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**Vertraue niemals einem Autor, denn er könnte dein Leben neu schreiben…** Seit Lin zur Romanfigur in ihrem einstigen Lieblingsbuch »Otherside« geworden ist, steht ihr Leben Kopf. Jede Geste und jeder Satz könnten ihr Schicksal unwiederbringlich verändern, denn hier wird alles zum geschriebenen Wort. Ihr bleibt nur eins übrig: das Tor zur Realität aufspüren, bevor das Buch, in dem sie sich befindet, zerstört wird. Dass ihr ausgerechnet Zacharias, der charismatische Held aus »Otherside«, dabei behilflich sein soll, gefällt ihrer großen Liebe Ric gar nicht. Aber für Eifersucht bleibt nicht viel Zeit, wenn Buchhelden real werden und die Grenzen zwischen Fantasie und Wirklichkeit für immer zu verwischen drohen…
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Seitenzahl: 413
Veröffentlichungsjahr: 2025
BOOK ELEMENTS
BUCH DREI
Copyright © dieser Ausgabe 2024 by
Drachenmond Verlag GmbH
Auf der Weide 6
50354 Hürth
https://www.drachenmond.de
E-Mail: [email protected]
Lektorat: Elisabeth Mahler
Korrektorat: Wortkosmos – Sarah Nierwitzki
Layout Ebook: Stephan Bellem
Umschlag- und Farbschnittdesign: Alexander Kopainski
www.kopainski.com
Bildmaterial: Shutterstock
ISBN 978-3-95991-727-8
Alle Rechte vorbehalten
Für alle, die täglich kämpfen, leiden und sich verlieben.
Für diejenigen, die mitfiebern, lächeln und weinen.
Für all jene, die bereits etliche Leben gelebt haben.
Für jeden Lesenden.
Vorwort der Sammelausgabe
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Epilog
Danksagung der Sammelausgabe
Drachenpost
In dieser Schmuckausgabe findet ihr alle drei Bände von Book Elements, die 2015 mit den Untertiteln Die Magie zwischen den Zeilen, Die Welt hinter den Buchstaben und Das Geheimnis unter der Tinte erschienen sind.
Die Reihe ist direkt meinem Fangirl-Herzen entsprungen, verbunden mit dem Traum einer leidenschaftlichen Leserin:
Was wäre, wenn die geliebten Buchfiguren aus den Büchern herausgelesen werden könnten? Wären sie glücklich (ohne ihre Aufgabe im Buch, ohne ihre große Liebe, …) oder eher so gefährlich, dass man sie bekämpfen müsste? Und wer könnte Letzteres bewerkstelligen?
So entstanden die Wächterinnen und Wächter der Bibliotheca Elementara, die in dieser Reihe, die ich 2013/2014 geschrieben habe, natürlich noch die zu jener Zeit überall präsenten Figuren einfangen mussten.
Mir war jedoch wichtig, dass der Text abgesehen von ein paar Kleinigkeiten nicht verändert wird. Wundert euch also nicht über Edward und Bella, Daemon, Cam und Roth – heute würdet ihr vermutlich eher auf Namen wie Rhysand, Hunt, Cardan, Xaden und jede Menge weitere stoßen. Genießt einfach einen Hauch Nostalgie!
Ich wünsche euch ganz viel Spaß beim Eintauchen!
Die Sonne brannte vom Himmel über dem Schloss von Erea, als ich die erste Schaufel Erde in die Grube warf. Sie traf Tolkiens Meisterwerk. Saurons Auge auf dem Cover war nun zur Hälfte bedeckt. Ich hielt den Blick gesenkt, bis mir Ric seine Hand auf den Rücken legte und mich vorsichtig an seine Brust drückte, als könne ich jeden Moment zerbrechen. Doch meine Tränen waren versiegt. Übrig geblieben war nur das Sinnen nach Rache. Thyra würde für das büßen, was sie mir angetan hatte.
Einer nach dem anderen nahm die Schaufel an sich und bedeckte meinen Vater und seine Lieblingsbücher, die wir ihm mit auf seine letzte Reise gegeben hatten, mit Erde. Mein Blick glitt die Reihe meiner Freunde entlang – alte und neue.
Ric neben mir, der meine Hand fest drückte und mit seiner Elementarkraft Wärme sendete.
Seine Schwester Natalia, die noch im letzten Jahr Macht über alle vier Elemente besessen hatte und mit Thyra um ihren Körper hatte kämpfen müssen. Dennoch hatte sie sich Ric angeschlossen, um mich zu retten.
Danach Peter, der schüchterne Erdelementar, ein Fels in der Brandung.
Coral, die hier in der Buchwelt ihrer wahren Liebe begegnet war: dem jungen Seelenlosen David, der seinen Blick nur für Sekunden von ihr losreißen konnte.
Neben David stand Josh, der Feuerelementar, den wir immer für einen Verräter gehalten hatten und der ebenso Thyras Intrigen unterlegen war wie wir anderen.
Mit etwas Abstand Zacharias Clay. Der Held des Buches Otherside, der von Thyras Mutter Elizabeth extra für mich geschrieben worden war und der mich immer noch wie das größte Geschenk seines Lebens ansah. Eine Eigenschaft, die Ric zur Weißglut brachte. Aber wir brauchten seine Hilfe. Nun, da Thyra keinen Einfluss mehr auf ihn hatte, konnte er uns helfen, in unsere Welt zurückzukehren.
Sie alle wurden vom Duft nach Meer umgeben. Corals Element schlang sich um uns, während ihr Sirenengesang über die Wiese schwebte. Coral hatte ein Lied angestimmt, das sie ganz offensichtlich speziell für mich komponiert hatte, daran ließ kein Ton einen Zweifel. Die Sirene transportierte mit jeder Silbe so viele Emotionen, dass jeder normale Mensch damit überfordert gewesen wäre. Sie sang über meinen Vater und dessen Leben – über all das, was ich ihr erzählt hatte, um mich an ihn zu erinnern. Sie hatte jede noch so kleinste Anekdote in ihr Lied eingewebt. Sie sang nicht nur von meinem Vater, sie fasste unsere Erlebnisse zusammen, die uns an diesen Punkt gebracht hatten.
Wir alle hatten geglaubt, die Buchwelt und die Realität wären wieder im Gleichgewicht, nachdem wir am letzten Samhain dafür gesorgt hatten, dass die Fantasie der Menschen wieder grenzenlos war. Doch das war ein Trugschluss gewesen, wie Josh erklärt hatte. Das Lesen der Menschen hätte nie so schnell Wirkung gezeigt, dass all die Seelenlosen, die durch den Schleier der Welten getreten waren, binnen Sekunden in ihre Geschichten hätten zurückgerissen werden können.
Es waren Mitglieder der sogenannten Zunft gewesen, die die Menschheit gerettet hatten. Sie konnten die Seelenlosen beeinflussen, indem sie ihnen soufflierten, was sie zu tun hatten. Auch Josh gehörte der letzten Familie an, die diese besondere Gabe besaß. Doch er war kein Flüsterer – er war ein Schreiber, konnte die Worte in einem Buch bewegen wie in einem Manuskript und so den Verlauf der Geschichte beeinflussen. Sein Vater hatte dasselbe Talent. Er sah die einzige Chance, die Verkettung von Ereignissen, die Thyra hier in Otherside in Gang gesetzt hatte, zu beenden, darin, dass er meine Freunde zu mir in die Buchwelt geschickt hatte.
Doch all das hatte zu Thyras finsterem Plan gehört. Sie war davon ausgegangen, dass Ric und meine Freunde versuchen würden, mich zu befreien, wenn sie mich aus den Chroniken der Wächter, die sie durch eine Intrige in ihren Besitz gebracht hatte, nach Otherside las. Sie brauchte die Macht aller vier Elemente, um das Tor zur Realität zu öffnen.
