Blutzeit - Doris Litz - E-Book
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Blutzeit E-Book

Doris Litz

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Beschreibung

Die erfolgreiche Staatsanwältin Lina Saint-George fängt von vorne an: Sie trennt sich von ihrem Mann und kehrt zurück in ihre Heimat, den Westerwald. Doch kaum dort angekommen, erschüttert eine Reihe von bestialischen Morden die ländliche Region. Unter den Opfern sind auch alte Bekannte Linas. Eigenmächtig schaltet sie sich in die Ermittlungen des Teams um Kriminalhauptkommissar Manfred Neuer ein. Damit macht sie sich Feinde bei der Polizei - und gerät selbst ins Visier des Killers ...

Der erste Fall für Staatsanwältin Lina Saint-George: ein spannender Thriller von Doris Litz!

STIMMEN UNSERER LESERINNEN ZUM BUCH:

"Schon von der ersten Seite an war ich gefesselt, das Buch ist der absolute Wahnsinn." (Lola19, Lesejury)

"Spannender Pageturner! Der Spannungsbogen ist gleichbleibend hoch und ich bin sehr froh, das Buch an einem Wochenende gelesen zu haben, da ich es ansonsten heimlich auf der Arbeit hätte lesen müssen. Man kann einfach nicht damit aufhören." (Smilingkatinka, Lesejury)

"Dieser Krimi ist nichts für schwache Nerven!" (Piatra, Lesejury)

eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.

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Seitenzahl: 478

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Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

Prolog

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Leseprobe

Über dieses Buch

Die erfolgreiche Staatsanwältin Lina Saint-George fängt von vorne an: Sie trennt sich von ihrem Mann und kehrt zurück in ihre Heimat, den Westerwald. Doch kaum dort angekommen, erschüttert eine Reihe von bestialischen Morden die ländliche Region. Unter den Opfern sind auch alte Bekannte Linas. Eigenmächtig schaltet sie sich in die Ermittlungen des Teams um Kriminalhauptkommissar Manfred Neuer ein. Damit macht sie sich Feinde bei der Polizei – und gerät selbst ins Visier des Killers …

Der erste Fall für Staatsanwältin Lina Saint-George: ein spannender Thriller von Doris Litz!

Über die Autorin

Doris Litz wusste schon als Kind, dass sie Bücher schreiben will. Zuerst arbeitete sie allerdings viele Jahre als Journalistin, heute als Pressesprecherin. Dabei lernte sie viel über das Leben und die Menschen. Dieses Wissen und die Frage nach der Motivation menschlichen Handelns bilden die Grundlage für ihre Thriller. Auch ihre Heimat, der Westerwald, fließt in die Romane ein. Doris Litz ist verheiratet und lebt in Neuwied am Rhein.

DORIS LITZ

BLUTZEIT

Das Böse wartet auf dich!

Thriller

beTHRILLED

Originalausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Die Autorin wird vertreten durch die Autoren- und Projektagentur Gerd F. Rumler (München).

Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Uwe Voehl

Lektorat/Projektmanagement: Lukas Weidenbach

Covergestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de unter Verwendung von Motiven © Shutterstock: Reinhold Leitner | isaravut | Oleksandr Kovalchuk

eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-9869-4

www.luebbe.de

www.lesejury.de

Dieses eBook enthält eine Leseprobe des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes »Die Patienten« von Nikolas Stoltz.

Prolog

Mit nachdenklich gerunzelter Stirn blickt er auf das Regenfass. Er ist zu klein, um über den Rand zu schauen, aber er weiß, dass es fast völlig mit Wasser gefüllt ist. Ohne sich zu rühren, horcht er auf das leise Platschen. Er hört ein klägliches Fiepen, das sich schnell zu schrillen Schreien steigert. Entschlossen schichtet er zwei Lagen Ziegelsteine übereinander und stellt sich darauf. Jetzt kann er den groben, braunen Sack sehen, der wild herumzappelt. Die untere Hälfte ist bereits unter Wasser. Im Innern des fest zugebundenen Beutels ist jetzt endgültig Panik ausgebrochen. Vermutlich versuchen die stärksten der winzigen Wesen verzweifelt, über der Wasseroberfläche zu bleiben. Dabei treten sie ihre Geschwister ohne Mitleid in den feuchten Abgrund. So wie sie sie zuvor von der Zitze ihrer Mutter verdrängt haben. Es sind immer die Stärksten, die sich durchsetzen. Die am längsten leiden, weil sie nicht aufhören, um ihr kleines Leben zu kämpfen.

Als er den Sack mit den fünf Winzlingen in die Tonne geworfen hat, hat Opa ihm erklärt, dass es nicht anders geht. »Die Biester vermehren sich einfach zu schnell. Da muss man die meisten aussortieren.« Aussortiert wird auf Opas Hof übers Regenfass. Besser als sie mit dem Spaten zu erschlagen, wie der Euteneuer Karl von nebenan es macht, meint Opa. Fragt sich, für wen das besser ist. Vermutlich nur für Opa selbst. Der Inhalt des Sacks, der jetzt fast völlig untergetaucht ist, würde das jedenfalls ziemlich sicher anders sehen.

Entschlossen greift er nach dem groben Stoff. Das Zappeln ist deutlich weniger geworden, und die Schreie haben völlig aufgehört. Vermutlich haben sie eingesehen, dass sie ihre Kraft sinnvoller einsetzen sollten. Beinahe wäre das Bündel zur anderen Fassseite abgedriftet und außer seiner Reichweite geraten. Im letzten Moment bekommt er einen Zipfel zu fassen. Entschlossen zieht er die mittlerweile klatschnasse Masse nach oben, hievt sie über den Rand der Tonne und klettert mit seiner Beute vom Podest.

Die Kordel ist fest verknotet, doch er hat sein Taschenmesser dabei, das Opa ihm zum sechsten Geburtstag geschenkt hat. Nachdem er die Schnur aufgesäbelt hat, breitet er das Bündel auf den Boden aus und betrachtet seinen Inhalt. Die beiden winzigsten Kätzchen, das schwarze und das getigerte, sind tot. Das rot-weiße atmet kaum mehr. Das bunte Katzenmädchen, mit dem seine Schwester so gern gespielt hat, lebt zwar, ist jedoch völlig panisch. Er muss es auf den Boden drücken, damit es nicht wegläuft. Wie er es sich gedacht hat, ist der dicke schwarz-weiße Kater am muntersten. Das freut ihn, denn den mochte er ohnehin immer am liebsten. Zwar ist der kleine Kerl genauso nass wie seine Geschwister, aber seine Schreie klingen eher nach Protest als nach Gejammer.

Entschlossen greift er nach dem wütenden Burschen und verstaut ihn unter seiner Jacke. Opa würde bestimmt nicht erlauben, dass er ihn mitnimmt. Mit einer Hand stopft er die restlichen Tiere wieder in dem Sack, dann klettert er erneut auf die Ziegelsteine. Kurz denkt er an seine Schwester und daran, wie traurig sie sein wird, wenn sie erfährt, dass ihre Spielgefährtin tot ist. Er wirft den offenen Sack mit einem zufriedenen Lächeln zurück ins Wasser und beobachtet, wie er in Sekundenschnelle untergeht. Das Bunte kämpft sekundenlang eine aussichtlose Schlacht und geht dann ebenfalls unter. Fasziniert schaut er ihm hinterher. Es ist einfach zu schnell vorbei.

Zärtlich greift er in seine Jacke und tätschelt den Schwarz-Weißen, der prompt anfängt zu schnurren. Der wird nicht so schnell schlappmachen wie seine Geschwister. Er wird bis zum Schluss kämpfen. Mit ihm wird er richtig lange spielen können. Und er wird genau beobachten, wie das Leben Stück für Stück aus dem winzigen Körper weicht. Diese kleine Katze wird ihn glücklich machen.

1

Als Lina Saint-George auf das neue Justizzentrum in Koblenz zusteuerte, kam sie sich vor wie in einem Traum. Die immer wieder von einzelnen Sonnenstrahlen durchbrochene Wolkendecke tauchte das moderne helle Gebäude, das sich in einem Innenhof versteckte, in ein blaugraues Licht und verstärkte das Gefühl des Unwirklichen. Bislang war sie sich so sicher gewesen. Nun kam ihr der Gedanke, dass dies von nun an ihr Arbeitsplatz sein sollte, absurd vor. Nach mehr als zwanzig Jahren in Köln kehrte sie in die Provinz zurück – und das aus eigenem Antrieb. Keiner hatte sie gedrängt, sich auf die Stelle der Leitenden Oberstaatsanwältin in Koblenz zu bewerben. Im Gegenteil: Die meisten ihrer Freunde und Kollegen hatten sie für verrückt erklärt. Schließlich war sie in Justizkreisen der Domstadt eine Legende. Ihre Karriere war genauso geradlinig und erfolgreich verlaufen wie zuvor ihr Jurastudium. Mit Anfang vierzig war sie die rechte Hand des Generalstaatsanwaltes gewesen. Dass sie ihm an die Spitze der Behörde folgen würde, wenn er in zwei Jahren in Rente ginge, bezweifelte niemand. Stattdessen hatte sie beschlossen, in das Zuhause ihrer Kindheit und Jugend zurückzukehren. Sie hatte ein kleines altes Haus in der Hachenburger Innenstadt gemietet und eine Stelle angenommen, die ihr niemals die Möglichkeiten bieten konnte, die sie in Köln gehabt hatte.

