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Anne Bishop ist die Königin der Dark Fantasy
Nach "Blutskönigin" legt Anne Bishop ihren neuen Roman aus der Welt der
Schwarzen Juwelen vor: Lady Cassidy hat die Herrschaft über Shalador übernommen und ist fest entschlossen, das Gesetz des Blutes zu achten. Doch eine finstere Prophezeiung droht das Reich in seinen Grundfesten zu erschüttern…
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Seitenzahl: 779
Nachdem Cassidy nach anfänglichen Turbulenzen die Herrschaft als Territoriumskönigin von Dena Nehele übernommen hat, sind Zuversicht, Wohlstand und Frieden ins Land eingezogen. Doch obwohl die Bevölkerung einer glücklichen und stabilen Zukunft entgegensieht, ist Cassidys Regentschaft alles andere als gesichert. Prinz Theran Grayhaven ist der bodenständigen und wenig »königlichen« Cassidy alles andere als zugetan. Insgeheim hofft er noch immer, eine andere Herrscherin für das Reich zu finden. Als eines Tages die atemberaubend schöne Kermilla an Cassidys Hof auftaucht, ist es um Theran geschehen: Sie ist die wahre Königin Dena Neheles, dessen ist er sich sicher. Doch Kermilla ist machtgierig und skrupellos. Schon einmal hat sie Cassidy aus einem Territorium vertrieben, die Macht an sich gerissen und das Land zugrunde gerichtet. Blind vor Liebe stellt sich Theran auf Kermillas Seite, nicht ahnend, welches Unheil er damit über Dena Nehele heraufbeschwört …
Die schwarzen Juwelen:
Die New Yorkerin Anne Bishop, seit ihrer Kindheit von Fantasy-Geschichten begeistert, veröffentlichte zahlreiche Kurzgeschichten und Romane, bevor ihr mit dem preisgekrönten Bestseller Dunkelheit der internationale Durchbruch gelang. Ihre ebenso ungewöhnliche wie faszinierende Saga DIE SCHWARZEN JUWELEN zählt zu den erfolgreichsten Werken moderner Fantasy.
Mehr Informationen zu Autorin und Werk unter: www.annebishop.com
Für Nadine, Merri Lee und Annemarie und für Neela
Mein Dank geht an Blair Boone, der weiterhin mein erster Leser ist, an Debra Dixon als zweite Leserin, an Doranna Durgin dafür, dass sie sich um die Website kümmert, an Rick Kohler für die hübsche Karte, an Pat Feidner einfach so und an alle Freunde und Leser, die sich mit mir auf diese Reise begeben. Und ein besonderer Gruß geht an Nikki und Sloan, die menschenfreundlichen Vampirprinzessinnen, die ich auf einer Alaska-Kreuzfahrt getroffen habe.
Weiß Gelb Tigerauge Rose Aquamarin Purpur Opal1Grün Saphir Rot Grau Schwarzgrau Schwarz
Wenn man der Dunkelheit sein Opfer darbringt, kann man von dem Juwel, das einem laut Geburtsrecht zusteht, höchstens drei Stufen aufsteigen.
Beispiel: Jemand mit Weiß als Geburtsrecht kann bis Rose aufsteigen.
Anmerkung der Autorin: Das Sc in Eigennamen wie Scelt, Sceval und Sceron wird wie Sch ausgesprochen.
Landen: Nichtblut jeden Volkes.
Mann des Blutes: Ein allgemeiner Begriff für alle männlichen Blutleute, der sich auch auf Männer bezieht, die keine Juwelen tragen.
Krieger: Ein Mann, der Juwelen trägt; vom Status her einer Hexe gleichgestellt.
Prinz: Ein Mann, der Juwelen trägt; vom Status her einer Priesterin oder Heilerin gleichgestellt.
Kriegerprinz: Ein gefährlicher, äußerst aggressiver Juwelenmann, der nur der Königin unterstellt ist.
Landen: Nichtblut jeden Volkes.
Frau des Blutes: Ein allgemeiner Begriff für alle weiblichen Blutleute, der sich vor allem auf Frauen des Blutes bezieht, die keine Juwelen tragen.
Hexe: Eine Frau des Blutes, die Juwelen trägt, aber nicht zu einer der anderen Kasten gehört; kann sich außerdem auf jede Juwelenfrau beziehen.
Heilerin: Eine Hexe, die körperliche Wunden und Krankheiten heilen kann; vom Status her einer Priesterin oder einem Prinzen gleichgestellt.
Priesterin: Eine Hexe, die sich um heilige Stätten und Dunkle Altäre kümmert, Heiratsverträge und Vermählungen durchführt und Opferzeremonien leitet; vom Status her einer Heilerin oder einem Prinzen gleichgestellt.
Schwarze Witwe: Eine Hexe, die den Verstand heilen kann, an den Verworrenen Netzen von Träumen und Visionen webt sowie Wahnvorstellungen und Gifte studiert hat.
Dena NeheleTAMANARA GEBIRGE GRAYHAVEN – SOWOHL EIN FAMILIENSITZ ALS AUCH EINE STADT EYOTA – EIN DORF IM ÖSTLICHEN SHALADOR-RESERVAT
Schwarzer Askavi (der Schwarze Berg, der Bergfried)
Hayll
Zuulaman
AskaviSCHWARZER ASKAVI (DER SCHWARZE BERG; DER BERGFRIED ) EBON RIH – EIN TAL IM GEBIET DES BERGFRIEDS RIADA – DORF IN EBON RIH, DAS VON ANGEHÖRIGEN DES BLUTES BEWOHNT WIRD
Dea al Mon
DharoWEBERSFELD – DORF, DAS VON ANGEHÖRIGEN DES BLUTES BEWOHNT WIRD BHAK – DORF, DAS VON ANGEHÖRIGEN DES BLUTES BEWOHNT WIRD
WOLLHEIM – DORF, DAS VON LANDEN BEWOHNT WIRD
DhemlanAMDARH – HAUPTSTADT HALAWAY – DORF IN DER NÄHE VON BURG SaDIABLO BURG SaDIABLO
NharkhavaTAJRANA – HAUPTSTADT
SceltMAGHRE (MA-GRA) – DORF
Schwarzer Askavi (der Schwarze Berg, der Bergfried)
BURG SaDIABLO
CASSIDYS HOF
SHIRA – EINE SCHWARZE WITWE/HEILERIN VAE – HEXE, SCELTIE REYHANA – SHALADOR-KÖNIGIN
KriegerprinzenARCHERR BURNE HAELE JARED BLAED (GRAY) RANON – (TALONS STELLVERTRETER) SHADDO SPERE TALON – HAUPTMANN DER WACHE THERAN – ERSTER BEGLEITER
PrinzenPOWELL – HAUSHOFMEISTER
KriegerBARDRIC CAYLE RADLEY
KERMILLAS HOF
Kriegerprinzen2ASTON BARDOC FLYNTON – HAUPTMANN DER WACHE GALLARD – HAUSHOFMEISTER JHORMA – GEFÄHRTE KENJIM LASKA LIEKH RIDLEY TRAE
Während sich die Geschichten über das Herz und den Mut der neuen Königin im Territorium Dena Nehele verbreiteten, spürten die Schwarzen Witwen das Land erbeben. Doch als sie ihre Verworrenen Netze der Träume und Visionen spannen, schenkte ihnen das, was sie sahen, wenig Trost.
Viele erblickten Honigbirnbäume, die Äste schwer von reifen Früchten. Sie wuchsen aus verwesenden Leichen, die man auf den Schlachtfeldern zurückgelassen hatte. Nur wenige sahen einen Neuanfang, eingehüllt in die Farben des Sonnenuntergangs. Nichts von dem, was sie sahen, bot ihnen Klarheit – nur die Gewissheit, dass etwas auf sie zukam, das Dena Nehele für immer verändern würde.
Im Schwarzen Askavi, der heiligen Stätte von Hexe, betrachtete eine weitere Schwarze Witwe die Träume und Visionen ihres Verworrenen Netzes – und sah mehr, als die anderen Schwarzen Witwen es jemals könnten.
Tränen rannen aus ihren saphirblauen Augen, doch selbst sie hätte nicht sagen können, ob es Tränen der Freude oder der Trauer waren.
Ranon trat auf die Terrasse hinter dem Herrenhaus der Grayhavens, schloss die dunklen Augen und hob die hölzerne Flöte an die Lippen. Er zögerte, während ein Leben voller Vorsicht mit der Hoffnung rang, die Lady Cassidy, die das Territorium Dena Nehele mittlerweile regierte, ihm geschenkt hatte.
Doch gerade wegen dieser Hoffnung und des vorsichtigen Vertrauens holte Ranon tief Luft und begann zu spielen. Einen Gruß an die Sonne – ein Lied, das außerhalb der Shalador-Reservate seit vielen, vielen Jahren niemand mehr vernommen hatte. Und selbst dort war es nur im Geheimen erklungen.
Sein Großvater hatte ihm dieses Lied beigebracht – dieses und jedes andere Lied, das die Traditionshüter bewahrt hatten, seit das Volk der Shalador vor Generationen den Ruinen seines Territoriums entflohen war und sich im Süden Dena Neheles niedergelassen hatte. Dort war das Volk aufgeblüht und hatte Wurzeln geschlagen. Und während die Shalador die Traditionen Dena Neheles stets achteten, vergaßen sie doch die eigenen Bräuche nie – und hofften, hofften ohne Unterlass, dass sie eines Tages wieder ein eigenes Territorium besitzen würden.
