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Willkommen auf der Wildflower Ranch ... Die neue Reihe der SPIEGEL-Bestseller-Autorin von «Redwood Love». Nakos Hunt wird diesen Anblick nie vergessen. Seine beste Freundin Amy. Blutend. Verzweifelt. Geschlagen von ihrem eigenen Nakos Hunt wird diesen Anblick nie vergessen. Wie seine beste Freundin Amy blutend auf dem Boden liegt, geschlagen von ihrem eigenen Ehemann. Es scheint völlig unmöglich. Das ist schließlich Amy. Die laute, starke, herausfordernde Amy. Selbst Monate später, als der Bastard von Ex-Ehemann längst im Gefängnis sitzt, fällt es ihm schwer, nicht jeden anzuknurren, der Amy zu nahe kommt. Dieser eine Moment ändert für Nakos alles. Denn ihm wird klar, dass das Bild einer starken, selbstbewussten Frau, das Amy von sich zeichnet, nur allzu oft eine Fassade ist. Nakos ist entschlossen, diese Mauer zwischen ihnen abzutragen. Stein für Stein. Gespräch für Gespräch. Und schließlich auch Kuss für Kuss … Der berührende Abschluss der zweibändigen Reihe.
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Seitenzahl: 441
Veröffentlichungsjahr: 2020
Kelly Moran
Roman
Mehr als ein Kuss
Nakos Hunt wird diesen Anblick nie vergessen. Wie seine beste Freundin Amy blutend auf dem Boden liegt, geschlagen von ihrem eigenen Ehemann. Es scheint völlig unmöglich. Das ist schließlich Amy. Die laute, starke, herausfordernde Amy. Selbst Monate später, als der Bastard von Ex-Ehemann längst im Gefängnis sitzt, fällt es ihm schwer, nicht jeden anzuknurren, der Amy zu nahe kommt.
Dieser eine Moment ändert für Nakos alles. Denn ihm wird klar, dass das Bild einer starken, selbstbewussten Frau, das Amy von sich zeichnet, nur allzu oft eine Fassade ist. Nakos ist entschlossen, diese Mauer zwischen ihnen abzutragen. Stein für Stein. Gespräch für Gespräch. Und schließlich auch Kuss für Kuss …
Die Autorin
Kelly Moran lebt mit ihren drei Söhnen in South Carolina, in den Südstaaten der USA. Sie wurde schon mit diversen Preisen ausgezeichnet und begeisterte ihre Leser und Kritiker unter anderem mit der Redwood-Love-Trilogie über drei Tierärzte in einem kleinen Ort in Oregon. So urteilte beispielsweise die RT Book Reviews über Band 1: «So voller Wärme und Gefühl, dass man sich unweigerlich verliebt ...» Die Bücher standen etliche Wochen auf der Bestsellerliste des Spiegels. Mit «Redwood Dreams» wurde die Erfolgstrilogie um zwei Spin-off-Bände ergänzt. In «Wildflower Summer», ihrer neuen zweibändigen Reihe, erzählt Kelly Moran herzzerreißende Liebesgeschichten, die auf einer Ranch in Wyoming spielen.
Die Übersetzerin
Vanessa Lamatsch wurde 1976 in eine Familie von Tierärzten geboren. Doch sosehr sie Tiere auch mochte: Ihre größte Liebe galt immer den Büchern. Schon mit 14 Jahren begann sie, auf Englisch zu lesen, weil sie nicht auf die Übersetzungen warten wollte. Die logische Folge: Nach ihrem Abitur im Jahr 1996, einem Studium der englischen Literaturwissenschaft und einem Aufbaustudiengang Buchwissenschaft sorgt sie seit 2008 dafür, dass Leser nicht mehr so lange auf neue Übersetzungen warten müssen.
Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel «Benediction».
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, August 2020
Copyright © 2020 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
«Benediction» Copyright © 2017 by Kelly Moran
Redaktion Stefanie Kruschandl
Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung Shutterstock
ISBN 978-3-644-40613-1
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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April
Ihre Rippen schmerzten heftig. Blut tropfte aus ihrer Nase und von ihren Lippen. Durch das zugeschwollene rechte Auge konnte Amy Tarcher vage das Tor zur Wildflower Ranch erkennen, die ihrer besten Freundin gehörte. Amy stolperte durch das Tor hindurch und lief weiter. Der Kies der Einfahrt knirschte unter ihren Flip-Flops – bei ihrer überstürzten Flucht aus dem Haus hatte sie sich einfach die erstbesten Schuhe geschnappt, die sie finden konnte.
Amys winziges Haus lag ein gutes Stück entfernt von Olivias weitläufiger Ranch. Was bedeutete, dass sie es irgendwie geschafft hatte, drei Meilen zu laufen, um hierherzukommen. Das Auto zu nehmen war unmöglich gewesen. Bevor ihr Ehemann ausgerastet war und sie grün und blau geschlagen hatte, hatte er ihre Reifen aufgeschlitzt, ihr Handy zertreten und ihre Fotoausrüstung mit einem Hammer bearbeitet. Das hatte fast mehr weh getan als die Prügel, die er ihr verpasst hatte.
Doch das Ende ihrer Flucht war nahe. Am liebsten hätte sie sich hier und jetzt fallen gelassen, doch Amy zwang ihre Beine, sich weiterzubewegen. Langsam schlurfte sie die Einfahrt entlang. Sie blinzelte ins helle Sonnenlicht, um das dreistöckige Gebäude vor sich zu betrachten, dann ließ sie den verschwommenen Blick über den Rest des Grundstücks gleiten. Jetzt, zur Mittagszeit, hielt sich wahrscheinlich niemand außer vielleicht Olivias Tante Mae im Haupthaus auf. Als Amy näher kam, bog sie nach rechts ab und konzentrierte sich auf die Scheunen. Drei von ihnen, nebeneinander.
Ihre Rettung.
