Bluttanz - Doris Litz - E-Book

Bluttanz E-Book

Doris Litz

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Beschreibung

Annalena ist jung, hübsch und auf dem besten Weg, als Influencerin Karriere zu machen - doch dann wird sie brutal ermordet. Der Tatort ist in Blut getränkt, die Szenerie erinnert an ein makabres, modernes Kunstwerk. Die Koblenzer Staatsanwältin Lina Saint-George und ihre neue Praktikantin Lucy finden heraus, dass der Fall in Zusammenhang mit ungeklärten Verbrechen in Köln und Freiburg steht. Doch das Morden geht weiter, und ausgerechnet Lucys Bruder Tristan rückt in den Fokus der Polizei ...

Der vierte Fall für die ermittelnde Staatsanwältin Lina Saint-George - ein unglaublich spannender Psychothriller von Doris Litz!

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Prolog

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Epilog

Über die Autorin

Weitere Titel der Autorin

Impressum

 

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Über dieses Buch

Annalena ist jung, hübsch und auf dem besten Weg, als Influencerin Karriere zu machen – doch dann wird sie brutal ermordet. Der Tatort ist in Blut getränkt, die Szenerie erinnert an ein makabres, modernes Kunstwerk. Die Koblenzer Staatsanwältin Lina Saint-George und ihre neue Praktikantin Lucy finden heraus, dass der Fall in Zusammenhang mit ungeklärten Verbrechen in Köln und Freiburg steht. Doch das Morden geht weiter, und ausgerechnet Lucys Bruder Tristan rückt in den Fokus der Polizei …

Der vierte Fall für die ermittelnde Staatsanwältin Lina Saint-George – ein unglaublich spannender Psychothriller von Doris Litz!

DORIS LITZ

BLUTTANZ

DEIN TOD ISTMEINE MELODIE

THRILLER

Prolog

Er musste auf ihr Gesicht aufpassen. Das hatte er immer getan. Ihr Gesicht war das Schönste, was er je gesehen hatte. Besonders liebte er ihre fast schwarzen, mandelförmigen Augen, die so sanft in die Welt blicken, aber auch vor Temperament sprühen konnten. Die schmale, gerade Nase und die hohen Wangenknochen betonten die vollen, perfekt geschwungenen Lippen. Ihr Gesicht war ein Kunstwerk. Auf keinen Fall würde er es zerstören.

Sein erster Hieb traf sie in den Magen. Wie immer sackte sie wortlos in sich zusammen. Früher hatte sie geschrien, versucht, sich zu wehren. Doch er hatte sie nur ausgelacht und ihre zierlichen Fäuste abgefangen, bevor sie ihn treffen konnten. Es war ein aussichtsloses Manöver und das wusste sie. Natürlich hatte sie sich auch mit Worten verteidigt. Darin war sie besser. Sie war so eine grandiose Lügnerin. Nie hatte sie etwas Falsches getan. Das Lächeln, das sie einem Bewunderer ihrer Kunst zugeworfen hatte, war natürlich ganz harmlos gewesen. Und sein Interesse hatte lediglich ihren Bildern gegolten, nicht dem geilen Loch zwischen ihren Beinen. Das gehörte angeblich nur ihm. Wie überzeugend sie klang.

Doch er kannte sie besser, wusste, was er gesehen hatte. Wie sie diese Typen anschaute, diese vermaledeite Schlampe. Er hatte versucht, ihr die Verdorbenheit auszutreiben. Erfolglos. Nach ein paar Wochen fing alles wieder von vorn an. Aber nun war sie zu weit gegangen. Frankie war sein bester Freund. Sie kannten sich seit der Grundschule, er vertraute ihm. Und waren Frankies Aussagen nicht eindeutig gewesen? Natürlich war er zu rücksichtsvoll, um klar auszusprechen, dass die Schlampe sich ihm an den Hals geworfen hatte. Er hatte drum herumgeredet. Schwadroniert, wie wunderschön Gabriella sei und wie nett sie ihn behandelte. Wie sehr er ihn, Victor, um seine Frau beneidete. Er hatte Frankie verstanden. Gabriella hatte Victor verraten. Wieder einmal. Und diesmal auf die schlimmste Art. Er war außer sich vor Wut. Unaufhörlich prasselten seine Fäuste auf ihren Körper nieder. Sie lag still da. Ließ seine Empörung über sich ergehen. Wartete, dass seine blinde Wut verrauchte. Er schaute angewidert auf sie herunter. Diesmal täuschte sie sich.

»Victor, hör mir zu. Bitte …«

Sie schaute zu ihm auf, Tränen in den schönen schwarzen Augen. Mein Gott, wie sehr er dieses Gesicht liebte. Wie sehr er sie liebte. Warum nur war sie so eine schamlose Schlampe?

»Victor, bitte. Du irrst dich. Da ist nichts zwischen mir und Frankie. Ich würde nie …«

Er wusste, was sie sagen wollte. Er hatte es tausendmal gehört. Ihr tausendmal geglaubt, nur um immer wieder aufs Neue enttäuscht zu werden.

Angeblich waren die Drogen schuld, die er hin und wieder nahm. Wie oft hatte er sich an diesem Punkt ihrer Auseinandersetzung bei ihr entschuldigt, weil er ihr geglaubt hatte. Dass er das Problem war, nicht sie. Doch diesmal würde sie damit nicht durchkommen. Diesmal wusste er es besser und er hatte genug von ihren Lügen. Ein für alle Mal. Das mit Frankie war unentschuldbar. Er musste die Sache beenden. Jetzt. Er zog das Skalpell aus seiner Jackentasche.

Ein neuer Ausdruck trat in Gabriellas Gesicht. Entsetzen. Endlich verstand sie, dass es diesmal anders war. Schlimmer. Viel schlimmer.

»Victor, nein – das Kind! Victor …«

Der Arm mit der silbernen Klinge sauste nach unten. Immer und immer wieder. Sie schrie. Er hörte sie nicht. Blut rauschte in seinen Ohren. Blut spritzte in sein Gesicht, durch den ganzen, lichtdurchfluteten Raum. Du darfst ihr Gesicht nicht treffen. Das war alles, was er denken konnte.

Irgendwann rührte sie sich nicht mehr. Die geheimnisvollen dunklen Augen starrten ohne jedes Leben an die Decke. Trotzdem schrie sie weiter. Wie konnte das sein? Verwirrt schaute er sich um. Der Lärm kam aus einer Ecke neben der Staffelei. Dort, neben dem Schränkchen, in dem Gabriella ihre Farben aufbewahrte, saß ein Kind. Gabriellas Kind. Sein Kind. Es schrie und schrie. Er musste sich anstrengen, um gegen den Aufruhr anzubrüllen.

»Halt endlich den Mund!«

Sofort herrschte Ruhe. Grau-braune Augen starrten ihn in Todesangst an. Er schaute auf das blutige Skalpell in seiner Hand. Auf die tote Frau zu seinen Füßen. So viel Blut. Doch ihr Gesicht war bis auf einige Blutspritzer unversehrt und schön. So wunderschön.

»Sie hat es verdient. Sie war eine verdammte Schlampe. Hörst du – das passiert mit Schlampen. Merk dir das.«

Er ließ die Klinge fallen, griff nach einem Lappen, den Gabriella zum Reinigen ihrer Pinsel benutzte, und wischte die Blutflecken von ihren Wangen und der Stirn. Dann wandte er sich um. Etwas in ihm wollte weinen. Gabriella. Er hatte sie so geliebt. Wie sollte er ohne sie weiterleben? Er musste etwas nehmen. Jetzt gleich. Dann würde es ihm besser gehen. Dann konnte er vergessen. Gabriella. Ihre Lügen. Und das Kind, das ihn in fasziniertem Entsetzen anstarrte, als er das Atelier verließ.