Die meisten Menschen, die sie kannten, gingen davon aus, dass irgendetwas Dramatisches zwischen ihr und ihrem Mann vorgefallen war und sie in Panik reagiert hatte. Dass sie einfach nur weg von ihm wollte. Das zumindest stimmte. Allerdings hatte Harald sich nicht das Geringste vorzuwerfen, jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinn. Er hatte sie weder geschlagen noch betrogen oder vernachlässigt. Im Gegenteil. Er betete sie an – auch wenn seine Liebe für ihren Geschmack zu besitzergreifend war. In den letzten Wochen war ein zunehmend bitterer Zug hinzugekommen. Das konnte sie ihm nicht verdenken. Wie sollte er auch verstehen, dass sie nach beinahe zwanzig Jahren festgestellt hatte, dass sie an seiner Seite nie sie selbst sein würde. Dass sie es leid war, sich in allem nach ihm zu richten. Und dass sie deshalb lieber alleine leben wollte. Sie verstand es ja selbst kaum. Sie hatten einander geliebt und sich ein gemeinsames Leben aufgebaut, um das die meisten Menschen sie beneideten. Dann war sie ausgestiegen. Ohne ihm eine Chance zu geben, wie er immer verzweifelter betonte. Sie hatte alles zurückgelassen – ihr Haus, ihren Job, ihre Freunde, ihr Leben. Statt beider trug sie nur noch ihren Mädchennamen. Nur ihre Katze durfte sie in eine Zukunft begleiten, die sich eher vage vor ihr ausbreitete.

Der Beamte im Foyer kontrollierte mit ernster Miene ihren Ausweis. Als ihm klar wurde, dass die neue Chefin der Staatsanwaltschaft vor ihm stand, breitete sich eine sanfte Röte über sein Gesicht aus. Lina grinste ihn an. »Ich hatte noch keine Zeit, meinen Dienstausweis abzuholen. Ich werde das sofort nachholen, großes Ehrenwort.«

Die Züge des Mannes entspannten sich. Offenbar hatte er keinen Ärger zu erwarten. »Die Personalabteilung ist im ersten Stock. Ich schicke sofort jemanden, der Sie nach oben bringt. Die Aufzüge und Türen funktionieren nur mit der Dienstkarte.« Er hob die Schultern leicht an und lächelte bedauernd. »Sicherheitsbestimmung. Ich wünsche Ihnen einen schönen ersten Arbeitstag.«

Die Staatsanwaltschaft war im zweiten Stock eines Seitenflügels untergebracht. Nachdem sie ihre Karte erst einmal hatte, nahm Lina die Treppe. Oben war man besser auf sie vorbereitet, vielleicht hatte der Wachmann an der Pforte sie angekündigt. Jedenfalls stürzte, kaum dass sie den schmalen Flur des Flügels betrat, eine junge Frau im typischen Behördenoutfit auf sie zu: weiße Bluse, schwarzer Blazer und ein schmal geschnittener schwarzer Rock, der die kräftigen Waden betonte. Das von hellen Strähnchen durchsetzte dunkelblonde Haar fiel ihr glatt bis auf den Rücken. Sie stellte sich als Melanie Weber vor und war allem Anschein nach ihre Sekretärin. Die junge Frau führte sie dienstbeflissen an einer verwirrenden Anzahl von Seitenfluren vorbei in ihr geräumiges, frisch gestrichenes Büro mit den leeren, schon etwas angestoßenen Regalen und kahlen Wänden.

»Ich habe einige Termine für Sie ausgemacht, damit sie die wichtigsten Leute kennenlernen. Ich hoffe, das war in Ihrem Sinne?« Tatsächlich schien Melanie Weber nicht den geringsten Zweifel zu haben, dass dem so wäre.

»Das ist freundlich von Ihnen, danke.« Lina schaute sich in dem fremden Raum um. Würde sie sich hier jemals heimisch fühlen? Auf jeden Fall musste es wesentlich gemütlicher werden. »Wann treffe ich den Leiter der Mordkommission? Ich möchte mich so schnell wie möglich mit den aktuellen Fällen vertraut machen.«

Melanie Weber blätterte betont ruhig in ihrer großen schwarzen Mappe und antwortete ohne aufzublicken. »Kriminaldirektorin Baldus steht für nächsten Donnerstag in Ihrem Kalender. Sie leitet die Kripo. Kriminalrat Sommerfeld, der Leiter des Kommissariats 11, steht derzeit nicht auf der Liste der Leute, die Sie schnellstmöglich kennenlernen müssen.« Sie machte eine kurze Pause, als wolle sie ihre Worte wirken lassen. »Heute Vormittag habe ich Ihnen freigehalten, damit sie sich ein wenig einrichten können. Am Nachmittag haben Sie einen Termin mit dem Generalstaatsanwalt. Anschließend sollen Sie an einem Meeting teilnehmen, dann können Sie die anderen Kolleginnen und Kollegen der Staatsanwaltschaft kennenlernen.« Melanie Weber streifte mit einem kurzen, vielsagenden Blick den beigen Kaschmirmantel, das bunt gemusterte Kleid und die hohen braunen Stiefel, die Lina für ihren ersten Arbeitstag ausgewählt hatte. Vermutlich entsprach ihr Outfit nicht ganz der Kleiderordnung offizieller Besprechungen. »Ich schlage übrigens vor, dass Sie einige Kleidungsstücke im Büro deponieren, um für jeden Anlass gewappnet zu sein. Gleich dort drüben sind ein kleines Bad und ein Raum, im dem Sie sich umziehen können. Beides steht zu Ihrer alleinigen Verfügung. Und falls Sie mal in Koblenz übernachten müssen, verbirgt sich hinter dem Schrank ein ausklappbares Bett.« Die junge Frau wies in die entsprechende Richtung, vermied es aber, Lina direkt anzuschauen. Stattdessen vertiefte sie sich wieder in den Terminkalender, den sie wie ein Schutzschild in den Händen hielt. »Morgen Vormittag erwartet der Oberbürgermeister Ihren Besuch, im Anschluss treffen Sie die Bürgermeisterin und die Beigeordneten der Stadt. Am Mittwoch sind sie in der Kreisverwaltung zu Gast …«

»Schon gut!«

Lina hob abwehrend die Hände. Verblüfft schaute Melanie Weber sie an. Ihre Haltung verriet deutlich ihre Unsicherheit.

»Sie haben das wirklich prima gemacht, Frau Weber. Aber ich kann mir jetzt ohnehin nicht alles merken. Sagen Sie mir bitte nur kurz, wie lange die Tournee dauern wird, damit ich mich darauf einstellen kann.«

Ein flüchtiges Lächeln huschte über das dezent geschminkte, etwas zu breite Gesicht ihrer Sekretärin. »Zwei Wochen, wenn alles gut geht. Anschließend sind Sie zu einem Juristentreffen in Berlin eingeladen.«

»Nun gut. Bitten sie Kriminalrat Sommerfeld für 10 Uhr zu mir.« Jetzt war es fast neun.

»Er soll alle relevanten Akten zu den Fällen mitbringen, die zurzeit anhängig sind. Außerdem brauche ich einen Überblick über alle ungelösten Tötungsdelikte – sagen wir mal, der letzten fünf Jahre. Und schicken Sie mir bitte eine Liste mit allen Terminen zu, die Sie vereinbart haben. Ich markiere dann diejenigen, die Sie absagen müssen.«

Melanie Weber runzelte die Stirn und schaute sie mit großen dunklen Augen an. Es dauerte einige Sekunden, bis sie ihre Stimme wiedergefunden hatte.

»Sie meinen, ich soll die Termine, die ich für Sie vereinbart habe, absagen? Das halte ich für keine gute Idee …«

Vermutlich glaubte sie an einen Aprilscherz.

»Keine Angst, ich werde diese Kaffeerunden alle im Laufe der nächsten Monate nachholen. Zuerst will ich mich mit meiner eigentlichen Arbeit vertraut machen.«

»Sie wollen Ihren Antrittsbesuch bei den wichtigsten Leuten in der Region für Monate verschieben?« Melanie Weber war sichtlich schockiert. Nach einigen Sekunden hatte sie sich gefangen, war jedoch merklich reservierter. »Wie soll ich die Absagen begründen?«

Lina ignorierte die Verstimmung und lächelte ihre Sekretärin verschwörerisch an. »Ihnen wird schon etwas einfallen. Zur Not sagen Sie einfach, dass ich etwas seltsam bin. Das werden sowieso bald alle denken.«

Melanie Weber widersprach nicht. Kurz bevor sie die Tür hinter sich schließen konnte, rief Lina sie zurück.

»Frau Weber.«

Die junge Frau blieb wie angewurzelt stehen und schaute ihre neue Chefin fragend an.