Einst war es gutes Land gewesen und unter der Herrschaft der Königinnen mit den Grauen Juwelen ein guter Ort zum Leben. Dann starb Lia, und Dena Neheles Niedergang nahm seinen Anfang. Von Dorothea SaDiablo, der Hohepriesterin von Hayll, gestützte Königinnen rissen nach nur wenigen Generationen die Herrschaft an sich. Dorothea hasste das Volk von Dena Nehele, weil es ihr so lange Widerstand geleistet hatte, doch das Volk der Shalador hasste sie sogar noch mehr. Schuld daran trug Jared, der shaladorische Krieger mit den Roten Juwelen, Ehemann und Gefährte von Lia Grayhaven, der letzten Grauen Lady, die Dena Nehele regiert hatte.
Weil Dorothea Jareds Volk hasste, hatten ihre Marionettenköniginnen mit jeder Generation ein Stück von dem abgeschliffen, was ursprünglich das Land der Shalador gewesen war. Die Grenzen der Reservate, in denen sich die Shalador niedergelassen hatten, zogen sich immer enger zusammen. Heute musste das Volk darum kämpfen, seinem Land noch genügend Ertrag zum Überleben abzuringen. Die shaladorischen Bräuche wurden verboten. Die Tänze, die Musik, die Geschichten – alles wurde im Geheimen und unter großer Gefahr weitergegeben.
Sein Großvater väterlicherseits war ein Hüter der Musik. Als starker, ruhiger Mann war Yairen in Eyota, dem Dorf, in dem Ranon aufgewachsen war, ein geachteter Anführer gewesen – und war es immer noch. Ebenso war er ein begnadeter Musiker, der es für seine Pflicht hielt, den Jüngeren zu lehren, wie man die Lieder spielte, die das Herz der Shalador geprägt hatten.
Die Provinzkönigin, die das Reservat kontrollierte, brach Yairen als Strafe dafür, Verbotenes gelehrt zu haben, die Hände – und brach sie noch zwei weitere Male. Als sie das letzte Mal verheilten, war Yairen kaum noch in der Lage, eine Flöte zu halten, geschweige denn, sie zu spielen. Aber dennoch unterrichtete er seinen Enkelsohn, und er unterrichtete ihn gut, trotz seiner verkrüppelten Hände.
So war diese Musik die längste Zeit seines Lebens ein Geheimnis gewesen. Selbst wenn er zugab, Flöte zu spielen, tat er es niemals in Hörweite eines Menschen, dem er nicht vertrauen konnte – und selbst dann spielte er die Weisen der Shalador nur selten.
Verstand die Königin, der er jetzt diente, wie viel Vertrauen es ihm abverlangte, hier zu stehen und die Musik seines Volkes vorzuführen? Wohl nicht. Lady Cassidy hatte seinen Widerwillen erkannt, doch nicht einmal Shira, die Schwarze Witwe, die er liebte, verstand, wie eng sich in seinem Herzen die Angst und die Hoffnung der letzten Tage miteinander verwoben hatten, während sich die Klänge der Flöte in die Luft erhoben und Teil der Welt wurden. Ja, er hatte Angst, doch die Hoffnung auf etwas Neues und Besseres war der Grund, aus dem er hier stand – an einem Ort, der die Hochburg der verdorbenen Königinnen gewesen war – und Lieder spielte, die sie einst verboten hatten.
Während er ein Lied nach dem anderen aufführte, ließ Ranon sein Herz zusammen mit den Klängen, die es mit friedvoller Freude erfüllten, in die Höhe steigen.
»Wie lange musst du den kleinen grünen Dingern ein Ständchen bringen, bevor du frühstücken kannst?«
Er öffnete die Augen und senkte die Flöte. Der Frieden, den er einen Moment zuvor gefühlt hatte, verschwand, als Theran Grayhaven auf die Terrasse hinaustrat.
Theran und er mochten sich nicht. Hatten sich nie gemocht. Aber außer höflichem Interesse konnte er nichts aus der Frage heraushören.
»Eine Viertelstunde.« Ranon warf einen raschen Blick auf das Stundenglas, das neben ihm in der Luft schwebte. Dem Sand nach zu urteilen, der sich am Boden des Glases befand, hatte er doppelt so lange gespielt. »Gray sagt, es helfe den Honigbirnen beim Wachsen.«
»Glaubt er wirklich, sie welken und gehen ein, wenn du nicht hier draußen stehst und Musik machst?«, fragte Theran, während er die dreizehn Blumentöpfe begutachtete, die im Schutz des Hochbeets standen, das die Terrassenmauer bildete.
Beim Gedanken an den Tod eines der kleinen Honigbirnbäume begann Ranons Herz heftig zu schlagen, doch er würde niemandem verraten, wie viel ihm diese lebenden Symbole der Vergangenheit bedeuteten.
Jared hatte sechs Honigbirnbäume mit in dieses Land gebracht. Einen hatte man hier in Grayhaven für Lia gepflanzt, und noch lange nach seinem Tod hatte man ihn als Symbol des Hohns gegenüber den Königinnen mit den Grauen Juwelen, die hier einst geherrscht hatten, im Garten stehen lassen. Doch dieser tote Baum hatte dreizehn sorgsam erhaltene Honigbirnen verborgen, die Lia versteckt hatte. Cassidy hatte sie gefunden – der erste Schritt auf dem Weg zum Schatz der Grayhavens. Aus diesem Grund waren die kleinen Bäume ein Band strahlender Hoffnung, das die Vergangenheit mit der Zukunft verknüpfte.
»Es spielt keine Rolle, was Gray denkt«, erwiderte Ranon. »Es ist der Wunsch der Königin, dass ich den Honigbirnen jeden Morgen etwas auf der Flöte vorspiele, also spiele ich.«
In dem Moment, in dem er es ausgesprochen hatte, wusste er, dass seine Wortwahl ein Fehler gewesen war.
»Nun ja, auf die ein oder andere Art und Weise spielen wir alle etwas zum Vergnügen der Königin, nicht wahr?«, sagte Theran. Dann blickte er zu Ranon und fügte mit einem Hauch Boshaftigkeit hinzu: »Spiel lieber schneller, sonst gibt es nicht einmal mehr Haferbrei, wenn du zu Tisch kommst, geschweige denn Eier und Speck.«
Jetzt hat die Höflichkeit wohl ein Ende, dachte Ranon. Da er keinen Hehl daraus machte, wusste jeder am Hof, dass er Haferbrei verabscheute. Was bedeutete, Theran hatte das gesagt, um ihn zu verärgern. Warum? Weil sie sich nicht mochten und die Anstrengung, zivilisiert miteinander umzugehen, selten länger Bestand hatte als ein paar Minuten?
Beim Feuer der Hölle. Grayhaven war launisch, seit Cassidy den Schatz gefunden und bewiesen hatte, dass es ihr bestimmt war, hier zu herrschen. Aber sie alle waren verpflichtet, zum Wohlergehen von Land und Königin zusammenzuarbeiten.
Zumindest zum Wohlergehen des Landes. Die anderen elf Männer, aus denen der Erste Kreis bestand, wussten, dass Theran nicht dieselbe Verbindung zu Cassidy empfand wie sie. An ihrem Hof zu dienen, war Teil der Vereinbarung, die Theran getroffen hatte, um eine Königin aus Kaeleer nach Dena Nehele zu holen. Es bedeutete nicht, dass er ihr dienen wollte, trotz seiner jüngsten Bemühungen, mit ihr zu arbeiten anstatt gegen sie.
»Weißt du was?«, fügte Theran hinzu. »Ich hebe meine Portion Haferbrei für dich auf.«
Wut kochte hoch, Hitze lag plötzlich zwischen ihnen in der Luft. Und die unausgesprochene Einladung zum Blutvergießen.
»Du bist siebenundzwanzig«, sagte Ranon kalt. »Ich dreißig. Wir sind beide zu alt, um einen Streit über Haferbrei vom Zaun zu brechen.«
Theran zuckte zurück, als hätte man ihm einen Schlag versetzt. Dann trat er knurrend einen Schritt nach vorn.
Mithilfe der Kunst ließ Ranon das Stundenglas und die Flöte verschwinden und ging instinktiv einen Schritt zur Seite, um sich mehr Bewegungsspielraum zu verschaffen.
Er trug Opal-Juwelen; Theran trug Grün. Sie beide waren Kriegerprinzen, gefährliche Raubtiere, dazu geboren, auf dem Schlachtfeld zu stehen. Wenn sie ihre mentalen Kräfte entfesselten und aufeinander losließen, könnten sie das gesamte Anwesen zerstören und viele, die hier lebten, umbringen, bevor auch nur jemand ahnte, dass er in Gefahr war. Selbst ohne die Macht einzusetzen, die die Blutleute zu dem machte, was sie waren, könnten sie sich in ihrer Wut allein mit Muskelkraft gegenseitig großen Schaden zufügen.
Doch wenn auch nur einer von ihnen so schwer verletzt wurde, dass er nicht mehr dienen könnte, würde der Hof zusammenbrechen, gemeinsam mit Ranons Hoffnung für das Volk der Shalador.
Sich dies in Erinnerung rufend wich er vor dem Kampf zurück, und mit einer kaum wahrnehmbaren Veränderung seiner Körperhaltung erkannte er Theran als den dominanten Kriegerprinzen an. Was den Juwelen nach auch der Wahrheit entsprach. Aber nur den Juwelen nach. Und auch das vermittelte Ranon mit seiner Körperhaltung.