1

Manfred Neuer fühlte sich alt. Alt und müde. Vielleicht liegt es daran, dass ich alt bin, dachte er grimmig. Alt und ausgebrannt.

Er schaute sich in dem lichtdurchfluteten Raum um. Das Zimmer war klein, aber gemütlich, die Einrichtung nicht teuer und doch geschmackvoll. Zumindest soweit er das beurteilen konnte. Er nahm an, dass es der Besitzerin darauf angekommen war, sich bei ihr wohlzufühlen. Wände und Vorhänge spiegelten die Farben eines malerischen Sonnenuntergangs. Sehr schön. Bis auf die tiefroten Spitzer, die den Gesamteindruck versauten.

Blut, zu einem dunklen Braunton angetrocknet, hatte fast die gesamte Einrichtung besudelt. Es war an die Decke gespritzt und hatte sich in einem bizarren Muster über Wände und Möbel verteilt. Beinahe schien es, als habe jemand in wildem Tanz einen triefenden Pinsel durch den Raum geschleudert. Kaum vorstellbar, dass ein einzelner Mensch so viel Blut in sich hatte.

Er warf einen resignierten Blick auf die zierliche Gestalt, die halb auf dem maisgelben Sofa und halb auf dem orangebraunen Teppich lag. Die Augen der jungen Frau waren starr nach oben gerichtet, ihre Haut hatte einen bläulich-weißen Ton angenommen. Jedenfalls dort, wo sie nicht mit dem blutdurchtränkten Kaftan bedeckt war, den sie trug.

Die Frau war schön. Auch jetzt noch. Als habe der Tod ihren Zauber eingefroren. Etwas regte sich in ihm. Er schaute sich um, nahm das Gesamtbild des Tatorts in sich auf. Ja, irgendwie war der Kontrast zwischen dem lieblichen Wohnzimmer und dem überall verteilten Blut von bizarrer Schönheit. Die tote junge Frau im Zentrum der Arrangements vollendete das Kunstwerk und spiegelte es auf unerklärliche Weise.

Manfred Neuer ging einige Schritte auf die Leiche zu und dachte darüber nach, was so außergewöhnlich an ihr war. Davon abgesehen natürlich, dass eine junge, tote Frau Mitte zwanzig immer ungewöhnlich war.

Als ihn jemand sanft an der Schulter berührte, zuckte der Kriminalhauptkommissar zusammen.

»Tut mir leid. Ich wollte dich nicht erschrecken.«

Maren Maibaum lächelte ihn ein wenig verkrampft an. Sie arbeiteten lange genug zusammen, dass Neuer ihren Blick deuten konnte. Sie fühlte sich ebenso unwohl wie er. Bei seinen Kollegen war der Endfünfziger nicht unbedingt für sein mitfühlendes Wesen bekannt. Wer ihn besser kannte, wusste, dass er über eine ausgezeichnete Menschenkenntnis verfügte und meist ziemlich genau wusste, was in anderen vor sich ging. Das war die Grundlage dafür, dass er einer der erfolgreichsten Kommissare der Kripo Koblenz war. Aber als Altrocker hing er auch einem antiquierten Selbstbild nach, das es ihm meist unmöglich machte, zu viel Mitgefühl an sich heranzulassen. Oder gar zu zeigen. Maren kannte ihn gut genug, um sich von seinem Jeans- und Cowboystiefel-Image nicht beeindrucken zu lassen.

»Was denkst du?«

Neuer blickte zurück zur Leiche und hob nachdenklich die Schultern.

»Irgendetwas stimmt nicht«, brummte er. »Ich komm nur nicht drauf, was es ist.«

»Ihr Gesicht.«

Neuer drehte sich zu seiner Kollegin um und runzelte die Stirn. Maren hatte die seltene Gabe, Dinge mit anderen Augen zu sehen als andere Menschen. Ungereimtheiten fielen ihr nicht nur sofort auf, sie konnte sie auch benennen. Neuer kannte nur eine Person, die ihr darin ebenbürtig war. Er wandte sich wieder der Leiche zu.

»Was ist mit ihrem Gesicht?«

Bevor Maren antworten konnte, sah er es. »Es ist völlig unversehrt.«

»Genau.«

Es war nicht der Hauch von Genugtuung in Marens Stimme, und dafür liebte er sie.

»Der Rest ihres Körpers ist regelrecht zerfetzt«, fuhr die Kommissarin fort. Aber ihr Gesicht hat keinen einzigen Kratzer. Schön wie eh und je.«

»Du hast recht. Das ist kein Zufall.«

»Das Ganze sieht aus, als habe hier jemand ein regelrechtes Schlachtfest gefeiert. Da kann es nicht einfach gewesen sein, den Kopf auszusparen. Zumal sie sich zumindest am Anfang gewehrt haben dürfte.«

»Sieht aus wie eine Inszenierung. Was meinst du?«

Neuer drehte sich nicht zu Maren Maibaum um, sondern starrte weiter auf die tote junge Frau, deren Haar in einem schwarzen Schleicher um das blutleere Gesicht mit den dunklen Augen, toten Augen, drapiert war.

»Habe ich auch gedacht.«

Sie schwiegen eine Weile, ohne den Blick von der Toten zu wenden.

»Du solltest sie anrufen«, sagte Maren schließlich.

Neuer seufzte.

»Du weißt, dass sie sich nach der Sache im letzten Jahr zurückhält. Und wenn du mich fragst, ist das auch gut so. Das hier ist unser Job, nicht ihrer. Sie hat sich immer viel zu sehr eingemischt.«

»Diesmal gibt es meiner Meinung nach gute Gründe, eine Ausnahme zu machen. Schließlich hat sie auch gesagt, dass sie bei außergewöhnlichen Fällen sofort informiert werden will. Und wir wissen beide, das hier ist ein außergewöhnlicher Fall.«

Neuer blickte seine Kollegin misstrauisch an.

»Seit wann bist du denn so scharf darauf, dass die Sehnschorsch mitmischt? Ich dachte immer, sie stört dich genauso wie mich.«

Maren grinste ihn an.

»Sie stört dich doch schon lange nicht mehr, du Heuchler. Ich bin sogar sicher, dass sie dir fehlt.«

»Quatsch. Ich kann nur ihren Stellvertreter nicht leiden. Und dieser von Stetten hat sich offenbar ein Beispiel an ihr genommen und taucht jetzt auch ständig an unseren Tatorten auf. Warum können die Staatsanwalt-Fuzzis nicht einfach unsere Berichte lesen und uns ansonsten unsere Arbeit machen lassen? Wie früher. Das haben wir eindeutig Lina zu verdanken.«

»Also was nun: Rufst du sie an oder gehen wir das Risiko ein, dass von Stetten in einer halben Stunde hier aufkreuzt?«

Manfred Neuer griff nach seinem Handy und tippte auf eine eingespeicherte Nummer. »Beschwer dich bloß später nicht bei mir«, raunzte er Maren an.

Sie zog die Augenbrauen in die Höhe und blickte ihm scheinheilig in die Augen. »Auf keinen Fall. Ich werde jede Minute mit euch beiden genießen. Versprochen.«

2

»Also ich finde ihn toll. Ich bin sogar ein bisschen verliebt in ihn. Das ist bestimmt die Erotik der Macht.«

Lina hielt sich die Teetasse vors Gesicht, um nicht in lautes Gelächter auszubrechen. Melanie Weber, die beste aller Sekretärinnen, war dagegen aufrichtig entsetzt.