»Wenn Sie sich erst einmal an mich gewöhnt haben, werden wir hervorragend miteinander auskommen. Versprochen.«

Zum ersten Mal entspannten sich die Züge ihres Gegenübers völlig. Dann fiel die Tür leise hinter ihr ins Schloss.

2

Elisabeth Bungert schreckte hoch und wusste im ersten Augenblick nicht, wo sie sich befand. Dann stellte sich ihr Blick scharf, und sie nahm das kaum benutzte cremefarbene Sofa wahr, den haselnussbraunen Tisch auf dem bunt gemusterten Teppich und den viel zu lauten Fernseher, der nur zwei Armlängen von ihr entfernt stand. Sie selbst saß in dem riesigen Sessel, den ihre Tochter ihr geschenkt hatte und den sie erst gar nicht hatte haben wollen, weil er so viel Platz einnahm. Schließlich hatte die Bequemlichkeit gesiegt. Mittlerweile hielt sie sich häufiger in ihrem Sessel auf als an irgendeinem anderen Ort der kleinen Wohnung.

Früher hatte sie die Weitläufigkeit ihres Hauses und des riesigen Gartens am Ortsrand von Mudenbach geliebt. Selbst nachdem Alfred gestorben war, hatte sie sich nie verloren oder einsam gefühlt, obwohl die nächsten Nachbarn ein gutes Stück entfernt wohnten. Doch als Helene vor fünf Jahren vorgeschlagen hatte, dass sie und Wolfgang zu ihr ziehen könnten, hatte sie ihrer Tochter und ihrem Schwiegersohn den größten Teil des Hauses überlassen. Sie wusste, was es für die beiden bedeutet hatte, ins Dorf ihrer Kindheit zurückzukehren, um sich um eine alte Frau zu kümmern, die partout nicht in einem Altenheim sterben wollte. Sie hoffte inständig, dass sie ihnen am Ende nicht allzu sehr zur Last fallen würde. Vielleicht war Gott ja auch in dieser Hinsicht gnädig und ließ sie einfach nicht mehr wach werden, wenn ihre Zeit gekommen war. Manchmal konnte sie kaum erwarten, dass es so weit war.

Elisabeth griff nach der Fernbedienung, die wie immer auf der breiten Lehne ihres Sessels lag, und schaltete den Fernseher aus. Dann drückte sie auf den Knopf, der das Fußteil des Möbels nach unten und die Rückenlehne nach vorn surren ließ. Als sie aufrecht saß, hörte sie ein Geräusch, das aus dem Flur vor dem Wohnzimmer zu kommen schien. Sollten Helene und Wolfgang früher aus dem Urlaub zurückgekehrt sein? Nein, dann hätten sie angerufen. Sie warf einen schnellen Blick auf das Telefon, das auf der schmalen Anrichte thronte. Nichts blinkte, kein verpasster Anruf. Dann musste es wohl Brunhilde sein, ihre Nachbarin. Sie kümmerte sich um Elisabeth, wenn Helene und Wolfgang fort waren. Vielleicht hatte sie gesehen, dass noch Licht brannte und wollte nachschauen, ob alles in Ordnung war. Elisabeth spürte einen Anflug von Ärger. Brunhilde, die alle nur Hilde nannten, hatte einen Schlüssel, aber normalerweise klingelte sie. Ein wenig Privatsphäre hatte man schließlich auch mit 92 verdient. Nun ja, vielleicht hatte sie die Klingel nicht gehört.

Erstaunlich flink stand Elisabeth aus ihrem Sessel auf und ging zur Tür.

»Es ist alles in Ordnung, Hilde. Ich bin vor dem Fernseher eingeschlafen …«

Doch es war nicht ihre Nachbarin, die im Flur stand, sondern eine Gestalt, die aus einem ihrer seltenen Albträume entsprungen schien. Sie hätte nicht einmal sagen können, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte, denn die Person war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet. Lediglich die Augen und den breiten Mund konnte Elisabeth Bungert durch die Schlitze in der eng anliegenden Kapuze sehen.

»Was machen Sie hier? Wer sind Sie?«

Der Eindringling fixierte sie kalt, ohne zu antworten.

»Wollen Sie Geld? Ich habe nicht viel im Haus …«

»Ich will etwas viel Besseres.«

Die Stimme eines Mannes. Er drängte Elisabeth zurück ins Wohnzimmer und stieß sie in den Sessel. Dann ließ er eine große schwarze Tasche auf den Boden gleiten, die Elisabeth bis dahin gar nicht bemerkt hatte, und fixierte den Oberkörper der alten Frau mit mehreren Lagen dickem Klebeband, das er offenbar bereits in der Hand gehalten hatte. Elisabeth fühlte sich seltsam ruhig.

»Warum tun Sie das? Was ist mit Ihnen los?«

Ihre Stimme war fest. Sie war nie ein ängstlicher Mensch gewesen. Außerdem weigerte sich etwas in ihr hartnäckig, die Situation als real zu akzeptieren. So etwas kam nur in diesen schrecklichen Filmen vor, die sie sich niemals bis zu Ende anschaute.

»Du solltest dir lieber Gedanken darüber machen, was mit dir los ist, alte Frau. Das hier wird ganz und gar nicht schön für dich. Und es ist auch nicht schnell vorbei, fürchte ich.«

Elisabeth beugte sich vor, um aufzustehen, doch sie konnte sich nicht bewegen. Sie war dem unheimlichen Kerl ausgeliefert. Außerdem sickerten die Worte des Mannes langsam in ihr Bewusstsein. Panik stieg in ihr auf. Sie zerrte an ihren Fesseln, aber das breite klebrige Band gab nicht nach. Er hatte recht: Sie war eine schwache, alte Frau, die nicht mal um ihr Leben kämpfen konnte. Tränen rannen über Elisabeths Wangen. Die Augen des Mannes veränderten sich. Er triumphierte. Seine Lippen umspielte ein sanftes Lächeln. Elisabeth begriff, dass er ihre Angst genoss.

Völlig ruhig beugte der Mann sich über die Tasche und zog eine weiße Plane hervor, die er sorgfältig auseinanderfaltete. Nein, keine Plane, sondern eine Art Plastikanzug, den er über seine schwarze Kleidung anzog. Anschließend bedeckte er auch seine Schuhe mit blauen Plastiküberziehern und tauschte seine schwarzen Lederhandschuhe gegen helle aus Gummi aus. Elisabeth schaute ihm fasziniert zu. Warum schrie sie nicht um Hilfe? Weil sie sowieso niemand gehört hätte, das Haus war viel zu abgelegen, sagte der Teil ihres Verstandes, der nach wie vor klar und messerscharf arbeitete. So musste sich ein Kaninchen fühlen, das völlig erstarrt vor der Schlange saß, die es gleich fressen würde. Sie wollte kein Kaninchen sein.

»Warum tun Sie das?«, wiederholte sie ihre Frage mit zitternder Stimme. Irgendwie schien es ihr wichtig, zumindest den Grund für das zu verstehen, was mit ihr geschah und was sie augenscheinlich nicht verhindern konnte.

»Frag lieber, warum ich erst jetzt komme. Du lebst schon so viel länger, als du es verdient hast. Sitzt hier wie die Made im Speck, während Bessere als du schon lange fort sind. Wenn du so willst, schaffe ich lediglich einen gerechten Ausgleich. Für dich ist es höchste Zeit zu büßen.«

»Was meinen Sie damit: büßen? Was habe ich denn Schlimmes getan?«

Der Mann zögerte, beugte sich dann vor und kramte erneut in der Tasche, ohne ihr zu antworten. Als er sich aufrichtete, hatte er ein Messer in der Hand, dessen scharfe Klinge Elisabeth überdimensional groß erschien. Sie kannte diese Messer. Alfred hatte auch eins besessen, das er bei der Jagd benutzte. Sie hatte es immer gehasst, wenn er damit Tiere tötete und zerlegte. In ihr regte sich erneut Widerstand, und die Wut schwemmte einen Teil der Panik fort, die sich in ihr ausgebreitet hatte.

»Sie meinen also, auf der Welt ist kein Platz für mich? Das könnte ich auch über Sie sagen. Ich bin vielleicht alt, aber Sie sind böse und verkommen. Für Menschen wie Sie ist kein Platz in dieser Welt. Gott wird Sie richten.« Das hoffte sie zumindest.

Der Mann lachte verhalten. »Ja, vielleicht hast du recht. Irgendwann wird der alte Mann mich womöglich zur Rechenschaft ziehen. Aber jetzt bist erst mal du an der Reihe.«

Als das Messer durch die Haut an ihrem Unterarm glitt, nahm Elisabeth nur ein leichtes Brennen wahr. Sie konnte die rechte Hand nicht mehr bewegen. Etwas Schweres traf ihre Stirn. Die Zeit schien stillzustehen. Dann explodierte der Schmerz, raste durch ihren mageren Körper, erfasste jede Zelle. Ihr Herz flatterte wie ein junger Vogel, der aus dem Nest zu stürzen drohte. Der Arzt hatte ihr ausdrücklich geraten, sich nicht aufzuregen. Sie schloss die Augen, dachte an Alfred, der schon so lange auf sie wartete. Hatte sie geschrien? Sie öffnete die Augen und sah ihren Peiniger unmittelbar vor sich stehen. Er musterte sie neugierig, schien überrascht. Nein, sie hatte nicht geschrien. Sie hatte ihn enttäuscht. Entschlossen griff er nach einem anderen Werkzeug, das er ihr vors Gesicht hielt. Eine große Kneifzange.