Zorn blitzte in Therans grünen Augen auf. Anstatt Ranons Rückzug zu akzeptieren, ging er noch einen Schritt auf ihn zu. Dann …
*Theran? Theran!*
Von einem Sceltie gerettet, dachte Ranon, als er Therans hastigen Abgang ins Haus mitansah – einen Herzschlag, bevor die kleine braun-weiße Hündin die Stufen zur Terrasse hinaufgesprungen kam.
»Guten Morgen, Lady Vae«, sagte Ranon höflicher, als es die Form verlangte.
Die kleine Hündin knurrte ihn an.
Mit einem Blick auf das halb im Fell versteckte Purpur-Juwel verharrte Ranon ruhig. Vae war ein verwandtes Wesen – so nannte man die nicht menschlichen Angehörigen des Blutes –, und er hatte gesehen, wie sie im Kampf einen ausgewachsenen Mann niedergerissen hatte. Dem Rang nach war sie ihm unterlegen, schließlich war sie nur eine Hexe und seine Juwelen dunkler als die ihren. Andererseits war sie schnell, hatte ein kräftiges Gebiss und scharfe Zähne.
*Du bist sonst nicht so dumm wie die anderen Männer, also werde ich dich diesmal nicht kneifen*, sagte Vae.
»Vielen Dank, Lady. Das weiß ich zu schätzen.«
Ebenso schätzte er die stillschweigende Warnung, dass sein nächster Verstoß ihm mehr einbringen würde als ein Kneifen.
Vae trabte ins Haus, ohne Zweifel in dem Vorhaben, dem anderen dummen Menschenmann ihre ganz eigene Form der Gerechtigkeit zuteilwerden zu lassen.
Ranon seufzte. Beinahe hätte er etwas zerstört, das so empfindlich war wie die kleinen Honigbirnbäume in ihren Töpfen.
Gib ihr alles, was du hast, Ranon, hatten die Königinnen der Shalador gesagt, als sie ihn gestern Abend verließen. Zeig ihr, dass das Herz und die Ehre von Shalador eine solche Königin wert sind.
Cassidy war eine Königin aus Dharo, die Rose-Juwelen trug. Die große, schlaksige Frau mit dem rotem Haar und den unzähligen Sommersprossen entsprach nicht im Entferntesten dem Bild der schönen, mächtigen Königin, das Theran den überlebenden Kriegerprinzen ausgemalt hatte, als er ihnen von seinem Plan berichtete, Dena Nehele zu retten.
Doch als Ranon sie an diesem ersten Tag erblickte, hatte er gefühlt, wie sich das Band zwischen Kriegerprinz und Königin um sein Herz schlang, hatte gespürt, dass es richtig war, sein Leben ihrem Willen zu unterwerfen. In den wenigen Wochen seit ihrer Ankunft hatte sie sich dieses Vertrauens als würdig erwiesen. Und im Zuge dessen, was sie in den vergangenen Wochen getan hatte – sie hatte nicht nur gegen einen Kriegerprinzen und seine zwei erwachsenen Söhne gekämpft, um eine Landenfamilie zu schützen, sondern auch den Schatz gefunden, der auf dem Anwesen der Grayhavens verborgen gewesen war –, sahen sogar die Kriegerprinzen, die bei ihrem Anblick enttäuscht gewesen waren, die Königin hinter dem langen, nichtssagenden Gesicht mit anderen Augen.
Er mochte Theran nicht. Würde ihn niemals mögen. Doch aus Dankbarkeit über Cassidys Anwesenheit – und weil er wusste, wie er sich gefühlt hätte, wenn er gezwungen worden wäre, einer Königin zu dienen, an die er nicht glaubte – würde er alles in seiner Macht Stehende tun, um den Frieden zwischen sich und Theran zu wahren.
Und um wenigstens ein bisschen des verlorengegangen Friedens zurückzuholen, rief er seine Flöte herbei und spielte noch eine Weile.
An der Tür zum Speisezimmer hielt Theran inne und blieb einen Moment stehen, um die um den Tisch versammelten Leute zu betrachten. Trotz ihrer Verpflichtung, Cassidy zu dienen, nahmen sich die Männer, die ihren Ersten Kreis bildeten, vor ihr in Acht. Sie hatten zu viel Gewalt gesehen, die auf Geheiß der verdorbenen Königinnen verübt worden war. Und ganz gleich, was sie sagten, er wusste, dass sie von der fehlenden Schönheit und Macht ihrer Königin enttäuscht gewesen waren.
Dann hatte Cassidy Lias Schatz gefunden. Diese Entdeckung stellte nicht nur den persönlichen Wohlstand der Grayhavens wieder her, sondern hatte auch Tagebücher und Porträts ans Licht gebracht, die ihm und den anderen Männern im Ersten Kreis einen kleinen Einblick in die Vergangenheit schenkten. Diese Vergangenheit hatte dazu beigetragen, sie zu dem zu machen, was sie waren – denn die Menschen auf diesen Porträts hatten gewusst, was es bedeutete, Ehre zu besitzen. Und durch ihr Handeln hatte sich Cassidy als eine Königin erwiesen, wie Lia es gewesen war.
Deswegen hatte er die Wahl getroffen, Cassidy mehr als nur dem Namen nach ihr Erster Begleiter zu sein, ihr zu dienen, als fühle er diese Verbindung, die der Rest des Ersten Kreises empfand. Doch er fühlte dieses Band nicht, und trotz seiner besten Absichten rieb ihn der Dienst an ihr auf. Er war dankbar für alles, was sie bereits erreicht hatte, aber er glaubte noch immer, dass, wenn schon Cassidy dazu in der Lage war, eine Königin, wie er sie sich für Dena Nehele erhofft hatte, noch viel mehr tun könnte. Die Blutleute, die Cassidy kennenlernten, mussten an ihrem nichtssagenden Gesicht und den Rose-Juwelen vorbeisehen, um zu entscheiden, ob sie ihrem Land oder ihrem Volk etwas bieten könnte – und die meisten von ihnen wären enttäuscht genug, es gar nicht erst zu versuchen.
Ihr Regierungsvertrag für Dena Nehele läuft nur ein Jahr, dachte Theran, als er zum Tisch hinüberging und Platz nahm. Ihr ein Jahr zu dienen, schaffe ich. Und es gibt mir Zeit, die richtige Königin für Dena Nehele zu suchen.
Die richtige Königin würde ihm nicht jeden verdammten Tag einen shaladorischen Kriegerprinzen vor die Nase setzen. Die einzige Entschuldigung für sein Verhalten heute Morgen war die Tatsache, dass Ranons Anwesenheit ihn noch viel mehr aufrieb als die Cassidys. Er hatte sein gesamtes Leben damit zugebracht, Grayhaven zu sein, der letzte Nachkomme der Blutlinie der Grauen Königinnen und der Mann, dessen Schicksal es war, der Anführer zu werden – der Kriegerprinz, dem die anderen Männer folgen würden. Bis er Cassidy nach Dena Nehele gebracht und sie ihren Hof aufgestellt hatte, war er genau das gewesen. Jetzt blickten die Leute auf das dunkle Haar und den goldenen Hautton, der Ranons Erbe verriet. Dann blickten sie zu ihm, und anstatt Grayhaven zu sehen, sahen sie Shalador.
Schlimmer noch, wenn Männer ihn mit anderen Mitgliedern des Ersten Kreises antrafen, sprachen sie mit ihm wie mit einem Anführer, nicht aber wie mit dem Anführer. Sie taten so, als sei der Name Grayhaven durch Cassidys Gegenwart weniger wert.
Verärgert und wütend auf alles und jeden, begann er, seinen Teller mit einer doppelten Portion Steak, Ei und Kartoffeln zu beladen – und nahm nicht nur seinen, sondern auch Ranons Anteil. Doch als er das zweite Steak aufspießte, hielt ihm Cassidy lächelnd einen leeren Teller hin. Theran merkte, wie scharf ihn die anderen Männer am Tisch beobachteten, und hatte keine andere Wahl, als ihr die Hälfte seiner gesamten Portion abzugeben.
Als sie den Teller vor sich abstellte, aber nicht aß, stieg Unmut in ihm auf. Wenn sie das Essen nicht wollte, warum hatte sie es ihm dann weggenommen?
Wenigstens bleibt Ranon trotzdem auf dem Haferbrei sitzen. Dann warf Theran seinem Cousin Gray einen Blick zu und wurde an einen weiteren Grund erinnert, warum er versuchen musste, mit Cassidy auszukommen.
Gray war von der Königin, die ihn mit fünfzehn Jahren gefangen genommen und gefoltert hatte, an Körper und Geist versehrt worden. Jetzt, zwölf Jahre später, entwickelte er sich endlich von einem Jungen zum Mann, sowohl geistig als auch emotional. Ein Junge konnte nicht Cassidys Liebhaber werden, und dieser Wunsch, dieses Verlangen, war die treibende Kraft hinter Grays Verwandlung.