»Ich glaube wirklich, mit dir stimmt was nicht.« Sie warf einen ungläubigen Blick auf die junge Frau, die sich in einem der Besucherstühle in Linas Büro flegelte und mit verträumtem Blick vom legendär großen und schwergewichtigen Generalstaatsanwalt schwärmte, dem sie an diesem Morgen zum ersten Mal persönlich begegnet war.

»Und setz dich bitte vernünftig hin. Was sollen die Kollegen denken, wenn sie dich so sehen?«

Trotz der aufrichtigen Empörung war Linas Sekretärin deutlich anzuhören, dass sie die Gescholtene in Wahrheit gut leiden konnte. Dabei hatte es eine Weile gedauert, bis die stämmige Melanie Weber und Linas quirlige neue Praktikantin Lucy van Beek Freundschaft geschlossen hatten. Lina konnte die Vorbehalte ihrer überaus gut organisierten und selten zum Überschwang neigenden Assistentin verstehen. Lucy war ein verrücktes Huhn und damit auf keinen Fall das, was man an einer juristischen Fakultät oder gar in der Staatsanwaltschaft anzutreffen erwartete. Aber sie war auch eine der besten Jurastudentinnen, die Lina in ihrer Kölner Zeit je kennengelernt hatte. Deshalb hatte sie sich gefreut, als ihr vor vier Monaten Lucys Bewerbung für ein Referendariat auf den Tisch flatterte und Lucy sogar bereit war, die Zeit bis zu dessen offiziellem Start als Praktikantin in der Koblenzer Staatsanwaltschaft anzuheuern. Doch auch wenn Lucy Melanie Webers Herz mittlerweile erobert hatte, waren die unermüdlichen Erziehungsversuche der patenten Westerwälderin nach Linas Ansicht zum Scheitern verurteilt. Obwohl sich Lucy in ihrem kunterbunten Kleid und den kurzen lila Stiefeln sofort züchtig hinsetzte und die Knie sorgsam bedeckte.

»Besser so?«, fragte sie die Sekretärin völlig ernst.

Die schüttelte den Kopf.

»Aus dir wird nie im Leben eine Staatsanwältin. Vielleicht kommst du als drittklassige Rechtsanwältin durch. Aber selbst da habe ich Zweifel.«

Lina wusste es besser. So undiszipliniert und exaltiert Lucy auch wirkte, sie war schon jetzt, kurz vor dem ersten Staatsexamen, ein brillanter Kopf und ihrem messerscharfen Verstand entging nur selten etwas. Ihre zur Schau getragene Naivität dagegen war nach Linas Überzeugung zumindest teilweise eine ausgeklügelte Taktik, um ihr Gegenüber in Sicherheit zu wiegen. Niemand, der Lucy in ihren besonderen Momenten kennenlernte, würde sie ernst nehmen. Hinzu kam, dass sie auch äußerlich in jeder Hinsicht dem Klischee des kulleräugigen blonden Dummchens entsprach.

Lina kannte die Gefahren dieser Tiefstapelei – und ihre Vorzüge. In Fallbesprechungen hatte Lucy in den letzten Wochen mehr als einmal wesentlich erfahrenere Kollegen dumm aussehen lassen. Unter anderem Linas ungeliebten Stellvertreter, Julius von Stetten. Allein dafür schätzte Lina Lucys Anwesenheit.

Außerdem war sie zwischen all den staubtrockenen Juristen herrlich erfrischend. Wenn es nach Lina ging, würde die junge Frau nicht nur ihre Referendarzeit bei der Koblenzer Staatsanwaltschaft absolvieren, sondern auch nach dem zweiten Examen bleiben.

Doch bevor es so weit war, lag noch ein weiter Weg vor ihnen, der nicht mit Cappuccino und Sahneschnitten gepflastert war, sondern mit hartem juristischem Fallstudium. Lina stand seufzend auf und wischte sich die Krümel vom Rock. Sofort erhob sich auch Melanie Weber, um Teller und Tassen wegzuräumen. Lucy packte die Reste des selbst gebackenen Kuchens in die mit Siebziger-Jahre-Retro-Pril-Blumen verzierte Tupperdose, dann verschwanden die beiden Frauen mit den verräterischen Resten der gemeinsamen nachmittäglichen Zuckerorgie aus Linas Büro.

Auf der Türschwelle drehte Lucy sich noch einmal um. Sie strahlte wie eine Zehnjährige, der man einen Besuch in Disneyland versprochen hatte.

»Ich freu mich so auf übernächstes Wochenende. Das wird bestimmt eine geile Party. Ich glaube, ich ziehe mein neues Kleid an …«

Lina betrachtete kopfschüttelnd ihre Praktikantin.

»Wenn wir nicht einen Zahn zulegen, wird es für uns beide keine Party geben, weil wir im Büro nachsitzen müssen.«

»Alles klar, ich hole nur schnell meine Sachen.«

Lina setzte sich an ihren Computer und rief die Akten der nächsten Woche auf, mit denen sie und Lucy sich für den Rest des Tages beschäftigen würden.

Die Praktikantin hatte das Büro gerade wieder betreten, als Linas Handy klingelte. Sie blickte aufs Display. Manfred Neuer. Es kam nicht allzu häufig vor, dass der Kriminalhauptkommissar sie anrief. Nicht mehr. Linas Puls beschleunigte sich. Es war ihr immer wichtig gewesen, eng mit den polizeilichen Ermittlern zusammenzuarbeiten. Vor allem bei Mordfällen. Neuer hatte sie dafür zu Beginn ihrer Koblenzer Zeit gehasst. Trotzdem hatten sie gut harmoniert. Zumindest beruflich. Privat war der knurrige Kripomann lange eher zugeknöpft gewesen. Vor allem, seit Lina mit Elias Röder, dem Sohn von Neuers Lebensgefährtin, zusammenlebte. Doch dann waren Dinge passiert, die sie einander nähergebracht hatten. Und die Lina veranlasst hatten, Mordermittlungen nur noch vom Spielfeldrand aus zu begleiten. So wie die anderen Staatsanwälte es ohnehin taten.

Neuer hatte es hingenommen und auch bei den routinemäßigen Besprechungen nie ein Wort darüber verloren, obwohl Lina das Gefühl hatte, dass ihm diese Entwicklung keineswegs gefiel.

Doch nun rief er an, und da sie gerade an keinem gemeinsamen Fall arbeiteten, musste etwas Besonderes vorgefallen sein.

»Manni. Was ist los?«

Sie bemühte sich um einen lockeren Ton, obwohl ihr Magen vor Aufregung flatterte. Die Arbeit mit den Mordermittlern fehlte ihr so sehr. Aber sie hatte es Elias versprochen. Und sich selbst.

»Kannst du kommen?«

Lina zögerte.

»Manni, ich …«

»Ich würde nicht fragen, wenn es nicht wichtig wäre.«

Etwas in ihr vollführte vor Freude einen Luftsprung.

»Na gut. Wo seid ihr?«

3

Am nächsten Vormittag traf sich die Kernmannschaft der Soko Backstube um zwölf Uhr in einem der kleineren Besprechungsräume im Koblenzer Polizeipräsidium. Lina Saint-George traf kurz nach Manfred Neuer und Maren Maibaum ein. Die Leitende Oberstaatsanwältin hatte die beiden Kommissare am Tag zuvor bereits am Tatort getroffen, einem Altbau in der Koblenzer Innenstadt, nicht weit von der Mosel und nur wenige Hundert Meter vom Deutschen Eck entfernt.

