sich selbst. Der Käfig aus Stöcken war regelrecht zerrissen worden. Juna blickte aufs Meer und konnte wieder das große Ding erkennen, das sie seit Tagen verfolgte. Es schoss durchs Wasser wie ein Pfeil und hielt dabei einen Fisch in seinem Maul. Ihren Fisch!

Finn sah es ebenfalls. »Das Mistvieh hat unseren Fisch geklaut. Na warte!«

Er schnappte sich seinen Stock, den er mithilfe eines scharfkantigen Steins in einen Speer verwandelte, und warf ihn mit aller Kraft ins Wasser. Er verfehlte das Wesen nur knapp.

»Finn, sei vorsichtig!«, rief Juna. »Das Ding ist klug. Es verfolgt mich, seit wir hier sind. Vielleicht ist es gefährlich. Bestimmt sogar.«

Finn lachte. »Machst du dir jetzt etwa Sorgen um mich, kleine Schwester?«

Juna wurde rot. »Hör endlich auf, mich so zu nennen! Ich bin nicht deine kleine Schwester, und ich werde es auch niemals sein, nur damit du’s weißt.«

Finn hörte nicht auf sie. Er sprang ins Wasser und holte sich seinen Speer zurück. Er wollte das seltsame Wesen unbedingt erlegen. Es kreiste bedrohlich unter der Wasseroberfläche.

Juna war wütend und ängstlich zugleich. Nicht auszudenken, wenn Finn etwas geschah!

»Hör auf mit dem Blödsinn. Du wirst dich noch umbringen. Dann bin ich hier ganz allein«, rief sie.

»Ich dachte, du kannst mich nicht leiden.«

»Kann ich auch nicht. Los, komm zurück.«

»Das Biest frisst uns sämtlichen Fisch weg. Ich werde es erledigen!«

»Finn – das ist kein gewöhnliches Tier.«

»Was ist es denn dann?«

»Ein Ungeheuer!«, platzte es aus ihr heraus.

Finn riss die Augen auf. Dann lachte er so laut und schallend, dass er fast keine Luft mehr bekam. Juna ärgerte sich über sich selbst. Sie wusste, wie lächerlich das klang.

»Ja, lach du nur!«, rief sie. »Du wirst schon sehen … Finn!«

Der Schatten rauschte von hinten an Finn heran und stupste ihn ins Meer. Finn tauchte unter und ruderte orientierungslos mit den Armen, bis sein Kopf keuchend und hustend wieder zum Vorschein kam. Er hatte ordentlich Wasser geschluckt. Sein Schreck wich rasch der Wut.

»Na warte, du Mistvieh, jetzt krieg ich dich«, grollte er.

Er packte seinen Speer und schleuderte ihn mit aller Kraft ins Meer. Die Spitze traf das Biest in die Seite. Es zog eine blutige Spur hinter sich her, bis es mit schmerzerfüllten Schreien im flachen Wasser liegen blieb. Als Juna sah, was Finn da erlegt hatte, wurde ihr das Herz schwer.

Blue