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Willkommen in Vallantine, Georgia, wo du dein Lächeln findest … Zehn Jahre ist es her, dass Rebecca Moore das Kleinstadtleben gegen ihren großen Traum eingetauscht hat, eine preisgekrönte Journalistin zu werden – nur um diesen Traum dann zerbrechen zu sehen. Als dann auch noch ihre geliebte Großmutter stirbt, kommt sie wieder nach Hause, nach Vallantine, Georgia, wo sie einst Familie, Freundschaften und ihr Herz zurückgelassen hat. Doch ihre beiden besten Freundinnen aus Kindheitstagen sind entschlossen, sie nicht in Trauer versinken zu lassen. Das Trio hat zusammen die historische Stadtbibliothek geerbt, und sie wollen das marode Gebäude renovieren, um eine Buchhandlung daraus zu machen. Nicht umsonst waren die buchverliebten Freundinnen damals gemeinhin bekannt als die «Bookish Belles». Nur braucht Rebecca in der Zwischenzeit einen Job. Eine Stelle bei der lokalen Zeitung zu bekommen, ist kein Problem. Dummerweise ist der Chefredakteur ein schlecht gelaunter, besserwisserischer Mistkerl. Doch ganz Vallantine scheint zu glauben, dass sie dem sexy Yankee nicht widerstehen könne …
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Seitenzahl: 398
Veröffentlichungsjahr: 2025
Kelly Moran
Roman
Eine alte Bibliothek, eine neue Liebe
Rebecca Moore ist zurück in ihrer idyllischen Heimatstadt Vallantine, doch freuen kann sie sich darüber nicht: Ihre geliebte Großmutter ist verstorben. Zum Glück sind ihre beiden besten Freundinnen entschlossen, sie von ihrer Trauer abzulenken. Erster Schritt: die historische Bibliothek zu renovieren, um eine eigene Buchhandlung zu eröffnen. Nicht umsonst sind die buchverliebten Freundinnen gemeinhin als die «Bookish Belles» bekannt. Nur braucht Rebecca in der Zwischenzeit einen Job. Eine Stelle bei der lokalen Zeitung zu bekommen, ist kein Problem. Dummerweise ist der Chefredakteur aber ein schlecht gelaunter, besserwisserischer Mistkerl, der auch noch ihr neuer Nachbar ist. Wenn er nur nicht so sexy wäre …
Der hinreißend romantische Auftakt zur Bookish-Belles-Trilogie von SPIEGEL-Bestsellerautorin Kelly Moran.
Kelly Moran ist die Queen of Cozy Romance. Sie schreibt Wohlfühlgeschichten voller Romantik und Emotion, die sich durch ihre idyllischen Settings auszeichnen. Bereits ihrem ersten auf Deutsch erschienenen Buch «Redwood Love – Es beginnt mit einem Blick» gelang der Einstieg auf die Spiegel-Bestsellerliste. Seitdem wurden viele weitere ihrer Bücher zu Bestsellern. Nach mehreren Einzelbänden startet mit den «Bookish Belles» nun endlich ihre nächste große Buchreihe. Kelly lebt mit ihren drei Söhnen in South Carolina, USA, und arbeitet aktuell an ihrem nächsten Projekt.
Vanessa Lamatsch wurde 1976 in eine Familie von Tierärzten geboren. Doch sosehr sie Tiere auch mochte: Ihre größte Liebe galt immer den Büchern. Schon mit 14 Jahren begann sie, auf Englisch zu lesen, weil sie nicht auf die Übersetzungen warten wollte. Die logische Folge: Nach ihrem Abitur im Jahr 1996, einem Studium der Englischen Literaturwissenschaft und einem Aufbaustudiengang Buchwissenschaft sorgt sie seit 2008 dafür, dass Leser nicht mehr so lange auf neue Übersetzungen warten müssen.
Die englische Originalausgabe erschien 2025 unter dem Titel «In This Moment».
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, März 2025
Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
«In This Moment» Copyright © 2024 by Kelly Moran
Lektorat Christiane Wirtz
Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung Shutterstock
ISBN 978-3-644-01537-1
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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www.rowohlt.de
ich wende mich hiermit an euch, meine wunderbaren, treuen Leserinnen und Leser auf der ganzen Welt. Ich danke euch sehr dafür, dass ihr eine weitere Serie von mir lesen mögt. Ich freue mich, dass ihr den Bookish Belles eine Chance gebt, und hoffe von Herzen, euch gefallen ihre Geschichten. Diese Serie liegt mir sehr am Herzen. Nachdem mein Ehemann 2018 gestorben war, bin ich mit meinen drei Söhnen aus Wisconsin in den Süden der Vereinigten Staaten gezogen, um näher bei meiner Familie zu sein. Es war für uns eine gute Veränderung und ein wahrer Segen.
Die fiktive Stadt Vallantine liegt in den Südstaaten der USA, in Georgia. Ich lebe in South Carolina, das direkt an Georgia angrenzt. In den Vereinigten Staaten kann das Klima sehr unterschiedlich sein, und es gibt verschiedene Dialekte und Traditionen. Der Süden, besonders der zentrale Süden und der Südosten, kann daher wie ein völlig anderes Land wirken, und es gibt dort Redewendungen, die wir Southernisms nennen und die manchmal für den Rest der Welt schlichtweg keinen Sinn ergeben. Ich finde sie wahnsinnig komisch, daher werdet ihr in dieser Serie eine Menge davon entdecken.
Wie immer gibt es in meinen Geschichten viel Herz, heiße Szenen und Humor. Und natürlich spielen auch unsere geliebten pelzigen Haustiere eine Rolle! Familie und Freundschaften sind unglaublich wichtig, und sie stehen im Mittelpunkt dieser Serie. Neu und erfrischend an Vallantine ist die Liebe zu Büchern, die bei allem mitschwingt: eine Bibliothek, in der es spukt (wenn auch nicht auf unheimliche Art), und drei starke Protagonistinnen, die nach literarischen Heldinnen benannt sind. Was kann man sich mehr wünschen? Na ja, Liebe natürlich. Und davon gibt es in Vallantine jede Menge.
Viel Spaß beim Lesen!
Kelly Moran
XOXO
willkommen in Vallantine, Georgia, wo nur die Einwohner noch bezaubernder sind als die «Belle of Georgia»-Pfirsiche, die uns berühmt gemacht haben.
Gegründet 1870 von William und Katherine Vallantine, bietet unser gemütliches, pittoreskes Städtchen 2500 Leuten ein Zuhause. Das idyllische Vallantine liegt zwischen Statesboro und Savannah und schmiegt sich an den Ogeechee River. Für einen geruhsamen Schlaf stehen je nach Wunsch drei Pensionen und zwei B&Bs oder ein Hotel kurz hinter der Stadtgrenze zur Auswahl, und mehrere familiengeführte Restaurants bieten für jeden Geschmack kulinarische Genüsse an.
Bei Ihrem Besuch sollten Sie unbedingt an unserem Marktplatz vorbeischauen. Außerdem erwarten Sie 45 außergewöhnliche, inhabergeführte Geschäfte in den kleinen gepflasterten Straßen. Gönnen Sie sich eine Flussschifffahrt bei Sonnenuntergang oder eine Kutschenfahrt durch das historische Plantagenviertel. Genießen Sie einen Spaziergang über den Vallantine-Friedhof oder durch den Peach Park, wo Statuen an wichtige historische Persönlichkeiten erinnern und hundertjährige Eichen, überwuchert von Louisiana-Moos, Schatten spenden. Sie können sogar die ursprüngliche, immer noch erhaltene Bibliothek besichtigen, die William 1875 für seine Bücher liebende Katherine erbaut hat. Manche sagen, sie hätte das Gebäude nie wirklich verlassen und man könne zwischen den Regalen immer noch ihrem Geist begegnen, wie sie in einem ihrer Lieblingsbücher liest, nur darauf wartend, einem Besucher auf der Suche nach Erkenntnis behilflich zu sein.