Die tote junge Frau, die dort halb auf dem Sofa, halb auf dem Boden mit unversehrtem Gesicht und zerfetztem Körper in ihrem Blut lag, hatte Lina tief berührt. Vielleicht hatte sie schon zu lange keinen Tatort mehr gesehen. Oder es war der auffällige Kontrast von Schrecken und Schönheit, welcher der Szene anhaftete und der sie aus der Bahn geworfen hatte. Obwohl sie nicht viel gesprochen hatten, wusste Lina, dass es Neuer und Maibaum ähnlich ging.

Noch am Abend hatte Neuer Aufgaben verteilt. Heute Morgen würden sie alle bislang bekannten Fakten zusammentragen und hoffen, dass es einen Verdächtigen gab, der sich als Mörder überführen ließ. Ihr Instinkt sagte Lina, dass es so einfach nicht sein würde.

»Okay, Leo, was kannst du uns über die Tote sagen?«

Manfred Neuer, der die Sitzung mit einem gemurmelten Gruß eröffnet hatte, schaute Oberkommissar Leo Teichgräber an, der gebannt auf seinen Laptop-Monitor starrte.

Bevor er beginnen konnte, öffnete sich die Tür, und Kriminalrat Ilja Schwärmer betrat den Raum. Der Leiter der Mordkommission war knapp einen Meter sechzig groß, aber mit überbordendem Selbstbewusstsein ausgestattet, das in jeder Sekunde aus seinem schmalen Körper zu strömen schien. Seinen Posten hatte er, zum Ärger sämtlicher Koblenzer Kripobeamter und mit tatkräftiger Unterstützung aus dem Mainzer Innenministerium, vor einem knappen Jahr Maren Maibaum weggeschnappt. Nicht nur das hatte ihn in kürzester Zeit zu Neuers Lieblingsfeind gemacht. Auch jetzt würdigte der Kommissar seinen unmittelbaren Vorgesetzten keines Blickes, obwohl der sichtlich verärgert darüber war, dass die Besprechung ohne ihn begonnen hatte.

»Also, Leo, was ist jetzt?«, knurrte Neuer seinen zögernden Kollegen an.

Teichgräber ging auf Nummer sicher und hielt sich an Neuer.

»Das Opfer heißt Annalena Kortius, ist sechsundzwanzig Jahre alt und arbeitete als Fachverkäuferin in einer Bäckereifiliale im Löhr-Center. Nebenbei jobbte sie als Model für einige kleinere Agenturen. Hin und wieder wurde sie für regionale Werbejobs gebucht. Modenschauen, Werbebroschüren und so was. Soweit wir wissen, hatte sie zurzeit keinen festen Freund. In der Wohnung, in der sie getötet wurde, lebte sie seit einem knappen Jahr.«

»Migrationshintergrund?«

Alle wandten sich Schwärmer zu, dem die Aufmerksamkeit keineswegs peinlich war. Er blickte zu dem Foto der bildhübschen Frau mit dem glatten schwarzen Haar und den dunkel umrandeten tiefbraunen Augen, das in der Mitte der Ermittlungswand neben einigen kleineren Fotos des Tatorts hing.

»Sie sieht arabisch aus. Könnte also ein Ehrenmord sein.«

Manfred Neuer blickte Schwärmer düster an, überließ es aber Maren Maibaum, dem Leiter der Mordkommission zu antworten.

»Ihre Mutter ist Halb-Marokkanerin, hat die Familie aber verlassen, als Annalena zwei Jahre alt war. Das Mädchen ist bei seinem Vater und dessen zweiter Frau aufgewachsen. Zu ihrer Stiefmutter, die übrigens Deutsche ist, genau wie der Vater, hatte sie offenbar ein sehr gutes Verhältnis. Zur Familie ihrer leiblichen Mutter gab es laut dem Vater keinerlei Kontakt, was einen Ehrenmord eher unwahrscheinlich macht.«

»Das halte ich für einen voreiligen Schluss«, beharrte Schwärmer, der nach Linas Erfahrung selten bereit war, von einmal eingenommenen Standpunkten wieder abzulassen. Egal, wie unbedacht er sie verkündet hatte.

Wenn ihn irgendjemand ernst nehmen würde, läge die Aufklärungsquote der Koblenzer Mordkommission wahrscheinlich bei null, dachte sie.

»Ich schlage vor, wir machen es wie immer und hören uns die Fakten an, bevor wir wild rumspekulieren«, bellte Neuer und beendete jede weitere Diskussion zu Schwärmers Einwurf. »Mach weiter, Leo.«

Eine halbe Stunde später kannten sie den durchschnittlichen Tagesablauf der getöteten Verkäuferin, wussten, dass sie seit etwa sechs Monaten keinen Modelauftrag mehr angenommen und einmal die Woche ein Fitnessstudio aufgesucht hatte. Ein Tatverdächtiger war nicht in Sicht. Selbst Annalenas Ex-Freund hatte ein wasserdichtes Alibi. Außerdem war er schon deshalb unverdächtig, weil er die Beziehung vor über einem Jahr beendet hatte und längst mit seiner neuen Freundin zusammenlebte.

»Die Kolleginnen aus der Bäckerei, mit denen ich heute Morgen gesprochen habe, meinen allerdings, Annalena könnte einen neuen Freund gehabt haben, um den sie ein großes Geheimnis machte. Gesehen hat den Kerl aber nie jemand«, fuhr Leo fort. »Ich treffe mich später mit ihrer besten Freundin. Das ist die, die die Leiche gefunden hat. Vielleicht kommt dabei etwas raus. Ach ja, zwei Kollegen aus dem Streifendienst hören sich derzeit in der Nachbarschaft um. Von ihnen habe ich aber noch nichts Konkretes gehört.«

Maren Maibaum hatte am Morgen erneut mit der Familie gesprochen, nachdem sie und Neuer den Eltern am Abend zuvor lediglich die Todesnachricht überbracht hatten.

»Vater und Stiefmutter sind am Boden zerstört. Die jüngere Halbschwester der Toten war gar nicht ansprechbar, der Hausarzt hatte ihr ein Beruhigungsmittel gegeben. Die ganze Familie steht unter Schock. Von einem Freund wissen sie nichts, und wer ihrer Tochter das angetan haben könnte, ist ihnen ebenfalls schleierhaft. Vermutlich wird es ein paar Tage dauern, bis sie wieder klar denken können. Ich werde trotzdem heute Nachmittag noch einmal bei ihnen vorbeischauen. Vielleicht kann ich die Schwester sprechen. Sie ist zwar erst achtzehn und damit deutlich jünger als Annalena, aber vielleicht weiß sie trotzdem etwas, was ihre Eltern nicht wissen.«

Es entstand eine Pause, während der Manfred Neuer auf der Fernbedienung des Beamers herumhämmerte und leise fluchte.

Ilja Schwärmer nutzte die Gelegenheit, um die Leitung der Besprechung an sich zu ziehen. Zumindest versuchte er es.

»So weit, so gut, Kollegen. Trotzdem will ich, dass Sie dem Aspekt des Ehrenmordes nachgehen. Da Erste Kriminalhauptkommissarin Maibaum und Oberkommissar Teichgräber anderweitig beschäftigt sind, schlage ich vor, dass Sie das übernehmen, Hauptkommissar Neuer. Offenkundig verfolgen Sie ja zurzeit keine anderen Spuren.«

Neuer hatte den Beamer in Gang gesetzt und warf ein Tatort-Bild an die Wand. Einen Moment lang fragte Lina sich, was an dem Foto nicht stimmte. Dann wurde ihr klar, dass es nicht im Wohnzimmer der getöteten Bäckereiverkäuferin aufgenommen worden war.