Nachdem Thyra und ihr neuer Partner Balthasar durch das Portal getreten waren – durch ein riesengroßes Gemälde der Bibliotheca Elementara –, hatte ich mich zurückverwandelt, um meinem Vater zu helfen, den Thyras Schergen übel zugerichtet hatten. Aber ich war nicht nur zu spät gekommen, ich hatte uns auch gleichzeitig den einzigen Weg in die Realität versperrt, weil das Portal nur mithilfe aller vier Elemente bestehen konnte. Sobald ich mich zurückverwandelt hatte, schloss es sich – was sicher genau so von Thyra geplant gewesen war.
Mein Vater war als Held gestorben. Er hatte gewusst, was ihm bevorstand, kannte die Vision der Phoenicrus Ophelia. Und dennoch war er seinem Schicksal entgegengetreten und hatte gehofft, den Übertritt von Thyra und Balthasar verhindern zu können.
Die letzten Töne von Corals Gesang lagen noch über der Lichtung, als Peter sein Element bat, meinen Vater zu sich zu holen. Die Erde kam seinem Wunsch nach, füllte die Grube vollständig aus. Gleich darauf waren die ersten zarten Pflanzentriebe zu sehen, die wie im Zeitraffer emporwuchsen und Blüten bildeten. Lilien. Weiße Lilien, die Lieblingsblume meines Vaters. Inmitten des Blütenmeeres reckte sich ein Bäumchen in die Höhe, bildete immer weitere Äste, die sich schützend über die letzte Ruhestätte meines Vaters beugten. Die Geste ergriff mich so sehr, dass doch noch eine letzte Träne kullerte.
»Danke«, flüsterte ich, während die Trauerweide einen Kokon für meinen Vater bildete. Einen Kokon in der Mitte der Lichtung, auf der so vieles geschehen war.
Ric zog mich an sich und spendete mir Trost.
»Du wirst immer mein größter Held bleiben«, erklärte ich meinem Vater in Gedanken, ehe ich das salzige Nass auf meiner Wange mit dem Handrücken wegwischte und mich zu den anderen umwandte.
Wir mussten einen Weg zurück in die Realität finden und die Menschheit retten.
Gemeinsam mit ein paar anderen Agenten verfolgte Laurie den Newsfeed der weltweiten Nachrichtensender im Aufenthaltsraum des Zentrums. Mittlerweile lief die Botschaft der Seelenlosen Thyra an die Menschheit nicht mehr nur auf dem Lokalsender.
Der große Screen, der die gesamte Seitenwand des Raumes einnahm, war in etliche kleine Fenster gesplittet. Über ihr In-Ear-Implantat hörte Laurie immer den passenden Ton zu dem Bild, das ihre digitale Kontaktlinse erfasste.
Das erste offizielle Statement des Oberhaupts des Zentrums lief auf sämtlichen Splitscreens der obersten Reihe in Endlosschleife, Rechtfertigung und Motivation in einem: »Wir haben immer gewusst, wie gefährlich Fantasie sein kann. Seit Jahren bekämpfen wir Träume und Illusionen, die über Bücher transportiert werden. Wir dürfen niemals Fremden die Macht über uns geben. Die aktuellen Berichte zeigen uns die Folgen. Die Menschheit wird unterdrückt, das Szenario übertrifft selbst die schlimmsten Dystopien, die Autoren so arglos erschaffen haben. Die Zeit ist gekommen, um uns der Welt zu zeigen.«
Keiner der Agenten wusste, wann es so weit sein und die körperlose Stimme, die man nur den Professor nannte, wirklich ins Licht treten würde. Laurie war seit ihrem dritten Lebensjahr hier im Zentrum und hatte den obersten Chef noch nie zu Gesicht bekommen. Auf Videos wie diesem hier saß er stets im Dunkeln, ein greller Scheinwerfer war auf die graue Wand hinter ihm gerichtet, sodass nur die Umrisse der Person davor zu erkennen waren. Laurie wusste nicht einmal, wo genau im Zentrum er wohnte. Selbst seine Stimme war etwas verzerrt, klang blechern, was nicht an der Technik liegen konnte – denn die war im Zentrum mehr als nur auf dem neuesten Stand, wenn nicht sogar visionär.
Dem kurzen Statement von Thyra folgten Aufnahmen der Großstädte rund um die Welt – und die glichen den schlimmsten Endzeitromanen. Wären es Trailer für Kinofilme, würde Laurie zu den gelungenen Special Effects gratulieren.
Das Weiße Haus stand in Flammen, ebenso das UN-Hauptquartier in New York und das Reichstagsgebäude in Berlin. Überall hatten Dämonen die Symbole für Rechtschaffenheit und politische Ordnung zerstört. Eine gelungene Taktik von Thyra. Denn mit diesen verhältnismäßig kleinen Zerstörungen demonstrierte sie ihre Macht und schuf Panik unter den Menschen weltweit. Eine Panik, die Menschen zu Monstern machten – Diebstähle, Vandalismus, erste Verkündungen über das Ende der Welt … Niemand ahnte, dass die Zerstörung zahlreicher Bibliotheken direkt mit diesen Anschlägen zusammenhing – Thyras Angriff auf die Wächter der Bibliotheca Elementara und gleichermaßen auf die Zunft.
Laurie erkannte die Zusammenhänge – auch sah sie, dass die neue Kooperation, zu der Bibliothekare und Zunft getrieben worden waren, ebenso Teil von Thyras großem Plan gewesen war.
Was ist nur mit Josh passiert? Die verbotene innere Stimme meldete sich wieder und Laurie fuhr zusammen. Dieser hinterfragende Teil ihres Unterbewusstseins war im Zentrum nicht willkommen. Im Handbuch des Professors stand explizit, dass eine solche Stimme meldepflichtig war. Laurie erschauderte, als sie daran dachte, was mit einer anderen Junioragentin geschehen war, die der Anweisung nachgekommen war. Sie war in den Krankenflügel gebracht und am Gehirn operiert worden. Danach war sie nicht mehr wiederzuerkennen – und die Ärzte feierten es dennoch als erfolgreichen Eingriff.
Lauries digitale Kontaktlinse, die DigiLens, zeigte ihr eine neue Nachricht des Supervisors an. Laurie hasste es, Mitteilungen über die Linse abzurufen, und griff zu ihrem Pad.
Einsatzbesprechung Raum 2.12.
Seufzend erhob sich Laurie gemeinsam mit anderen Junioragenten, die kurz zuvor ins Nichts gestarrt hatten – sie hatten wohl keine Probleme damit, Nachrichten via DigiLens zu lesen. Wie mechanisch ging Laurie los, darauf bedacht, sich ihre Neugierde nicht anmerken zu lassen. Sie hoffte auf Neuigkeiten über die in der Buchwelt gestrandeten Wächter. Sie musste einfach wissen, ob es Josh gut ging. Die Emotionen, die sie beim Gedanken an den Feuerelementar überrollten, verbarg sie, wie sie alle Gefühle verbarg. Sie konnte es sich nicht leisten, aufzufallen. Emotionen und Gefühle waren nicht das, wofür das Zentrum stand: Wissenschaft, Technik und die Zukunft der Menschheit, die nicht durch unkontrollierbare Emotionen oder Fantastereien zerstört werden durfte.
Auf dem Weg in die zweite Etage dachte sie an ihren Unterricht bei dem Androiden Einstein zurück. Die vergangenen Kriege der Menschheit hatten ihren Ursprung immer in Emotionen gehabt. Die zahlreichen Kriege des Glaubens waren der beste Beweis dafür und Laurie hatte verstanden, was Gefühle bei Menschen anrichten konnten. Vor allem was Menschen anrichten konnten, wenn sie die Gefühle anderer für ihre Zwecke missbrauchten.