Vielleicht sind Sie vom jährlichen Pfirsichfest oder dem Pekannuss-Festival in die Stadt gelockt worden, aber unser Südstaatencharme wird dafür sorgen, dass Sie am liebsten nie wieder abreisen würden. Gastfreundlichkeit ist unser zweiter Vorname. Vergessen Sie nicht, vor Ihrer Abreise auf jeden Fall Miss Katie Hallo zu sagen – dem ersten «Belle of Georgia»-Pfirsichbaum, der je in der Stadt gepflanzt wurde, benannt nach der hochgeschätzten Katherine Vallantine. In unserer Gegend ist man davon überzeugt, dass einem dies Glück und ein Leben voller Liebe beschert. Und hin und wieder, wenn sie in der richtigen Stimmung ist, erfüllt Miss Katie sogar Wünsche.
Ich hoffe, Sie alle bald wiederzusehen!
Gunner Davis,
Bürgermeister von Vallantine
Der heutige Tag war ein Desaster. Sie hatte in ihren achtundzwanzig Jahren auf dieser Erde schon viele schreckliche Tage erlebt – mehr als die Hälfte dieser Jahre hatte sie in genau dieser Stadt verbracht –, aber der heutige Tag war wirklich der Tiefpunkt.
Rebecca Moore stand im Vorgarten des bescheidenen Hauses ihrer Großmutter und kaute auf ihrer Wange. Sie trug nach der Beerdigung noch immer das schwarze Kleid, und ihre hochhackigen Schuhe baumelten an den Riemen von ihren tauben Fingern. Sie sollte reingehen. Sie musste Dinge regeln und ihr Leben in Ordnung bringen. Beides erschien ihr beängstigend, als würde es ihre Kräfte überschreiten. Also rührte sie sich nicht vom Fleck.
Die Schmerzen aufgrund ihrer verdammten Fibromyalgie waren schlimm in diesem Moment. Die quälenden Verspannungen in ihrem Nacken und ihren Schultern, die niemals weggingen, waren wahrscheinlich durch den Stress und den Schlafmangel noch verstärkt worden. Außerdem hatte sie heute Morgen vergessen, ihre Vitamine zu nehmen und ihre Dehnübungen zu machen. Sie war selbst schuld. Eine tiefe Erschöpfung lähmte sie geradezu – ein weiterer Nebeneffekt der Fibro, aber heute dreimal schlimmer als sonst.
In vollkommener Ignoranz ihrer schlechten Laune brannte die Sonne auf sie herunter. Die schwüle Luft war erdrückend. Zikaden zirpten, und eine rote Spottdrossel sang in einem Magnolienbaum ihr dreitöniges Lied. Die Luft roch nach Regen, den Rosenbüschen ihrer Großmutter und ein wenig nach dem Barbecue eines Nachbarn, der in seinem Garten grillte. Irgendwo in der Ferne brummte ein Rasenmäher. Aus der anderen Richtung trug der Wind das Lachen spielender Kinder heran.
Rebecca sollte eigentlich nicht hier sein. Für einen kurzen Besuch jederzeit. Aber nicht langfristig. Nicht für immer. Und besonders nicht, weil sie versagt hatte oder weil Gammy …
Ihre Kehle war wie zugeschnürt, und sie schluchzte leise. Heiße Tränen rannen über ihre Wangen und verschleierten ihren Blick.
Gammy war tot. Die Frau, die sie nach dem tragischen Unfalltod ihrer Eltern aufgenommen hatte, die sich um ihre Wehwehchen genauso gekümmert hatte wie um ihr gebrochenes Teenagerherz, war weg. Sie hätte nicht sterben dürfen. Vor allem nicht ohne Rebecca an ihrer Seite, die ihre Hand hielt.
Und trotzdem, sie hatten Gammy heute beerdigt.
Das letzte Mal war Rebecca an Weihnachten zu Hause gewesen. Vor nur wenigen Monaten. Und Gammy war fit wie ein Turnschuh gewesen. Sie hatte einen glasierten Schinken gemacht, Süßkartoffelauflauf, frittierte Okraschoten und Gingerbread-Cookies mit jeder Menge Zuckerguss, weil das Rebeccas Lieblingsessen war. Es hatte keine Rolle gespielt, dass sie nur zu zweit waren und die nächsten zwei Tage Reste essen mussten. Sie hatten nichts anderes gebraucht als die Gesellschaft der anderen, gut gefüllte Bäuche und ein Dach über dem Kopf.
Die Tatsache, dass sie nie wieder Gammys Cookies essen würde, versetzte ihr einen schmerzhaften Stich ins Herz. Das Leben war so vergänglich. Rebecca hatte es für selbstverständlich genommen.
Das Haus lag nicht unbedingt im besten Teil der Stadt, aber in Vallantine, Georgia, musste niemand seine Türen verschließen. Ein kleiner Bungalow mit zwei Schlafzimmern und einem winzigen Garten. Ein Durchschnittshaus wie alle anderen in dieser Straße, mit weiß-blauen Fensterläden, deren Farbe mit jedem Jahr mehr verblasste. Auf der Treppe zum Eingang standen mindestens zwanzig Auflaufformen, eine tröstende Geste von Bekannten und Nachbarn. Das tat man nun mal im Süden, wenn jemand starb. Man kochte. Riesige Mengen. Mehr, als eine Person jemals essen konnte. Das hatte sie nach ihrem Umzug in den Norden fast vergessen.
Sie fragte sich, ob sie mittlerweile ein Yankee geworden war. Sie hatte ihre kleine, pittoreske Heimatstadt direkt nach der Highschool verlassen, um in Boston aufs College zu gehen. Dann hatte sie sofort nach dem Abschluss einen Job bei einer Zeitung ergattert, mit großen Hoffnungen und einem Funkeln in den Augen. Sie hatte Großes erreichen wollen, die Welt verändern. Wie dumm von ihr.
Es war zehn Jahre her, dass sie Vallantine verlassen hatte, und sie hatte versagt. Sie hatte ihren lebenslangen Traum, eine preisgekrönte Journalistin zu werden, nicht verwirklichen können.
Vielleicht gehörte sie nirgendwohin.
Ein lauter Knall, gefolgt von dem Dröhnen eines Auspuffs, der auf dem letzten Loch pfiff, riss Rebecca aus ihren Gedanken. Es dauerte eine Sekunde, bis sie das Geräusch einordnen konnte. Sie schüttelte den Kopf, dann blickte sie mit einem Seufzen zu Boden.
Der gute alte Harold. Lieber Himmel, er lebte noch? Er musste schon hundert Jahre alt gewesen sein, als Rebecca in die Grundschule gekommen war. Das Einzige, was älter sein konnte als er, war die Erde. Oder sein Pick-up-Truck.
Sie beobachtete, wie eine alte Rostlaube die Straße entlangtuckerte, wobei der Wagen immer wieder anhielt, damit Harold die Post in die Briefkästen stecken konnte. Er winkte den Kindern zu, die ein paar Häuser entfernt im Garten spielten. Eine Welle der Nostalgie schlug über Rebecca zusammen, als Harold an ihrem Briefkasten anhielt und den Kopf aus dem Fenster streckte. Sein weißes Haar wurde vom Wind zerzaust, und die Sonne ließ die Falten in seinem Gesicht wie Schluchten wirken.
«Miss Rebecca, so wahr ich lebe.»
Ja, sie war ebenfalls überrascht, dass er noch am Leben war. «Schön, Sie zu sehen, Harold. Wie geht es Ihnen, Sir?»
«Ich komme zurecht, komme gut zurecht. Tut mir leid, dass Mavis gestorben ist.»