»Weißt du, was ich damit machen werde, alte Frau? Ich knipse dir deine runzeligen alten Finger ab. Einen nach dem anderen.« Er suchte in ihren Augen nach einer Reaktion. Sie hatte keinen Zweifel, dass er seine Ankündigung in die Tat umsetzen würde. Ihr Herz schlug noch immer wild in der Brust. Doch all ihre Wut und die Panik waren verschwunden. Sie hatte verstanden, warum er ihr das antat: Er genoss es, sie leiden zu sehen. Ihr Schmerz war seine Glückseligkeit. Sie würde nicht mitspielen. Alfred hatte immer behauptet, sie sei die eigenwilligste Person, der er je begegnet war. Manchmal hatte sie sich darüber geärgert, doch sie hatte immer gewusst, dass es ein Kompliment sein sollte. Nun verstand sie ihn, und sie wusste, dass er stolz auf sie wäre. Vielleicht war sie alt und schwach, aber genau das eröffnete ihr einen Ausweg. Sie lächelte ihren Mörder an, schloss die Augen und sah den kleinen Vogel aus dem Nest fallen. Ihr Herz hörte auf zu schlagen.

3

Der Anruf kam um kurz nach halb sieben. Lina war gerade aus dem Bad gekommen und hatte sich mit einer Tasse Tee an die Theke gesetzt, die Küche und Esszimmer voneinander trennte.

»Ja?«

Es war ihr Diensthandy. Die streng vertrauliche Nummer kannten nur wenige Menschen, die allesamt mit ihrer Arbeit zu tun hatten.

»Hier ist Melanie Weber.« Die junge Frau klang unsicher. »Ich hoffe, ich störe Sie nicht. Es ist etwas geschehen, und weil Sie ja über alles sofort informiert werden wollen …«

»Schon gut, Frau Weber. Ich wollte ohnehin gleich losfahren. In einer knappen Stunde bin ich in Koblenz.«

»Deshalb rufe ich an. Es wurde ein Tötungsdelikt gemeldet. In Mudenbach. Ein Kollege vom K 11 ist bereits unterwegs. Falls Sie also lieber direkt dorthin fahren möchten …«

»Haben die Kollegen vom K 11 Sie informiert?«

Melanie Weber zögerte. »Nein, nicht direkt. Ich kenne jemanden im Kriminaldauerdienst. Der hat mir den Tipp gegeben.«

Lina spürte einen Anflug von Zorn. Was hatte Kriminalrat Sommerfeld nicht verstanden, als sie ihm am Vortag erklärt hatte, dass sie über jeden ungewöhnlichen Todesfall sofort informiert werden wollte? Sich einen potenziellen Tatort persönlich anzuschauen, gehörte zu ihren Prinzipien. So hatte sie es schon in Köln gehalten. Dann fiel ihr ein, wie lange es in der Domstadt gedauert hatte, bis die Kripokollegen sich an diese Art staatsanwaltlicher Präsenz gewöhnt hatten. Ohne Harald wäre es zweifellos noch schwieriger gewesen. Und hier gab es keinen Harald. Vielleicht sollte sie also geduldiger sein.

»Das ist sehr umsichtig von Ihnen, Frau Weber. Ich werde direkt nach Mudenbach fahren. Können Sie mir die Adresse schicken?«

»Ist schon unterwegs.«

»Das haben Sie gut gemacht, Frau Weber.«

»Danke.« Melanie Weber hatte offenkundig etwas auf dem Herzen.

»Was gibt es sonst noch?«

Ihre Sekretärin zögerte. »Ich denke, die Kollegen werden nicht begeistert sein, wenn die Oberstaatsanwältin am Tatort auftaucht. Das ist bei uns eigentlich nicht üblich …«

»Natürlich sind sie nicht begeistert.« Lina musste schmunzeln. »Aber wissen Sie was, Frau Weber? Die werden sich daran gewöhnen.«

*

Das Haus lag fast schon außerhalb von Mudenbach am Ende einer kleinen asphaltierten Straße, die jenseits der imposanten Auffahrt zur riesigen Garage in einen unbefestigten Feldweg überging. Beeindruckend war auch alles andere an dem Anwesen: das riesige, eineinhalbgeschossige Haus, der parkähnlich angelegte Garten, dessen hinteres Ende Lina nur ahnen konnte, und die schmiedeeiserne Zaunanlage, die die Front des Grundstücks prägte, jedoch eher Schmuck als Schutz zu sein schien. Das Baujahr des Gebäudes schätzte Lina auf Anfang der 1970er-Jahre. Augenscheinlich war das Haus stetig renoviert worden und machte wie alles andere auch einen mehr als gepflegten Eindruck. Zurzeit wurde der exklusive Anblick allerdings durch eine Vielzahl von Einsatzfahrzeugen und das typische rot-weiße Absperrband beeinträchtigt, das jeden Tatort prägte.

Ihren Dienstausweis hatte sie bereits an der Straßensperre vorzeigen müssen, die kurz hinter dem letzten Nachbargrundstück eingerichtet worden war. Zumindest war es relativ einfach, Journalisten und Schaulustige fernzuhalten. Die Tatsache, dass das nächste Gebäude rund 300 Meter entfernt war, ließ allerdings die Hoffnung schwinden, dass irgendjemandem etwas Ungewöhnliches aufgefallen sein könnte.

Sie fuhr durch eine schmale Lücke zwischen zwei Streifenwagen und parkte ihren dunkelgrünen Mini-Clubman unmittelbar vor der Garage. Sie war gerade ausgestiegen, als ein weiterer Wagen neben ihr zum Stehen kam. Der BMW war deutlich breiter als ihr Auto, weshalb Lina sich wunderte, dass der Fahrer es überhaupt an den Einsatzfahrzeugen vorbeigeschafft hatte. Der Fahrer entpuppte sich als eine überaus attraktive Frau in ihrem Alter, die sie beinahe um Haupteslänge überragte. Das lange blonde Haar fiel der Riesin in großzügigen Wellen bis auf die Hüfte, die dunkelblauen, geschickt geschminkten Augen waren von reizvollen kleinen Fältchen eingerahmt, die sich verstärkten, als die Frau sie anlächelte.

»Oberstaatsanwältin Saint-George, nehme ich an.« Es hörte sich nicht an wie eine Frage.

Linas Augenbrauen hoben sich zur Andeutung eines Schmunzelns, während sie die sympathische Fremde erwartungsvoll anschaute. Die kam lachend auf sie zu und reichte ihr die Hand.

»Klara Kochhäuser, ich bin die Rechtsmedizinerin. Und ich habe Sie gegoogelt. Immerhin werden wir künftig recht häufig miteinander zu tun haben. Vor allem, da Sie eine Vorliebe für Tatortbegehungen zu haben scheinen.«

»Und da wollten Sie gern wissen, was auf Sie zukommt.« Lina lachte nun ebenfalls. »Ich hoffe, Sie sind nicht allzu schockiert.«

»Keineswegs«, beteuerte die Rechtsmedizinerin, während sie sich Richtung Hauseingang bewegten. »Ich war sogar richtig neugierig auf Sie und freue mich, dass wir uns so schnell kennenlernen.« Sie hielt inne und sah einen Moment erschrocken aus. »Oh Gott, das meine ich natürlich nicht so, wie es sich vielleicht anhört. Ein Verbrechen ist immer eine Tragödie, und ich hasse den Zynismus, den viele meiner Kollegen sich zulegen, um das alles ertragen zu können.«

»Machen Sie sich keine Sorgen. Ich weiß, was Sie meinen. Und ich denke, wir werden gut miteinander auskommen.«

Klara Kochhäuser lächelte nun wieder. »Ja, das denke ich auch.« Dann beugte sie sich verschwörerisch zu Lina hinüber. »Das wird auch nötig sein. Der Rest des Teams ist nämlich mitunter ein wenig sperrig.«

Ihr Blick wanderte zur Seite, von wo ein Mann auf sie zustürmte, der auf Lina den starken Eindruck machte, als sei er, zumindest was seine bevorzugte Kleidung betraf, in den 80er-Jahren steckengeblieben. Wenn sie sich nicht täuschte, trug er eine verwaschene Levis 501 zum angegrauten weißen Baumwollhemd, eine abgewetzte braune Lederjacke und – tatsächlich – Cowboystiefel. Mit den markanten wettergegerbten Zügen und dem graumelierten schulterlangen Haar, das er streng zurückgekämmt hatte, hätte er sie vor 30 Jahren möglicherweise beeindrucken können. Um das Klischee abzurunden, umwehte ihn eine starke Tabakfahne, die selbst an der frischen Luft bereits auf mehrere Meter Entfernung zu riechen war. Auf jeden Fall bildete seine Erscheinung einen interessanten Kontrast zum extravaganten glänzenden Gehrock, den engen Jeans und den kniehohen Lederstiefeln der Rechtsmedizinerin.