Laurie betrat als Erste Raum 2.12. Er sah genauso aus wie alle anderen nicht privaten Räume im Zentrum. Die Wände bestanden aus einem Hightech-Material, das der Optik von Milchglas glich. Dieses Material konnte jedes x-beliebige Bild projizieren – wenn auch nicht so hochauflösend wie die richtigen Screens. In unbenutztem Zustand leuchtete es matt wie indirektes Licht. Mitten im Raum schwebte eine Projektion des Buches Otherside und wurde von ihrem Supervisor Nate ohne Berührung umgeblättert. Laurie brannte darauf, zu erfahren, wie es Josh ging.
Mit starrem Gesichtsausdruck und dem nötigen Desinteresse in der Mimik trat sie an Nates Seite.
Wir hatten uns erneut alle im Thronsaal versammelt und starrten auf das immer noch auf dem Boden liegende Gemälde der großen Halle der Bibliotheca Elementara. Sehnsucht zupfte tief in mir – gefolgt von düsteren Gedanken, die ich am liebsten sofort verdrängt hätte: Was war geschehen, nachdem Thyra und Balthasar durch das Portal verschwunden waren? Hatten die Wächter – oder Joshs Vater, der Otherside gelesen und uns geholfen hatte – genügend Zeit gehabt, die Bibliothek irgendwie zu versiegeln, damit Thyra und die anderen nicht entkommen konnten?
Ich wusste nicht, ob so etwas möglich war, doch ich hoffte es inständig.
Die Beerdigung meines Vaters war nun zwei Tage her, aber ich wusste, dass die Zeit hier anders ablief als in der Realität. Hoffentlich tat sie das zu unseren Gunsten. Denn in diesen zwei Tagen hatten wir nichts gefunden, das uns weiterbringen könnte, und Ophelia hatte keine einzige Vision gehabt, so sehr sie sich auch anstrengte.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte Zac und trat auf mich zu, die Hand bereits erhoben, um mir Trost zu spenden. Rics mörderischen Blick beachtete er gar nicht. So ging es nun schon, seit Zac in den Thronsaal gestürmt war und uns seine Hilfe angeboten hatte. In jenem Moment war ich, wie immer direkt nach der Verwandlung, nackt gewesen.
Ric traute ihm nicht und seine Eifersucht auf meinen früheren Schwarm machte es nicht besser. Ric war ein Mensch, der seine negativen Emotionen schlecht verbergen konnte. Er war impulsiv, direkt, ohne Rücksicht auf Verluste – ganz wie sein Element Feuer. Hätte er Zac damit töten können, hätte er es getan. Vielleicht hatte er es bereits versucht, aber gegen den ehemaligen dämonischen Söldner hatte er keine Chance. Wenn es um Kraft und Talent ging, waren sie ebenbürtige Rivalen.
Ich versuchte, Zac unauffällig anzudeuten, dass er Ric nicht weiter reizen sollte – aber in Sachen Empathie waren sich die beiden auch nicht unähnlich und selbst ein Wink mit dem Zaunpfahl konnte sie nicht von ihrem Vorhaben abbringen. Mit der Hand berührte Zac meinen Oberarm, und ohne dass ich es wollte, ging von der Stelle ein kurzes Kribbeln aus. Nahezu im selben Augenblick wurde Zac von einem kleinen Flammenstoß getroffen und zur Seite geschleudert.
Ich seufzte. Die beiden benahmen sich wie kleine Kinder, die sich um ein Spielzeug stritten. Nur dass ich dieses Spielzeug war und genau wusste, was ich wollte. Auch wenn tatsächlich noch irgendwo tief in mir Gefühle für Zac da waren, so beruhten diese eher auf Erinnerungen an schöne Zeiten. Es gab nun einmal Buchfiguren, die man nie im Leben vergaß – Zac war eine solche. Uns verband eine lange gemeinsame Zeit als Leserin und Protagonist. Aber mehr nicht.
Bei Ric hingegen verursachte jeder noch so kurze Blick in seine goldenen Augen einen Emotionstornado wie in einem kitschigen Buch. Alles in mir sehnte sich danach, in unser normales Leben zurückzukehren, meine ehemals beste Freundin zurück in ihre Geschichte zu schicken – oder am besten für immer zu vernichten, sollte dies möglich sein – und die nächsten sechs Monate (mindestens!) mit Ric allein in meiner Wohnung zu verbringen, ohne auch nur einmal gestört zu werden.
Ich biss mir auf die Lippe beim Gedanken daran, was wir alles anstellen könnten. Dann räusperte sich Natalia. Grrrr! Nicht einmal in Gedanken ließ sie mich mit ihrem Bruder allein! Fürs Stören hatte sie ein unglaublich gutes Talent.
»Ich will gar nicht wissen, welchen der Jungs du gerade in Gedanken ausziehst. Aber ich wette, deine Gedanken sind alles andere als jugendbuchtauglich.« Sie wackelte verheißungsvoll mit den Augenbrauen und mir schoss die Röte ins Gesicht.
»Was?«, fragte ich empört. Sie wusste schließlich, dass ich allein ihren Bruder wollte, wie kam sie …
»Ganz ruhig, Lin. Das war ein Witz«, fügte sie hinzu.
»Der war nicht witzig«, grummelte ich und sah zu Ric neben mir. Er hatte ein so ernstes Gesicht aufgesetzt, dass ich ihn mal wieder nicht einschätzen konnte. Er nahm Natalias Worte doch nicht ernst, oder? »Zwischen mir und Zac ist …«
Zac hob die Hand und gebot mir, nicht weiterzureden. Für ihn – und auch David – galt, dass Worte Macht bedeuteten. So war es hier in Otherside. Was ausgesprochen war, wurde niedergeschrieben, so einfach war das. Und was niedergeschrieben war, war Teil der Geschichte. Vielleicht ein wichtiges Detail, auf das sich später jemand berufen könnte. Ach, es war kompliziert.
Nur hier in Otherside, in dem Buch, das die Realität und die Buchwelt verband, wussten die Charaktere – zumindest bis Thyra ihnen etwas anderes erzählt hatte –, dass sie selbst und all die anderen Buchwelten der Fantasie eines Autors entsprungen waren und ihre Geschichte irgendwo niedergeschrieben stand.
Ophelia hingegen, die nicht direkt aus dem Buch Otherside stammte, hatte erst von Thyra davon erfahren – kurz bevor diese ihr eröffnet hatte, dass sie ihre schlimmsten Albträume wahr werden lassen könnte, sollte sie nicht kooperieren. Diesen ersten Schock hatte Ophelia überwunden und war mittlerweile wieder ganz so, wie ihre Autorin sie geschrieben hatte. Leider. Sie war nämlich zu ihrer alten Zickigkeit zurückgekehrt. Je größer der Druck auf sie wurde – wir benötigten schließlich eine brauchbare Vision –, desto schlimmer wurde es. Sie brezelte sich immer noch auf, nutzte das ganze Schloss als Shopping-Mall, um sich neu einzukleiden, während wir anderen grübelten, wie wir dieses Zentrum der Macht finden konnten, von dem mehrmals gesprochen worden war. Etwas, das Elizabeth erschaffen hatte, um alles nach ihren Wünschen zu beeinflussen, und das Thyra später dazu genutzt hatte, um das Portal zur Realität zu öffnen. Wir hofften inständig, dass dieses Zentrum der Macht nicht ein Ring oder so was war, das sie nun in die Realität mitgenommen hatte. Dann würden wir für immer hier festsitzen.
Nein, daran wollte ich gar nicht denken und besann mich wieder auf das Hier und Jetzt und auf unseren Rückweg – gemeinsam mit Coral, David, Peter, Natalia, Josh und Ric.