Feuchtes Gras raschelte unter ihren Sohlen, und Pappeln wiegten sich in einer leichten Brise. Der Duft von Heu und Erde erfüllte die Luft, so vertraut, dass sie am liebsten geweint hätte. Der Frühling hatte die Temperaturen steigen lassen; trotzdem war ihr kalt. Wahrscheinlich würde ihr nie wieder warm werden.
Die Schmerzen waren schrecklich, aber – das sagte sich Amy immer wieder – jetzt war es endlich vorbei. Sie war damit durch. Sobald sie dazu fähig war, würde sie die Scheidung von Chris einreichen und ihren Nachnamen wieder zu Woods ändern. Verzweiflung und Scham erfüllten sie, bis ihr Körper davon zu pulsieren schien. Aber das war ja nichts Neues. Allerdings würde sie diesmal etwas dagegen unternehmen.
Endlich. Sie hatte es geschafft.
Am Rande des Zusammenbruchs, mit protestierenden Muskeln, lehnte sie sich an den Türrahmen der ersten Scheune. Erleichterung flackerte in ihr auf. Das vordere und hintere Tor standen offen, sodass Sonnenlicht den Gang zwischen den Pferdeboxen auf beiden Seiten erhellte. Ihre beste Freundin Olivia stand am anderen Ende der Scheune, ein Klemmbrett in der Hand. Olivias kastanienrotes Haar war zum Pferdeschwanz gebunden, und ihr schlanker Körper steckte in Jeans und einem eng anliegenden Flanellhemd. Amy hatte noch nie in ihrem jämmerlichen Leben etwas so Wunderbares gesehen.
«Liv?» Sie räusperte sich und versuchte es noch mal. «Liv, ich brauche Hilfe.» Ihr Gesicht musste schlimmer zerschlagen sein, als sie gedacht hatte, weil ihre Worte sehr undeutlich klangen.
Olivia riss den Kopf herum. «Oh … oh mein Gott. Amy? Was ist passiert?» Das Klemmbrett fiel klappernd zu Boden.
Amy stolperte vorwärts. Sie trafen sich in der Mitte, dann sank Amy mit einem schmerzerfüllten Seufzen zu Boden. Ihre Rippen protestierten heftig gegen die Bewegung. «Chris …»
Olivia ließ sich sofort neben ihr nieder. Sanft zog sie Amys Kopf auf den Schoß und strich ihr das verklebte Haar aus dem Gesicht. «Oh Gott, Amy, sag mir, was passiert ist.»
Die tröstende Berührung sorgte dafür, dass Amy die Augen schloss. «Bin … ein wenig … lädiert.»
«Hat … hat Chris dir das angetan?»
Sie nickte, unfähig, mehr zu tun.
«Warum hast du mich nicht angerufen?», fragte Olivia. Es gelang ihr nur mühsam, ihre Stimme ruhig zu halten. Das hörte Amy sogar in ihrem jetzigen Zustand.
«Konnte nicht. Er hat … das Handy … zerstört. Und mein Auto.»
«Scheiße, Amy. Du bist hergelaufen?»
Doch Amy war zu schmerzerfüllt und erschöpft, um noch einmal zu nicken. Stattdessen fiel sie in Ohnmacht.
Als sie wieder zu Bewusstsein kam, lag sie noch immer mit dem Kopf auf Olivias Schoß. Ihre Freundin hielt ein Walkie-Talkie in der Hand. «Ich habe Tante Mae gesagt, sie soll Hank anrufen. Und Rip.» Der Sheriff. Gute Idee. «Es wird alles gut, Amy, wir helfen dir.»
Dann hob Olivia das Funkgerät ans Ohr «Nakos?» Ihre Stimme durchschnitt förmlich die Luft in der stillen Scheune. «Ich brauche dich. Sofort.» Sie sah auf Amy herunter und erklärte: «Er ist mit Nate auf der südlichen Weide und repariert Zaunpfähle. Es wird etwas dauern, bis er hier ist.»
Bevor sie mehr sagen konnte, erklang ein lautes Klicken. Amys Herzschlag setzte einen Moment lang aus, als sie das Geräusch erkannte: eine Waffe, die entsichert wurde. Hinter Olivias Kopf erschien ein Lauf aus Metall, der gleich darauf gegen die Schläfe ihrer Freundin gedrückt wurde.
Aus ihrer liegenden Position konnte Amy nur ein Hosenbein sehen, doch der saure Geruch von Bier verriet ihr, dass ihr Ehemann beschlossen hatte, ihr zu folgen.
Chris stolperte um sie herum, bis Amy ihn ganz sehen konnte. «Her mit’em Funkgerät, Miststück.»
Olivias weit aufgerissene blaue Augen wurden noch größer, als sie Chris mit zitternder Hand das Funkgerät reichte. Dann sah sie auf Amy herunter, Entsetzen im Blick.
Chris warf das Gerät auf den Boden, zertrat es und verteilte die Bruchstücke mit einem schnellen Kick in der Scheune. Die Pferde wieherten und schnaubten, sodass zusammen mit Staubpartikeln auch der Duft von Heu und Fell aufstieg.
Gott, das konnte nicht passieren. Das war einfach nicht … möglich. Nicht mal sie konnte so viel Pech haben. Sie hätte versuchen sollen, zum Polizeirevier zu laufen, statt zur Wildflower Ranch zu kommen. Jetzt hatte sie ihre Probleme mit hierhergeschleppt.
Aus dem Augenwinkel bemerkte sie Maes weißes Haar im Türrahmen hinter Chris. Die ältere Frau erfasste die Situation mit einem Blick, dann verschwand sie eilig wieder, bevor Chris sie entdecken konnte.
Gott sei Dank. Mae konnte alle informieren.
Amy schloss kurz die Augen. Erneut drohte die Dunkelheit nach ihr zu greifen, Punkte tanzten vor ihren Augen. Doch sie musste ihren Ehemann von ihrer Freundin wegbekommen. Er war offensichtlich sturzbetrunken, noch schlimmer als vor ein paar Stunden, daher war unmöglich vorherzusagen, was er tun würde.