»Kriminalhauptkommissar Manfred Neuer. Freunde dürfen ihn Manni nennen. Also so gut wie niemand. Er ist ein Kotzbrocken, aber nicht ganz so schlimm, wie es zunächst scheint«, raunte Klara Kochhäuser ihr zu. »Außerdem sind Sie ja der Boss.«

Lina bezweifelte, dass Neuer das genauso sah. Darauf ließ jedenfalls die kaum verhüllte Wut schließen, die sich auf seinem Gesicht abzeichnete, als er die beiden Frauen an der Haustür abfing und sich ihnen demonstrativ in den Weg stellte.

»Was soll das? Das hier ist ein Tatort, kein Jahrmarkt, auf dem jeder mal vorbeischauen kann.«

Klara Kochhäuser schaute ihn mit gespielter Ehrfurcht an, legte die gespreizten Finger auf ihr Dekolleté und klimperte gekonnt mit den schön geschwungenen, dichten Wimpern. »Also wirklich, Kommissar Neuer, ich bin doch die Rechtsmedizinerin. Das ist sozusagen mein Tatort.«

Neuer kniff die Augen leicht zusammen und strafte sie mit einem verächtlichen Blick, bevor er sich Lina zuwandte. »Sie haben da drin jedenfalls nichts zu suchen.«

Lina musterte den aufgebrachten Mann neugierig. Sie hatte keinen Zweifel, dass er genau wusste, wer sie war, und das nötigte ihr einen gewissen Respekt ab. Mumm hatte er jedenfalls. Auch wenn er sich alle Mühe gab, ein Arschloch zu sein. Ohne seinen Blick loszulassen streckte Sie ihm die Hand entgegen.

»Ich bin Lina Saint-George, die neue Leiterin der Staatsanwaltschaft«, fügte sie mit einem Lächeln hinzu. »Wir haben uns noch nicht kennengelernt.«

In Neuers Zügen lief ein ganzer Film ab. Seine Kiefermuskeln zuckten verdächtig, als er schließlich Linas Hand ergriff und eine Spur zu fest drückte. »Ich weiß, wer Sie sind. Am Tatort haben Sie trotzdem nichts zu suchen.«

»Meint wer?« Lina lächelte ihn weiterhin freundlich an.

»Das meine ich. Und wie es aussieht, leite ich die Ermittlungen. Also fahren Sie am besten nach Koblenz und warten in Ihrem Büro auf meinen Bericht.«

»Seien Sie nicht albern, KHK Neuer. Wir wissen beide, dass ich diese Ermittlungen leite. Also: Was können Sie mir zu der Sache sagen, bevor wir hineingehen und uns den Tatort anschauen?«

Neuer schwankte, war aber nicht bereit, so leicht aufzugeben. »Es ist nicht üblich …«

»Ja, das weiß ich. Bislang war es nicht üblich, dass die Leitende Oberstaatsanwältin einen Tatort persönlich in Augenschein nimmt. Das ist ab sofort anders. Ich bin hier, und ich werde dort hineingehen. Und bei allen anderen verdächtigen Todesfällen, die in meine Zuständigkeit fallen, werden wir es ab jetzt genauso machen. Sie werden sich daran gewöhnen.«

Neuer schien das zu bezweifeln, gab ihr jedoch zähneknirschend den Weg frei. »Das ist kein schöner Anblick.«

Lina hörte den Anflug von Schadenfreude aus seinen gebrummten Worten. Während sie sich mit den vorgeschriebenen Schutzanzügen vermummten, gab Neuer ihnen die gewünschten Informationen.

»Das Opfer heißt Elisabeth Bungert, 92 Jahre alt. Die alte Dame lebt seit über 50 Jahren in diesem Haus. Ihr Mann ist vor achtzehn Jahren gestorben, vor etwa fünf Jahren sind ihre Tochter und ihr Schwiegersohn zu ihr gezogen. Die beiden sind vorgestern für drei Wochen in ihr Ferienhaus nach Gran Canaria geflogen. Wir haben sie bereits benachrichtigt. Sie besorgen sich so schnell wie möglich einen Rückflug. Obwohl sie für ihr Alter offenbar ziemlich fit war, schaute während der Abwesenheit ihrer Tochter regelmäßig eine Nachbarin nach Frau Bungert. Brunhilde Gebhardt, wohnt gleich im ersten Haus auf der linken Seite, wenn man in den Ort zurückfährt. Sie hat die Leiche heute Morgen gegen halb sechs gefunden.«

»Warum so früh?«, wollte Lina wissen.

»Frau Gebhardt fährt morgens um sechs zur Arbeit. Vorher schaut sie bei Elisabeth Bungert rein und bereitet ihr das Frühstück vor. Als sie heute Morgen ankam, standen Eingangs- und Wohnungstür weit offen, das Licht brannte. Sie wusste gleich, dass etwas nicht stimmte. Der Anblick des Opfers hat sie trotzdem so schockiert, dass wir sie ins Krankenhaus bringen mussten. Ein Wunder, dass sie es geschafft hat, den Notruf zu wählen.«

Inzwischen waren sie vorschriftsmäßig vermummt. Während Klara Kochhäuser das Haus betrat, wollte Lina mehr Informationen.

»Frau Bungert scheint recht wohlhabend gewesen zu sein. Könnte es ein Einbruch gewesen sein, der aus dem Ruder gelaufen ist?«

»Sieht nicht so aus«, brummte Neuer. »Weder in der Wohnung der alten Dame noch oben ist irgendetwas durchsucht worden. Um das genau zu wissen, müssen wir allerdings auf die Rückkehr der Tochter warten.«

»Natürlich.« Lina überlegte. »Woher stammt das Geld?«

Neuer musterte sie aufmerksam, hinter der Schutzmaske blieben seine Züge jedoch weitgehend verborgen. Als er sprach, klang seine Stimme routiniert und gelassen. Vielleicht hatte er sich mit ihrer Gegenwart abgefunden.

»Der Familie ihres Mannes gehörten früher jede Menge Felder rund ums Dorf. Bis in die 1970er-Jahre waren Bungerts die größten Bauern in Mudenbach. Alfred hat abgewartet, bis die Felder zu Bauland wurden und dann die meisten der Grundstücke für sehr viel Geld verkauft. Er hat den Bauernhof abgerissen und sich den Palast hier gebaut. Zum Spaß hat er angefangen, Pferde zu züchten. Auch dabei war er überraschend erfolgreich. Hat sich in der Szene einen richtig guten Namen gemacht. Am Ende des Parks stehen noch die alten Stallungen. Eine Reitlehrerin aus Wahlrod hat sie und die dazugehörige kleine Reitanlage gepachtet.«

»Nicht auszuschließen, dass nicht jeder der Familie den Erfolg gegönnt hat. Wie ist Alfred Bungert ums Leben gekommen?«

Neuer, der nur wenig größer war als Lina, schaute auf sie hinab. In seinen Augen las sie nun eindeutig Spott. »Schlaganfall während eines Urlaubs in Italien. Kein Hinweis auf Fremdeinwirken. Und kein erkennbarer zeitlicher Zusammenhang – weder zum Verkauf seines Landes noch zum Tod seiner Frau. Natürlich werden wir das genau prüfen.« Er machte eine kurze Pause. »Vielleicht sollten Sie sich die Sache erst mal ansehen, bevor Sie sich Ihren Kopf über völlig unwichtige Dinge zerbrechen.«

»Ja, Sie haben recht. Lassen Sie uns reingehen.«

Es war bei Weitem nicht der erste Tatort, den Lina Saint-George besichtigte. Aber als sie die mit breitem, schwarzem Klebeband an ihren großen Sessel fixierte, zerfetzte Gestalt Elisabeth Bungerts sah, zog sich ihr Inneres schmerzhaft zusammen. Trotz der unzähligen Schnitte, die Arme und Beine verunstalteten, der klaffenden Wunden auf der Stirn und am Hals, den zertrümmerten Kniescheiben und den abgeschnittenen Fingern wirkte die alte Dame zart und zerbrechlich. Würdevoll trotz all der Zerstörung. Welcher Mensch war in der Lage, einer hilflosen alten Frau so etwas anzutun?