Ihr tat es auch leid. Sie hatte es von Scarlett, einer ihrer beiden besten Freundinnen, am Telefon erfahren müssen. «Danke, Sir.»
Er streckte den Arm aus dem Fenster, einen Stapel Umschläge in der Hand. «Wie lang wirst du bleiben?»
Sie nahm ihm die Post ab. «Dauerhaft.» Sie hütete sich, die Gerüchteküche anzufeuern, indem sie ihre Aussage weiter ausführte. Kleinstädte liebten Tratsch, und Vallantine war da nicht anders.
«Die Bookish Belles sind also wieder vereint.»
«Ja, Sir.» Das war das einzig Positive. Rebecca und ihre zwei besten Freundinnen waren quasi seit ihrer Geburt unzertrennlich. Ihre Mütter hatten gemeinsam den ersten Buchclub der Stadt gegründet und ihre Töchter nach literarischen Südstaatenheldinnen benannt. Die Stadt hatte sie drei schon im Kindergarten die Bookish Belles getauft, und der Spitzname war hängen geblieben. «Es ist schön, wieder zu Hause zu sein.»
Eine Wahrheit, die eine Lüge verschleierte.
«Darauf wette ich, Schätzchen.» Er kniff die Augen zusammen. «Du wirst dich jetzt nicht wie ein Yankee aufführen, oder?»
Seltsam, dass ihr selbst dieser Gedanke auch schon gekommen war. «Das würde mir nicht im Traum einfallen, Sir.»
Sie war der Ansicht, dass sich ein großer Teil der Bewohner der Südstaaten benahm, als befänden sie sich noch mitten im Bürgerkrieg. Oder als hätten sie nicht verloren.
«Freut mich zu hören. Ich wünsche dir einen schönen Tag.»
«Ihnen ebenfalls.»
Am Haus neben Gammys schlug die Fliegengittertür zu. Als sie hinübersah, entdeckte sie einen Mann auf der Treppe, die Hände in die Hüften gestemmt. Seltsamerweise trug er einen grauen Anzug, trotz der Wärme des späten Frühlingsmorgens. Die meisten Leute in dieser Gegend kleideten sich eher leger. Sein schwarzes Haar war oben relativ lang, an den Seiten aber kurz geschnitten. Er schien in ihrem Alter zu sein. Ein Bartschatten lag auf Wangen und Kinn. Von hier aus konnte sie seine Augen nicht erkennen, aber seine Schultern wirkten verkrampft, während er steif und breitbeinig dort stand. Sie hatte ihn noch nie gesehen, aber in einer Stadt mit zweitausendfünfhundert Einwohnern und einer ständigen Flut von Touristen konnte sie nicht jeden kennen.
Harold rollte am Briefkasten des Nachbarn vorbei, warf die Post ins Gras und fuhr weiter.
Rebecca versuchte, ihr Lachen zu unterdrücken, versagte aber kläglich.
«Verdammt noch mal!» Der Mann sprang die drei Stufen seiner vorderen Veranda nach unten und stapfte zum Briefkasten. «Was zur Hölle soll das? Ich bin es langsam wirklich leid …»
Harold bog um die Ecke, dann verschwand er mit einem Winken aus dem Blickfeld.
«…mit mir selbst zu reden.» Der Mann ließ die Arme frustriert sinken, sodass seine Hände gegen seine Schenkel schlugen.
Rebecca grinste. «Süßkram.»
Der Mann drehte sich um, dann schossen seine Augenbrauen vor Überraschung in die Höhe, als er sie entdeckte. «Hi.»
Grün. Seine Augenfarbe war atemberaubend grün, wie bei einem irischen Teufelsbraten. Und dazu besaß er einen tollen Körper mit breiten Schultern und schmalen Hüften und war einen guten Kopf größer als sie – was hieß, dass er ungefähr einen Meter fünfundachtzig groß sein musste. Sein Akzent verriet, dass er nicht von dieser Seite der Mason-Dixon-Linie stammte. Aus dem Mittleren Westen vielleicht?
Sie lächelte, immer noch amüsiert. «Hallo.»
Er kratzte sich das Kinn. «Süßkram?»
«Ja.» Sie deutete auf die Post auf dem Boden. «Harold liebt Süßkram und hasst Neuankömmlinge. Legen Sie Cookies in Ihren Briefkasten und lassen Sie die Klappe offen. Er wird es als Zeichen des Respekts deuten und schon bald freundlicher zu Ihnen sein.»
Er starrte sie an, als hätte er einmal zu oft einen Schlag an den Hinterkopf bekommen. «Cookies», wiederholte er ausdruckslos.
«Am besten wären selbst gebackene Kekse. Sie wollen sicher nicht alles noch schlimmer machen, oder?»
«Selbst gebackene Kekse.» Wieder starrte er sie an. Nach einer Weile rieb er sich das Gesicht. «Was für ein Quatsch!»
«Sie sind nicht aus dieser Gegend, oder?»
«Nein. Wo ich herkomme, stecken die Postboten die Post einfach in die Briefkästen und müssen nicht mit Süßigkeiten bestochen werden. Ich sollte das Postamt anrufen und mich beschweren.»
Da war jemand aber wirklich streitlustig.
«Harold ist das Postamt. Das gesamte Postamt.»
Er verschränkte die Arme vor der Brust, die Augenbrauen ungläubig zusammengezogen. «Wie bitte?»
Sie zuckte mit den Achseln. «Es gibt noch ein paar Leute, die Pakete sortieren oder ans Telefon gehen. Andere liefern die Post an die Läden und Firmen aus. Aber letztendlich schmeißt er den Laden allein.»
Der Mann stieß ein trockenes, absolut humorloses Lachen aus. «Natürlich. Wie hätte ich in diesem hinterwäldlerischen Kaff auch etwas anderes erwarten sollen?»
Jetzt zeigte er sein wahres Gesicht. Verärgerung ließ ihre Schläfen pochen. Er war wahnsinnig attraktiv mit seinem kantigen Gesicht und dem breiten Kinn, den dichten Wimpern und vollen Lippen, aber er trug die Nase so hoch, dass er in einem Gewitter wahrscheinlich ertrinken würde.
«Wir mögen in Ihren Augen einfache Leute sein, aber mit Honig fängt man Fliegen. Das sollten Sie nicht vergessen, wenn Sie hier zurechtkommen wollen.»
Sie war fertig mit ihm, also ging sie mit großen Schritten zum Haus. Sie hatte schon die Veranda erreicht und wühlte in ihrer Tasche nach dem Schlüssel, als er hinter ihr rief: «Haben Sie das Haus gekauft?»
Sie drehte sich um und starrte ihn böse an, gab sich jedoch nicht die Mühe zu antworten. Er hatte kein Recht, die Nase in ihre Angelegenheiten zu stecken.
«Mavis’ Sachen wurden noch gar nicht ausgeräumt.»
Mit schief gelegtem Kopf überlegte sie sich eine Antwort. Wenn er auch nur ein schlechtes Wort über ihre Gammy verlor, würde sie ihn an Ort und Stelle filetieren.
«Dessen bin ich mir bewusst. Kannten Sie sie?» Gammy hatte ihn in ihren wöchentlichen Telefonaten nie erwähnt.
«Ja.» Er kam ein paar Schritte näher und verschränkte wieder die Arme vor dem Körper. «Sie war schließlich meine direkte Nachbarin und gehörte zu den wenigen Lichtblicken in Vallantine bisher. Ich habe ihr jeden Sonntag den Rasen gemäht, und sie hat Pfirsichkuchen für mich gebacken.»
Nun, sie wollte verdammt sein. Vielleicht besaß er hinter dieser schlecht gelaunten Fassade ja doch ein Herz.
«Das war sehr nett von Ihnen.»