«Lass Liv gehen. Sie hat nichts getan. Du bist …» Verdammt, reden tat weh. «Du willst mich, nicht sie.»
Chris schob seinen Hut nach hinten und senkte seine Waffe Richtung Boden. «Das is’ alles deine Schuld, du selbstsüchtige Schlampe. Schau dich an. Absolut nutzlos.»
Die folgende Tirade hatte Amy schon oft gehört. Tausende Male, um genau zu sein. Also blendete sie den Strom der Beleidigungen so gut wie möglich aus.
Chris’ Jogginghose war dreckig, und sein Sweatshirt sah nicht viel besser aus. Sie fragte sich, wo zur Hölle er hingegangen war, nachdem er sie als zerschlagenen Haufen auf dem Boden ihres Hauses zurückgelassen hatte. Er war dünn, eher sehnig als muskulös, und sein ausgezehrtes Gesicht machte nur selten Bekanntschaft mit einem Rasierer. Als sie sich vor drei Jahren getroffen hatten, hatte sie sein Gesicht auf raue Weise anziehend gefunden. Wenn sie sein strähniges braunes Haar und die blutunterlaufenen Augen jetzt betrachtete, hatte sie keine Ahnung mehr, wieso sie ihn je für attraktiv hatte halten können.
Er grinste höhnisch und spuckte auf den Boden. «Ich sollt’ dich bestraf’n. Auf ’ne Art, die du nie vergessen wirst. Aber beim Gedanken, dich zu ficken, faul’n mir die Eier ab. Du has’ die Prügel verdient. Das hätt’ ich schon vor Jahr’n tun soll’n, Fettarsch.»
Amy hätte nicht gedacht, dass sie sich noch mehr schämen könnte, aber nun schoss ihr die Hitze in die Wangen. Sie spürte Olivias Körper unter sich erzittern. Falls ihrer Freundin etwas zustieß, würde sie sich das nie verzeihen. Sie musste Chris von seinem Trip herunterholen, daher bemühte sie sich, die Kraft zu finden, ihm mit vernünftigen Argumenten entgegenzutreten.
Jemand trat in das Scheunentor, die Waffe auf Chris’ Rücken gerichtet. Jeans und ein schwarzes T-Shirt umhüllten einen … Riesen von Mann. Tätowierungen zogen sich über die kräftigen Muskeln an seinen Armen, und er hielt die Waffe, als wäre sie eine natürliche Verlängerung seines Körpers. Soweit sie das unter der Baseballkappe erkennen konnte, schien er seine Haare abrasiert zu haben, doch auf seinem Kinn glänzten hellbraune Bartstoppeln. Sein Blick huschte zu Olivia und über Amy hinweg und saugte sich dann an Chris fest.
Heilige Maria. Das musste Nate Roldan sein. Der Soldat, der vor ein paar Wochen ganz plötzlich vor Olivias Tür gestanden hatte. Er hatte Justins Wenn-du-diese-Zeilen-liest-Brief überbracht, damit Olivia die letzten Worte ihres Bruders lesen konnte. Amy hatte den Kerl bis jetzt nicht getroffen – aber er war in derselben Einheit wie Justin gewesen und hatte offenbar miterlebt, wie der junge Soldat gestorben war. Olivias Beschreibungen waren keineswegs übertrieben gewesen, wie Amy jetzt bemerkte. Der Mann war ein Berg aus Muskeln und Testosteron.
Leise schlich Nate vorwärts, bis er nur noch ein paar Meter entfernt stand.
Hinter ihr erklangen Schritte. «Lass die Waffe fallen, Chris.»
Nakos. Gott sei Dank. Amy hätte diese tiefe Stimme überall erkannt.
Chris zuckte zusammen und presste erneut den Waffenlauf gegen Olivias Stirn. Ihre Freundin schloss wimmernd die Augen. Gleichzeitig rann eine Träne über ihre bleiche Wange.
Nein! Nicht Liv. Panik schnürte Amy die Kehle zu.
Nate hob seinen Revolver ein wenig höher, stützte ihn mit der zweiten Hand ab, sein Blick kühl kalkulierend. «Er hat gesagt, lass die Waffe fallen.»
Chris drehte den Kopf und stolperte zur Seite. «Wer bis’su?»
«Nimm die Waffe runter, oder du wirst das nie herausfinden.»
Nakos’ Stiefel kratzten über den Boden aus festgestampfter Erde, bis er neben Amys Kopf anhielt. Damit hatten die beiden Männer Chris in die Enge getrieben. Nakos hielt ein Gewehr in der Hand, doch er schien Nate die Führung zu überlassen.
«Das is’ ’ne Privatsache.» Chris rammte Olivia die Pistole so heftig gegen die Stirn, dass ihr Kopf nach hinten gerissen wurde.
Sie schnappte nach Luft und sah voller Panik auf Amy hinunter.
Kalter Schweiß bildete sich auf Amys Haut, und ihr Puls raste.
Obwohl er keine Bewegung machte, wirkte Nate, als würde er jeden Moment austicken. «Privatsphäre kannst du in deiner Gefängniszelle haben. Lass die Waffe fallen. Sofort.»
Hätte Olivia nicht so begeistert von dem ehemaligen Soldaten erzählt, hätte sein Tonfall ausgereicht, dass Amy sich vor Furcht zusammenkauerte. Er klang vollkommen kontrolliert. Tödlich. Unerbittlich.
Nakos und Nate wechselten ein paar Worte, die für Amy nach Unsinn klangen. Nach einem kurzen Zögern fragte Nate: «Bist du sicher?»
«Positiv.»
«Wassur Hölle …?» Chris wirbelte herum und löste den Lauf dabei von Olivias Kopf.
Nate nickte einmal, als hätte er genau darauf gewartet. «Olivia, Baby. Beweg dich nicht.»