Sie schaute zu Neuer hinüber, der sie neugierig musterte. Vermutlich hatte er auf eine Ohnmacht gehofft. Doch sie hatte schon zu viele Auswüchse von Brutalität gesehen, um sich derart aus der Fassung bringen zu lassen. Einer Sache war sie sich jedoch sicher: »Wer immer das hier getan hat, hat nicht zum ersten Mal gemordet. Und wenn wir ihn nicht schnell stoppen, auch nicht zum letzten Mal.«

4

»Was hältst du von der neuen Leiterin der Staatsanwaltschaft?«

Kriminalhauptkommissar Manfred Neuer hätte auf die Frage am liebsten überhaupt nicht geantwortet. Was sollte er schon von Lina Saint-George halten? Sie war arrogant, ehrgeizig, sah gut aus. Sie mischte sich ein. Sie war genau die Sorte Karrierefrau, die er auf den Tod nicht ausstehen konnte. Er wünschte sie zum Mond. Allerdings hielt er von Kriminalrat Markus Sommerfeld noch viel weniger. Er war ein aalglatter Arschkriecher und ein hinterhältiger Wendehals. Außerdem leitete er die Mordkommission, was ihn zu Neuers unmittelbarem Vorgesetzten machte. Seine Frage einfach zu übergehen, war also keine Option. Allerdings hatte Neuer auch keine Lust, sich mit jemandem zu verbünden, den er so sehr verachtete wie Sommerfeld. Nicht umsonst lautete seine Devise: Der Feind meines Feindes ist noch längst nicht mein Freund.

»Du meinst Lina Sehnschorsch?« Er hatte den Namen bewusst in der Westerwälder Variante ausgesprochen. »Alter Hachenburger Adel.«

Sommerfeld sah ihn irritiert an. Offenbar glaubte er, dem müsse etwas hinzugefügt werden. Allerdings blieb Neuer stumm. Für ihn als Altenkirchener war damit alles gesagt. Dass Sommerfelds Familie vor dreißig Jahren aus dem Ruhrpott nach Bad Ems zugezogen war und er demzufolge nicht die geringste Ahnung von lokalen Revierstreitigkeiten hatte, war nicht Neuers Problem.

Als er sicher war, dass Neuer sich nicht weiter zu dem Thema äußern würde, schüttelte Sommerfeld unwillig den Kopf. »Jedenfalls mischt sie sich auf eine Weise in unsere Arbeit ein, die wir nicht hinnehmen können. Als Staatsanwältin hat sie am Tatort nichts zu suchen.«

Neuer griff nach der Zigarettenschachtel, die er demonstrativ vor sich auf den Tisch gelegt hatte, und zog einen der Glimmstängel heraus. Statt sie anzuzünden, drehte er die zunehmend schrumpelige Zigarette langsam zwischen den Fingern der linken Hand. Natürlich war Rauchen im Präsidium streng verboten. Aber Sommerfeld sollte wissen, dass die Unterredung ihn langweilte.

»Ich nehme an, du stimmst mir zu, Manfred? Immerhin pfuscht die Frau in erster Linie in deiner Arbeit herum. Du leitest die Ermittlungen in diesem Fall.« Sommerfeld war sichtlich genervt.

»Genau genommen kann sie als Leitende Oberstaatsanwältin natürlich rumlaufen, wo sie will. Und ein paar gute Ideen hat sie auch gehabt.« Neuer konnte selbst kaum glauben, dass er das gesagt hatte. Tatsächlich war die Sehnschorsch ihm gewaltig auf den Kittel gegangen. Und dass sie mit ihrer Einschätzung vermutlich recht hatte, dass der Mörder von Elisabeth Bungert nicht zum ersten Mal getötet hatte, machte sie in seinen Augen nicht gerade sympathischer. Der Blick, den Sommerfeld ihm zuwarf, war jede Heuchelei wert. Außerdem bestand kein Risiko, dass Lina Saint-George jemals erfahren würde, dass er ihr zur Seite gesprungen war. Sommerfeld würde es ihr jedenfalls nicht sagen, und er auch nicht.

5

Den Rest des Tages verbrachte Lina mit dem Aktenstudium. Melanie Weber hatte sie zwar entsetzt angeschaut, als sie gegen Mittag ins Büro stürmte und sie bat, alle Termine für den Tag abzusagen, sich dann jedoch jeden Kommentar verkniffen. Stattdessen lagen die zusätzlichen Unterlagen, um die sie gebeten hatte, eine Stunde später, zeitlich sortiert, auf ihrem Schreibtisch. Wie sie an den gelegentlichen Tumulten vor ihrer Bürotür bemerkte, nahm ihre Sekretärin außerdem die Anweisung, sie keinesfalls zu stören, überaus ernst.

Gegen sechs Uhr am Nachmittag hatte sie sich schließlich ein klares Bild verschafft und machte sich auf den Heimweg. Unterwegs setzte sie Melanie Weber in Vallendar ab, obwohl diese zunächst darauf bestanden hatte, wie immer den Bus zu nehmen.

»Kommt überhaupt nicht infrage«, beendete Lina schließlich die Diskussion. »Sie sind meinetwegen länger geblieben, und außerdem liegt Vallendar ohnehin auf meinem Weg.«

Als sie schließlich gegen sieben zu Hause ankam, setzte sie sich auf die schmale Bank vor ihrer Haustür und genoss die letzten Sonnenstrahlen des mäßig milden Frühlingstages. Wobei mild in Bezug aufs Wetter im Westerwald ohnehin ein relativer Begriff war.

Sie war wieder zu Hause. Selbst das Haus, in dem sie erst seit wenigen Tagen lebte, fühlte sich vertraut an. Vielleicht lag das daran, dass der Schuster, der hier einst seine Werkstatt hatte, immer ihre Puppen geflickt hatte. Sie blickte auf die dunkelrot lackierte, mit einem hochmodernen Sicherheitsschloss versehene alte Haustür und genoss das warme Gefühl, das sie durchflutete. Genau wie der Eingang war auch der Rest des uralten Fachwerkhauses liebevoll saniert worden. Neben der traumhaften Lage im historischen Kern der mittelalterlichen Stadt war das ein wesentlicher Grund für Lina gewesen, das Gebäude zu mieten. Oder besser die eine Hälfte, denn auch wenn das von außen kaum auffiel, bestand es aus zwei Teilen, von denen Lina den einen bewohnte. Die andere Hausseite, deren Haupteingang in einer jener winzigen Gassen lag, die typisch für das Westerwaldstädtchen waren, war bislang nicht vollständig renoviert und stand deshalb leer. Irgendwann würde sie allerdings Nachbarn haben, die gleich auf der anderen Seite der Fachwerkwände lebten. Sie konnte nur hoffen, dass die zukünftigen Bewohner weder laut noch empfindlich waren.

Ihre Bedenken, dass sie sich auf ihren knapp hundert Quadratmetern, die sich auf vier Stockwerke verteilten, beengt fühlen könnte, hatten sich schnell zerschlagen. Auch wenn ihre Mutter kein gutes Haar am neuen Zuhause ihrer Tochter gelassen hatte, war Lina dem Charme der vielen kleinen Sprossenfenster und steilen Treppen sofort verfallen. Vor allem den alten Steinfliesenboden gleich hinter der Eingangstür hatte sie vom ersten Moment an geliebt.

Kurz bevor sie völlig durchfroren war, ging Lina ins Haus, wo sie bereits ungeduldig von der ein wenig zu molligen dreifarbigen Minou erwartet wurde, die ihr aufgeregt um die Beine strich. Sie würde sich ein wenig Zeit für die Katze nehmen, danach stand die nächste Stufe der offiziellen Heimkehr auf ihrem Programm: der Schlosskeller, ihre alte Stammkneipe.

*

Die Kneipe im Bruchsteingewölbe des ältesten Hauses der Stadt sah genauso aus wie vor zwanzig Jahren. Es hingen sogar mehr oder weniger die gleichen Leute an der Theke herum. Die meisten ihrer früheren Freunde hatten keine Ahnung gehabt, dass Lina zurückgekehrt war. Wie üblich sprach sich die Nachricht wie ein Lauffeuer herum, und mit der Zeit trudelten immer mehr Menschen ein, die Lina aus ihrer Jugend kannte.

Ein wenig deprimierend war die Begegnung mit Evi Sailer. Die etwas pummelige, aber noch immer hübsche Frau mit den traurigen braunen Augen war Linas älteste Freundin. Sie hatten einander im wahren Wortsinn bereits im Kinderwagen gekannt, denn Saint-Georges und Sailers lebten im Bachweg, unmittelbar hinter der historischen Stadtmauer, die zwar auch damals schon längst verschwunden war, deren Verlauf jedoch vom Johann-August- und vom Alexanderring nachgezeichnet wurde. Lina hatte den Bachweg geliebt, dessen Bewohner eine eingeschworene Gemeinschaft bildeten. Sie hatte es immer als Privileg empfunden dazuzugehören und war todunglücklich gewesen, als ihre Mutter darauf bestanden hatte, im neuen Wohngebiet am Rothenberg, weit außerhalb der »Stadt«, zu bauen. Die Tatsache, dass zur Erschließung dieses Gebietes große Teile des städtischen Forstes abgeholzt werden mussten, den Lina schon in frühester Kindheit mit ihrem Großvater erkundet hatte, machte die Sache nicht besser. Da sie nur kurze Zeit nach dem Umzug aufs Gymnasium nach Dierdorf wechselte, Evi dagegen die Hachenburger Mittelschule besuchte, hatte die Freundschaft zwischen den Mädchen erste Risse bekommen. Der Kontakt war schließlich ganz abgerissen, als Lina ihr Studium in Köln begann und immer seltener nach Hause kam.