Ophelia hingegen war sich zu fein dafür, an unseren gemeinsamen Brainstormings teilzunehmen. Sie müsste auf andere Gedanken kommen, um eine Vision zu bekommen, betonte sie immer wieder, wenn sie uns im Schloss über den Weg lief – meist in der Küche, wo sie sich an dem von Coral, Natalia und mir zubereiteten Essen bediente.
Ihr Egoismus war ein rotes Tuch für mich, aber Ric hielt mich mehr als einmal davon ab, ihr die Meinung zu sagen. Auch heute war sie nicht zum vereinbarten Treffen erschienen. Wie auch gestern nahmen wir auf den Stufen Platz, die zum Thron hinaufführten. Nur Coral, David und Josh setzten sich uns gegenüber auf den Boden.
Mehrere Minuten saßen wir still da und grübelten.
»Ich war heute wieder in der Bibliothek«, sagte Peter, um einen Anfang zu machen. »Ich bin immer noch der Meinung, dass Thyra ihre Macht von diesem Raum erhalten hat. In den Regalen steht so ziemlich jedes Buch, das ich kenne. Wenn das, gepaart mit ihren Fähigkeiten als Flüsterer, nicht Macht gleichkommt, weiß ich auch nicht.« Er runzelte die Stirn, als müsste er sich selbst noch weitere Gedanken machen, fügte dem jedoch nichts mehr hinzu.
»Das hatten wir doch gestern schon besprochen, Setzling«, konterte Ric. »Uns bringen die Bücher nichts. Wenn da irgendeine Art von Magie oder Macht wäre, würden wir sie spüren, oder?«
»Vielleicht«, antwortete Peter nur vage.
»Wir können gern jedes Regal durchgehen«, versuchte ich zu schlichten. »Schließlich haben wir keine anderen Pläne. Und eventuell hat unsere Diva bis dahin eine erhellende Vision«, ergänzte ich mit etwas mehr Sarkasmus als beabsichtigt.
»Das habe ich gehört!«, rief hinter mir eine empörte Stimme. Wenn man vom Teufel sprach … Ophelia trat zu uns, setzte sich aber nicht, sondern musterte uns mit vor der Brust verschränkten Armen. Erst dann fielen mir ihre Augen auf.
»Du hattest eine Vision?« Sofort schossen alle Blicke zu Ophelia.
Sie sonnte sich in unserer Aufmerksamkeit, wofür ich sie schon wieder am liebsten mit einem kurzen Luftstoß geschubst hätte. Ric griff nach meiner Hand und fixierte sie auf seinem Oberschenkel. Es war ja nicht so, dass ich meine Hand dafür bräuchte … Aber ich nahm die beruhigende Wärme von ihm gern entgegen.
»Willst du uns davon erzählen?«, fragte ich mit einem breiten Lächeln im Gesicht und übertriebener Freundlichkeit in der Stimme.
Ophelia durchschaute mich natürlich sofort, kniff die Augen zusammen und … tat nichts! Ohne mein Zutun wirbelte eine sanfte Brise zum Fenster herein und brachte Ophelias akkurate Frisur durcheinander, woraufhin sie mich völlig entgeistert ansah, schnaubend umkehrte und aus dem Thronsaal rannte.
»Lin!«, fuhr Natalia mich an, dabei war ich es nicht einmal gewesen – mein Element entwickelte hier in der Buchwelt ein Eigenleben.
»Ich war …« Nein, Rechtfertigungen brachten uns nicht weiter. »Willst du ihr hinterhergehen oder soll ich?«
Die Antwort war eindeutig. Ric ließ meine Hand los und ich rappelte mich auf. Man musste seinen Stolz auch mal hinunterschlucken. Mit schnellen Schritten folgte ich Ophelia in die Halle vor dem Thronsaal. Als ich sie dort nicht mehr entdecken konnte, bat ich mein Element um Hilfe und der Wind flüsterte mir die Richtung zu.
Nun rannte ich durch die Flure in eines der Empfangszimmer, von wo aus eine Tür nach draußen in den Garten führte. Dort fand ich Ophelia. Sie hatte die Lippen zusammengepresst, als müsste sie Tränen zurückhalten. Sie sah trotzdem wunderschön aus. Herausgeputzt, als ginge sie auf einen großen Ball. Ganz im Gegensatz zu mir – ich trug immer noch die Kleider, die ich mir für die Flucht aus meinem Zimmer zusammengesucht hatte. Nach meiner Rückverwandlung an Tag 0 – dem Moment, in dem ich die Grenzen geschlossen hatte – hatte Ophelia sie mir gebracht. Ich hatte sie neben der doppelflügeligen Tür zum Thronsaal liegen gelassen, als ich als Fee aus ihnen herausgeschlüpft war.
Langsam ging ich auf sie zu. »Tut mir leid«, versuchte ich es und hob entschuldigend die Hände.
Sie schüttelte nur den Kopf und holte tief Luft. »Ich weiß, dass ich nicht gerade die angenehmste Gesellschaft bin«, flüsterte sie so leise, dass ich mir nicht sicher war, ob ich sie richtig verstanden hatte. Doch ich wollte nicht nachhaken. Daher wartete ich ab. Ophelia schluckte und holte tief Luft, ehe sie ihre Vision zusammenfasste: »Otherside wird vernichtet und all das hier wird in sich zusammenbrechen.«
Laurie hatte Mühe, ihre Mimik neutral zu halten. Sie stand dicht neben ihrem Supervisor Nate, der mit einer Handbewegung die Seiten des vor ihm schwebenden Otherside umblätterte. Mal vor, mal wieder zurück. Er schien Laurie nicht einmal wahrzunehmen. Doch sie hatte den Namen gesehen, nach dem sie gesucht hatte. Josh wirkte unverletzt. Es ging ihm gut.
Erleichterung durchströmte sie. Schnell versuchte sie, den verräterischen Herzschlag zu senken, ehe er jemandem auffiel. Sie hatte schon sehr früh gelernt, das Sichtbare ihrer Gefühle zu kontrollieren, nachdem in ihrer Kindheit einige andere Bewohnerinnen und Bewohner des Zentrums verschwunden waren.
Sie trat einen Schritt zurück, räusperte sich und Nate drehte langsam den Kopf zu ihr. Seine Züge erhellten sich, das Maximum an Ausdruck an Gefühlen, das im Zentrum ohne Folgen gestattet war. Ein strahlendes Lächeln war verpönt, überschwängliche Begrüßungen selbst unter eng verbundenen Agenten verboten. Solche Verbundenheit war das, was einer Freundschaft in der normalen Welt am nächsten kam. Hieraus waren schon Zweckgemeinschaften entstanden, die für zentrumsinternen Nachwuchs sorgten.
Diese Zentrumsbabys wuchsen auf, wie Laurie aufgewachsen war: Rund um die Uhr wurden sie von einem humanoiden Roboter bemuttert und es fehlte ihnen an nichts. Der Professor hatte die Vision gehabt, die Kinder von klein auf an eine nicht-menschliche Bezugsperson zu gewöhnen, um die Gefühlsverbindungen schon im Kleinkindalter auf das absolut nötigste Minimum zu reduzieren. Mutterliebe, so hieß es in den Schriften des Zentrums, war übertrieben und widersprach der gewünschten Loyalität zum Professor und seinem Zentrum. Diese war einfacher zu erreichen, wenn man diese erste Bindung zwischen Individuum und der Welt auf einem geringen Maß hielt, so der Professor.
Nate deutete Laurie an, sich auf den weißen Hocker neben seinem zu setzen. Auch dies war eine Bekundung seiner Zuneigung und Wertschätzung, denn die Hierarchie innerhalb des Zentrums war streng und eindeutig.
Die Agenten und Junioragenten, die soeben Raum 2.12 betraten, bemerkten es sofort. Nicht dass sie Wut, Argwohn oder andere Gefühle zeigten – hier im Zentrum war es so anders als in der Bibiotheca Elementara –, sie nahmen es einfach nur zur Kenntnis, akzeptierten es und setzten sich auf die noch freien, im Kreis angeordneten Hocker aus formbarem Kunststoff, der sich ihrer Anatomie anpasste.