Eine einfache Entwicklung war der Beweis: Als sie nach Grayhaven zurückgekehrt waren, war Gray zu verängstigt gewesen, um das Haus zu betreten und mit ihnen zu essen. Jetzt war er hier, saß neben Cassidy und redete über …
»Was?« Theran ließ beinahe seine Kaffeetasse fallen. »Wir machen was?«
»Wir besuchen die Shalador-Reservate«, erwiderte Cassidy ruhig. »Die Königinnen der Shalador haben mich eingeladen. Sie möchten, dass ich das Land sehe, von dem sie leben. Sie wollen mir zeigen, dass ihre Sorgen begründet sind.«
»Das ist zu gefährlich«, sagte Theran automatisch. So hatte er alle Versuche Cassidys unterbunden, hinaus unters Volk zu gehen – und dieses Mal war er wirklich um ihre Sicherheit besorgt, nicht darüber, was die Leute von der neuen Königin halten würden.
Er goss sich Kaffee ein und begann zu essen, weil er etwas im Magen brauchte.
»Dann ist es Talons Aufgabe als Hauptmann der Wache und Ranons als seinem Stellvertreter, die Gefahr aus dem Weg zu räumen«, erwiderte Cassidy.
»Wenn es um die Reservate im Süden oder Westen geht, stimme ich Theran zu«, warf Shira ein. »Sie grenzen an andere Territorien, und die Menschen dort sind genauso verzweifelt wie wir, wenn es darum geht, ihr Leben und ihr Land wieder aufzubauen.«
»Was bereitet dir denn solche Sorgen?«, fragte Cassidy Shira. »Dass sie mich entführen?«
»Ja.«
Das Gespräch am Tisch verstummte. Die mentalen Signaturen der Kriegerprinzen des Ersten Kreises verschärften sich, als ihre stete Wachsamkeit noch eine Spur zunahm.
»Du unterschätzt deinen Wert, Lady«, sagte Shira. »Du weißt nicht, wie viel eine gute Königin in Terreille wert ist. Gerade jetzt.«
»Eine entführte Königin ist gar nichts wert«, erwiderte Cassidy. »Du kannst sie nicht zwingen, zu herrschen.«
»Aber eine Königin zu entführen könnte einen neuen Krieg bedeuten.«
Cassidy lehnte sich zurück, offensichtlich bestürzt über diese Möglichkeit.
»Ranons Heimatdorf liegt im östlichen Reservat, weit genug von anderen Territorien entfernt, um es gefahrlos aufzusuchen. Und es grenzt an das Tamanara-Gebirge«, sagte Shira. »Von allen Seiten geschützt.«
»Aber nicht vor den Gefahren innerhalb des Reservats«, warf Theran ein.
»Das Volk der Shalador hat keinen Grund, Lady Cassidy schaden zu wollen«, erwiderte Shira kühl.
»Prinz Grayhaven, du kannst diese Auseinandersetzung führen, so lange du willst, aber meine Entscheidung steht fest«, sagte Cassidy. »In fünf Tagen von heute an werde ich in die Shalador-Reservate reisen. Du, Powell und Talon werdet beratschlagen, wie das zu bewerkstelligen ist.«
Vor vierzehn Tagen hätte sie noch nachgegeben, dachte Theran. Sie hätte respektiert, dass er mehr davon verstand, was Dena Nehele brauchte – und die anderen Kriegerprinzen hätten sich ihm nicht widersetzt.
Ein Anführer, aber nicht länger der Anführer.
Er fühlte sich, als hätte er etwas verloren, das zu schwer greifbar war, um es in Worte zu fassen, doch das Gefühl des Verlusts war real.
»Wenn das so ist, fange ich besser gleich mit den Vorbereitungen an«, sagte Theran und schob seinen Stuhl zurück. Er ergriff seinen Teller und die Kaffeetasse. »Wenn du mich entschuldigen würdest, ich beende mein Frühstück bei der Arbeit.«
Fast hätte er nicht auf ihr entlassendes Nicken gewartet, tat es dann aber doch, weil das Protokoll es erforderte. Dann verließ er das Speisezimmer, um seine Mahlzeit nicht in Anwesenheit der Frau beenden zu müssen, die er in sein Land gebracht hatte.
Cassidy war vielleicht in der Lage, während ihres einjährigen Vertrags über die Herrschaft Dena Neheles etwas Gutes zu tun. Aber die Shalador auf den Gedanken zu bringen, sie seien wichtiger als der Rest von Dena Nehele, würde niemandem helfen.
Daran war Ranon Schuld. Er ließ nie jemanden vergessen, dass das Volk der Shalador die Hauptlast der Grausamkeit hatte tragen müssen, unter der Dorotheas Königinnen Dena Nehele begraben hatten.
Und ihn ließ Ranon niemals vergessen, dass Theran ohne seinen Familiennamen Grayhaven das gleiche verzweifelte Leben in einem der Reservate geführt hätte wie der Rest der Shalador.
Womit er ihm unterstellte, sein Leben sei einfach gewesen – was nicht der Wahrheit entsprach. Als Letzter der Grayhaven-Blutlinie war er in den im Tamanara-Gebirge versteckten Geächtetenlagern aufgewachsen. Er hatte unter Männern gelebt, die eher bis zum Tod und darüber hinaus kämpfen würden, als einer Königin zu dienen, die von ihnen verlangte, ihren Ehrenkodex zu verraten. Talon hatte ihn ausgebildet, ein Kriegerprinz, der Saphir-Juwelen trug und seit fast dreihundert Jahren dämonentot war – und der ein Freund sowohl Jareds als auch Blaeds gewesen war, dem Kriegerprinzen, der Jared geholfen hatte, sich Dorothea SaDiablos Wachen zu entziehen und Lia zurück nach Dena Nehele zu bringen.
Es war kein einfaches Leben gewesen, ganz gleich, aus welchem Blickwinkel man es betrachtete, aber andere Männer hatten Schlimmeres erduldet. Gray zum Beispiel.
Es ist nur ein Jahr, dachte er, als er sich auf sein Zimmer zurückzog. Allzu viel konnte sich nicht verändern.
Während er aß, verdrängte er den leisen Gedanken, dass sich bereits jetzt eine ganze Menge verändert hatte.
Das Einzige, das noch auf dem Tisch stand, war Haferbrei.
Ranon unterdrückte ein Seufzen und setzte sich neben Shira. So saß er Cassidy gegenüber, die einen Teller voller Steak, Ei und Bratkartoffeln vor sich stehen hatte.
»Kaffee?«, fragte Shira und hielt die Kanne hoch.
»Danke.« Er kratzte den Rest des Haferbreis in eine Schüssel. Es war etwas zu essen, und er war dankbar dafür.
Was nicht hieß, dass er es mögen musste.
Als er zu essen anfing, wandte sich Gray an Cassidy und fragte: »Kommst du heute in den Garten zum Arbeiten?«
»Heute Morgen nicht«, antwortete Cassidy. »Shira und ich wollen nach dem Landenmädchen sehen, das verletzt wurde.«
Anspannung ergriff Ranon, ebenso wie jeden anderen Mann, der sich noch am Tisch befand. Doch niemand widersprach dem Vorhaben – eine willkommene Abwechslung zu Therans ständiger Kläfferei bei jedem Mal, wenn Cassidy das Anwesen verlassen wollte.
Archerr, ein Kriegerprinz mit Opal-Juwelen, sagte: »Prinz Spere und ich haben heute Begleitdienst. Wenn du glaubst, der Erste Kreis sollte mehr Präsenz zeigen, kann ich Prinz Shaddo und Lord Cayle bitten, uns ebenfalls zu begleiten. «
Archerr blickte Cassidy an, aber Ranon wusste, dass die Frage an ihn als Talons Stellvertreter gerichtet war. Er nickte kaum merklich. Es war kein zusätzlicher Begleitschutz nötig, um Cassidys Sicherheit auf diesem Ausflug zu gewährleisten, aber es konnte nicht schaden, die Leute in der Stadt daran zu erinnern, dass der Königin starke Männer zu Diensten standen und sie beschützten.
Dann sagte Gray: »Vielleicht wäre Lady Vae bereit, sich euch anzuschließen.«
»Ich glaube nicht, dass irgendjemand von uns sie davon abhalten könnte«, erwiderte Cassidy.
Ranon schnaubte leise. Vor Cassidys Ankunft hatte niemand hier je einen Sceltie gesehen. Vae hatte diese Bildungslücke nachdrücklich geschlossen.
Powell, der Prinz, der als Haushofmeister diente, schob seinen Stuhl zurück. »Mit deiner Erlaubnis, Lady, ziehen wir uns jetzt zurück, um das Tagwerk zu beginnen.«
Cassidy nickte. »Wenn ich zurück bin, komme ich in deinem Arbeitszimmer vorbei, um die Dinge durchzusehen, die meine Aufmerksamkeit erfordern.«
»Selbstverständlich. Ranon? Wenn du einen Moment Zeit hast, würde ich gerne den Aufenthalt der Lady in deinem Heimatdorf mit dir besprechen.«
»Ich komme sofort«, erwiderte Ranon.
»Lady Shira und ich sind in einer halben Stunde fertig«, wies Cassidy Archerr an.
»Bis später«, sagte Gray und fuhr mit einer Fingerspitze über Cassidys Handrücken.
Er hat sich so schnell entwickelt, dachte Ranon, als Gray und die anderen Männer das Speisezimmer verließen. Jetzt verhält er sich schon eher wie der Kriegerprinz, der er hätte werden sollen.
Als der letzte Mann das Zimmer verlassen hatte, stellte er die halbvolle Schüssel Haferbrei beiseite – und Cassidy schob ihm ihren vollen Teller zu.