»Du hast mir so unglaublich gefehlt«, erklärte Evi ihr nach dem fünften Bier mit Tränen in den Augen.

»Es tut mir leid, Evi. Nachdem mein Vater gestorben war, war ich nur sehr selten in Hachenburg.«

»Nein, das meine ich nicht.« Evi lag nun beinahe auf dem kleinen Tisch und war mit ihren verheulten Augen und der verwischten Mascara ein Bild des Jammers. »Als ihr vom Bachweg weggezogen seid. Das war, als wärst du auf den Mond ausgewandert. Oder sogar in ein anderes Sonnensystem.«

»Das ist Unsinn, Evi. Du musstest nur den Berg runterlaufen, und schon warst du bei uns.«

»Ja, schon. Aber euer neues Haus war so anders. So herrschaftlich. Ich kam mir darin immer wie ein Mensch zweiter Klasse vor. Und deine Mutter hat das auch so gesehen.«

Dagegen fiel Lina nichts ein. Annerose Saint-George hatte es nie gefallen, dass ihre Tochter mit den gewöhnlichen Menschen im Bachweg aufwuchs. Denn gewöhnlich zu sein war für sie definitiv ein Charakterfehler.

»Du weißt, wie meine Mutter ist, Evi. Papa und ich haben dich niemals so gesehen. Dich nicht und auch die anderen Nachbarn vom Bachweg nicht. Wir haben immer noch dazugehört.«

Tatsächlich war Lina sicher, dass ihr Vater genauso unter dem Verlust der vertrauten Gemeinschaft gelitten hatte wie sie selbst. Denn dazugehört hatten sie irgendwann nicht mehr, auch wenn sich alle Mühe gaben, sie das nicht spüren zu lassen. Vielleicht hatten die einfachen Menschen in dieser besonderen Straße ihren Umzug ins neue Promiviertel als Verrat empfunden. Lina konnte ihnen das nicht verdenken, denn es traf ihre eigenen Gefühle ziemlich genau. Dennoch merkte sie, dass das Gespräch mit Evi sie ermüdete. Die schöne Stimmung des Abends drohte in etwas Deprimierendes umzuschlagen.

Lina war deshalb froh, als eine kleine, schlanke Blondine an ihrem Tisch aufkreuzte. Allerdings musste sie zweimal hinschauen, bevor ihr dämmerte, wer da mit strengen blau-grünen Augen auf sie herabschaute. »Gunda, meine Güte. Wo ist deine Mähne geblieben?«

»Na, das könnte ich dich auch fragen, oder? Obwohl deine Locken ja noch wilder sind als früher, auch wenn sie nicht mehr bis in die Kniekehlen reichen.«

Die zierliche Frau fuhr sich mit einer Hand durch die blonde Kurzhaarfrisur, während ein Lächeln ihre Züge deutlich weicher werden ließ. Ohne zu fragen, nahm sie auf dem freien Stuhl Platz und musterte Lina aufmerksam.

»Du bist also zurück. Wann wolltest du uns das mitteilen?« Die Kritik war unüberhörbar.

»Ich bin hier, oder?«

Wieder lächelte Gunda. »Ja, du hast recht. Das ist die effektivste Form, um Nachrichten zu verbreiten. Geh einfach kurz in den Schlosskeller. Wie lange bleibst du?«

»Ich habe mich von meinem Mann getrennt und einen Job in Koblenz angenommen. Ich bin also wirklich zurück.«

Gunda schaute sie sekundenlang nachdenklich an. »Ist es schlimm? Die Trennung, meine ich.«

»Ja, es ist schlimm. Harald und ich waren fast zwanzig Jahre zusammen. Da ist eine Trennung ein gewaltiger Schritt. Aber es ist für ihn schmerzhafter als für mich, falls du das meinst.«

»Also hast du ihn verlassen. Hatte er eine Affäre? Oder hat er dich geschlagen?«

Lina musste lächeln. Gunda Kohlhaas war schon immer unverblümt gewesen.

»Du hast dich nicht verändert, weißt du das? Wenn du etwas wissen willst, fragst du nach – egal wie persönlich die Dinge sind, in denen du herumstocherst.«

Gunda zog die Augenbrauen in die Höhe, eine Angewohnheit, die Lina ebenfalls erschreckend vertraut war. »Du willst nicht darüber reden? Ich dachte, wir sind Freundinnen.«

»Nein, so habe ich es nicht gemeint. Ich muss mich nur erst wieder an dich gewöhnen.« Sie grinste Gunda an. »Es ist kein Geheimnis, und besonders nicht vor euch beiden.«

Lina griff nach Evis Hand und drückte sie sanft, was ihrer Freundin gleich wieder die Tränen in die Augen trieb. Gunda schaute sichtlich genervt zu Evi hinüber. Die beiden hatten nie viel miteinander anfangen können.

»Ich habe mich von Harald getrennt, weil ich allein leben will. Er hat sich nichts zuschulden kommen lassen. Gar nichts. Er ist ein toller Mann. Er hat mich einfach eingeengt.«

»Bist du deshalb wieder hier, weil du vor ihm wegläufst?«

Lina schaute Gunda nachdenklich an. »So habe ich es nie gesehen. Vielleicht liegst du gar nicht so falsch. Jedenfalls war mir klar, dass ich nicht einfach in Köln bleiben und mein Leben weiterleben kann, wenn ich ihn nicht mehr haben will. Das wäre zu kompliziert und würde vermutlich auch gar nicht funktionieren. Wir stehen beide ziemlich in der Öffentlichkeit …« Sie zögerte einen Moment. »Wir standen in der Öffentlichkeit.«

»Der Kripochef und die stellvertretende Generalstaatsanwältin.« Evi klang, als würde sie über eine rührselige Schmonzette sprechen, die sie im Fernsehen gesehen oder kürzlich gelesen hatte. Linas verwirrten Blick ignorierte sie.

»Sie hat dich gegoogelt. Du bist ihr Idol, das musst du doch wissen. Übrigens weiß jeder hier, was du in den letzten zwanzig Jahren gemacht hast. Selbst wir Westerwälder wissen die Segnungen des Internetzeitalters zu nutzen. Und was sollte uns mehr interessieren, als die Abenteuer, die eine von uns in der weiten Welt erlebt?«

Spöttisch prostete sie Lina zu und leerte ihr halb volles Bierglas in einem Zug. An einem anderen Ort hätte Lina das bei einer so eleganten Erscheinung wie ihrer Freundin für einen Widerspruch gehalten. Aber im Westerwald waren die Frauen seit jeher stolz darauf, keine verweichlichten Püppchen zu sein. Evi war die berühmte Ausnahme von dieser Regel.

Ohne dass Lina es bewusst wahrgenommen hatte, war ein Mann hinter Gunda getreten und legte ihr nun eine Hand auf die Schulter.

»Ich will dich ja nicht stören, Schatz, aber ich fürchte, wir müssen aufbrechen. Wir haben den Babysitter nur bis zehn gebucht«, wandte er sich an Lina. »Wenn wir gewusst hätten, dass es heute Abend etwas zu feiern gibt …«

Gunda griff nach seiner Hand und drückte sie sanft. »Schon gut, Stefan. Ich habe Lina ohnehin lange genug mit Beschlag belegt. Die halbe Kneipe wartet darauf, dass mein Platz endlich frei wird.«

Als sei das ihr Stichwort, erhob Evi sich und verschwand mit einer gemurmelten Entschuldigung in der Menge, bevor Lina sie zurückhalten konnte. Gunda ignorierte den überstürzten Aufbruch, an dem sie nicht ganz unschuldig war.

»Kannst du dich an Stefan Greis erinnern? Er hat mit mir zusammen in der Bank gearbeitet.«

Gunda hatte nach dem Abi eine Lehre bei der Westerwaldsparkasse begonnen. Lina war kurze Zeit später nach Köln gegangen, um zu studieren. An den jungen Mann, der immer häufiger mit Gunda rumgezogen war, konnte sie sich dunkel erinnern. Allerdings hätte sie niemals gedacht, dass ihre Freundin sich für ihn interessieren könnte. Er sah zwar nicht schlecht aus, war aber ihres Wissens ein paar Jahre jünger als sie beide und ihr immer ein wenig zu langweilig für die exaltierte Gunda Kohlhaas erschienen.