Nate nickte jedem Einzelnen zu – eine Respektsbekundung –, ehe er die Agenda in die Mitte des Kreises projizierte. Es gab heute nur einen einzigen Punkt: das Buch Otherside.
»Dank Junioragentin 7 ist ein lang gehegter Traum des Professors in Erfüllung gegangen.« Nate nickte Laurie anerkennend zu und auch die anderen Agenten taten es ihm nach.
Sie selbst hatte Mühe, ihr Unwohlsein zu verbergen. Otherside aus der Bibliotheca zu rauben, indem sie Joshs Vater mit einem Sedativum betäubt hatte, fühlte sich noch immer an wie ein Verrat. Wenn Josh – und auch den anderen – wirklich etwas passieren würde, hatte sie das zu verantworten. Dieser Gedanke brachte eine der stärksten Emotionen in ihr zum Vorschein, die sie jemals gefühlt hatte: Angst. Nicht jedoch Angst um sich selbst, sondern um die anderen Wächter – ihre Freunde.
»Schon damals, als das Zentrum gegründet wurde, die besten Forscher ihrer Zeit den Dienst antraten und die größten technischen Innovationen der Menschheit hier ihren Anfang nahmen, war die Erforschung und Entschlüsselung dieses Buches der große Wunsch des Gründers.« Nate tauschte die Agenda gegen die dreidimensionale Projektion von Otherside aus, die sich um sich selbst drehte. »Dieses Buch ist wahrhaft einzigartig«, fuhr er fort. »Die Brücke zwischen der Realität und der Buchwelt, der Fantasie der Menschen.« Der Supervisor ließ die Worte für einen Moment auf die Agenten wirken. »Seit das Buch in unserem Besitz ist, verändert es sich laufend. Es besitzt ein Eigenleben.«
An den aufgerissenen Augen der anderen Agenten erkannte Laurie, dass sie nicht gewusst hatten, was dieses Buch wirklich konnte. Sie selbst war über Josh an all die Informationen gelangt – als derzeit einzige Junioragentin im Außendienst war genau das ihre Aufgabe. Doch den normalen Agenten, die den unterschiedlichsten geheimen Einsätzen nachgingen, war die Bibliotheca ein Dorn im Auge.
»Zuviel Fantasie und unwissenschaftliche Vorgänge«, war die häufigste Antwort auf die Frage, warum sich niemand einen Einsatz dort vorstellen konnte. Laurie hingegen fand genau das besonders reizvoll. Vom ersten Moment an, da man sie mit gefälschten Dokumenten in die Elementarprüfung geschmuggelt hatte, fühlte sie sich der Gemeinschaft zugehörig. Den Test hatte sie mit Hilfe des HyCon bestanden, einer kleinen Apparatur, die Wassermoleküle in geringem Maße beeinflussen konnte.
Die Wächter strotzten vor Emotionen, die Laurie anfangs völlig überrumpelt hatten. Nach und nach hatte sie gelernt, die Gefühle anderer zu interpretieren und zuzuordnen, nicht zuletzt die ihres Teamkollegen Josh. In ihrer Bauchregion setzte ein kurzes Kribbeln ein. Laurie senkte den Kopf, um das leichte Zucken ihrer Mundwinkel zu verbergen.
»In der letzten Nacht wurde Otherside ein weiteres Kapitel hinzugefügt. Der Professor ist der Meinung, dass die Abteilung Fantasie bald der Vergangenheit angehören könnte. Aus diesem Grund habe ich Sie alle hier zusammengerufen. Binnen der nächsten Tage werden Sie anderen Aufgabengebieten zugeordnet.«
Laurie riss entsetzt die Augen auf, ehe sie ihre Gefühle wieder unter Kontrolle hatte. Ein nach außen hin stummer Schrei hallte umso lauter in ihrem Inneren wider. Über sieben Jahre, mehr als ein Drittel ihres zwanzigjährigen Lebens, hatte sie in dieser Abteilung verbracht. Wieso sollte sie plötzlich aufgelöst werden? Es gab noch so viel Fantasie dort draußen, die Bibliotheca selbst war zwar von Thyra und den Seelenlosen besetzt, doch viele der Wächter hatten einen Zufluchtsort gefunden und arbeiteten von dort aus weiter. In zwei Stunden würde auch Lauries Dienst wieder beginnen.
»Sie werden in den nächsten Tagen via Pad über ihren neuen Einsatzbereich informiert. Die Schulungsmaßnahmen werden kurzfristig angesetzt, sodass eine Einarbeitung zeitnah erfolgen kann. Damit ist das Meeting beendet.«
Die Agenten erhoben sich und verließen einer nach dem anderen den Raum. Laurie fühlte sich dazu nicht in der Lage. Sie stand mechanisch auf, hatte jedoch mit einem Schwindelgefühl zu kämpfen. Sie fühlte sich hohl. Als hätte sie einen Teil ihres Inneren verloren.
Auch wenn es nicht den Umgangsformen des Zentrums entsprach, blieb sie neben Supervisor Nate stehen, der bereits wieder in dem virtuellen Otherside blätterte. Diesmal registrierte er sie erst, als sie sich räusperte. Mit einem Hauch von Neugierde im Blick sah er Laurie an.
»Darfst du mir erzählen, warum die Abteilung geschlossen wird?«, fragte sie im Flüsterton. Dieser verbarg ihre Neugierde besser, zudem diente er Nates Schutz, sollte er nicht darüber sprechen dürfen.
Prompt griff er in seine Hosentasche und zog ein kleines Bedienelement heraus, das dem Schlüssel von Joshs Auto glich. Per Knopfdruck verdunkelten sich die Wände – der Raum war nun inaktiv und es wurde nicht mehr alles aufgezeichnet, was in seinem Inneren geschah. Nate trat einen Schritt auf Laurie zu. Er stand nun ganz nah – zu nah für die Umgangsprotokolle des Zentrums. So nah, dass man ihnen bereits nachsagen könnte, eine Zweckgemeinschaft bilden zu wollen. Lauries Magen grummelte.
»In dem Buch wird eine Vision erwähnt«, erklärte Nate flüsternd. »Thyra wird Otherside in ihren Besitz bringen und es zerstören.«
Laurie schaffte es nicht, ein Aufkeuchen zu unterdrücken, worauf hin Nate sie skeptisch musterte. Diese Information war zu viel gewesen, als dass sie die damit einhergehenden Emotionen hätte kontrollieren können. Was würde dann aus Josh, Lin und den anderen werden? Würden sie aus der Welt herausgerissen und nach Hause geschickt werden, in die Realität? Oder wäre die Folge, dass Laurie Josh für immer verlieren würde?
»Was passiert dann mit all den Seelenlosen da draußen?«, versuchte Laurie sich herauszureden. »Ich dachte, wir werden sie in ihre Welt zurückschicken, wie es auch die Wächter und die Zunft tun?«
Nates Mimik wurde wieder weicher. Er hatte ihr die Lüge abgenommen. Laurie entspannte sich unmerklich.
»Der Professor geht davon aus, dass all die Hirngespinste wie von selbst verschwinden werden.« Nate – wie auch alle anderen Agenten – bezeichnete die Buchfiguren als Hirngespinste, denn genau das waren fiktionale Geschichten für sie: Flausen, Hirngespinste, unproduktiver Verbrauch von Energie.
Nun war es an Laurie, ihn skeptisch zu mustern. Skepsis lag in der Natur der Wissenschaftler, hieß es. Skepsis fördert den gesunden Verstand und das logische Denken.