Ein Schuss zerriss die Luft und sorgte dafür, dass Amy das Herz stehenblieb. Olivia dagegen zuckte heftig zusammen.
Lautes Wiehern erfüllte die Scheune. Hufe stampften auf den Boden.
Eine ganz neue Dimension von Entsetzen erfüllte Amy, als sie den Kopf herumriss, ohne auf den Schmerz zu achten. Sie starrte Nakos an. Wie Olivia war er schon seit der dritten Klasse ihr Freund. Oh Gott sei Dank … er wirkte unverletzt. Und Olivia? Amy drehte erneut den Kopf, dann stieß sie ein Seufzen aus. Auch keine Verletzung zu entdecken.
Und dann verstand Amy endlich, was geschehen war. Nate hatte den Schuss abgefeuert, die Krempe von Chris braunem Cowboyhut getroffen und so dafür gesorgt, dass der Hut zu Boden gesegelt war.
Chris taumelte und ließ die Waffe fallen.
Schnell wie der Blitz trat Nate vor, stopfte seinen Revolver in den Hosenbund und warf Chris mit dem Gesicht voraus in den Staub. Mit einem Knie zwischen den Schulterblättern und einer Hand im Nacken hielt er Chris am Boden fest, während er die Pistole aus seiner Reichweite trat.
Dann riss er den Kopf zu Olivia herum. «Hat er dich verletzt?» Er musterte sie, scannte sie nach Verletzungen ab. Dabei wirkte er so angespannt, als würde er gleich einen Herzinfarkt bekommen.
Olivia schüttelte den Kopf. Tränen rannen über ihre Wangen. Dann senkte sie den Blick auf Amy. «Aber Amy hat er übel zugerichtet.»
Amy öffnete den Mund, um ihre Freundin zu beruhigen, aber Nakos stellte das Gewehr ab und ging neben ihr in die Hocke. Vertraute mitternachtsschwarze Augen glitten besorgt über ihr Gesicht. Seine dunkle Haut wurde bleicher, je länger er sie ansah. Mit gerunzelter Stirn und zusammengebissenen Zähnen streckte er eine zitternde Hand nach ihr aus, zog aber die Finger sofort wieder zurück.
«Du hast schon besser ausgesehen, Ames.» Die Anspannung in seiner Stimme traf sie tief.
Sie versuchte zu lächeln, doch dabei platzte ihre Lippe wieder auf, sodass Blut über ihr Kinn rann.
Panik und Entsetzen überlagerten die Sorge in seinem Blick. «Mae!» Nakos ließ seine Hände über Amys Beine und Arme gleiten. «Glaubst du, es ist etwas gebrochen?»
Amy gab sich Mühe, nicht zusammenzuzucken, schüttelte den Kopf und schloss die Augen. Jeder Atemzug jagte scharfen Schmerz durch ihre Lunge, und eine Seite ihres Gesichts pulsierte. Jetzt, wo sie in Sicherheit war – wo sie wusste, dass es auch ihren Freunden gut ging –, ließ das Adrenalin nach. Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie begann zu zittern.
«Hank ist da.» Tante Mae rannte in die Scheune, sah sich kurz um und kniete sich dann neben Nakos. «Rip fährt auch gerade vor. Wir sorgen dafür, dass es dir bald wieder besser geht, Süße.»
Körperlich vielleicht, aber alles andere? Ihr Leben war schon vor dem heutigen Tag ein einziger Scheißhaufen gewesen. Diese Verletzungen würden nicht so leicht heilen wie eine geplatzte Lippe. Sie heilten überhaupt nicht. Doch Amy wusste die Wärme in den Augen der älteren Frau zu schätzen. Mae war immer so nett zu ihr gewesen.
«Lass mich los!» Chris versuchte, sich freizukämpfen, erreichte damit aber überhaupt nichts.
Nate drückte sein Knie fester gegen die Wirbelsäule ihres zukünftigen Exmanns. «Wenn du deine Beine jemals wieder benutzen willst, hältst du jetzt die Klappe.»
Hank betrat die Scheune, eine Arzttasche in der Hand, die aus dem neunzehnten Jahrhundert stammen musste. Sie war eine hundert Kilo schwere, fünfzig Jahre alte Frau mit schwarzem Haar, das ihr bis zum Hintern reichte.
«Also, jetzt macht mal ein bisschen Platz.» Sie stellte die Tasche ab, öffnete sie und ging vor Amy in die Hocke, um ihr mit einer kleinen Taschenlampe in die Augen zu leuchten. «Wo hat er dich geschlagen und womit?»
«Mit seinen Fäusten.» Amy kämpfte darum, Luft zu holen, zuckte jedoch sofort schmerzerfüllt zusammen. «Hat mich in die Seite getreten. Und ins Gesicht geboxt.»
Neben ihr versteifte sich Nakos und stieß ein tiefes Knurren aus.
«Nichts an Rücken oder Hals? Bist du irgendwann gestürzt?»
«Nein.» Amy schloss die Augen, zu müde, um sie weiter offen zu halten. Schwindel drohte, sie zu überwältigen, und ihr Magen verkrampfte sich.
«Sie braucht einen Krankenwagen.» Nates Stimme klang nicht so emotional wie die von Nakos, doch der scharfe Befehl zeigte trotzdem deutlich seine Besorgnis. Der arme Kerl wusste nicht, wie isoliert diese Gegend war. Man kam nur in die Notaufnahme, wenn Glieder abgetrennt wurden oder kein Puls mehr spürbar war.
«Das nächstgelegene Krankenhaus ist in Caspar. Wir kommen schon klar.» Hank seufzte. «Olivia, hättest du ein Zimmer für sie? Ich muss sie genauer untersuchen.»
«Ja. Wir können sie im freien Gästezimmer unterbringen.»
«In Ordnung.» Hank stand auf. «Nakos?»
«Ja. Ich habe sie.» Nakos lächelte leicht, als wolle er sie beruhigen. Vorsichtig schob er einen Arm unter ihre Knie, den anderen unter ihren Rücken, dann hob er sie hoch und drückte sie so sanft an sich, als bestünde sie aus Glas.