»Ein zweiter Mord?«, fragte sie und blickte Neuer verblüfft an.

»Petra Meurer, auch bekannt unter ihrem Künstlernamen Mimi. Sie arbeitete in einem geräumigen Wohnmobil an der B 413, zwischen Dierdorf und Rüscheid. Eine Kollegin hat sie am fünfzehnten Januar gefunden, nachdem Mimi sich nicht zur verabredeten Zeit per Handy bei ihr gemeldet hatte. War so eine Art Sicherheitsnetz. Mit mäßigem Erfolg, wie man sieht.«

»Und was hat diese Nutte mit unserer Toten zu tun?«, fragte Ilja Schwärmer genervt. Offenkundig hatte er sich das überdimensionale Foto, das Neuer auf die Wand des Besprechungsraums projiziert hatte, kaum angeschaut. Oder er hatte die Bilder vom aktuellen Tatort ignoriert. Lina kannte die Gerüchte, dass der Leiter der Mordkommission ein Problem mit Blut hatte. Da war möglichweise mehr dran, als sie bislang für möglich gehalten hatte. Außerdem schien niemand dem Tod der Prostituierten allzu viel Aufmerksamkeit geschenkt zu haben, denn sonst wäre wohl nicht nur Neuer die Ähnlichkeit der Leichen und die Art ihrer Ermordung aufgefallen. Vermutlich war ein anderes Team mit der Sache betraut gewesen. Lina wusste allzu gut, wie leicht Verbrechen an diesen Frauen von vornherein als Berufsrisiko bewertet wurden. Vielleicht war man auch von einer außer Kontrolle geratenen Bestrafungsaktion innerhalb des Milieus ausgegangen. Trotzdem …

»Hat sonst noch jemand ein Problem, die Parallelen zu erkennen?«, fragte Neuer.

Alle schwiegen betreten. Zwar hatte das plüschige Wohnmobil wenig Ähnlichkeit mit dem Wohnzimmer von Annalena Kortius. Die Leichen sahen sich hingegen zumindest auf den ersten Blick zum Verwechseln ähnlich. Petra Meurer hatte die gleichen feinen Gesichtszüge und langen – vermutlich gefärbten – schwarzen Haare wie die Verkäuferin. Ihr Gesicht war, wie das von Annalena, völlig unversehrt, während der restliche Körper regelrecht zerfetzt wirkte. Und genau wie im aktuellen Fall war die Einrichtung des Wohnmobils, so weit sie zu erkennen war, in Blut getränkt. Ein Zufall war völlig ausgeschlossen.

»Du gehst also davon aus, dass es sich um den gleichen Täter handelt?« Lina schaute Neuer nachdenklich an. »Das könnte bedeuten …«

Neuer erwiderte ihren Blick. »Dass wir uns darauf einstellen müssen, dass Annalena Kortius nicht das letzte Opfer des Mistkerls war.«

»Und Petra Meurer wahrscheinlich nicht das erste«, ergänzte Maren Maibaum.

4

Nachdem er die Sitzung geschlossen hatte, brauchte Manfred Neuer erst mal eine Zigarette. In den letzten Monaten hatte er seinen Konsum drastisch reduziert, was in seinem Fall bedeutete, dass er höchstens noch eine Schachtel am Tag rauchte statt drei.

Schuld daran war Barbara Röder, seine Lebensgefährtin, die zwar nie ein Wort über seine Sucht verloren, in dem notorischen Kettenraucher aber trotzdem ein neues Bewusstsein für seine eigenen Ausdünstungen geweckt hatte. Konnte eine Frau es wirklich anziehend finden, wenn der Mann, der sie küsste, wie ein randvoller Aschenbecher stank – und vermutlich auch so schmeckte? Vor allem, wenn sie selbst nie einen Glimmstängel anrührte? Als Antwort auf diese selbstkritische Frage hatte Neuer sich vorgenommen, Zigaretten in absehbarer Zeit völlig zu entsagen.

Leute wie Ilja Schwärmer boykottierten den Vorsatz allerdings allein durch ihre Existenz, was Neuers Einstellung zu seinem Chef nicht gerade verbesserte. Der kleinwüchsige Kriminalrat zeichnete sich seiner Meinung nach vor allem dadurch aus, dass sein kriminalistischer Spürsinn und seine praktische Intelligenz in starkem Kontrast zu seinem übergroßen Ego standen. Wirklich schlimm wurde die Sache dadurch, dass Schwärmer offenkundig unter dem permanenten Zwang stand, sich selbst und allen anderen das Gegenteil zu beweisen. Dass er außerdem ein großer Fan sozialer Medien war und seinen geistigen Dünnpfiff regelmäßig auf Facebook, Instagram und Co. postete, machte die Sache nicht besser.

Zum Glück hielt die überaus taffe Kripochefin Hella Baldus genauso wenig vom neuen Leiter der K 11 wie jeder andere im Präsidium, was Schwärmers Spielraum drastisch einschränkte. Und nun, wo Lina Saint-George wieder an Bord war, würde hoffentlich auch der unselige gute Draht verpuffen, den Schwärmer in den letzten Monaten zu Julius von Stetten geknüpft hatte, Linas Stellvertreter.

Ohnehin hatte Neuer die ungewöhnliche Allianz zwischen dem Blender Schwärmer und dem erfahrenen und chronisch beherrschten Staatsanwalt stets für ein reines Zweckbündnis gehalten. Eines, das allerdings mehr als deutlich machte, wie gefährlich von Stetten für Lina werden konnte, die ihm den Job an der Spitze der Koblenzer Staatsanwaltschaft vor der Nase weggeschnappt hatte.

Das war jetzt fast vier Jahre her, und Neuer konnte sich noch gut daran erinnern, wie sehr ihm die selbstbewusste Kölner Juristin mit den smaragdgrünen Augen und dem legendären Ruf einer hervorragenden Staatsanwältin und versierten Kriminalistin anfangs auf die Nerven gegangen war. Überall hatte sie ihre Nase reingesteckt und sich dadurch mehr als einmal in erhebliche Gefahr gebracht. Doch dann war vor einem knappen Jahr etwas geschehen, das Lina verändert hatte. Nicht nur sie selbst, sondern auch mehrere Menschen, die ihr wichtig waren, hätten ihr Draufgängertum beinahe mit dem Leben bezahlt.

Seitdem hatte Neuer sie nicht mehr am Tatort eines Mordes gesehen. Beinahe schien es, als würde die Hachenburgerin sich tatsächlich auf ihre tradierte Rolle als Behördenleiterin besinnen und der Polizei die konkrete Ermittlungsarbeit überlassen.

Von Stetten hatte das Vakuum genutzt, um selbst präsenter zu sein, wenn es um Schwerverbrechen ging. Er hatte wohl erkannt, dass dieses Engagement zu seiner Popularität beitragen konnte. Bislang hatte es keinen spektakulären Fall gegeben, den er für seine Imagekampagne nutzen konnte. Tote Prostituierte waren offensichtlich unter seinem Niveau. Doch Neuer hatte sofort gewusst, dass der Mord an der Bäckereiverkäuferin das entsprechende Potenzial besaß. Zumal ihm die Parallelen zum Dierdorfer Prostituiertenmord gleich ins Auge gesprungen waren.

Lina mit einzubeziehen, hatte vor allem das Ziel gehabt, von Stetten und damit auch Schwärmer auf die Plätze zu verweisen. Doch Neuer gestand sich ein, dass der Austausch mit Lina, so anstrengend er oft war, ihm auch gefehlt hatte. Natürlich würde er das niemals offen zugeben. Nicht mal vor Maren, die es ohnehin wusste.