Nate zuckte nur mit den Schultern. »Sie entstammen alle der Buchwelt, manche von ihnen direkt diesem Buch.« Er deutete auf Otherside. »Wenn ihre Grundlage zerstört wird, ihre ganze Welt zusammenbricht, werden auch sie vergehen. Diese selbst ernannte Königin der Welt wird ihr eigenes Grab schaufeln. Wäre sie nicht so machtgierig, würde sie das kommen sehen. Bis dahin haben wir noch etwas Zeit, das Buch zu erforschen.«
Laurie bekam keine Luft mehr. Ihre Gedanken waren bei dem Teil des Satzes hängen geblieben, der besagte, dass ihre ganze Welt zusammenbrechen würde. Otherside würde zerstört werden. Josh war in Otherside. Sie wollte Luft holen, doch je mehr sie danach schnappte, desto weniger konnte sie atmen.
»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich persönlich werde dich für den Forschungsbereich empfehlen«, versuchte Nate, Laurie zu beruhigen. Als wäre das ihre Sorge.
»Wann?«, brachte sie nur hervor, ihre Stimme war lediglich ein Piepsen.
»Vermutlich innerhalb der nächsten Woche«, antwortete Nate.
Laurie stürmte aus dem Raum und stürzte um die Ecke. Weit entfernt hörte sie Nates Stimme, aber das interessierte sie nicht. So schnell sie ihre Beine trugen, rannte sie durch die langen, hell beleuchteten Flure zu ihrem Zimmer.
»Willkommen, Junioragentin Nummer 7«, begrüßte sie die freundliche männliche Stimme wie jedes Mal. Laurie schlug auf den Türschließer, und noch während sich die Milchglasscheibe mit einem leisen Zischen schloss, warf sie sich aufs Bett und ließ den Tränen freien Lauf.
Die Zeit drängte. Ich hatte Ophelia dazu überreden können, mit mir zurück zum Thronsaal zu kommen, und sie hatte den anderen alles erzählt. Die Sonne ging bereits unter. Nicht einmal die wollte sich unsere Hilflosigkeit weiter ansehen.
»Ich denke wirklich«, vertrat ich meinen Standpunkt, »dass jemand – und damit meine ich Thyra – das Buch zerstört und somit auch die Welt des Buches. Wir gehen davon aus, dass dein Vater«, ich wandte mich an Josh, »dich, Ric und die anderen nur deshalb nicht vor den Söldnern gerettet hat, weil er es nicht mehr kann, oder?«
Josh nickte. Ich sah ihm an, dass er hoffte, dass es so war. Die einzige andere Möglichkeit wäre, dass Joshs Vater seinen Sohn böswillig in eine Falle hatte laufen lassen. Ich kannte die Familienverhältnisse der Bonfires nicht, aber Josh erwähnte, dass bis auf dieses kleine Geheimnis immer alles gut gewesen wäre.
»Könnte es tatsächlich sein, dass die Zerstörung eines Buches die Welt hier vernichten würde?«, dachte Peter laut nach.
»Es ist ein Unikat«, warf Natalia ein.
David nickte eifrig. Er schien zuzuhören, obwohl er wie meist nur Coral anstarrte. An ihrer Stelle würde ich das gruselig finden, aber sie hatte wohl kein Problem damit. »Die Meeresgeschöpfe erzählten mir einmal, dass einzelne Welten damals erschüttert wurden – es war die Zeit des Krieges in eurer Welt und zahlreiche Bücher waren vernichtet worden.«
Ich seufzte beim Gedanken daran, weil auch Cress im letzten Jahr kurz vor Samhain auf dieser dunklen Stunde der menschlichen Geschichte herumgeritten war. Das schien hier in Otherside jeder zu wissen.
»Meinst du erschüttert nur im übertragenen Sinn? Haben die Figuren das denn bemerkt?« Peters Augen leuchteten in einem intensiven Grün, das seine Neugierde verriet.
»Es heißt, die Erde habe gezittert, während die Bewohner weiter verblassten. Manche Welten konnten sich erholen, manche wurden für immer ausgelöscht.« David sah bedrückt zu Boden.
»Hast du irgendeinen Zeitraum, in dem deine Vision wahr werden soll?«, fragte Natalia Ophelia.
»Es könnte Vollmond sein«, antwortete die Sentio mit einem Schulterzucken. »Aber das hat hier nichts zu sagen.«
Leider. Wir waren in der Buchwelt und hier lief nichts so ab wie in der Realität. Ereignislose Passagen konnten zusammengefasst werden und so war es möglich, dass rückblickend betrachtet ein großes Zeitloch klaffte, an das sich niemand von uns erinnern konnte. Das war eine Tatsache, an die ich mich in der ganzen Zeit, die ich nun schon hier war – den genauen Zeitraum einzuschätzen, war unmöglich! –, noch immer nicht wirklich gewöhnen konnte. Manchmal folgte einem Sonnenuntergang direkt der Sonnenaufgang, manchmal schien sich die Sonne gar nicht erst unter den Horizont senken zu wollen – in romantischen Szenen war das natürlich sehr praktisch.
»Also bleibt uns nichts anderes, als schnellstmöglich nach einem Ausweg zu suchen«, fasste Peter zusammen.
»Und was haben wir bisher gemacht? Däumchen gedreht?« Ric verdrehte spöttisch die Augen.
»Wir haben nicht mit System gearbeitet«, sagte Peter beharrlich. »Ich bin mir sicher, dass wir das Geheimnis in der Bibliothek lüften können. Nur wird es uns sicher nicht entgegenspringen.«
»Dann sollten wir jetzt einfach gemeinsam dorthin gehen«, sagte ich. »Und Peter stellt uns unterwegs seinen Plan vor. Zur Not holen wir jedes einzelne Buch hierher und sehen es durch – wir haben sowieso nichts Besseres zu tun.«
Die anderen stimmten mit einem Nicken zu und erhoben sich vom Boden und der Treppe. Nur Ric schnaubte. Nach einem bösen Blick von seiner Schwester und von mir zuckte er jedoch mit den Schultern und raffte sich ebenfalls auf.
»Deine Idee ist gut«, sagte Peter leise, als er an meiner Seite den Thronsaal verließ. »Wenn wir jedes Buch dort herausholen, können wir nichts übersehen.«
»Das war nicht ernst gemeint«, setzte ich an. Aber die Logik erschloss sich mir auch.
Wenig später quetschten wir uns nacheinander in den turmähnlichen Raum, dessen Grundfläche wohl nicht mehr als zwanzig Quadratmeter war. Dafür war er sicher zehnmal so hoch. In den Regalen, die rundherum bis zur weit entfernten Decke aufeinandergestapelt waren, reihte sich ein Buch an das andere. Die alle von hier aus zum Thronsaal am anderen Ende des Schlosses zu schleppen, würde Monate dauern.
»Das ist nicht dein Ernst, oder?« Ophelia legte den Kopf in den Nacken und starrte nach oben. Sie war vermutlich zum ersten Mal in dem Raum, den es hier eigentlich gar nicht geben sollte. Denn Thyra hatte allen eingeredet, dass Bücher böse waren und vernichtet werden mussten. Einer der Schritte, um die Buchfiguren vergessen zu lassen, dass sie der Fantasie eines Menschen entstammten. Was wiederum dazu führte, dass die Zunft ebenfalls keine Macht mehr über die Buchwelt hatte und auf die – rückwirkend betrachtet – ziemlich dumme Idee kam, mein Team hierher zu schicken, und Thyra zu der Macht der Elemente verholfen hatte.
»Wir haben keine andere Wahl, wenn wir nichts übersehen wollen. Wir sind in der Buchwelt – Thyra ist die Tochter einer Frau aus unserer Welt. Wenn sie ihre Macht nicht aus Büchern schöpft, woraus denn sonst? Es könnte jedes Buch hier drin sein – selbst der unscheinbarste Gedichtband.« Peter schritt sofort zur Tat und zog die ersten Bücher aus dem Regal und stapelte sie auf seinem Arm.