Trotzdem zuckte sie vor Schmerzen zusammen.
Nakos erstarrte. «Tut mir leid. Ich werde mich langsam bewegen.»
Gott, er war so ein anständiger Kerl. Gefühle schnürten Amy die Kehle zu, und sie ließ ihren Kopf gegen seine harte Brust sinken. Sein Flanellhemd war warm und roch nach ihm, erdig und sonnenwarm.
Rip watschelte in die Scheune, wobei er das Bein schonte, das im Golfkrieg verletzt worden war. Sein Fu-Manchu-Bart und die braune Uniform passten irgendwie nicht zusammen. Er fuhr sich mit der Hand über sein schütter werdendes braunes Haar. «Die Verzögerung tut mir leid. Die Hendersons dachten, es wäre eine gute Idee, ihren Minivan in den Graben der Garrisons zu fahren und dabei auch gleich den Briefkasten zu erledigen.» Er sah von Nate über Chris zu Amy in Nakos’ Armen, bevor sein Blick auf Olivia landete. «Sieht aus, als hättet ihr alles im Griff.»
«Ich bringe Amy ins Haus», verkündete Nakos. Amy schmiegte sich an seine Brust, als er die Scheune verließ, Mae und Hank auf den Fersen.
Sie nahm nur verschwommen wahr, wie sie über den Kiesweg ins Haus getragen wurde, dann stieg Nakos Treppen hinauf, bevor weiche Kissen ihren Rücken stützten und das sichere, schwebende Gefühl verschwand. Die festen, tröstenden Arme, die sie gehalten hatten, wurden zurückgezogen.
Plötzlich – und ohne dass sie etwas dagegen tun konnte – überwältigten sie die Ereignisse des Tages. Ihr Magen verkrampfte sich, als die Erinnerungen auf sie einströmten: die Faust, die ihre Wange traf, und das knackende Geräusch, das gefolgt war. Ein weiterer Schlag auf ihren Mund und der metallische Geschmack von Blut auf ihrer Zunge. Ein Stiefel in die Rippen, der ihr jede Luft aus dem Körper getrieben hatte. Die Schreie. Der säuerliche Gestank nach Alkohol.
Angst und Entsetzen schnürten ihr die Kehle zu, raubten ihr den Atem. Zitternd riss sie die Augen auf und griff nach Nakos’ Ärmel. «Lass mich nicht allein … Bitte, Nakos. Lass mich bitte nicht allein.»
«Hey, es ist in Ordnung.» Er setzte sich neben sie auf die Matratze.
Ein Schluchzen entrang sich ihrer Brust. Wenn sie wieder bei klarem Verstand war, würde sie sich dafür hassen. Aber sie … brauchte ihn einfach. Aus irgendeinem Grund brauchte sie nur ihn. Den stoischen, manchmal grüblerischen Kerl, der sich vor einen heranrasenden Zug werfen würde, wenn er damit sie und Olivia schützen könnte. Den scheuen Jungen, der zu einem Mann herangewachsen und ihr so vertraut war wie der Schlag ihres Herzens.
Er drehte kurz den Kopf zu den beiden Frauen, die ihnen in den Raum gefolgt waren. «Gebt uns einen Moment.» Als die Tür sich hinter Tante Mae und Doc Hank geschlossen hatte, richtete er seinen Blick wieder auf Amy. «Shhh. Ich bin bei dir. Du bist in Sicherheit.» Er beugte sich über sie und drückte seine warmen Lippen auf ihre Stirn, ohne sie irgendwo anders zu berühren. «Shhh», flüsterte er.
Amy schluchzte nur lauter. Ihre Rippen taten jetzt richtig weh, und ihre Tränen brannten in den Platzwunden auf ihrem Gesicht.
Die Lippen immer noch an ihrer Stirn, streichelte Nakos mit zitternden Fingern über ihre Schläfen und ihr Haar. «Lass los. Wir sind allein. Lass einfach los.»
Und das reichte aus, um die schreckliche Angst verschwinden zu lassen. Seine tröstende Stimme, seine sanfte Berührung, sein Duft, der sie umgab.
Sie atmete tief durch und bekam sich wieder unter Kontrolle. «Es tut mir leid.»
«Hihcebe, Ames. Entschuldige dich nicht.» Er hob den Kopf. Seine Augen waren zwar trocken, doch gleichzeitig gerötet, als hätte er selbst mit den Tränen gekämpft. Er nahm seinen schwarzen Stetson ab, sodass sie sein schulterlanges schwarzes Haar sehen konnte, das er zum Pferdeschwanz gebunden trug. Nachdem er den Hut beiseitegelegt hatte, rieb er sich mit Daumen und Zeigefinger die Augen. «Du hast mich gerade zehn Jahre meines Lebens gekostet.»
«Es geht schon wieder», flüsterte sie, um ihn zu beruhigen.
Er schüttelte ungläubig den Kopf, dann warf er ihr einen Blick zu, in dem Wut und Sorge miteinander kämpften. «Hat er …» Er stieß ein gequältes Stöhnen aus. «Hat er … dir noch etwas anderes angetan? Dich auf andere Weise verletzt?»
Oh Gott. «Nein. Er hat nur seine Fäuste benutzt.» Als wäre das okay. Aber Nakos befürchtete offensichtlich, dass ihr Mistkerl von einem Ehemann sie zudem noch vergewaltigt hatte. Was Gott sei Dank nicht der Fall war. «Wirklich.»
Er nickte so entschieden, dass sie fast fürchtete, sein Kopf könnte von seinen Schultern rollen. Dann legte er seine Stirn an ihre und schloss die Augen. «Was ist passiert? Bitte, sag es mir.»
Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass sie ihm alles erzählen sollte, damit sein Hirn die Lücken nicht selbst füllte. Das zumindest konnte sie tun. «Wir haben über Geld gestritten. Er wollte meine Kamera-Ausrüstung verkaufen, um die Rechnungen zu bezahlen, aber ich habe mich geweigert. Er ist … vollkommen ausgetickt. Ich bin hierhergelaufen, und es geht mir gut. Alles ist gut.»
Himmel, was für eine talentierte Lügnerin sie inzwischen war.
Nakos richtete sich auf, dann ließ er einen etwas ruhigeren Blick über ihren Körper gleiten. Er sah kurz zur Tür, bevor er sich ihr wieder zuwandte. «Ist das die Wahrheit?»
«Ja.» Bis auf den Teil, dass es ihr gut ging.
«Wie lange hat er dir das schon angetan?» An seinem Kinn zuckte ein Muskel. «Ich kann mich nicht erinnern, vor heute schon einmal blaue Flecken an dir gesehen zu haben.»
«War das erste Mal.» Sie mochte ein Ladenhüter sein, deren Zukunft grau und langweilig aussah, aber Misshandlungen hätte sie sich nicht gefallen lassen. «Ehrlich. Es war das erste Mal.»
Wieder ein Nicken und ein erneuter Blick zur Tür.
Und plötzlich wurde ihr etwas klar. Schmerzhaft klar. Nakos war seit ihrer Teenager-Zeit in Olivia verliebt. Amy war nicht die Einzige, die Chris mit der Waffe bedroht hatte. Daher musste Nakos sich schreckliche Sorgen um Olivia machen. Wahrscheinlich schrie alles in ihm danach, zu ihr zu gehen.
Obwohl ihre Schultern enttäuscht nach unten sackten und eine schreckliche Leere in ihr aufstieg, tat Amy, was sie immer getan hatte – sie akzeptierte die Realität und ignorierte die Einsamkeit. «Geh nur. Mir geht es gut. Danke für deine Hilfe.»
Sie würde nicht wieder weinen. Auf gar keinen Fall.
«Bist du dir sicher?» Er musterte sie einen Moment. «Doc Hank sollte dich wirklich untersuchen.»
«Ich bin mir sicher. Geh.»
Und natürlich tat er das.
Drei Monate später …
Der heutige Tag würde schlimm werden. So richtig übel. Obwohl er gedacht hatte, er wäre bereit, verriet ihm das flaue Gefühl im Magen jetzt etwas anderes.
Nakos Hunt unterdrückte ein Seufzen. Er betrachtete die beiden Männer neben sich und ließ dann den Blick über die Weiten der Wildflower Ranch gleiten. Zweitausend Hektar hügeliges Grasland und Hochebenen. Die Laramie Mountains im Süden waren kaum mehr als ein blauer Schatten in der Ferne, doch eine leichte, kühle Brise glitt von dort heran, um die Hitze ein wenig zu mildern.
Für Wyoming brannte die Sonne ungewöhnlich heiß vom wolkenlosen Himmel herab, während das Präriegras leise im Wind knisterte. Nakos schob den Zeigefinger zwischen seinen Hals und den weißen Kragen des Anzugshemds, um sich etwas abzukühlen. Dank seiner eher dunklen Haut – ein Erbe seiner Arapaho-Vorfahren – war er eigentlich nicht so sonnenempfindlich. Aber in diesem verflixten Hemd kochte er förmlich vor sich hin. Wenigstens hatte Olivia ihm erlaubt, Jeans und Cowboystiefel zu tragen, auch wenn er sich ohne seinen Stetson-Hut nackt fühlte. Außerdem hatte sie darauf bestanden, dass er die Haare offen trug.
Für sie. Nur für sie tat er das.
Olivia, Besitzerin der Wildflower Ranch, auf der er inzwischen seit zehn Jahren als Vorarbeiter tätig war, hatte ihn schon mit neun Jahren um den kleinen Finger gewickelt, als seine Familie das Reservat verlassen hatte, um für ihre Eltern zu arbeiten. Sie war eine seiner besten Freundinnen und gleichzeitig eine der stursten, dickköpfigsten Frauen der Welt … Aber ihr Herz war größer als der ganze verdammte Bundesstaat. Niemand hatte Glück mehr verdient als sie, also riss Nakos sich zusammen.
Und wieder: Nur für sie.
«Geht es dir gut?» Nathan Roldan musterte Nakos von Kopf bis Fuß. Seine goldenen Augen wirkten hart, als hätte er das Schlimmste gesehen, was die Menschheit zu bieten hatte, und es mit bloßen Händen bekämpft.
Was ja auch der Wahrheit entsprach. Sofort nach der Geburt hatte ihn seine Junkie-Mutter im Stich gelassen, sodass Nate in Pflegefamilien aufgewachsen war. In seinen Teenager-Jahren hatte er sich einer Gang angeschlossen und sich dann beim Militär verpflichtet, um aus dieser Welt zu entkommen. Dort hatte er Olivias Bruder kennengelernt. Nur dass Nate, kaum dass er zum ersten Mal einen echten Freund gefunden hatte, mitansehen musste, wie Justin bei einem Einsatz getötet wurde. Olivia war nicht die Einzige, die endlich mal etwas Glück im Leben verdient hatte. Bei diesem Kerl hier war ein wenig Zufriedenheit schon lange überfällig.
«Es geht mir gut.» Nakos verlagerte sein Gewicht. «Und sollte ich diese Frage nicht dir stellen? Schließlich bin ich nicht derjenige, der heute heiratet.»
«Eben.»
Okay. Das schon wieder. Weil jeder hier wusste, dass Nakos eine Schwäche für Olivia hatte.
Er machte den Kulturschock dafür verantwortlich. Nachdem er mit anderen Arapaho aufgewachsen war, hatte ihn bei ihrem ersten Treffen der Anblick von Olivias rotem Haar und ihrer hellen, sommersprossenverzierten Haut getroffen wie ein Schlag in die Magengrube. Und der Effekt hatte nie nachgelassen. Nicht einmal nach all diesen Jahren.