Neuer zündete sich die nächste Kippe an der Glut ihrer Vorgängerin an. Schwärmer hatte ihn wütend gemacht. Ehrenmord. Dieser Schmock. Immer mit einer Hand in der Klischeekiste, um ein weiteres weißes Kaninchen aus dem Hut zu zaubern. Zum Glück hatte der Miniatur-Napoleon demnächst drei Wochen Urlaub. Blieb zu hoffen, dass er die verbleibenden Tage nicht nutzen würde, um Schaden anzurichten.

Der Kommissar zog den Ärmel seiner abgewetzten Lederjacke nach oben und warf einen Blick auf seine Uhr. Er war mit den Kollegen verabredet, die damals im Fall Petra »Mimi« Meurer ermittelt hatten. Sie warteten vermutlich schon in der Kantine auf ihn.

Neuer warf den Rest seiner Kippe auf den Boden und trat sie mit der Spitze seiner uralten, bestens eingetragenen Bikerboots aus. Dann besann er sich und hob den zerquetschten Stummel auf, um ihn in den dafür vorgesehenen Mülleimer zu werfen. Auch eine neue Sensibilität, die auf Babs’ Einfluss zurückzuführen war.

Als er sich umdrehte, stand Lina Saint-George hinter ihm und schaute ihn mit ernstem Gesicht, aber einem deutlichen Schmunzeln in den grünen Augen an. Er hätte schwören können, dass in ihren dunklen Locken einige silberne Fäden glitzerten, die er noch nicht kannte.

»Was?«, brummte er, ohne wirklich sauer zu sein. Schließlich war auch ihr Spott nicht ernst gemeint. Darüber waren sie hinweg.

»Ich überlege nur, ob ich dich als Polizist des Monats vorschlagen soll. Wegen deines Umweltbewusstseins.«

Jetzt lächelte Lina ihn an.

»Bevor du dir deinen hübschen Kopf weiter über Belanglosigkeiten zerbrichst, solltest du lieber etwas zur Lösung unseres Falls beitragen, findest du nicht?«

Sofort verschwand das Lächeln aus Linas Gesicht. »Dass ich mir den Tatort angesehen habe, heißt nicht, dass ich bei den Ermittlungen dabei bin. Also, wenigstens nicht über das übliche Maß hinaus. Du weißt ja …«

»Ja, ja. Das weiß ich. Und glaub mir, keiner ist so froh über deine neue Zurückhaltung wie ich. Deine permanente Einmischung war nämlich ziemlich nervig, wenn ich mich recht erinnere. Außerdem hast du ein unbestrittenes Talent dafür, dich in gefährliche Situationen zu manövrieren. Aber ich treffe mich jetzt mit den Kollegen, die den Meurer-Fall bearbeitet haben. Das sollte dich als Leitende Staatsanwältin interessieren, denke ich. Und da das Meeting in unserer Kantine stattfindet, ist es auch nur bedingt als gefährlich anzusehen. Vorausgesetzt, der Koch hat gute Laune.«

Lina überlegte einen Moment.

»Na gut. Lass mich nur schnell mit meinem Büro telefonieren, dann komme ich nach. Aber das ist wirklich eine Ausnahme, da sind wir uns doch einig, oder? Du weißt, ich habe es Elias versprochen …«

»Klar, weiß ich. Wir warten oben auf dich.«

Erst als die Tür hinter ihm zugefallen war, erlaubte Manfred Neuer sich ein Grinsen. Sie hatte angebissen. Die Sehnschorsch war wieder an Bord.

5

Erste Hauptkommissarin Maren Maibaum saß auf der gemütlichen kleinen, rehbraunen Wildledercouch und schaute demonstrativ auf die Kaffeetasse, die Sandrina Kortius vor einer Viertelstunde vor ihr abgestellt hatte. Nun hockte Annalenas Stiefmutter ihr gegenüber auf dem beinahe identischen, aber etwas größeren Sofa, hatte die Arme um ihren Mann Robert geschlungen und presste den weinenden Vater der toten Annalena fest an ihre Brust.

Maren war es gewohnt, Menschen in unangemessenen Situationen auf die Pelle zu rücken, aber nur selten fühlte sie sich dabei so aufdringlich wie gerade jetzt. Es war klar, dass Robert Kortius, Geschäftsführer eines alteingesessenen Keramikunternehmens in Höhr-Grenzhausen, sich üblicherweise immer und überall im Griff hatte. Doch nun war er bereits bei ihrer zweiten Frage regelrecht zusammengebrochen und suchte Halt bei seiner Frau, der es augenscheinlich kaum besser ging als ihm selbst.

»Verzeihen Sie uns«, sagte Sandrina Kortius über die zusammengesunkene Gestalt in ihren Armen hinweg und versuchte vergebens, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben. »Wir wissen, wie wichtig es für Sie ist, schnell Informationen zu bekommen. Aber wir …« Tränen rannen ihr über die Wangen, sie räusperte sich. »Wir können es einfach noch gar nicht fassen …« Sie verbarg das Gesicht im Nacken ihres Mannes, der kurz aufschluchzte.

Maren gab ihnen einige Sekunden, um sich zu sammeln. Doch Annalenas Eltern schienen völlig in ihren Schmerz eingetaucht zu sein und sie vergessen zu haben.

Gerade als die Kommissarin beschloss, es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal zu versuchen, nahm sie eine Bewegung am breiten Durchgang zum Esszimmer wahr. Dort stand eine hagere Gestalt, die sie mit rot geweinten Augen anstarrte.

»Hallo, du musst Sarah sein«, sagte Maren, ohne dass die miteinander verschmolzenen Eltern auch nur zuckten. Offensichtlich hatten sie das Auftauchen ihrer zweiten Tochter nicht bemerkt. Sarah, die den schmalen Körper eines Teenagers hatte und ansonsten aussah wie eine unfertige blonde Version von Annalena, schaute Maren eine Weile stumm an und nickte dann.

»Ich bin Maren Maibaum von der Kripo. Ich versuche mir ein besseres Bild von deiner Schwester und ihrem Leben zu machen.« Sie warf einen kurzen Blick zu den noch immer zu einem Stillleben der Trauer erstarrten Eltern.

»Aber ich glaube, es ist zu früh. Ich komme besser später noch mal vorbei.«

Maren griff nach ihrer Tasche, die neben dem Sofa stand, erhob sich und wandte sich der Tür zu, die in den Flur und zum Hauseingang führte. Einmal mehr streifte sie der Gedanke, dass sie sich das Elternhaus der toten Bäckereiverkäuferin ganz anders vorgestellt hatte. Bescheidener. Tatsächlich lebte Annalenas Familie in Oberwerth, einer der nobelsten Wohngegenden von Koblenz, in Sichtweite des Rheins. Bevor sie dem Vorurteil, das sie zu dieser falschen Annahme verleitet hatte, nachgehen konnte, berührte jemand sie sanft am Arm.

»Warten Sie.« Sarah war ihr gefolgt und schaute sie gequält an. »Ich kann mit Ihnen reden.«

Innerlich jubelte Maren. Sie war ohnehin davon ausgegangen, dass Annalenas Schwester interessantere Dinge über die junge Frau zu berichten hatte als ihre Eltern, die bereits am Abend zuvor darauf beharrt hatten, dass jeder ihre Tochter liebte und ihr niemand so etwas antun würde. Weder Neuer noch sie hatten die Schockierten darauf hingewiesen, dass die grausame Realität ihre Theorie längst widerlegt hatte.