«Nicht wirklich. Es gehörte sich einfach. Sie war nicht mehr die Jüngste und sollte sich wirklich nicht mit einem Rasenmäher rumschlagen. Abgesehen davon würde ich alles für ihre Kuchen tun. Haben Sie je einen probiert? Es gibt nichts Besseres.»
Überwältigende Trauer, so tiefgehend und so schmerzhaft, schnürte Rebecca die Kehle zu, bis sie kaum mehr atmen konnte. Gammy hatte tatsächlich den weltbesten Pfirsichkuchen gebacken, und Rebecca würde ihn nie wieder essen können. Ihre Augen brannten, also schloss sie einen Moment die Lider, um sich zu sammeln.
«Mir war nicht klar, dass das Haus verkauft wurde.»
«Das wurde es auch nicht.» Sie räusperte sich und atmete einmal tief durch. «Ich bin ihre Enkelin.»
Sie wartete seine Antwort nicht ab. Der heutige Tag war schrecklich gewesen und hatte sie völlig überfordert – wie eigentlich die gesamte letzte Woche. Ihre Schmerzen waren in diesem Moment lähmend. Sie wollte einfach nur von Gammy getröstet werden, wollte allein sein. Sie schloss die Tür auf, betrat das Haus und drückte sie sofort hinter sich zu.
Dann presste sie die Stirn gegen das Holz und atmete tief durch, um die Tränen zurückzudrängen. Allerdings half das wenig, weil sie damit die vertrauten Gerüche ihres Zuhauses in sich aufnahm. Zitronenreiniger und Weichspüler. Gammys Gardenien-Parfüm und – seltsamerweise – Taschentücher. Dieser weiche, frische Geruch, den sie immer verbreiteten: vertraut und normalerweise beruhigend. Heute jedoch erinnerte sie das alles nur daran, was sie verloren hatte. Schuldgefühle machten ihr das Herz schwer.
Sie wandte sich um, lehnte sich gegen die Tür und schleuderte ihre Schuhe auf die Fußmatte. Das kleine Wohnzimmer – eingerichtet mit einer weiß-golden karierten Couch, zwei gelben Lehnsesseln, einem Flatscreen-Fernseher und ein paar kleinen Eichentischen mit Lampen darauf – sah genauso aus, wie Gammy es zurückgelassen hatte. Familienfotos in nicht zueinander passenden Rahmen hingen an den elfenbeinfarbenen Wänden, und auf den Tischen standen Kristallschalen und Vasen. Rebecca hatte vor ungefähr fünf Jahren die Kosten dafür getragen, den Teppichboden gegen Parkett austauschen zu lassen, als sie ihre Antrittsprämie bei der Zeitung bekommen hatte. Gammy hatte schon vor Jahren ihren Beruf als Friseurin aufgegeben und sich zur Ruhe gesetzt und daher nicht viel Geld besessen.
Seit Rebecca in Vallantine angekommen war, hatte sie die meiste Zeit in ihrem alten Schlafzimmer verbracht und sich kaum im Rest des Hauses aufgehalten. Es war ihr einfach zu schwergefallen. Selbst jetzt rechnete sie fast damit, dass Gammy aus einem anderen Raum trat, Rebecca in die Arme zog und ihr etwas zu essen anbot, mit einem Kommentar darüber, dass sie zu dünn war. Aber wenn Rebecca nicht wahnsinnig werden wollte, durfte sie der Situation nicht länger aus dem Weg gehen.
Aber zuerst: gemütliche Klamotten.
Sie stieß sich von der Tür ab und ging den Flur zur Rechten entlang, vorbei an Gammys Zimmer und dem Bad. Sie erreichte ihr Schlafzimmer, das sich seit ihrem Weggang zum College nicht verändert hatte. Ein breites Bett mit einer Tagesdecke mit purpurfarbenen Blüten darauf stand zwischen den zwei Fenstern an der hinteren Wand. Links stand eine hohe, weiße Kommode neben einem winzigen Schreibtisch, ein Schrank rechts davon. Die Wand mit der Tür verschwand hinter Bücherregalen. Sie wusste, ohne hinzusehen, dass sie alles von Klassikern über Krimis bis zu Young-Adult-Liebesromanen enthielten. Bücher, ihre Zuflucht vor der Welt. Bücher enttäuschten sie nie und hatten auch keine Erwartungen an sie.
Sie zog die Vorhänge vor, dann kramte sie ein Paar Jogginghosen und ein T-Shirt aus der Kommode und warf ihr Kleid in den Wäschekorb. Auf dem Weg ins Bad band sie sich das Haar zu einem Pferdeschwanz. Die grauen Fliesen waren kalt unter ihren nackten Füßen und erinnerten sie daran, Socken anzuziehen. Die minzgrüne Matte vor der Badewanne passte farblich zum Duschvorhang, den sie heute Morgen offen gelassen hatte, weil sie in Eile gewesen war, um rechtzeitig zur Beerdigung zu kommen.
Gammys Duschsachen starrten Rebecca an, als forderten sie sie auf, sich um sie zu kümmern – sie entweder wegzuwerfen oder als Erinnerungsstücke verstauben zu lassen. Sie selbst verwendete diese Produkte nicht, aber sie fühlte sich noch nicht bereit, sie wegzuräumen. Stattdessen schloss sie den Vorhang, wusch sich das Make-up aus dem Gesicht und kehrte in ihr Zimmer zurück, um Socken zu suchen.
Sie ging durch den Flur ins Wohnzimmer und dann in die Küche, um eine Kanne Kaffee aufzusetzen. Dunkelblaue Schränke und weiße Fliesen. Die Küche war alt, aber wie jeder andere Raum im Haus blitzblank. Kein Krümel, kein Staubkorn. In einer Ecke stand ein kleiner Tisch für zwei Personen mit einer Obstschale darauf. Rebecca schluckte schwer, als die Erinnerungen in ihr aufwallten.
Genau an diesem Tisch hatten sie gesessen, als Gammy der am Boden zerstörten achtjährigen Rebecca erklärt hatte, dass ihre Eltern auf dem Heimweg vom Abendessen bei einem Unfall gestorben waren. Nach ihrer Date-Night. Ihre Eltern waren jeden Monat einmal miteinander ausgegangen, und Rebecca durfte in diesen Nächten immer bei Gammy übernachten. Es hatte an diesem Abend schrecklich geregnet, die Ausläufer eines Hurrikans, der knapp an ihrer Stadt vorbeigezogen war. Selbst heute noch fühlte Rebecca sich bei Gewittern unbehaglich. Himmel, wie sie geschluchzt und geschrien und sich aufgeführt hatte. In diesem Alter war sie zu sehr in ihrem eigenen Schmerz gefangen gewesen, um sich Gedanken darüber zu machen, wie ihre Großmutter sich fühlte oder wie niederschmetternd die Situation für sie gewesen sein musste. Sie hatte ihren einzigen Sohn und dessen Ehefrau beerdigen müssen, und das sollte kein Elternteil je erleben. Dennoch hatte Rebecca sich keinen Moment gefürchtet. Gammy hatte sich um sie gekümmert, sie hatte sich um alles gekümmert. So wie immer.
Gammy war allein gestorben. Sie war einfach eingeschlafen und nicht wieder aufgewacht. Rebecca konnte sich keinen friedlicheren Tod vorstellen, aber trotzdem quälten sie Schuldgefühle, weil sie nicht hier gewesen war. Ihre Freundinnen Scarlett und Dorothy, die mehrfach die Woche bei Gammy vorbeigekommen waren, hatten sie gefunden.