Als hätte er ihre Gedanken erraten, grinste Stefan zu ihr herab, was ihn sofort deutlich entspannter und sympathischer aussehen ließ. »Sie hat mich ziemlich lange zappeln lassen, bevor sie sich meiner erbarmte. Schließlich hat sie mich erhört, und wir haben geheiratet. Jetzt wohnen wir in Kroppach.«

Lina sah offenbar ziemlich verwirrt aus, denn Gunda fühlte sich gemüßigt, eine Erklärung hinzuzufügen. »Ich weiß, was du jetzt denkst. Ich wollte nie aus Hachenburg weg. Aber Stefan leitet die Sparkasse in Altenkirchen, und da war Kroppach ein guter Kompromiss. Außerdem haben wir ein wundervolles Haus mit einem riesigen Grundstück am Ortsrand. Das wäre in Hachenburg kaum bezahlbar. Du musst uns bei Gelegenheit mal besuchen kommen. Apropos: Wo wohnst du jetzt eigentlich?«

Lina lächelte angesichts dieses neuerlichen Belegs für Gundas direkte Art. »Gleich um die Ecke, in der Judengasse. In einem der renovierten Fachwerkhäuser.«

Gunda zog die Stirn in Falten. »Stand da was zum Verkauf?«

»Nein, ich habe es gemietet. Es gehört Elias.«

»Ah, Elias. Udos altem Kumpel. Ja, der hat hier so ziemlich alles aufgekauft. Wer hätte gedacht, dass der verkorkste Typ mal so viel Erfolg haben würde.«

Etwas in Gundas Ton ließ Lina aufhorchen. Doch die grinste sie nur an.

»Das war nur ein Scherz. Elias ist ein guter Freund von uns. Obwohl: Ein bisschen verkorkst ist er natürlich trotzdem.«

Gunda schaute Lina prüfend an.

»Ich habe ihn und Udo übrigens eben hier irgendwo gesehen. Wetten, dass sie auftauchen, sobald wir verschwunden sind?«

Lina spürte, wie sich ihr Magen leicht zusammenzog. War es möglich, dass allein die Aussicht, Udo Walther zu begegnen, auch nach mehr als zwanzig Jahren eine solche Wirkung auf sie hatte? Außerdem hatte sie damit ohnehin rechnen müssen, schließlich war Udos bester Freund ihr Vermieter. Sie bemühte sich um ein Lächeln, das ihre Augen erreichte, stand gemeinsam mit Gunda auf und nahm sie in den Arm.

»Es war schön, dich wiederzusehen. Ich hoffe, wir können unser Gespräch bald fortsetzen. Wir haben zwanzig Jahre aufzuholen.«

»Oje«, meldete sich Stefan zu Wort. »Das hört sich nach langen Frauenabenden an. Ich werde dann mal anfangen zu überlegen, was ich unternehmen könnte, während ihr euch auf den aktuellen Stand bringt.«

»Wie wäre es mit Jagen?«, warf Gunda ein und schenkte ihm einen Blick, den Lina nicht einordnen konnte. Falls sich dahinter irgendeine Kritik verbarg, ging Stefan darüber hinweg.

»Ja, das wäre eine Möglichkeit. Vermutlich müsste ich das gesamte Revier leerschießen, um die vielen Stunden auszufüllen, die ihr verquatschen werdet.« Er reichte Lina die Hand. »Also bis bald. Du bist uns jederzeit willkommen.«

*

Gunda sollte recht behalten. Kaum waren sie und ihr Mann verschwunden, tauchten Udo und Elias neben Lina auf, die ihren Standort mittlerweile an die Theke verlegt hatte. Beide groß und schlank, doch Elias deutlich muskulöser als der schlaksige Udo. Elias’ gleichmäßige, strenge Gesichtszüge und das leicht gelockte braune Haar hatten sie immer an eine antike griechische Statue erinnert. Udos stets lachende blaue Augen unter den blonden Fransen signalisierten hingegen, dass ihr Besitzer nichts wirklich ernst nahm. Der Anblick der beiden Männer war ihr so vertraut, dass sie sich einen Moment fragte, ob sie Udo tatsächlich je ohne seinen Freund erlebt hatte. Aber das war natürlich Unsinn. Schließlich waren sie ein halbes Jahr zusammen und während dieser Zeit definitiv auch alleine gewesen. Meist in Udos Schlafzimmer, und wenn sie es recht bedachte, war Elias eigentlich immer zur Stelle gewesen, sobald sie wieder draußen waren. Oft hatte Udo sie dann stehen gelassen und war mit seinem besten Kumpel zu einer Motorradtour aufgebrochen. Erstaunt stellte Lina fest, dass sie die Enttäuschung solcher Momente noch immer spürte. Seltsam, dass sie Elias nie als Störenfried empfunden hatte. Vermutlich hatte sie schon damals gewusst, dass ihre Probleme nicht das Geringste mit ihm zu tun hatten, sondern schlicht darin gründeten, dass sie sich unsterblich in Udo Walther verliebt hatte, der jedoch nur an einer prickelnden Bettgeschichte interessiert war.

Dabei hatten der fast zwei Meter große, schlaksige Herzensbrecher und die kultivierte Lina Saint-George aus den besseren Hachenburger Kreisen nie wirklich zueinander gepasst. Daran änderten weder das Bedürfnis ihres Vaters, jede Sonderstellung seiner Familie abzulehnen, etwas, noch die ausgeprägte revolutionäre Phase, die Lina selbst in dieser Zeit durchlebte. Ihre Mutter, die sowohl den Anwandlungen ihres Mannes als auch jenen ihrer Tochter mit Ablehnung begegnete, hatte sich denn auch mit aller Macht gegen die ihrer Meinung nach völlig unangemessene Beziehung aufgelehnt. Schließlich war Udos Vater nur Tankwart, und Udo selbst bastelte leidenschaftlich gern an Autos herum, was dazu führte, dass er mit ewig schwarzen Fingernägeln durchs Leben stolzierte. Am Ende war Annerose Saint-George heilfroh, dass die Sache im Sande verlief und Lina an der Uni Harald kennenlernte – auch wenn die Begeisterung für den Schwiegersohn recht schnell verschwunden war. Lina selbst hatte sehr viel länger am Ende ihrer Beziehung zu Udo zu knabbern gehabt, als die meisten Menschen ahnten. Nur Gunda hatte mitbekommen, wie lange sie unter dem Verlust gelitten hatte. Und nun schaute Udo Walther mit dem gleichen jungenhaften Lächeln auf sie herab, mit dem er sich schon einmal in ihr Herz gestohlen hatte, während Elias Röder scheinbar unbeteiligt neben ihnen stand.

»Du siehst gut aus.« Udo hatte sich tief zu ihr heruntergebeugt, damit sie ihn im Lärm vor der Theke verstehen konnte. Hatte er nicht dieselben Worte benutzt, als er sie vor so vielen Jahren zum ersten Mal abgeschleppt hatte? Lina schaute ihn skeptisch an. Sie dachte an Harald. Hatte sie ihren Mann tatsächlich verlassen, um nun in pubertäre Muster zurückzufallen? Etwas in ihr löste sich.

»Danke.« Sie strahlte Udo an, bevor sie sich zu Elias hinüberbeugte. »Ich habe mich gar nicht richtig bei dir bedankt. Das Haus ist großartig.«

Er schaute sie mit dem für ihn typischen intensiven Blick an, der nichts von seinen eigenen Gefühlen verriet, aber bis auf den Grund ihrer Seele zu reichen schien. Früher war er ihr in solchen Momenten immer ein wenig unheimlich gewesen.

»Es ist klein. Doch es freut mich, wenn es dir gefällt. Lass mich wissen, wenn irgendetwas nicht in Ordnung ist. Du bist die erste Mieterin nach der Renovierung.«

»Ja, das werde ich. Ich glaube nicht, dass das nötig sein wird. Trotzdem danke.«

»Ich bin froh, dass du wieder da bist.«

Lina schaute ihn überrascht an. Meinte er das ernst? Bislang war sie davon ausgegangen, dass sie ihm ziemlich gleichgültig war, auch wenn sie ihn immer gemocht hatte. Eine von vielen Liebschaften seines besten Freundes eben. Aber nichts deutete darauf hin, dass er einen Witz gemacht hatte.

»Ja, das bin ich auch«, antwortete Lina mit einem Lächeln. Sie hatte nicht gewusst, wie sehr ihr die Heimat gefehlt hatte. Jetzt fühlte es sich überraschenderweise unendlich gut an.

6

Lina Saint-Georges war zurück. Die Nachricht hatte sich wie ein Lauffeuer in Hachenburg verbreitet. Als sie im Schlosskeller auftauchte, hätte man glauben können, sie sei ein Rockstar. Na ja, immerhin hatte sie es als stellvertretende Generalstaatsanwältin in Köln tatsächlich zu einem gewissen Ruhm gebracht. Jetzt arbeitete sie in Koblenz und war damit auch für den Westerwald zuständig. Damit konnte sie zu einem Problem werden.

Der Gedanke erregte ihn. Lina hatte ihn immer erregt. Vielleicht war sie die einzige Frau, in die er je verliebt gewesen war. Nicht weil sie schön war. Mit ihrer dunklen Mähne und den ungewöhnlichen grünen Augen sah sie gut aus, war jedoch keine makellose Schönheit. Da hatte es selbst in Hachenburg bessere Schnitten gegeben. Aber ihre Ausstrahlung war einzigartig. Sie konnte sich völlig auf einen Menschen oder auf eine Sache einlassen, und dennoch blieb sie auf diese seltsame Art distanziert. Natürlich hatten die Typen, mit denen sie früher rumhing, das Besondere an ihr nicht bemerkt. Frauen wie sie warfen sich weg, bevor sie endlich wach wurden und ihren eigenen Wert erkannten. Was für eine Verschwendung.