Doch Nakos hatte geglaubt, er hätte die Sorgen der anderen ausgeräumt. Fühlte er sich von Olivia angezogen? Ja. Hatte er sich manchmal gewünscht, sie würde mehr für ihn empfinden als Freundschaft? Ja. Aber es war nicht geschehen, und das war okay. Obwohl er jederzeit für sie sterben würde, war er nicht der Mann, den sie wollte. Irgendwo in seinem Hinterkopf und den hintersten Ecken seines Herzens hatte er das immer gewusst. Daher hatte er sich nie erlaubt, sich nach ihr zu verzehren oder sich wirklich Hoffnungen zu machen.
Na ja, zumindest nicht allzu viele Hoffnungen.
«Ich wäre nicht dein Trauzeuge, wenn ich nicht denken würde, dass du der richtige Mann für Olivia bist.» Nakos hatte das schon einige Male gesagt und würde es auch noch unzählige Male wiederholen, wenn es nötig war.
Diese Wahrheit hatte Nakos erkannt, nicht lange nachdem Nate zum ersten Mal auf seiner Harley vorgefahren war. Und der Exsoldat war geblieben. Was genau das war, was Justin und Olivia gewollt hatten. Und Nakos war bereit, fast alles zu tun, damit die beiden bekamen, was sie wollten. Er war sogar so weit gegangen, den beiden einen Schubs zu geben, als sie Probleme gehabt hatten, zueinanderzufinden.
Und wenn sich das angefühlt hatte, als hätte ihm jemand mit einer stumpfen, rostigen Klinge die Eingeweide rausgehackt … Tja, das musste ja niemand erfahren.
Da Nate ihn immer noch stumm und abschätzend musterte, wie er es so gerne tat, sah Nakos ihm direkt in die Augen. «Ich liebe sie. Das werde ich immer tun. Aber ich bin nicht in sie verliebt. Und weil du den Cattenachs viel bedeutest, habe auch ich dich ins Herz geschlossen. Und auch wenn das Risiko besteht, dass du gleich eine Waffe ziehst und mich erschießt, weil ich so sentimental werde, muss ich noch etwas sagen, dann sind wir mit dem Thema durch. Ich werde als Freund neben dir stehen, während zwei Leute, die ich liebe, ihr Happy End bekommen. Ich werde euch immer unterstützen. Okay? Sind wir jetzt fertig?»
Nates Augen wurden für einen kurzen Moment groß, wie es immer geschah, wenn jemand ihm seine Zuneigung zeigte. Ob es nun um Freundschaft, Liebe oder Familie ging – er hatte nichts von alledem gehabt, bevor er nach Meadowlark gekommen war, also musste er sich noch daran gewöhnen. Das war Nakos klar. Er verstand diese Reaktion sogar. Und er hatte jedes Wort ernst gemeint. Nate war verdammt noch mal ein guter Kerl.
«Danke», murmelte Nate und rieb sich den kahlen Kopf, als fühle er sich unsicher. Die Armykleidung in Tarnmuster, die er auf Olivias Drängen hin trug, dehnte sich über seinen Muskeln. Der Kerl war riesig und hatte am ganzen Körper Tätowierungen. Doch unter diesem martialischen Äußeren schlug ein Herz aus Gold. «Das bedeutet mir eine Menge.»
Rip, der örtliche Sheriff und Nates Chef, der die Trauung vornahm, fuhr sich mit der Zunge über die Zähne, sodass sein Fu-Manchu-Bart zuckte. «Mir kommen gleich die Tränen.» Sein sarkastischer Tonfall sorgte dafür, dass Nakos die Augen verdrehte. «Und meine Eier sind gerade geschrumpft.»
«Gott.» Nate sah hilfesuchend zum Himmel. «Wenn du noch mal in meiner Gegenwart die Worte meine Eier verwendest, sorge ich dafür, dass du wegen einer ernsthaften Verletzung in Frühruhestand gehen musst.»
«Ich helfe dabei.» Nakos stieß den Atem aus und sah sich um.
Neben ihnen standen vier Reihen weißer Klappstühle, geteilt durch einen Gang in der Mitte, an dessen Ende ein weißer Bogen voller Blumen aufgebaut war. Es waren nur ungefähr fünfzig Personen anwesend, da die künftigen Eheleute eine kleine Zeremonie gewollt hatten. Nakos und die zwei anderen Männer warteten an der Seite darauf, dass es endlich losging. Seit fünfundvierzig Minuten.
«Wieso brauchen sie so lange?»
«Frauen», sagte Rip als Erklärung.
Als hätte er Nakos’ Gedanken gelesen, joggte Kyle auf sie zu. Er arbeitete auf Olivias Ranch und war Amys kleiner Bruder. Amy war Brautjungfer und Trauzeugin, aber Nakos hatte sie heute noch nirgends gesehen.
Kyle wischte sich mit dem Arm über die Stirn. Er musste kein Anzughemd tragen. «Sie sind bereit. Ich soll euch sagen, dass ihr eure Plätze einnehmen sollt.» Er warf einen schnellen Blick zu Nakos. «Geht es dir gut, Mann? Alles okay?»
Als Nate leise lachte, kniff Nakos die Augen zusammen und warf Kyle einen Blick zu, der vermutlich sehr deutlich sagte: Ich springe dir gleich an den Hals.
Kyle schluckte. «Tu einfach so, als hätte ich nicht gefragt.» Er ging zu den Stuhlreihen, um sich einen Platz neben Nakos’ Eltern zu sichern.
Nate presste die Lippen aufeinander, konnte sein Lächeln aber trotzdem nicht unterdrücken.
«Halt die Klappe.»
Nate hob abwehrend die Hände. «Ich habe nichts gesagt.»
Würde dieser Tag jemals enden? «Bist du nervös?» Nakos musterte den Bräutigam aus den Augenwinkeln, wobei er sich wünschte, wenigstens einen Schweißtropfen zu entdecken. Aber nein. Dieser Kerl war kalt wie eine Hundeschnauze.