Jetzt gab es niemanden mehr, der sich um sie kümmerte. Ihre gesamte Familie war tot. Die Eltern ihrer Mutter hatten in South Carolina gelebt und waren so früh gestorben, dass Rebecca keine Erinnerung an sie besaß. Ihr Großvater vonseiten ihres Vaters, Gammys Ex-Ehemann, hatte sich von ihr scheiden lassen, als Daddy noch ein Junge war. Er hatte das Eheleben einfach sattgehabt und war verschwunden und niemals zurückgekehrt. Gammy hatte ihren Sohn ganz allein großgezogen, nur mit dem Gehalt einer Friseurin, und das in einer Zeit und einer Stadt, wo so etwas mit Stirnrunzeln registriert wurde. Damals ließ man sich nicht scheiden. Gammy war die stärkste Person, die Rebecca je kennengelernt hatte. Rebecca selbst mochte inzwischen erwachsen sein, aber sie hatte ihr Leben definitiv nicht auf der Reihe. Tief in ihrem Inneren war sie davon ausgegangen, dass Gammy immer da sein würde, um die Scherben aufzusammeln, weise Ratschläge zu geben und sie im Arm zu halten, wenn sie Trost brauchte.
Ein energisches Klopfen und das Geräusch der aufschwingenden Eingangstür sorgten dafür, dass Rebecca den Blick vom Tisch losriss und aufblickte. Ihr Pulsschlag beschleunigte sich.
«Rebecca? Wo bist du, Süße?»
Ein Seufzen, dann lächelte sie. Es war nur Scarlett. Offenbar hatte Rebecca zu lange in der Großstadt gelebt, da sie plötzlich in Panik geriet, weil jemand in Vallantine einfach so ihr Haus betrat.
«Wir haben eine Stärkung mitgebracht.» Dorothy war bei ihr.
Gott, wie sehr sie ihre besten Freundinnen vermisst hatte.
«Ich bin hier», rief Rebecca und trat ins Wohnzimmer. Was für ein wunderbarer Anblick. Sie hatte den beiden auf der Beerdigung gesagt, sie sei in Ordnung und die beiden bräuchten nicht vorbeizuschauen. Offensichtlich kannten sie sie zu gut.
Dorothy hielt eine braune Papiertüte an die Brust gedrückt und trug einen schlichten weiß-blauen Pyjama. Ihr rotes Haar reichte ihr nur noch knapp über die Schultern – eine Neuerung seit Rebeccas Besuch an Weihnachten. Die Videotelefonate jede Woche konnten persönliche Treffen einfach nicht ersetzen.
Sie hätte fast gelacht bei Scarletts Anblick in ihrem leuchtend roten, glitzernden Pyjama. Sie hielt eine Plastiktüte in der einen Hand und strich sich mit der anderen ihre langen kakaofarbenen Locken über die Schulter nach hinten. Nur sie konnte Make-up mit einem Pyjama tragen und dabei gut aussehen.
«Was habt ihr mitgebracht?» Rebecca nahm Dorothy die Tüte ab und schaute hinein. Yesss. Alkohol. Gammy hatte keinen im Haus. «Gott segne dich.»
Scarlett hob ihre Tüte an. «Und Snacks, aber, ähm …» Sie deutete mit dem Daumen Richtung Tür. «Weißt du, dass auf deiner Treppe quasi das komplette Angebot eines Restaurants steht?»
«Mist! Das hatte ich ganz vergessen.» Rebecca stellte die Tüte auf einen Beistelltisch. «Helft mir, das Zeug reinzutragen, ja? Ich hatte es so eilig, dem neuen Nachbarn zu entkommen, dass ich nicht mehr daran gedacht habe.»
Scarlett stemmte eine Hand in die Hüfte. «Wieso wolltest du deinem neuen Nachbarn entkommen?»
«Weil er ein Yankee-Arschloch ist.»
Scarlett presste die Hand an die Brust und keuchte. «Wie voreingenommen von dir. Das gefällt mir.»
Dorothy öffnete die Tür, schnappte sich zwei Aufläufe und trug sie in die Küche. Scarlett und Rebecca kümmerten sich um den Rest der Gerichte, bis alles im Kühlschrank untergebracht war. Danach machten sie es sich im Wohnzimmer gemütlich.
«Also, was hat es mit dem Nachbarn auf sich? Name, Alter, Details. Wenn du das Wort Yankee in den Mund nimmst, obwohl du seit einem Jahrzehnt selbst im Norden wohnst, muss das etwas bedeuten.» Scarlett wedelte mit ihrer manikürten Hand herum. «Spuck es aus.»
«Dieses Gespräch erfordert Cocktails.» Und wahrscheinlich auch Schokolade.
«Ich kümmere mich darum.» Dorothy stand auf und wühlte in den Tüten herum. Sie holte Gläser aus Gammys Geschirrschrank, dann mischte sie Pfirsichschnaps, Brandy, Grenadine und Zitronenlimonade für ihren üblichen Georgia Sunset. Nur gut, dass sie die Aufgabe übernommen hatte, weil Scarlett, laut Dorothy, immer zu viel Alkohol verwendete.
Sie reichte ihnen jeweils ein Glas. «Bitte schön!»
Rebecca nippte an ihrem Cocktail. «Verdammt, das tut gut.» Sie zog die Beine unter den Körper und lehnte sich in ihrem Sessel zurück. «Ich kenne den Namen des Nachbarn nicht, aber er ist ungefähr in unserem Alter. Er hat Vallantine ein hinterwäldlerisches Kaff genannt.»
Dorothy verzog das Gesicht. «Das ist übel.»
«Definitiv.» Scarlett legte den Kopf schief. «Aber wenn man es mit den Augen eines Neuankömmlings betrachtet, kann ich ihn ein bisschen verstehen. Wie lange ist er schon hier?»
«Weiß ich nicht. Er hat sich aufgeregt, weil Harold seine Post auf den Boden geworfen hat, statt sie in den Briefkasten zu stecken.»
«Ah, also noch nicht lange genug, um zu wissen, dass er Harolds Vorliebe für Süßes ausnutzen muss.» Scarlett nickte verständnisvoll. «Vielleicht sollte man nachsichtig mit ihm sein. Sieht er gut aus?»
Dorothy warf ihr einen bitterbösen Blick zu. «Inwiefern spielt das eine Rolle?»
Rebecca lachte. Wie sehr sie ihre Freundinnen doch vermisst hatte – das alles hier. Sie waren drei sehr verschiedene Frauen mit sehr verschiedenen Persönlichkeiten, doch sie passten einfach zusammen. Sie ergänzten einander und unterstützten und ermunterten sich gegenseitig. In der Gesellschaft ihrer Freundinnen fühlte Rebecca sich immer, als warte sie auf die Pointe eines Witzes.
Eine Blondine, eine Brünette und eine Rothaarige gehen in eine Bar …
«Also? Sieht er gut aus?»
Rebecca seufzte. «O ja. Er ist definitiv attraktiv.» Aber er war auch der Meinung, dass die Sonne nur aufging, um ihn krähen zu hören. Nein, vielen Dank.
Graham Roberts saß in einer beliebten Kneipe im Touristenviertel an einem Ecktisch und starrte in sein Bier. Tipsy Turtle – ehrlich, so hieß der Laden. Er lag zwischen dem What a Pickle-Deli und dem mexikanischen Restaurant Guac On in dem Teil von Vallantine, der als historische Altstadt galt. Für die Stadtbewohner war es der Marktplatz.