»Lady«, protestierte er.
»Ich habe schon gegessen«, sagte Cassidy. »Aber wir haben vereinbart, knapp zu wirtschaften und nicht mehr zuzubereiten, als wir für jede Mahlzeit brauchen. Du warst draußen bei den Honigbirnen, und ich hatte das Gefühl, es könnte vielleicht nichts mehr übrig sein, bis du zum Essen kommst.«
Knapp wirtschaften. In den Reservaten nannte man den Winter die ›Jahreszeit des Hungers‹, also kannte er sich damit aus, kein Essen zu verschwenden. Und er kannte die unausgesprochene Regel dieses Hofes: Wenn jeder seine Portion bekommen hatte, konnte der Rest von jedem gegessen werden, der mehr wollte. Die Körper der Blutleute brauchten mehr Energie als die der Landen, und je dunkler die Juwelen, desto mehr Nahrung brauchte die Person, um der ihr innewohnenden Macht stets eine gesunde Hülle bieten zu können. So war jeder geneigt, eine zweite Portion zu essen, wenn er sie bekommen konnte.
Wegen seiner Verspätung und aufgrund von Therans Bemerkungen hatte er nicht erwartet, mehr als Haferbrei zu bekommen, den selbst der Hunger kaum erträglich machte.
»Wenn du nichts gegen ein einsames Mahl einzuwenden hast, sollten Shira und ich jetzt wirklich aufbrechen.«
»Ich habe keine Einwände«, sagte er. Mit der Gabel berührte er den Tellerrand. »Danke hierfür.«
Er wartete, bis Cassidy und Shira gegangen waren, und begann mit Begeisterung zu essen. Als er sich den letzten Kaffee aus der Kanne eingoss, fiel ihm auf, dass Cassidy ihm nicht nur etwas zu essen aufgehoben, sondern auch einen Wärmezauber eingesetzt hatte, damit es nicht auf dem Teller kalt wurde.
Mit dem Gesicht nach unten lag Daemon Sadi auf dem großen Bett und stöhnte zufrieden auf, während die geschickten Hände seiner Frau seine Rückenmuskulatur dazu überredeten, sich zu entspannen. Der Wärmezauber, den Jaenelle einsetzte, um die Verspannung zu lindern, schadete auch nicht.
»Erzähl mir nochmal, wie du das angestellt hast«, sagte Jaenelle.
Eine typische Ehefrauenfrage, vor allem, wenn sie in diesem Ton vorgebracht wurde.
»Daemonar hing in einem Baum fest«, murmelte Daemon. Dann: »Oh. Genau da.«
»Mhm. Das ist eine besonders hässliche Verspannung.« Eine Minute bearbeitete sie schweigend jene Stelle seines Rückens. »Wir reden also von Daemonar Yaslana. Deinem Neffen.«
»Dein Neffe ist er auch.«
»Ja, ist er. Und er ist Eyrier. Das bedeutet, er hat Flügel.«
»Er ist noch ein kleiner Junge.«
»Mit Flügeln.«
Verdammt. An diesem winzigen Detail würde sie festhalten wie ein Sceltie, der nur ein Schaf zu hüten hatte.
»Wenn er so klein ist«, fuhr Jaenelle fort. »Wie ist er dann auf den Baum gekommen? An die unteren Äste käme er ja gar nicht heran, um hochzuklettern, so wie du.«
O nein. Er erkannte eine Fangfrage, wenn er sie hörte.
»Er ist hochgeflogen, oder nicht?«, sagte Jaenelle. »Mit seinen Flügeln.«
»Liebling, du klingst schon fast wie eine Harpyie«, erwiderte Daemon. »Aua!« Sie bohrte ihre Daumen in seinen Rücken – was er für seinen Harpyienkommentar auch verdient hatte.
»Warum gibst du nicht einfach zu, dass es eine dumme Idee war, in diesen Schuhen, die du gewöhnlich trägst, auf einen Baum zu klettern, anstatt mithilfe der Kunst zu dem Ast hinaufzufliegen, auf dem dein fehlgeleiteter Neffe höchstwahrscheinlich kichernd auf dich gewartet hat?«
Er hatte nicht vor, irgendetwas zuzugeben. Vor allem nicht, weil es wirklich eine dumme Idee gewesen war. Das hatte er bereits gewusst, als er es getan hatte. Und noch klarer war es ihm geworden, als er zugesehen hatte, wie Daemonar nach unten flatterte, um herauszufinden, warum er da ausgestreckt auf dem Boden herumlag. Aber es war eine Frage des Stolzes gewesen. Jaenelle verstand den männlichen Stolz. Sie fand ihn vielleicht belustigend oder irritierend, aber sie verstand ihn. Also sollte sie auch verstehen, dass er sich in dem Augenblick, in dem der Junge auf ihn herabblickte, als den Onkel gesehen hatte, der Kunst statt Muskelkraft einsetzte, der an der physischen Welt nicht in dem Maße teilnahm, wie sein Bruder Lucivar es tat. In diesem Augenblick wollte er von dem Jungen, der nicht alt genug war, um die Macht und die Fertigkeiten, die er hatte, schätzen zu können, nicht für minderwertig gehalten werden.
Also war er auf den verdammten Baum geklettert.
Idiot.
»Wenigstens bin ich nicht richtig auf dem Boden aufgeschlagen«, murmelte Daemon. »Ich habe immerhin daran gedacht, ein Schild zu schaffen und einen Schwebezauber zu benutzen.« Was ihn vor ernsthaften Verletzungen bewahrt hatte, weil er auf einem Luftkissen und nicht auf der harten Erde aufgekommen war. Es hatte ihn allerdings nicht davor bewahrt, dass ihm die Luft weggeblieben war – und er jetzt mit einem Rücken voller verspannter, schmerzender Muskeln dalag.
»Gut für dich«, sagte Jaenelle so trocken, dass außer Frage stand, dass sie nicht beeindruckt war.
»Gut. In Ordnung. Ich war ein Trottel.« Das war eine Geschichte, die sich die Bediensteten der Burg SaDiablo mit Sicherheit noch viele Jahre lang erzählen würden – einige von ihnen waren schließlich Augenzeugen des kleinen Dramas gewesen. Sie würden es keinem Außenstehenden weitertragen, denn jeder, der in der Burg arbeitete, wusste, dass das Privatleben der SaDiablo-Familie privat blieb. Doch jemand wie den Lakaien Holt konnte er sich sehr gut dabei vorstellen, wie er einen jungen Diener beiseitenahm und ihm diese Geschichte erzählte. Als Versicherung, dass der mächtige, gefährliche, der tödliche Kriegerprinz von Dhemlan mit den Schwarzen Juwelen genauso ein Mann sein konnte, der sich benahm wie ein tolpatschiger Onkel mit guten Absichten, aber mangelhaftem Verstand.
»Mist.« Er konnte fühlen, dass sie lächelte. Und die Tatsache, dass sie nicht das Bedürfnis verspürte, etwas zu erwidern, war Kommentar genug.
Sie küsste ihn zwischen die Schulterblätter, und diese einfache Berührung ihrer Lippen auf seiner Haut erhitzte ihn auf eine ganz andere Weise. Und als sie ihre Hände das nächste Mal seinen Rücken hinuntergleiten ließ, schnurrte er, anstatt schmerzvoll aufzustöhnen.
»Entspann dich einfach«, sagte Jaenelle. »Ich bin fast fertig. Morgen bist du wieder du selbst in aller Schönheit, und wenn du daran denkst, dass du erwachsen bist, solltest du den letzten Tag des Besuchs deines Neffen überstehen, ohne dir noch mehr Schaden zuzufügen.«
Ihre Hände glitten über seinen Rücken, eher eine Liebkosung als die Berührung einer Heilerin.
»Du entspannst dich nicht«, sagte sie.
»Ich bin völlig entspannt«, schnurrte Daemon. Größtenteils jedenfalls. Er war so verspannt gewesen, dass er sich nur darauf konzentriert hatte, dass ihm nichts wehtat. Jetzt war er sich noch ein paar anderer Dinge bewusst.
»Nein, bist du nicht.«
Er hörte die Besorgnis in ihrer Stimme, was bedeutete, sie sah ihn mit dem Blick einer Heilerin an, nicht mit dem einer Frau – und es war die Aufmerksamkeit der Frau, die er wollte.
»Süße, du sitzt auf meinem Hintern. Teile von mir finden das ziemlich interessant und möchten sich noch nicht entspannen. «
»Ich sitze nicht auf deinem Hintern. Ich knie über dir, um deinen Rücken zu massieren.«
»Du bist nah genug, um mir zu verraten, dass du unter diesem Hemd nichts anhast. Das nenne ich sitzen.«
»Und du weißt, was ich nicht anhabe, weil…«
»Es kitzelt, wenn du dich bewegst.«
Eine allzu wohlüberlegte Pause. »Du bist plötzlich ziemlich unverschämt.«
»Schuld daran ist meine wunderschöne Frau.«
»Jungchen, ich glaube nicht, dass dein Rücken mitmacht, woran du gerade denkst.«
»Ich drehe mich einfach um. Da du ohnehin schon auf mir sitzt, können wir ja eine Runde drehen.«
Sie lachte schnaubend. »Du bist so romantisch, wenn du erschöpft bist. Aber ich nehme dein Angebot an. Nur um dich endgültig zu entspannen, natürlich.«
»Natürlich.«
»Halt noch eine Minute still, ja?«
Ihre Hände glitten über seinen Rücken, die warme, sinnliche Berührung einer Geliebten.