»Bist du sicher? Wir können auch später …«

»Nein«, warf Sarah hastig ein. »Sie brauchen schnell Informationen. Das wissen wir aus dem Fernsehen. Wir schauen uns immer Krimis an, wissen Sie.«

Wäre der Anlass ihres Besuchs nicht so traurig gewesen, hätte Maren gegrinst. Obwohl sie und die Kollegen sich meist über das Halbwissen ärgerten, das Krimiliebhaber zu vermeintlichen Ermittlungsspezialisten machte, schienen in diesem Fall die Vorteile zu überwiegen.

»Ja, du hast recht, wir kommen nur weiter, wenn wir möglichst viel über deine Schwester wissen.«

Sie zogen sich in Sarahs Mädchenzimmer zurück, das für eine Achtzehnjährige erstaunlich kindlich wirkte. Als Kontrast zu berstenden Regalen voller Fantasy-Bücher à la Warrior-Cats und der Armee von Plüschtieren, die das Bett größtenteils für sich beanspruchten, beantwortete Sarah Marens Fragen präzise und sachlich. Nach einer halben Stunde wusste Maren alles über Annalenas Freunde und den Model-Job.

»Es gibt noch etwas, das Sie nicht wissen.« Sarah schaute die Kommissarin ernst an. Maren hob eine Augenbraue und wartete.

»Annalena hatte sich in den letzten Monaten einen Namen als Influencerin gemacht. Sie wissen schon: Sie hatte ein paar Kanäle, auf denen sie alles Mögliche aus ihrem Leben gepostet hat. Vor allem ging’s darum, was sie mochte, wo sie einkaufte, in welche Lokale sie gern ging. So was halt. Vor allem hat sie aber Tipps gegeben, wie man eine Model-Karriere startet. Sie hatte ’ne Menge Follower und sogar ein paar Aufträge, mit denen sie ziemlich viel Geld verdiente. Mehr als in der Bäckerei jedenfalls.«

»Du meinst, sie hat Werbung für bestimmte Läden gemacht, die ihr Geld dafür gegeben haben? Obwohl sie da gar nicht gegessen oder eingekauft hat?«

Sarah zuckte mit den Schultern. »Ja, klar. Das ist doch normal, oder? Natürlich ist sie in den Lokalen gewesen, nachdem sie Geld bekommen hat, um ein paar Bilder zu posten. Oder sie hat sich in Klamotten fotografieren lassen, die sie normalerweise nicht getragen hätte. Das machen schließlich alle so. Aber …«

»Aber was?«, drängte Maren.

»Na ja, die meisten Follower waren natürlich begeistert von dem, was Annalena gemacht hat. Sie hat wirklich tolle Kommentare bekommen. Aber es waren auch ein paar richtige Idioten dabei. Die sie beschimpft haben. Oder Schlimmeres …«

»Was meinst du mit Schlimmeres?«

Es war offensichtlich, dass Sarah das Thema unangenehm war. Maren vermutete, dass die negativen Kommentare zu Annalenas Internetaktivitäten einen Schatten auf das Heiligenbild der bewunderten großen Schwester warfen.

Sarah gab sich einen Ruck. »Es gab ein paar Leute, die Lena vorgeworfen haben, sie sei eine Hure, die für Geld alles macht. Da waren echt widerliche Sachen dabei, ehrlich. Und ein paar Typen waren, glaube ich, sowieso nur auf ihrer Seite, um sich an ihren Bildern aufzugeilen.«

Sarahs blasses Gesicht war mittlerweile puterrot. Maren vermutete, dass sie selbst nicht über allzu große sexuelle Erfahrung verfügte.

»Kannst du das genauer beschreiben? Weißt du Namen?«

»Nein, so genau hab ich’s mir nicht gemerkt. Aber es war eklig. Und echte Namen benutzt im Netz doch sowieso keiner. Aber ich kann Ihnen die Zugangsdaten zu Annalenas Account geben. Dann können Sie das ganze Zeug selbst lesen.«

Sarah zog einen Fetzen Papier von ihrem Schreibtisch und kritzelte etwas darauf, bevor sie Maren den Zettel reichte. Die konnte ihr Glück kaum fassen. Allerdings war nicht zu übersehen, wie sehr das Gespräch Sarah angestrengt hatte. Es wurde Zeit zu gehen und das Mädchen in Ruhe trauern zu lassen.

»Nur eins noch«, sagte Maren, während sie aufstand. »Weißt du irgendetwas darüber, dass Annalena einen neuen Freund hatte?«

Sarah schaute sie verblüfft an.

»Einen Freund? Ne, hatte sie nicht. Jedenfalls hat sie mir nichts darüber erzählt. Und normalerweise hatte Lena keine Geheimnisse vor mir.« Das Mädchen zögerte.

»Ja?« Maren ermunterte es, weiterzusprechen.

»Na ja, Lena war schon ein bisschen merkwürdig in letzter Zeit. Irgendwie happy. Sie war ja sowieso wunderschön, aber in den letzten Wochen war es irgendwie …«

»Als würde sie von innen strahlen?«, half Maren.

»Ja, genau. Sie strahlte immer. Ich habe geglaubt, dass es was mit den Werbeaufträgen zu tun hatte und dem Geld, das sie damit verdiente. Und weil sie dann den Job in der Bäckerei aufgeben könnte.«

»Hat sie nicht gern dort gearbeitet? Wieso hat sie dann die Ausbildung begonnen?«

»Ach, das ist so ein Ding von meinen Eltern. Lena hing nach dem Abi eine Zeit lang einfach rum. War ein paar Monate als Aupair in England, hat in einer Kneipe gejobbt. So was halt. Irgendwie wusste sie einfach nicht, was sie machen sollte. Papa wollte, dass sie studiert, aber Lena hatte keinen Bock mehr auf Lernen. Sie ist schon nicht gern zur Schule gegangen. Nach einem Jahr hatte Papa genug und sie gezwungen, die Ausbildung anzufangen. Er hat gesagt, sie kann aufhören, wenn sie eine bessere Idee hat. Aber Lena wollte nur modeln, und das hat unser alter Herr nicht akzeptiert. Sie sollte auf jeden Fall was Vernünftiges lernen, worauf sie immer wieder zurückgreifen könnte, hat er gesagt.«

Maren dachte kurz nach. Also war die Kortius-Welt doch nicht ganz so heil gewesen. »Und warum in der Bäckerei? Es hätte doch bestimmt interessantere Alternativen gegeben, oder?«

»Hm, vielleicht. Aber Papa kennt den Geschäftsführer gut. Außerdem hat Lena der Job am Anfang sogar Spaß gemacht. Sie hat schon in der Oberstufe dort gearbeitet, wissen Sie. Sie mochte den Umgang mit den Kunden. Da hat sie viel für ihre Influencer-Karriere gelernt, hat sie immer gesagt. Na ja, aber auf Dauer war das natürlich nix. Und viel Geld kann man da auch keins verdienen.«

Maren nickte und stand auf.

»Danke, Sarah. Du hast mir sehr geholfen.«

Das Mädchen erhob sich ebenfalls und ergriff zögernd Marens Hand.

»Glauben Sie, dass Lena wegen der Sachen getötet wurde, die sie im Internet gemacht hat?«

»Ich weiß es nicht, Sarah. Aber es ist wichtig, dass wir davon wissen. Wir werden uns die Beiträge auf jeden Fall genau ansehen, das verspreche ich. Wir tun unser Bestes, um Annalenas Mörder zu finden.«

Sarah nickte traurig. »Ich weiß, dass Sie nichts versprechen können. Es ist nur so: Papa hat uns immer gewarnt, im Internet irgendetwas von uns preiszugeben. Das ist zu gefährlich, hat er behauptet. Wir haben darüber gelacht, Lena und ich. Wir haben geglaubt, er ist altmodisch und hat keine Ahnung, wie das Leben heutzutage läuft. Wir haben gedacht, wir wären schlauer als er. Und jetzt …«

Sarah weinte, und Maren konnte nachempfinden, wie sie sich fühlte. Schuldig. Weil sie ihre Schwester eventuell in etwas bestärkt hatte, das zu deren Tod geführt hatte. Es gab in solchen Situationen immer etwas, was die Hinterbliebenen sich vorwerfen konnten. Etwas, was das Grauen noch schlimmer machte.