Eine alte Bibliothek, heruntergekommen und baufällig, stand an dem einen Ende dieses Platzes, flankiert von einem Park und einem Friedhof. Ein Stück davor erhob sich ein riesiger, hundertfünfzig Jahre alter Pfirsichbaum, der keine Früchte mehr trug. Die Einwohner nannten ihn «Miss Katie», nach der Ehefrau des Stadtgründers. Sie und der Baum waren in der Gegend ziemliche Legenden. Den Stamm umgab ein schmiedeeiserner Zaun, und es standen Bänke davor, sodass man die Schönheit des Baums genießen konnte. Als Graham die Geschichte zum ersten Mal gehört hatte, waren ihm fast die Augen aus dem Kopf gefallen, weil er sie so heftig verdreht hatte. Die Bibliothek hatte früher den Nachkommen der Vallantine-Familie gehört, aber inzwischen war das Gebäude im Besitz anderer Leute. In den zwei Monaten, die er nun hier lebte, hatten sie nichts daran gemacht. Offenbar spukte in dem Gebäude dieselbe Frau, nach der der Baum benannt war, aber nicht auf unheimliche Art. Noch ein Augenrollen.
Um den Marktplatz herum und in den benachbarten Straßen gab es kleine Läden und Restaurants mit farbenfrohen Markisen, gepflasterte Wege, altmodische Laternenpfähle aus Gusseisen und sogar Blumenkästen auf den Bürgersteigen. Die Kirschbäume standen in voller Blüte und verteilten ihre Blütenblätter überall. Eine pittoreske Kleinstadt. Das musste er Vallantine lassen – der Ort war hübsch und die Einwohner freundlich. Und das Wetter war weitaus besser als in Minnesota, das war mal sicher.
«Du trinkst ja gar nicht.»
Er sah Forest an, der neben ihm saß, bevor er den Blick wieder auf sein unberührtes Ale richtete. Sie waren gemeinsam auf dem College gewesen und hatten Kontakt gehalten, als Forest hierher in seine Heimat zurückgezogen war, während Graham in Minneapolis geblieben war. Und hätte es Forest nicht gegeben, hätte Graham nach dem Skandal wirklich in der Scheiße gesessen.
«Tut mir leid. Ich war in Gedanken woanders.» Er nippte an seinem Bier und sah sich um.
Die Tische, Bar und der Boden waren aus poliertem dunklem Holz, die Wände in einem dunklen Blau gestrichen, mit einer Decke in Aquamarin und einem Gemälde aus Strudeln, Luftbläschen und einer riesigen Meeresschildkröte. Auf den Tischen standen kleine Laternen aus Metall, und die Deckenbeleuchtung waren neonblaue Hängelampen. Es war ein hübscher Laden, so wie er es aus der Stadt kannte – und weniger wie die Bars der Einheimischen in den Vororten.
Die Klientel stammte überwiegend nicht von hier, zumindest schloss er das aus den T-Shirts der Gäste und den Gesprächen, die er hören konnte.
«Geht’s dir gut, Mann?»
Graham musterte seinen Freund, mit seinem kurz geschnittenen, lockigen braunen Haar und dem Bartschatten auf dem breiten Kinn. Angesichts der Sorge, die aus Forests dunkelbraunen, fast schwarzen Augen leuchtete, verkrampfte sich Grahams Magen reuevoll. Er versuchte, ein neues Leben zu beginnen und seine Karriere wiederaufzubauen, während Forest gerade eine hässliche Scheidung hinter sich hatte. Sie gaben ein jämmerliches Paar ab.
«Ja, Mann. Tut mir wirklich leid.» Er entschuldigte sich ständig, es war erbärmlich. «Wie läuft es bei der Arbeit?»
Forest hatte auf Wunsch seines Vaters an der Alma Mater seines Dads studiert, damit er eines Tages die Bank übernehmen konnte. Momentan war er für die Kreditabteilung verantwortlich, bis sein Vater in den Ruhestand ging. Er sprach nur selten, wenn überhaupt je, über seinen Job, daher hatte Graham den Eindruck, dass er nicht wirklich glücklich mit seiner Situation war.
«Ach.» Forest zuckte mit den Achseln. «Alles beim Alten. Nichts Aufregendes. Aber ich werde mir bald für die Historische Gesellschaft die Renovierungspläne der Bibliothek ansehen. Darauf freue ich mich schon.»
«Renovierung?» Graham hatte in der Stadt ein paar Gesprächsfetzen zu dem Thema aufgeschnappt, aber sie ergaben für ihn noch kein komplettes Bild. Seit er hier angekommen war, war das Gebäude geschlossen. «Was soll denn damit passieren?»
«Ich bin mir noch nicht sicher. Ich habe am Montag ein Treffen mit den Belles.»
Die Belles? War das eine Art Gartenclub?
Forest nahm einen Schluck von seinem Bier, dann bemerkte er Grahams fragende Miene. «Manchmal vergesse ich, dass du dich nicht allzu gut hinter den Kulissen von Vallantine auskennst.» Er lachte leise, dann lehnte er sich auf seinem Stuhl zurück. «Also, die Vallantine-Bibliothek wurde vom Gründer der Stadt, William Vallantine, für seine Ehefrau Katherine erbaut, die eine begeisterte Leserin war. Die Bibliothek stand auf dem Anwesen der beiden, bis 1898 ein Hurrikan das Herrenhaus zerstört hat, wobei einige Mitglieder der Familie ums Leben kamen. Dort befindet sich jetzt der Park. Die Bibliothek blieb unversehrt. Vor ungefähr einem halben Jahr hat der letzte lebende Nachkomme, Sheldon Brown, beschlossen, dass er sich nicht mehr darum kümmern kann. Also haben er und seine Frau Rosemary die Bibliothek den Bookish Belles überschrieben.»
Teile davon wusste Graham aus Gesprächen in der Stadt oder mit seinen Angestellten, aber … «Bookish Belles?» Das gab es nur in den Südstaaten. Manchmal fühlte er sich hier wirklich wie in einem anderen Land.
«Ja. Rosemary Fillmore – oder jetzt Brown – war meine Lehrerin in der achten Klasse, und die Belles waren ihre Lieblingsschülerinnen. Wir waren im selben Abschlussjahrgang. Sie lieben alles, was mit Literatur zu tun hat. Ihre Mütter haben vor langer Zeit sogar einen Buchclub gegründet. Keine Ahnung, ob es den Club noch gibt. Da müsste ich Mama fragen.»
Ah, okay. Wenn das so war, waren diese Frauen wahrscheinlich genau die richtigen Personen, um die Verantwortung für eine historische Bibliothek zu übernehmen.
«Wenn man von den Teufelinnen spricht.» Forest deutete mit dem Kinn Richtung Bar. «Da sind sie.»
An der Bar drängten sich einige Leute, aber nur eine Dreiergruppe Frauen. Sie trugen Pyjamas.
«Eine Blondine, eine Brünette und eine Rothaarige. Klingt nach dem Anfang eines Witzes.»
Forest lachte schnaubend. «Die Rothaarige ist Dorothy, benannt nach dem Zauberer von Oz. Sie ist Buchhalterin. Die Brünette, die aussieht, als wäre sie mit Photoshop bearbeitet? Das ist Scarlett, aus Vom Winde verweht, offensichtlich. Witzigerweise gehört ihr eine Plantage in der Gegend, von dort führt sie ihre Event-Agentur. Die Blondine ist Rebecca aus …»
«Huckleberry Finn. Tom Sawyers temperamentvolle Freundin.»
Das war Grahams Lieblingsbuch. Er konnte ihr Gesicht nicht sehen, weil sie mit dem Rücken zu ihm stand, aber sie ähnelte sehr Mavis’ Enkelin von nebenan. Heute Nachmittag hatte er sich ihr gegenüber wie ein Trottel benommen. Nicht absichtlich, aber trotzdem.
«Genau die. Sie ist nach dem Tod ihrer Großmutter gerade erst wieder in die Stadt gezogen.» Die Erkenntnis blitzte in Forests Miene auf. «Deine alte Nachbarin.»
Graham brummte. Dann war sie es also wirklich. «Ich schulde ihr eine Entschuldigung. Ich bin vorhin bei ihr ins Fettnäpfchen getreten.»
«Ach ja? Was hast du getan?»