Jaenelle Angelline. Der lebende Mythos. Fleisch gewordene Träume. Die ehemalige Königin des Schwarzen Askavi. Und seine Ehefrau. Seine wundervolle, lang ersehnte Ehefrau.
»Daemon?«
Gleich würde er sich umdrehen und ihren Körper berühren. Er würde sich über einen Verführungsfaden mit ihr verbinden, von Geist zu Geist, und ihr Liebesspiel mit mehr als seinem Körper vollziehen, sie berühren, wie er nie eine andere Frau berührt hatte.
»Daemon?«
Er stellte sich vor, wie ihre zarten, hellen Hände über seine goldbraune Brust strichen, während sie ihn in seidenes Feuer hüllte.
Gleich …
Saetan Daemon SaDiablo, ehemals Kriegerprinz von Dhemlan und noch immer der Höllenfürst, legte den Bücherstapel beiseite, den er gerade im verbotenen Teil der Bibliothek des Bergfrieds sortierte, lehnte sich gegen den riesigen Schwarzholztisch und betrachtete seinen Sohn, seinen Spiegel, wie er ruhelos durch den Raum schritt.
Kein physischer Spiegel. Nicht gänzlich. Sie teilten die dichten, schwarzen Haare und die goldenen Augen – auch wenn sein Haar mittlerweile an den Schläfen von silbernen Strähnen durchzogen war. Sie beide hatten die braune Haut der langlebigen Völker, aber Daemons Hautton war golden – eher dhemlanisch als hayllisch.
Er hatte immer als gut aussehend gegolten. Daemon hingegen war wunderschön und bewegte sich mit einer katzenhaften Anmut, die das Auge anzog und die Sinne erregte.
Närrinnen begehrten diesen Körper und vergaßen dabei, dass der Mann unter dieser Haut ein mächtiges Raubtier mit einem kalten, tödlichen Gemüt war.
Was ihn auf die Frage nach dem Grund für diesen Besuch brachte.
»Du bist früh hier«, sagte Saetan.
»Früh eingeschlafen, früh aufgestanden«, erwiderte Daemon. Vor und zurück. Immer in Bewegung. Wäre es Lucivar, würde er über dieses Hin und Her nicht weiter nachdenken. Aber Daemon?
Daemon blieb stehen und starrte die Wand an. »Ich glaube, mit mir stimmt etwas nicht.«
Angst ergriff Saetans Herz, aber er fragte ruhig: »Wie meinst du das?«
Einige Wochen zuvor war Theran Grayhaven nach Kaeleer gekommen und hatte Daemon um Hilfe gebeten. Durch die körperliche Ähnlichkeit zwischen Theran und seinem alten Freund Jared verstört, war Daemon in schmerzvolle Erinnerungen abgetaucht und nicht mehr in der Lage gewesen, Vergangenheit und Gegenwart voneinander zu trennen. Niemand hatte von diesen tiefen emotionalen Wunden gewusst, die die Jahre geschlagen hatten, nachdem Daemon Jared und Lia geholfen hatte, Dorotheas Wachen zu entgehen. Niemand hatte geahnt, dass etwas im Argen lag – bis Daemon Jaenelle angegriffen hatte.
Seit dieser Nacht geriet Daemon schnell in Rage, wenn jemand seinen geistigen oder emotionalen Zustand in Frage stellte. Dieses Thema musste also mit Vorsicht behandelt werden.
Er verstand das. Als die Hexe Vulchera versucht hatte, Daemons Ehre durch ihr ganz eigenes kleines Erpressungsspielchen zu kompromittieren, war etwas in ihm zerbrochen, und er war in das Verzerrte Reich hinabgestiegen, wo seine Wut auf eine wahnsinnige und schreckliche Klarheit gestoßen war. Es war nicht der Abstieg ins Verzerrte Reich, der die Familie so erschreckt hatte; es war die kalte Berechnung, mit der er die Schlampe hingerichtet hatte, die ihnen hatte Angst einjagen wollen.
Also lagen jetzt bei allen Familienmitgliedern die Nerven ein wenig blank – und dass Lucivar so kurz danach in die Brunst getreten war, half auch nicht.
»Wie meinst du das?«, fragte er noch einmal.
Daemon wandte sich zu ihm um. »Ich bin erst siebenhundert Jahre alt. Seit einem Jahr bin ich mit der Frau verheiratet, die ich mit allem liebe, was mich ausmacht – eine Frau, auf die ich Jahrhunderte gewartet habe. Wenn also diese Frau andeutet, sie möchte mich lieben, sollte ich nicht zwischen dem Gedanken und der Tat einschlafen!«
Erleichterung ließ Saetans Knie weich werden – und er brauchte jedes bisschen seiner fünfzigtausend Jahre Selbstdisziplin, um ein ernstes Gesicht zu wahren.
»Lucivar ist in der Brunst«, sagte er.
»Das weiß ich«, erwiderte Daemon und klang, als wolle er den Kopf seines Bruders genau aus diesem Grund ein paarmal fest gegen die Wand schlagen.
»Wer kümmert sich um Daemonar?«
Daemon runzelte die Stirn. »Er ist bei uns auf der Burg. Ich dachte, das wüsstest du.«
»Ich weiß, wo er ist. Wer kümmert sich um ihn?«
Daemon verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. An sich eine unbedeutende Bewegung – bis auf die Tatsache, dass sie von Daemon kam – der so gut wie nie ein Zeichen von Unsicherheit zeigte.
»Die meiste Zeit ich. Na ja, beim Feuer der Hölle, Jaenelle kann das kleine Biest nicht an der Leine halten.«
Natürlich könnte sie, dachte Saetan. Selbst jetzt, da sie nicht mehr über diesen Überfluss an Energie verfügte, den sie einst gehabt hatte, war Jaenelle wahrscheinlich eine der wenigen Menschen, die mit dem kleinen Eyrier mithalten könnten. Abgesehen davon, dass Daemonar seine Tante Jay liebte und instinktiv spürte, dass man mit ihr keine wilden Spiele spielen konnte – und jetzt weckten seine jungen Kriegerprinzinstinkte den Wunsch in ihm, die Königin zu beschützen.
»Holt übernimmt auch ein paar Schichten und passt auf den Jungen auf«, fügte Daemon hinzu.
»Holt?« Saetan fragte sich, ob der Lakai bereits an seiner Kündigung schrieb. Was ein Jammer wäre, denn der Mann war ein Gewinn für den Haushalt.
»Er ist jung und hat Erfahrung mit seinen eigenen Nichten und Neffen«, antwortete Daemon. »Außerdem bekommt er doppelten Lohn für jeden Tag, an dem er hilft, Daemonar zu hüten – und einen zusätzlichen freien Tag. Mit Bezahlung. «
»Großzügig«, murmelte Saetan. »Wenn das die Bedingungen sind, die du anbietest, solltest du reichlich Freiwillige haben.«
»Nicht nach der ersten Stunde«, brummte Daemon.
Nicht lachen, sagte er sich. Du weißt genau, wie das ist, also lach ihn jetzt nicht aus.
Aber er wollte lachen. Im Geiste wies er sich streng zurecht und räusperte sich.
Die Brunst war wahrlich kein Spaß. Ein- oder zweimal im Jahr steigerte sich der leidenschaftliche Sexualtrieb, der in jedem Kriegerprinzen steckte, zu einem Verlangen, das den Verstand überschattete. Der Mann, der seine Raubtiernatur normalerweise zügeln konnte, wurde zu einer Gefahr für alle, außer für die Frau, auf die er seine Aufmerksamkeit gerichtet hatte – und manchmal, wenn sie nicht vorsichtig mit ihm umging, war nicht einmal sie sicher vor seinem Zorn, der keine Zurückhaltung kannte.
Es wurde besser, wenn ein Kriegerprinz eine starke Bindung zu einer Frau verspürte, vor allem, wenn diese Frau seine Geliebte war. Wenigstens sie konnte den sexuellen Wahn gewöhnlich durchbrechen und ihm in diesen drei Tagen ein wenig Beherrschung schenken. Und ein Kriegerprinz, der Vater war, schaffte es normalerweise, die Anwesenheit seiner eigenen Kinder zu ertragen, wenn sie noch im Säuglingsalter oder Kleinkinder waren und solange er sich nicht mit ihnen beschäftigen musste.
Doch Daemonars Entwicklung vom Kleinkind zum Jungen hatte letzten Herbst eingesetzt, und mittlerweile trug er die unverwechselbare mentale Signatur eines Kriegerprinzen. Jetzt sah Lucivar in ihm nicht mehr seinen Sohn, sondern einen Rivalen. Also konnte der Junge nicht länger im Horst bleiben, wenn sein Vater in der Brunst war. Was bedeutete, dass Daemon Daemonar während dieser Tage hütete, genauso wie sich Saetan um Andulvars Sohn, Ravenar, und Andulvar um Mephis und Peyton gekümmert hatte.