Hier vorne neben der Tür standen hauptsächlich die aktuelleren Bücher der letzten Jahre – die konnte man noch einigermaßen bequem erreichen. Für die Auswahl an Lieblingsbüchern meines Vaters hatte ich schon Rics Hilfe benötigt. Bei dem Gedanken zuckte ich zusammen. Was wäre, wenn Tolkien oder Orwell das Zentrum der Macht waren und nun unter der Trauerweide im Schlossgarten verrotteten – oder bereits zerstört waren? Schnell verdrängte ich diese potenzielle Katastrophe, ging zum Regal, zog wahllos einige Bücher daraus hervor und stapelte sie auf meinem Arm, um sie den langen Weg in den Thronsaal zu tragen.
Erst nach einer kurzen Behandlung mit Sauerstoff und der Wirkung der Koffeintabletten, die sie mittlerweile zu oft konsumierte, war Laurie in der Lage, das Zentrum zu verlassen und ihren Dienst bei den Wächtern anzutreten.
Ein Fahrer des Zentrums brachte sie durch die Dunkelheit an den Stadtrand und hielt etwas abseits der leicht baufälligen Villa in einem überwucherten Garten. Den Rest des Weges ging sie zu Fuß. Die Straßen wirkten wie ausgestorben. Die Menschen hatten Angst, ihre Häuser zu verlassen. Es glich den Ausgangssperren in so vielen dystopischen Büchern, mit deren Hilfe sich die Regierung Kontrolle über die Bevölkerung zu verschaffen erhoffte. Laurie fühlte sich, als würde sie etwas Verbotenes tun – obwohl es keinerlei offizielle Anweisung gab, die es ihr verbot, auf der Straße herumzulaufen.
Sie kontrollierte noch einmal das HyCon in ihrer Rocktasche, das dafür sorgen würde, dass sie ihr Element zumindest ansatzweise kontrollieren konnte. Das Gerät war eine der vielen unglaublichen Erfindungen, die im Zentrum ihren Ursprung hatten.
Der Professor log keineswegs, wenn er behauptete, dass die Menschheit ohne das Zentrum ein paar Jahre im Rückstand wäre. Zahlreiche Gegenstände des täglichen Gebrauchs basierten auf technischen Errungenschaften des Zentrums. Die meisten Erfindungen wurden zwar für das Zentrum selbst genutzt und weiterentwickelt, jedoch waren in den vergangenen Jahrzehnten einige Patente an externe Firmen weitergegeben worden. Ohne die Wissenschaftler würden die Menschen vielleicht noch immer Mobiltelefone mit Tastaturen verwenden, während in Lauries Leben Touchscreens und multifunktionale Oberflächen von klein auf dazugehört hatten.
Laurie aktivierte mit einem Flüstern das HyCon und die Wassermoleküle der Luft reagierten auf die Wellen, die das Gerät aussandte. Das HydroControl sorgte dafür, dass die Moleküle je nach Befehl unterschiedlich reagierten. Für Laurie als Tarnung reichte es aus, dass sie sich zusammenfügten und herunterregneten.
Laut Testprotokoll der Bibliotheca war Laurie als »geringfügig kontrollierend« eingestuft worden, was praktisch bedeutete, dass sie so gut wie nie kämpfte. Sollte sie sich kurzfristig verteidigen müssen, hatte sie ihre Universalwaffe in der anderen Rocktasche – einen Neutralisator, der den potentiellen Gegner in seine Atome zerlegte. Was aber gleichzeitig bedeutete, dass sie sich verraten würde.
Die regulären Patrouillen mit ihrem Team der zeitgenössischen Literatur, wo es selten zu gefährlichen Situationen kam, waren eine größere Herausforderung. Denn hier verlangte es das Protokoll, dass Seelenlose möglichst friedlich gebunden werden sollten. Das setzte die gleichzeitige Berührung von vier Elementaren aller Richtungen voraus. Laurie hatte ihrem Einweiser damals nicht geglaubt, dass die ihr von den Bibliothekaren verliehene Kette mit dem Dreieckssymbol auf die gewünschte Weise funktionieren würde, und hatte regelrecht Angst vor dem ersten Test an der Akademie gehabt. Doch irgendwie hatten es die Forscher – oder der Professor selbst – tatsächlich geschafft, die vermeintliche Elementarmagie künstlich zu erzeugen und in den Anhänger ihrer Kette zu legen. Zumindest so viel davon, dass es ausreichte, um einen Seelenlosen zu binden.
Dies war mit ein Grund, warum Laurie an den Professor und das Zentrum glaubte. Wenn selbst die Magie der Wächter reproduziert werden konnte, stand die Wissenschaft der Fantasie doch in nichts nach. Wozu sollte sie ihre Gedanken an Traumwelten verschwenden, wenn sie die Zeit nutzen konnte, um ihre Träume von einer besseren Welt wahr werden zu lassen?
Mit dem Stempel »geringfügig kontrollierend« unterlag Laurie auch nicht dem Zwang, sich zu verwandeln oder Sirenengesang zu trainieren, weshalb sie damals einem Team für zeitgenössische Literatur zugeteilt worden war – an der Seite von Josh. Nur in diesem Team waren die Gegner so ungefährlich, dass auf den mächtigen Sirenengesang verzichtet werden konnte. Dieser hatte sie nicht als Elementar zweiter Klasse behandelt wie viele andere Wächter. Er hat sich stets bemüht, ihr offenes Geheimnis zu schützen und nicht gleich jedem auf die Nase zu binden. Darin war er so erfolgreich gewesen, hatte quasi für zwei gearbeitet, dass ihre Minderwertigkeit mit den Jahren nahezu vergessen worden war und sich Laurie als richtige Wächterin gesehen hatte.
Das würde jetzt anders sein. Josh war nicht mehr hier. Ihr Magen krampfte sich zusammen wie bei einer großen Übelkeit. Sie holte tief Luft, um das Gefühl wegzuschieben.
Nach mehrmaligem Umsehen öffnete Laurie die rostige Pforte zur Villa und huschte durch den Garten. Im fahlen Mondlicht folgte sie dem schmalen Pfad, den etliche Füße in das hohe Gras getrampelt hatten, hinter das Haus. Ihr Ziel war die etwa zehn Meter vom Hauptgebäude entfernte halb verrottete Gartenhütte. Sie schlüpfte durch die verwitterte Tür.
In der Hütte mussten sich ihre Augen für einen Moment an die Dunkelheit gewöhnen, ehe sie den Ring am Boden erkannte, mit dem man den Deckel zum vermeintlichen Kartoffelkeller anheben konnte. Vorsichtig schlüpfte sie hindurch und stieg langsam die Holztreppe in die Dunkelheit hinab. Sie musste sich vorantasten, um das Ende des Ganges und die Tür zu finden.
Kaum geöffnet wurde Laurie wie auch beim ersten Mal vom plötzlichen Licht geblendet und blinzelte mehrmals, ehe sie etwas erkennen konnte. Sie stand im Hauptraum des Unterschlupfs und sah sich um. Der Raum war nicht sehr groß – gemessen an den Verhältnissen der Bibliotheca –, vielleicht fünfzehn auf fünfzehn Meter. Heute befanden sich noch mehr Personen hier als beim letzten Mal.
Perry hatte ihr bei ihrem ersten Treffen hier am Vortag erzählt, dass die Wächter unterschiedliche Anweisungen hatten, wann sie im Falle einer Evakuierung der Bibliotheca zum Unterschlupf kommen sollten. Nur zu gern hätte Laurie gewusst, welchen Zeitraum die Rückkehr umfasste und mit wie vielen Wächtern sie noch rechnen konnten.