«Nichts, was sich nicht in Ordnung bringen ließe.» Und er wollte es in Ordnung bringen. Er hatte vorschnell geurteilt und schlecht gelaunt Blödsinn von sich gegeben, statt sich zurückzuhalten. Dabei hatte sie nur versucht, ihm Tipps zu geben. Wenn sich das herumsprach, wäre das noch ein Grund mehr für die Bewohner dieser Stadt, ihn zu meiden … abgesehen davon, dass er der Neue aus dem Norden war.
Irgendwann wandte Rebecca sich von der Bar ab und reichte ihren Begleiterinnen Tüten mit Essen zum Mitnehmen. Sie wirkte ganz anders als die Frau, die er im Vorgarten kennengelernt hatte. Die sorgfältig gestylte Frisur ihres champagnerfarbenen Haares, das perfekte Make-up und das elegante schwarze Kleid waren verschwunden. Stattdessen trug sie eine graue Jogginghose, ein pinkfarbenes T-Shirt, keinerlei Schminke, und ihr Haar war zu einem unordentlichen Dutt gebunden. Doch am auffälligsten war, dass ihre von Trauer gezeichnete Miene einem sorglosen Lächeln gewichen war. Einem Lächeln, das ihre Augen zum Strahlen brachte.
Es waren wunderschöne Augen. Babyblau und fast zu groß für ihr Gesicht. Diese Augen forderten Aufmerksamkeit und hatten ihm heute Nachmittag den Wind aus den Segeln genommen.
Aber Rebecca so, wie sie jetzt war? Verdammt. Nichts war heißer als eine Frau in all ihrer Natürlichkeit, ohne jeglichen Schnickschnack.
Sie entdeckte ihn quer durch den Raum, und ihre Blicke trafen sich. Für einen Moment blieb die Zeit stehen, und ihm wurde heiß, weil er ein Kribbeln in seiner Brust verspürte.
Ihr Lächeln verblasste, und da wusste er, dass sie nicht dieselbe magnetische Anziehungskraft spürte wie er. Zu schade.
Sie drehte den Kopf, um etwas zu ihren Freundinnen zu sagen, dann kam sie in seine Richtung. Die beiden anderen folgten ihr. Zusammen erinnerten sie ihn an eine Mädchenclique in der Highschool.
Sie schlenderte lässig auf seinen Tisch zu. Ihre Hüfte schwang nach rechts, nach links. Toller Körper. Volle Brüste, die Katz und Maus mit dem V-Ausschnitt ihres T-Shirts spielten. Unendlich lange Beine. Sie war schlank, fast schon zart, aber sein Instinkt verriet ihm, dass in diesem zerbrechlichen Körper ein Rückgrat aus Stahl steckte, das unnachgiebig war.
Starke Frauen waren sexy.
Sie stützte eine Hand auf den Tisch – kein Ring, wie er bemerkte – und lehnte sich vor. «Forest, schön, dich zu sehen. Ist eine Weile her.» Sie richtete ihren Blick auf Graham. «Du solltest sorgfältiger darauf achten, in welcher Gesellschaft du dich bewegst.»
«Wow.» Ein Lachen, dann lehnte Forest sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. «Du hast sie wirklich gegen dich aufgebracht, mein Freund.»
Gnade. Sie war heiß wie die Hölle und hatte einen hitzigen Charakter, genau wie ihre literarische Namensgenossin. Bei ihrer ersten Begegnung hatte er nur einen leichten Anflug von Akzent gehört, kaum wahrnehmbar, aber jetzt verstärkte sich der gedehnte Südstaatenakzent, als wappne sie sich für einen Kampf. Die Hitze in seinem Bauch wanderte tiefer.
Auf keinen Fall konnte er gerade eine Frau oder eine Beziehung in seinem Leben gebrauchen … aber Rebecca faszinierte ihn. Auch wenn sie keineswegs wirkte, als wäre sie auch nur im Geringsten an ihm interessiert.
«Das habe ich in der Tat.» Graham musterte sie einen Moment. Heller Teint. Schmales, kantiges Gesicht. Hohe, leicht gerötete Wangenknochen. Mit einem Mal wollte er dafür sorgen, dass ihr gesamter Körper errötete, und damit war ihm sofort klar, dass er in Schwierigkeiten steckte. Aber aus irgendeinem Grund interessierte es ihn nicht die Bohne. «Ich habe jede Bestrafung verdient, die sie für angemessen hält.»
Faszinierend. Er war seit gut sechs Monaten nicht mehr Teil der menschlichen Rasse gewesen und hatte auch kein Interesse daran gehabt, sich ihr wieder anzuschließen. Außerdem verhieß Lust auf den ersten Blick selten etwas Gutes. Und doch saß er jetzt hier in dieser Bar und flirtete mit einer atemberaubenden Blondine.
Die Brünette – Scarlett? – fächelte sich mit einer Hand Luft zu. «Ihr beide seid heißer als blaue Flammen.»
Südstaatler und ihre Redewendungen. Irgendwann – wenn die Hölle gefror – würde er sich daran gewöhnen.
«Ich glaube, wir haben uns einander noch nicht richtig vorgestellt.» Er stützte die Ellbogen auf den Tisch, den Blick unverwandt auf Rebecca gerichtet. «Graham Roberts. Und du bist …?»
«Sie ist ziemlich wütend», murmelte Forest leise.
Ihre Augen wurden schmal, und sie ignorierte alle anderen. «Rebecca Moore. Was treibst du hier überhaupt in unserem hinterwäldlerischen Kaff? Hast du keine Angst, dass Dummheit ansteckend sein könnte?»
Die Augenbrauen der Rothaarigen schossen nach oben, bis sie fast ihren Haaransatz berührten, dann wandte sie den Blick kopfschüttelnd zur Decke.
«Und auch das habe ich verdient.» Er nickte. «Ich entschuldige mich für das, was ich gesagt habe, als ich verärgert war.»
Seine Worte schienen sie zu überraschen. Sie richtete sich auf, und ihre Miene wurde nachdenklich.
«Was genau hast du denn gesagt?», fragte Forest, während er von Graham zu Rebecca sah.
«Ich habe Vallantine und seine Einwohner beleidigt.» Bevor sein Kumpel ihm einen Vortrag halten konnte, hob Graham die Hand, ohne den Blick von Rebecca abzuwenden. «Und ich habe mich dafür entschuldigt. Das war falsch von mir.» Wenn er sich hier einleben wollte und sein Neuanfang wirklich gelingen sollte, dann musste er sich anpassen.
«Wie faszinierend. Ein Mann, der zugeben kann, dass er einen Fehler gemacht hat. Ich dachte, die wären längst ausgestorben.» Die Brünette streckte die Hand aus. «Ich bin Scarlett.»
«Ist mir ein Vergnügen», sagte er und schüttelte ihre Hand. Es kostete ihn einige Mühe, aber er schaffte es, den Blick von Rebecca loszureißen, um ihre Freundin anzusehen. Sie war attraktiv, löste aber nichts bei ihm aus. Sie wirkte wie der Typ Frau, die viel Aufmerksamkeit forderte.
«Dorothy.» Die Rothaarige nickte höflich, ohne ihm die Hand entgegenzustrecken. «Willkommen in Vallantine.»
«Danke.» Sie war ebenfalls hübsch, auf eine augenzwinkernd schüchterne Art. Ebenfalls nicht sein Ding.
Dabei konnte er nicht mal sagen, wieso genau das eine Rolle spielte. Er hatte kein Interesse an einer Beziehung.
Unbeeindruckt deutete Rebecca mit dem Finger auf ihn. «Du siehst vielleicht aus wie ein großer Schluck Wasser, aber …»
Kurz sah er zu Forest. «Ist das ein Kompliment?»
«Auf jeden Fall!»