»Du passt auf einen kleinen Jungen auf, der so gut wie jeden wachen Moment in Bewegung ist, und du glaubst, mit dir sei etwas nicht in Ordnung, wenn du vor dem Sex mit Jaenelle einschläfst?«
»Na ja …«
»Wenn er sich zum Mittagsschlaf hinlegt, bist du dann so vernünftig, dir selbst eine Stunde zu gönnen, um ein wenig Schlaf nachzuholen?«
In Daemons Goldaugen blitzte Ärger auf. »Irgendwann muss ich auch mal arbeiten.«
»Du hast dir die Stunde also nicht gegönnt.«
Sein Sohn knurrte leise. »Lucivar macht auch keinen Mittagsschlaf. «
Beim Feuer der Hölle. Das hier war doch kein Wettbewerb. Oder doch? Außer in diesen letzten Jahren, in denen sie wieder mit ihm vereint waren, war ihr einziger Maßstab, was für jemanden mit so viel Macht »normal« war, der jeweils andere gewesen.
»Lucivar ist Eyrier«, sagte Saetan, dessen Geduld langsam nachließ.
»Halbeyrier.«
»Nichtsdestoweniger sind Eyrier ein körperlich sehr starkes Volk, und dein Bruder ist keine Ausnahme. Außerdem schläft Lucivar tagsüber die ganze Zeit. Ist dir nie aufgefallen, wie er manchmal ganz still dasteht und ins Leere starrt, während du mit ihm sprichst? Und dann stellst du fest, dass er nichts von dem gehört hat, was du gesagt hast?«
Daemon zuckte mit den Schultern, eine gereizte, wegwerfende Bewegung.
»Er hat geschlafen«, sagte Saetan.
Daemon zuckte zusammen. »Was? Er hat was?«
»Geschlafen. Ich bin mir nicht sicher, ob eyrische Männer mit dieser Fähigkeit geboren werden oder ob man es ihnen beibringt, aber sie können im Stehen und mit offenen Augen schlafen. Immer nur ein paar Minuten. Für einen Krieger kann die Möglichkeit, einen Moment Ruhe zu finden, entscheiden, ob er sich nach dem Kampf unter den Lebenden oder den Toten wiederfindet.« Saetan hielt kurz inne, dann fuhr er fort: »Ich habe Andulvar ein paarmal dabei erwischt, wenn ich mich mit ihm unterhalten habe. Er besaß sogar die Dreistigkeit, mir zu sagen, meine Stimme hätte einen so beruhigenden Klang.«
Daemon verkniff sich prustend das Lachen.
»Wenn es dich tröstet, kann ich dir verraten, dass es Abende gibt, an denen Lucivar aufs Bett fällt und so tief eingeschlafen ist, bis Marian kommt, dass sie ihn nicht bewegen kann. Also wirft sie ihm eine Decke über und schläft woanders. Ein paar Stunden später wacht er dann auf, stellt fest, dass sie nicht da ist, und steht auf, um sie zu suchen und sie für den Rest der Nacht zu sich ins Bett zu holen.«
»Aber er dachte nicht, etwas sei nicht in Ordnung mit ihm«, murmelte Daemon.
Saetan hob eine Augenbraue. »Was glaubst du denn, woher ich davon weiß?«
Daemon blinzelte. Blinzelte noch einmal. »Oh.«
Saetan atmete erleichtert auf. »Das war’s? Sonst nichts? Irgendwie wirkst du etwas steif heute Morgen.« Als Daemon eine unverständliche Antwort nuschelte, legte er ein wenig väterlichen Stahl in seine Stimme. »Was?«
»Ich bin von einem Baum gefallen.«
»Ich verstehe.« Das tat er nicht – aber er würde nicht nachfragen. Doch obwohl er wusste, wie die Reaktion ausfallen würde, entschied er sich, eine Grenze zu überschreiten. »Wie geht es dir sonst?«
Daemon brauchte nur einen Herzschlag, um sich vom Sohn in einen Kriegerprinzen zu verwandeln, dessen kaltes Gemüt so elegant wie tödlich sein konnte.
»Ich bin in Ordnung«, antwortete Daemon mit warnendem Frost in der Stimme.
»Und ich bin dein Vater«, erwiderte Saetan. »Und der Höllenfürst. Du schuldest mir eine ehrliche Antwort, Prinz.«
Sie starrten einander an, abschätzend, bewertend. Dann rief Daemon den Kriegerprinzen zurück, um wieder zum Sohn zu werden.
»Das Wissen gefällt mir nicht, dass es Punkte gibt, an denen ich angreifbar bin«, sagte Daemon. »Ich gebe nicht gern zu, dass ich verletzlich sein kann.«
»Das tut kein Mann gerne. Aber nur sehr wenige, wenn überhaupt, hätten es überlebt, dass man ihren Geist zweimal bricht und wären davon zurückgekehrt. Alles hat seinen Preis, Daemon. Zu wissen, dass es ein paar Dinge gibt, die du nicht tun kannst, scheint mir ein kleiner Preis für dein Leben zu sein.« Saetan betrachtete seinen Sohn. »Da ist noch etwas. Was ist es?«
»Irgendwann in den nächsten Wochen komme ich in die Brunst«, sagte Daemon.
»Und das bereitet dir Sorgen?«
»Ja.«
»Macht sich Jaenelle Sorgen?«
»Nein.« Daemon bewegte die Schultern. »Könntest du mit ihr sprechen? Sichergehen, dass sie noch dazu bereit ist, nachdem …«
… du sie angegriffen hast.
Daemon holte tief Luft und atmete seufzend aus. »Ich muss zurück. Jaenelle war sich sicher, sie und Holt würden ein paar Stunden mit dem Jungen zurechtkommen, aber ich will nicht zu lange wegbleiben.«
»Ich rede mit ihr«, sagte Saetan. »Bald.«
Daemon nickte. »Wenn Lucivar Marian wieder schwängert …«
Sie seufzten beide. »Wenn das passiert, werden wir alle gemeinsam damit fertig«, sagte er. Und hoffen auf ein Mädchen.
»Ich glaube, die Eyrier haben ihre Jagdlager nicht nur erfunden, um dort Jungen zu Kriegern auszubilden«, sagte Daemon nachdenklich. »Sondern, damit sie junge Männer von zu Hause wegschicken können. Nur so ist es möglich, dass männliche Eyrier außer älteren Schwestern auch noch andere Geschwister haben.«
Saetans Lippen zuckten. »Da könntest du Recht haben. Ja, ich glaube, da könntest du tatsächlich Recht haben.«
»Hallo Hexenkind.« Saetan schob die Bücher beiseite, drehte sich um und lehnte sich gegen den Schwarzholztisch. Er hatte sie erwartet. Aus diesem Grund hatte er sich nicht auf seine Gemächer zurückgezogen, um sich während der Mittagsstunden auszuruhen, die einem Hüter so zusetzten.
»Hallo Papa«, antwortete Jaenelle.
Sie kam nicht herüber, um ihn zu umarmen. Sie sah nicht weg. Tatsächlich war das einzige Zeichen von Nervosität ihre sich unablässig umeinander windenden Finger.
Der lebende Mythos. Fleisch gewordene Träume. Die Tochter seiner Seele. Sie hatten sie beinahe verloren, als sie die Reiche von dem Blut reinwusch, das von Dorothea und Hekatah verdorben worden war. Jetzt war sie wieder gesund, wenn auch immer noch ein wenig zu dünn für seinen Geschmack. Das goldene Haar, während der Heilung kurz geschnitten, wirkte zerzaust. Allerdings konnte er nicht sagen, ob das Absicht war oder der Versuch, es wieder wachsen zu lassen.
Doch es waren die Saphiraugen, die ihn jetzt in den Bann schlugen, genauso wie damals, als er sie zum ersten Mal sah.
»Was zwischen Vater und Sohn besprochen wird, ist privat, das verstehe ich«, sagte Jaenelle. »Aber ich muss wissen, ob Daemon in Ordnung ist.«
»Fragst du nach seinem Rücken?«
»Ich weiß, was mit seinem Rücken los ist, Saetan.«
Und da war es – dieser Hauch von Abgrund und Mitternacht in ihrer Stimme, der ihn wissen ließ, dass er nicht länger mit seiner Tochter sprach. Er sprach mit seiner Königin. Mit Hexe.
»Daemon Sadi ist der mächtigste Mann in Kaeleer«, sagte Hexe. »Er ist ein Kriegerprinz mit Schwarzen Juwelen, dessen Verfassung nicht abgetan oder auf die leichte Schulter genommen werden kann. Er ist dir ebenbürtig.«
»Eigentlich ist er mir überlegen«, sagte Saetan ruhig. »Seine Macht ist ein wenig dunkler als meine. Was ihn zum mächtigsten Mann der Geschichte des Blutes macht. Dessen bin ich mir bewusst, Lady. Worauf willst du hinaus?«
»Er ist heute Morgen aus dem Schlafzimmer geschlichen. Geschlichen, Saetan. Ich muss wissen, warum.«
»Es war ihm peinlich, dass er gestern Abend vor dem Sex eingeschlafen ist. Er dachte, mit ihm müsse etwas nicht in Ordnung sein.«
Mit offenem Mund starrte Jaenelle ihn an. Schließlich sagte sie: »Na ja… Beim Feuer der Hölle. Er jagt seit zwei Tagen Daemonar hinterher. Warum hat es ihn überrascht, dass er eingeschlafen ist?«
»Weil er, wie sein Bruder, nicht bedacht hat, dass es nicht dasselbe ist, genug Ausdauer zu haben, um erwachsene Männer niederzukämpfen, und zu versuchen, mit einem kleinen, aufgeweckten Jungen mitzuhalten, der gerade die Welt erobert – und zwar mit aller Arroganz, die seiner Rasse eigen ist. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass er Lucivars Vertrauen geerbt hat, mit jeder Herausforderung fertigzuwerden, die die Welt ihm törichterweise in den Weg zu stellen versucht.«
»Oh.«
»Warst du enttäuscht, dass ihr euch letzte Nacht nicht geliebt habt?«
Sie lächelte trocken. »Um ehrlich zu sein, bin ich mir nicht sicher, ob auch nur einer von uns es geschafft hätte, die ganze Zeit über wach zu bleiben.«
Ende der Diskussion, dachte Saetan. Aber so war es nicht. Noch nicht ganz. »Außerdem macht er sich Sorgen darüber, wie du reagieren wirst, wenn er das nächste Mal in die Brunst kommt – was recht bald sein wird.«
Der Blick aus ihren saphirblauen Augen brachte seine Nerven zum Knistern. Er war ihr Adoptivvater und hatte körperlich nie in anderer Art und Weise an sie gedacht. Doch ebenso war er ein Mann und Kriegerprinz, und zwischen einem Kriegerprinzen und seiner Königin bestand immer eine Art sexuelles Bewusstsein, wenn auch ohne das Verlangen, mit diesem Bewusstsein etwas anzufangen.