Auf den diversen Sofas und Tischgruppen waren zahlreiche Wächter aller Altersklassen verteilt – aber verglichen mit der Menge an aktiven Wächtern, die an Vollversammlungen teilnahmen, war sie lächerlich. Laurie zählte vierzig Personen, die meisten kannte sie nur vom Sehen. Endlich erblickte sie Perry, der am anderen Ende des Raumes mit einem Mann am Tisch saß. Sein Gesicht erhellte sich, als er sie sah, und sie ging mit schnellen Schritten auf ihn zu.
Perry war außer Josh der Einzige, der sie von Anfang an unterstützt hatte. Ein Wasserelementar, der oftmals still und tiefgründig war und mit dem man einfach auch schweigend dasitzen konnte, was Laurie sehr genoss. Dennoch gab er ihr Antworten auf all ihre Fragen – sofern er denn eine Antwort hatte.
Sie trat gerade an den Tisch, als der andere Mann aufstand. Laurie wusste nicht, ob sie ihn schon einmal gesehen hatte, aber unter der Vielzahl an Wächtern musste das nichts heißen. Insbesondere die Teams der Erwachsenenliteratur waren ihr nicht alle bekannt – im Gegensatz zur Jugendliteratur gab es einfach zu viele Bücher für Erwachsene und hier auch noch die unterschiedlichsten Fachrichtungen. Nach dem letzten Samhain hatten sich viele der ehemaligen Wächter zudem auf andere Dinge konzentriert und überließen die Leseförderung den Jüngeren wie Lin, Natalia, Coral oder Laurie.
»Setz dich«, sagte Perry mit einer freundlichen Geste und Laurie nahm ihm gegenüber Platz.
»Gibt es Neuigkeiten aus der Bibliotheca?«, wollte sie gleich wissen.
Perry schüttelte zögernd den Kopf. »Wir wissen nicht mehr als die Fernsehsender. Thyras Seelenlose machen kurzen Prozess mit allen Menschen, die in Panik ausbrechen oder sich der selbsternannten Herrscherin entgegensetzen wollen. Seit den letzten Angriffen auf die Bibliotheca am späten Nachmittag ist es ruhig geworden. Wir sind uns nicht sicher, ob sie noch immer dort sind.«
Laurie hob die Augenbraue. Von Angriffen hatte sie nichts mitbekommen – war sie zu dem Zeitpunkt bei Supervisor Nate gewesen?
»Mehrere Jets sind über die Stadt geflogen und wollten Bomben über der Bibliothek abwerfen. Bomben, Laurie!« Perry schüttelte bedauernd den Kopf. »Wer auch immer das angeordnet hat, hat in Kauf genommen, dass die in ihren Häusern sitzenden Anwohner allesamt getötet werden. Und warum? Weil sie es nicht ertragen haben, ihre Macht zu verlieren?« Perry presste die Lippen zusammen. »Die Realität ist grausamer als jedes Buch.«
»Hatten sie Erfolg?«
»Natürlich nicht. Um die Bibliotheca liegt ein magischer Bannzauber, der das gesamte Gebäude schützt. Wir haben ein paar Kundschafter ausgesandt, sie kamen nicht einmal bis zum Eingang. Die Bomben sind rund fünf Meter über dem Dach der Bibliotheca detoniert. Glücklicherweise gab es dadurch keine Verletzten.« Perry seufzte. »Wenn die Menschen doch nur genauer über die Folgen ihres Handelns nachdenken würden.«
»Sind heute irgendwelche Einsätze geplant?«, fragte Laurie direkt. Sie musste wissen, was die Bibliothekare vorhatten, um Josh und die anderen aus der Buchwelt zu extrahieren, wie es hier genannt wurde.
»Laurie, ich weiß, dass du dir Sorgen um Josh machst«, setzte Perry an und Laurie schrak zusammen. Waren ihre Gefühle so offensichtlich? Perry schmunzelte. »Ich bin zwar alt, aber nicht blind. Jeder hier sieht, dass du und Josh sehr gut befreundet seid – ein gutes Team bildet.«
Laurie entspannte sich. Hier bei den Wächtern musste sie ihre Gefühle zwar nicht kontrollieren, sie hatte sich jedoch dafür entschieden, weil sie sich sicher gewesen war, dass sich zu viel Lockerheit auch auf die Zeit im Zentrum auswirken würde. Entweder kontrollierte sie ihre Emotionen überall oder nirgendwo. Sie konnte ihre Persönlichkeit nicht so weit spalten, dass sie wirklich zwei völlig unterschiedliche Identitäten lebte.
»Joshs Vater arbeitet fieberhaft mit den noch verbliebenen Mitgliedern der Zunft an einer Lösung. Doch ohne Otherside gibt es wenig Hoffnung.«
Laurie senkte den Blick, um die Qual in ihren Augen zu verbergen, die sich beim Gedanken an Joshs Schicksal darin spiegelte. Dann fiel ihr etwas ein: »Was, denkst du, würde passieren, wenn jemand Otherside zerstören würde?« Sie musste wissen, was Perry – oder die Bibliothekare – darüber dachten. »Wir wissen nicht, wer es gestohlen hat. Vielleicht war es Thyra oder einer ihrer Handlanger«, log sie, um ihre Frage etwas plausibler zu machen.
»Du meinst, Thyra würde ihre eigene Welt vernichten? Warum sollte sie das tun?«
»Um diejenigen, die sie schon einmal besiegt haben, für immer von sich fernzuhalten?« Sofort regte sich bei Laurie ein schlechtes Gewissen. Sie durfte kein Wissen aus dem Zentrum zu den Wächtern bringen. Doch hier ging es schließlich um Joshs Leben!
Perry fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht. »Ich weiß es nicht, Laurie. So einen Fall gab es noch nie.« Er überlegte einen Moment und legte die Stirn in Falten. »Ich denke, dass die Welt des Buches zerstört werden würde, sollte seine Basis, das Buch, nicht mehr existieren.«
»Vielleicht läuft uns schon die Zeit davon. Wir müssen etwas unternehmen!« Lauries Stimme war lauter und fordernder als üblich und ein paar Köpfe ruckten in ihre Richtung. Sofort machte sich Laurie kleiner. Eine gute Agentin durfte nie im Fokus der Aufmerksamkeit stehen, sonst würde man ihrem doppelten Spiel auf die Schliche kommen. Bei dem Gedanken hätte sie beinahe aufgelacht. Es war absurd: Sie hatte so viel Zeit ihres Lebens damit verbracht, Informationen der Wächter ins Zentrum zu tragen – nun machte sie genau das Gegenteil und versuchte, hoffentlich gut begründet, das Wissen des Zentrums zu den Bibliothekaren zu bringen.
»Ich werde das mit dem Rat abklären, in Ordnung? Peters Eltern haben ebenfalls großes Interesse daran, dass ihr Sohn wieder in unsere Welt zurückkehrt«, erklärte Perry.
Laurie hatte gehört, dass auch die Bernsteins nun in den Rat berufen worden waren. Zahlreiche Ratsmitglieder hatten den ersten Sturm auf die Bibliotheca nicht überlebt – wie so viele andere Wächter.
»Es wird heute zwei Patrouillen geben, die die Randgebiete der Stadt abklappern und versprengte Seelenlose auslöschen. Kann ich dich einteilen?« Perry blätterte in einem Schnellhefter vor sich, ehe er aufsah.
Laurie nickte. Sie würde tun, was sie konnte, um so viele von Thyras Schergen wie möglich zurückzuschicken.
»In einer halben Stunde besprechen wir den Einsatz.« Er nickte Laurie noch einmal zu und kritzelte dann in seinem Schnellhefter herum. Laurie stand auf und ging im Raum umher. Sie war nicht in der Lage, sich irgendwo zu setzen. Dazu war sie viel zu aufgeregt. Das Auf- und Abgehen machte es ihr leichter, ihre Emotionen zu kontrollieren.