Graham grinste sie an. «Dann vielen Dank.»
Aber dieses Glück war ihm nicht vergönnt. Sie war noch nicht fertig.
«Aber … du bist so jämmerlich wie eine Schlange in einer Wagenspur.»
Wieder wandte er sich an Forest. «War das eine Beleidigung?»
«Auf jeden Fall!»
«Verdammt.» Graham schnappte sich sein Handy vom Tisch und suchte rasch im Internet. «Ich finde, du bist so hübsch wie vierfach gespaltenes Froschhaar», las er vom Display ab. Dann hob er stirnrunzelnd den Blick. «Das klingt wirklich nicht nach einem Kompliment. Laut Google ist es aber eins.»
Forest ließ lachend den Kopf in die Hände sinken.
«Danke.» Ihre Miene verriet, dass sie das Wort nur mit Mühe herausbrachte, aber ihre gute Erziehung zwang sie zu einer angemessenen Reaktion. «Wir sollten besser nach Hause gehen, bevor das Essen kalt wird.»
Apropos … «Stand da nicht massenweise Essen auf deiner Veranda?»
Er hatte überlegt, die Aufläufe in seinen Kühlschrank zu stellen, damit das Essen nicht schlecht wurde, bevor jemand es brauchen konnte, aber sie war nur wenige Minuten nach ihm aufgetaucht. Es war genug gewesen, um eine ganze Armee zu versorgen.
«Sicher. Aber wenn eine Frau einen Tag hatte wie ich heute, dann braucht sie Comfort Food. Und da gibt es nichts Besseres als die Onion Rings aus dem Tipsy Turtle.»
Frittierte Zwiebelringe. Er hatte sie auf der Karte gesehen und Lust darauf gehabt. «Dann guten Appetit.»
«Danke.» Sie drehte sich noch mal um, während ihre Freundinnen bereits zur Tür gingen. «Du solltest sie bestellen. Sie passen gut zu Bier.»
Sie hatte bereits zwei Schritte gemacht, bevor er ihren Namen rief.
«Das mit Mavis tut mir wirklich leid. Sie hat ständig von dir gesprochen.»
Trauer und Schuldgefühle warfen dunkle Schatten auf ihr Gesicht, sodass sie fast aussah wie bei ihrer ersten Begegnung im Vorgarten. Beinahe hätte er seinen Kommentar bereut, aber dann erschien ein leichtes Lächeln auf ihren Lippen.
«Danke dir.»
Forest seufzte, sobald die drei verschwunden waren. «Du hast nicht gerade den besten Eindruck bei ihr hinterlassen, hm?»
Graham nickte. Ja, das stimmte. Aber hoffentlich würde sie seine Entschuldigung akzeptieren, und er würde sich von nun an mehr bemühen. Er war immer schon ein ziemlicher Hitzkopf und dabei ziemlich launisch gewesen. Sie hatte recht. Hier mochte einiges anders laufen, als er es gewohnt war, aber das hieß noch lange nicht, dass es schlechter war. Seine miese Laune an der Stadt auszulassen würde ihm weder dabei helfen, sich hier einzuleben, noch würde es etwas an seiner Vergangenheit ändern.
«Wo wir gerade beim Thema sind: Ich möchte dich um einen Gefallen bitten.» Forest wischte mit dem Daumen das Kondenswasser von seinem Glas. «Ich bin mir nicht sicher, ob es passieren wird … aber falls sie dich nach einem Job bei der Gazette fragt, wäre ich dir dankbar, wenn du eine Aufgabe für sie finden könntest.»
Die Vallantine Gazette war die kleine Zeitung der Stadt. Sie gehörte dem Bürgermeister, Gunner Davis. Er hatte Graham als Chefredakteur eingestellt, verantwortlich für die Angestellten und den Inhalt. Aber er würde nicht einfach irgendwen einstellen. Seltsam, dass Forest Graham um diesen speziellen Gefallen bat.
«Hat sie Arbeitserfahrung?»
Forest nickte. «Sie war irgendwo im Nordosten auf dem College. New York oder Jersey oder Boston. Ich habe vergessen, wo genau, und dann hat sie bei einer Zeitung gearbeitet. Als ihre Großmutter gestorben ist, bin ich davon ausgegangen, dass sie nur hergekommen ist, um Mavis’ Angelegenheiten zu regeln, aber dann hat Dorothy mir erzählt, dass sie bleiben wird.»
Okay. Damit war sie bereits besser qualifiziert und hatte mehr Erfahrung als seine aktuellen Angestellten. «Ich werde schauen, was ich tun kann.»
«Wie ich schon sagte, ich hab keine Ahnung, ob sie sich an dich wenden wird. Aber vielen Dank.»
Sie bestellten die Onion Rings, ließen sich den Snack zu ihrem Bier schmecken, und danach trennten sich ihre Wege.
Da er direkt nach seiner Begegnung mit Rebecca mit Forest verabredet gewesen war, war Graham zu Fuß zur Kneipe gegangen. Sie lag nicht weit entfernt, und er hatte einen klaren Kopf bekommen wollen. Auf dem Heimweg atmete er nun tief die Düfte des Frühlings ein, während er die Main Street entlangging, vorbei an dem Büro der Gazette und einigen Läden, bevor er in seine Straße abbog. Das dämmrige Licht der Laternen beleuchtete seinen Weg. Grillen zirpten, und Blätter raschelten, aber abgesehen davon war es still. Keine Autohupen. Keine Sirenen. Ein Sternenhimmel, der nicht hinter Smog oder Gebäuden verschwand.
Die meisten Orte in Vallantine konnte er zu Fuß erreichen. Es sei denn, er wandte sich in Richtung der Plantagen hinter dem Park und dem Friedhof – oder in Richtung Flussufer. Das Leben hier war so völlig anders als der hektische Großstadtalltag, und er musste sich eingestehen, dass es ihm gefiel. Hier war alles entspannter. Man traf auf freundliche Gesichter, und das Klima war milder. In Minnesota läge vielleicht noch immer Schnee, und die Luft wäre beißend kalt. Das Gras würde noch nicht wachsen, die Bäume wären kahl, und nichts würde blühen. Hier hingegen lagen die Temperaturen um die achtzehn Grad, und es wehte eine warme, feuchte Brise.
Jeden Tag, manchmal sogar öfter als einmal, freute er sich über Kleinigkeiten, die er entdeckte, weil er plötzlich offener war und seine Laune grundsätzlich besser. Das Glas war nun halb voll. Er hatte sich auf Forests Anregung hin bei der Gazette beworben, hatte Gunner Davis’ Angebot angenommen und war tausend Kilometer von zu Hause weggezogen, um neu anzufangen. Zum Teil war das Ganze nicht seine eigene Entscheidung gewesen, aber er hatte zu seinen Fehlern gestanden, und diese hatten ihn hierhergeführt. Er musste die Dinge nehmen, wie sie kamen, oder er würde als unglücklicher Mensch enden.
Er bemühte sich wirklich, aber dennoch fühlte er sich ständig wie ein Fisch auf dem Trockenen.
Ihm war gar nicht bewusst, dass er schon den ganzen Weg gegangen war, als er Rebeccas Haus passierte und vor seiner eigenen Haustür stehen blieb. In ihrem Haus brannte Licht, aber die Vorhänge vor dem Panoramafenster zum Vorgarten waren geschlossen.
Er fragte sich, warum sie zurückgekehrt war, abgesehen von der Beerdigung ihrer Großmutter. Wenn sie als Südstaatlerin im Norden gelebt hatte, hatte es ihr dort nicht gefallen? Hatte sie ihre Heimat vermisst? Er war ein paar Leuten begegnet, die wegen eines Jobs oder ihrer Familie nach Vallantine gezogen waren, aber der Großteil stammte von hier, aus alteingesessenen Familien.