Wenn Daemon im sexuellen Wahn der Brunst gefangen war, welcher Teil seiner Erlösung entsprang dann dem körperlichen Sex und welcher dem Tanz auf Messers Schneide, den das Beisammensein mit Hexe am nebligen Ort in den Tiefen des Abgrunds bedeutete – das Beisammensein mit dem lebenden Mythos, wenn sie das Selbst offenbarte, das in ihrem menschlichen Körper lebte? Das Selbst, das nicht vollkommen menschlich war?
Das Knistern erlosch. Er musste sich räuspern, bevor er sprechen konnte. »Ich sage Daemon, dass er sich wegen der Brunst keine Sorgen machen soll.«
*Ich habe mir nie Sorgen wegen der Brunst gemacht*, sagte sie ihm über einen Speerfaden.
Jetzt verstand er, warum.
Jaenelle trat an ihn heran und umarmte ihn. Dann schenkte sie ihm ein strahlendes Lächeln. »Ich mache mich wohl besser auf den Weg zurück in die Burg, bevor Daemonar seinen Onka Daemon in Schwierigkeiten bringt.«
»Ich dachte, Daemonar hätte die Babysprache abgelegt.«
»Oh, das hat er auch zum größten Teil. Aber er mag den Klang von ›Onka‹, und sein Onkel besteht nicht darauf, dass er das Wort richtig ausspricht.«
Saetan lächelte. »Ich verstehe. Ab mit dir, Hexenkind. Versuch, die beiden von den Bäumen fernzuhalten, ja?«
»Ich tue mein Bestes.«
Als er später alleine in seinen Gemächern war und sich fertig machte, um die Mittagsstunden zu verschlafen, gestattete er sich eine Erinnerung an den Augenblick, in dem sie ihm eine Seite von Hexe gezeigt hatte, die ein Vater nie zu Gesicht bekommen würde.
Auf einen Ellbogen gestützt betrachtete Ranon, wie Shira nach dem Höhepunkt, der das Finale eines Abends voller langem, bewusstem und intensivem Liebeswerben gewesen war, langsam wieder zu Bewusstsein kam.
Bevor sie an Cassidys Hof zusammengekommen waren, hatten sie ihre Liebe fünf Jahre lang schnell und verstohlen vollzogen, da sein Interesse ungewollte Aufmerksamkeit auf die Frau gelenkt hätte, die sowohl Heilerin als auch eine Schwarze Witwe war. Fünf Jahre, in denen er versucht hatte, sich von ihr fernzuhalten, und doch nie widerstehen konnte, sie zu sehen. Fünf Jahre, in denen Liebe und Angst untrennbar miteinander verwoben gewesen waren.
Zweimal fünf Jahre eigentlich, zählte er die Zeit hinzu, bevor sie zu Liebenden geworden waren. Er war zwanzig Jahre alt gewesen und gewöhnte sich noch an die Macht der Opal-Juwelen, die ihn erfüllte, seit er der Dunkelheit sein Opfer dargebracht hatte. Sie war erst sechzehn – eine junge Schwarze Witwe, dem Stundenglassabbat geboren, die noch am Anfang der geheimen Ausbildung stand, die ihr die Feinheiten der Kunst beibringen sollte, die sie instinktiv besaß. Und auch ihre offizielle Ausbildung zur Heilerin hatte gerade erst begonnen.
Beide waren zu Besuch bei Freunden in einem fremden Dorf. Sie hatten sich zufällig getroffen, als ihre Begleiter zum Mittagessen dieselbe Taverne ausgesucht hatten. Und diese Begegnung hatte ihre Hoffnungen und Träume die nächsten zehn Jahre lang geprägt.
Dank Cassidy konnten er und Shira nun offen zusammen sein, die Nacht miteinander verbringen, sich ein gemeinsames Leben aufbauen. Schon das allein hätte Cassidy seine Loyalität gesichert. Die Tatsache, dass sie sich als weit stärkere Herrscherin erwies, als sie alle es von einer Königin mit Rose-Juwelen erwartet hatten, brachte ihr seinen Respekt und eine ganz andere Art der Liebe ein. Ihr Wille war sein Leben, und er würde alles tun, was in seiner Macht stand, um ihr zu helfen, Dena Nehele zu regieren – und damit würde er dem Volk der Shalador mehr Gutes tun, als er sich je erträumt hatte.
»Was schaust du so?«, fragte Shira. In ihren dunklen Augen stand neben der Erregung ihres Liebesspiels ein Hauch Belustigung. Seine Gedanken hatten das Schlafzimmer verlassen, doch sein Blick war an ihrem Busen hängengeblieben.
Er senkte den Kopf und küsste sie mit warmen Lippen zwischen die Brüste, bevor er sagte: »Ich betrachte eine Shalador-Schönheit.«
Ihre Antwort bestand aus einem kurzen Schnauben. »Ich weiß, wie ich aussehe.«
»Aber du siehst nicht, was ich sehe«, erwiderte Ranon. Ihn hielt man für einen gut aussehenden Mann. Die für sein Volk typischen kantigen Züge verliehen seinem Gesicht eine wilde Schönheit, die gut zum schlanken Körper eines Kriegers passte. Er hatte die dunklen Augen, das dunkle Haar und die goldene Haut, die die Shalador von den dunkelhäutigen langlebigen oder den hellhäutigen Völkern, wie dem Volk von Dena Nehele, unterschied.
Auch sie trug das Aussehen ihres Volkes, und viele Männer waren der Meinung gewesen, ihre ausgeprägten Gesichtszüge und die nicht allzu üppigen Kurven machten sie weniger attraktiv – und ihre scharfe Zunge und ihr Temperament hielten die meisten Männer zusätzlich davon ab, ihr zu nahezukommen. Doch genau das war es, was ihn auf eine Art und Weise erregte, die er von keiner anderen Frau kannte, und er verstand, warum Gray Cassidy ansah – die selbst ihr wohlwollendster Anhänger nicht hübsch nennen konnte – und eine wunderschöne Frau erblickte.
Shira wandte den Kopf ab, eine ausweichende, für sie untypische Bewegung.
Er dachte über seine Worte nach. Du siehst nicht, was ich sehe. Dann dachte er an das Wesen der Kunst einer Schwarzen Witwe und fühlte, wie sich Kälte in seinen Eingeweiden ausbreitete.
»Shira? Hast du etwas in einem Verworrenen Netz gesehen? «
»Ich kann nicht darüber sprechen.«
»Kannst es nicht oder willst es nicht?«
»Kann nicht, will nicht. Es macht keinen Unterschied, wie man es nennt.«
Für ihn machte es einen Unterschied. Seine Stimme wurde flach. »Du hast etwas in einem Verworrenen Netz der Träume und Visionen gesehen. Nicht wahr?«
»Ich kann nicht darüber sprechen, Ranon. Keine von uns spricht darüber.«
Die Kälte in seinen Eingeweiden gefror zu scharfkantigem Eis. »Wie viele Schwarze Witwen haben es gesehen?«
Sie seufzte, ein Ton voller Verzweiflung und einem Anflug von Zorn.
Er rückte von ihr ab und schlang die Arme um seine angezogenen Knie. Er hatte kein Recht, sie zu drängen. Wenn sie das Gefühl hatte, er müsse etwas wissen, hätte sie es ihm erzählt. Beim Feuer der Hölle! Sie war diejenige gewesen, die ihn dazu gedrängt hatte, nach Grayhaven zu reisen, als Theran die Kriegerprinzen das erste Mal zusammengerufen hatte, um mit ihnen darüber zu sprechen, eine Königin aus Kaeleer zu holen. Damals hatte sie auch kein Wort gesagt. Nur, dass er gehen müsse.
Der Stundenglassabbat gab nicht preis, was er in seinen Verworrenen Netzen sah. Jedenfalls nicht häufig. Und nicht direkt. Doch eine Schwarze Witwe schlug nie ohne Grund vor, etwas Bestimmtes zu tun.
»Hat es etwas mit Cassidy zu tun?«, fragte er.
Sie antwortete nicht.
»Shira …« Er wusste nicht, was er sagen sollte.
Schließlich fragte Shira leise: »Wer hält deine Loyalität, Prinz Ranon? Wer steht auf der Liste ganz oben?«