»Es ist nicht deine Schuld, Sarah.«

»Ja, ich weiß«, sagte das Mädchen mit einem bitteren Lächeln. »Das sagen Sie an dieser Stelle immer, oder?«

6

»Ihr habt keine verwertbaren Spuren gefunden?« Manfred Neuer warf den Kollegen einen fassungslosen Blick zu.

»Das ist nicht ganz richtig, KHK Neuer«, erwiderte Hauptkommissar Hans-Jörg Welter förmlich. Offenkundig fühlte er sich angegriffen.

Lina grinste. Neuer hatte wirklich ein Händchen dafür, sich unbeliebt zu machen. Dabei war Welter ihm gar nicht unähnlich. Etwas jünger vielleicht, dafür deutlich verlebter. Mit den wirren grau melierten Locken, den leicht verquollenen Augen und der taillierten schwarzen Lederjacke versprühte er jedenfalls einen ähnlichen Retro-Charme wie Neuer. Vermutlich qualmte er auch wie ein Schlot.

»Es gab jede Menge Spuren«, fuhr Welter fort. »Die Frau war eine Nutte, die in einem Wohnwagen gearbeitet hat. Was denkst du denn, wie viel Fingerabdrücke da zusammenkommen? Allerdings war die Absteige regelrecht in Blut getränkt. Es war überall. So was habe ich noch nie gesehen. Als hätte es jemand mit voller Absicht im ganzen Wagen verteilt. Da ist ’ne Menge Material verloren gegangen.«

»Jedenfalls haben wir alles, was wir hatten, durch den Computer gejagt und die Kerle, die wir identifizieren konnten, überprüft«, ergänzte Oberkommissar Sascha Stuhlbein, der mit dem kurzen, streng zurückgekämmten Blondhaar und den leuchtend blauen Augen nicht nur einen optischen Kontrast zu seinem Kollegen bildete, sondern auch einen überaus disziplinierten und überraschend humorlosen Eindruck machte.

»Am Anfang sah es ganz gut aus, ein paar von den Typen hatten einiges auf dem Kerbholz«, übernahm Welter das Gespräch wieder. »Waren aber Rohrkrepierer. Hatten alle wasserdichte Alibis. Wir gehen deshalb davon aus, dass der Mörder unter denen zu finden ist, die bei uns nicht registriert sind.«

»Ein Ersttäter also?«, brummte Neuer. Ihm war deutlich anzusehen, dass er das kaum glauben konnte.

»Ist unwahrscheinlich«, bestätigte Welter. »Bei der Orgie, die er veranstaltet hat. Aber es kann ja sein, dass er uns einfach noch nie ins Netz gegangen ist.«

»Habt ihr nach ähnlichen Taten gesucht?«, wollte Neuer wissen.

Welter sah aus wie ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch. Doch Stuhlbein kam ihm mit der Antwort zuvor.

»Natürlich. Wir haben europaweit nach Prostituiertenmorden gesucht, die Ähnlichkeiten aufweisen. Bislang ohne Erfolg. Aber du weißt ja selbst, wie lange eine solche Anfrage in manchen Ländern dauern kann. Außerdem besteht immer noch die Möglichkeit, dass wir die richtige DNA aufgrund der besonderen Tatortgegebenheiten gar nicht sichern konnten.«

»Wenn ihr glaubt, dass es einen Zusammenhang zwischen unserer Nutte und eurer Bäckerei-Tusse gibt, sollten wir die Ermittlungen zusammenlegen …«, sagte Welter und warf Neuer einen gehässigen Blick zu. In einem solchen Fall wäre es üblich, dass das erste Team die Ermittlungen übernahm. Was Neuer davon hielt, stand außer Frage. Dennoch blieb er überraschend ruhig.

»Das hat die Leitende Oberstaatsanwältin bereits mit Kripochefin Baldus geklärt. Vorläufig ermitteln wir getrennt. Sollte es eine Verbindung geben, übernimmt das Team, das mehr vorzuweisen hat.«

Welter musterte Lina Saint-George abschätzig, war aber klug genug, ihre Autorität nicht infrage zu stellen. Lina lächelte ihn harmlos an. Neuer hatte nie mit ihr über eine mögliche Zusammenlegung der Fälle gesprochen. Und mit Hella Baldus vermutlich auch nicht. Aber das war nicht der Moment, ihm die dreiste Lüge um die Ohren zu hauen. Überdies war auch sie nicht bereit, den Fall, der ihr so unvermutet in den Schoß gefallen war, gleich wieder aufzugeben.

»Nun, denn«, sagte Oberkommissar Stuhlbein, indem er sich erhob, bevor die Stille peinlich werden konnte. »Viel Glück bei den Ermittlungen, Kollege.« Er nickte Lina steif zu und zerrte seinen sichtlich aufgebrachten Kollegen aus der Kantine.

»Der Bessere darf ermitteln?«, fragte Lina Neuer mit hochgezogenen Brauen, kaum dass die Tür hinter den beiden Kripoleuten ins Schloss gefallen war. »Wann haben wir das denn besprochen?« Das Schmunzeln in ihrer Stimme verriet allzu deutlich, dass sie keineswegs wütend war.

Neuer schaute sie scheinheilig an. »Haben wir nicht? Ich war mir sicher, wir hätten. Da siehst du mal, wie gut wir uns mittlerweile kennen. Wir müssen gar nicht miteinander reden, um uns zu verstehen.« Er zögerte kurz. »Oder siehst du die Sache ernsthaft anders?«

Lina schüttelte lachend den Kopf. »Du bist ein verdammter Heuchler.«

»Weil ich will, dass das bessere Team ermittelt? Seltsame Haltung für eine Leitende Oberstaatsanwältin, Frau Sehnschorsch. Allerdings sollten wir hart daran arbeiten, auch die Besseren zu sein. Ach ja: Zuständiger Staatsanwalt im Mordfall Meurer ist übrigens von Stetten. Er war sogar am Tatort. Ist er neuerdings immer, habe ich mir sagen lassen.«

»War er auch schon bei einem deiner Fälle«, fragte Lina betont beiläufig.

»Nein, so dumm ist er nicht«, antwortete Neuer, der offenkundig kein Interesse hatte, das Thema zu vertiefen.

Einige Sekunden lang hing jeder von ihnen still seinen Gedanken nach.

»Wenn der Täter nicht in unserem System registriert ist, stochern wir zwar im Nebel«, sprach Lina schließlich ihre Überlegungen aus. »Aber mit etwas Glück könnten wir zumindest eine Übereinstimmung von Spuren nachweisen, die an beiden Tatorten zu finden sind.«

»Genau mein Gedanke. Also dann mal los: Ich mache der Spurensicherung Dampf, und du sprichst mit Hella Baldus. Nur für den Fall, dass Welter sich traut, bei ihr nachzuhaken.«

7

Die Soko Backstube versammelte sich am Mittag wieder im Besprechungsraum. Jemand hatte Pizza bestellt, ein Ritual, das das Team darauf einschwor, in den nächsten Tagen nur selten zum Essen zu Hause zu sein.