«Zur Hölle, nein. Ich kann es kaum erwarten.»
Typisch. Nicht, dass Nakos es ihm hätte übelnehmen können.
Die Männer nahmen ihre Positionen unter dem Blumenbogen ein, wie sie bei der schnellen Hochzeitsprobe gestern festgelegt worden waren, und warteten darauf, dass die Musik einsetzte. Falls jemand es seltsam fand, dass die Hochzeit direkt vor dem schmiedeeisernen Tor des Familienfriedhofs stattfand, kannte diese Person die Familie nicht besonders gut. Olivias Eltern waren dort begraben, zusammen mit drei Generationen ihrer Vorfahren. Genau wie Justin, der sowohl Braut als auch Bräutigam unendlich viel bedeutet hatte. Es war absolut verständlich, dass sie ihm an ihrem großen Tag nahe sein wollten, und sei es nur im Geiste.
Rechts der Stuhlreihen begann die Highschool-Band von Meadowlark zu spielen. Der Klang von Gitarren und Flöten erfüllte die Luft. Wenige Momente später erschien Amy, Olivias beste Freundin, am Fuß des grasbewachsenen Hügels, über den ein Kiesweg nach oben und zum Gang zwischen den Stuhlreihen führte.
Verdammt, Nakos blieb sofort die Luft weg. Wie es seit ein paar Monaten jedes Mal in ihrer Gegenwart geschah.
Er konnte die Reaktion seines Körpers einfach nicht kapieren. Er hatte Amy am selben Tag kennengelernt wie Olivia, und danach waren sie drei quasi unzertrennlich gewesen. Er kannte ihr hübsches ovales Gesicht, die langen kakaofarbenen Locken und die blaugrünen Augen, die ihn immer an eine Meerjungfrau denken ließen, ebenso gut wie sein eigenes Spiegelbild. In letzter Zeit aber war es, als sähe er Amy zum ersten Mal. Ein Gefühl von Anziehung und Zärtlichkeit, das früher nie da gewesen war, schnürte ihm die Kehle zu.
Wenn er ehrlich war, konnte er auf den Tag genau benennen, wann dieses Phänomen zum ersten Mal aufgetreten war. Fast auf den Tag genau vor drei Monaten.
Amy mit Prellungen übersät und blutend auf dem Boden der Scheune zu finden hatte irgendetwas in seinem Hirn zum Explodieren gebracht.
Gewöhnlich war Nakos ein ausgeglichener Mensch, der seinen Zorn gut zügeln konnte. Aber an diesem Tag, als er gesehen hatte, was Amys Exmann – aka der Antichrist – ihr angetan hatte? Da hatte Nakos so kurz vor einer Verurteilung wegen Totschlags und einem langen Knastaufenthalt gestanden.
Aus irgendeinem Grund machte Amy ihn ein wenig nervös. Das wiederrum war schon seit ihrer Kindheit so. Bevor sie das Arschloch geheiratet hatte, war sie eine selbstbestimmte Frau gewesen, die sich nicht die Butter vom Brot nehmen ließ. Sie fraß nicht nur Männer zum Frühstück und spuckte sie wieder aus … oh nein. Sie tat dasselbe auch zum Mittag- und Abendessen. Nichts und niemand machte ihr Angst. Sie packte den Stier immer an den Hörnern – oder Eiern – und gab ihr Bestes.
Daher war die Verzweiflung, mit der sie sich am Tag des Angriffs an ihm festgeklammert hatte, für ihn wie eine Szene aus einem Horrorfilm, die seitdem immer wieder in seinem Kopf ablief. Er hatte nicht gewusst, ob er weinen oder sie einfach in seine Arme ziehen sollte. Aber er hatte sich solche Sorgen gemacht, dass sie innere Verletzungen oder andere Wunden hatte, dass er sich gezwungen hatte, den Raum zu verlassen, damit Doc Hank sie untersuchen konnte. Stunden hatte er danach vor diesem Zimmer verbracht, für den Fall, dass Amy Hilfe brauchte. Verzweifelt und krank vor Sorge.
Nakos wurde in diesem Moment klar, dass er sich nicht erinnern konnte, wann er das letzte Mal ein ehrliches Lächeln auf Amys vollen Lippen gesehen hatte. Diese Erkenntnis verkrampfte ihm den Magen, als Amy jetzt langsam den Weg hinaufkam.
Verdammt. Dieses Kleid war darauf ausgelegt, jeden vernünftigen Gedanken unmöglich zu machen. Blau wie der Himmel und schulterfrei, umschmeichelte es ihre großzügigen Brüste und die schmale Taille, um kurz über den Knien zu enden. Amy Tarcher – nein, Amy Woods, seit sie ihren Mädchennamen wieder angenommen hatte – hatte unendlich lange, wohlgeformte Beine. Sie trug ihr Haar in einem sehr weiblichen, komplizierten Turm aus Locken, der ihren schlanken Hals betonte. In ihrem Arm lag ein Bouquet aus weißen Lilien. Ihre Haut war fein wie Porzellan, was Nakos deshalb so genau wusste, weil er eine Menge von dieser Haut sehen konnte. Die baumelnden, silbernen Ohrringe passten zu ihren Schuhen und glänzten im Sonnenlicht.
Gott helfe ihm, diese Schuhe. Mit einem kleinen Riemen und hoch genug, dass sie ihm damit wahrscheinlich bis ans Kinn reichen würde. Wenn sie damit denn überhaupt bis zum Altar kam. Plötzlich schien sich die Welt um ihn herum in Zeitlupe zu bewegen.
Nate brummte und lehnte sich leicht zur Seite, um ihm aus dem Mundwinkel zuzuflüstern. «Mein Fehler. Ich glaube, du bist wirklich okay. Du solltest allerdings mal wieder atmen, bevor du in Ohnmacht fällst.»
Nakos warf ihm einen bösen Blick zu. «Was soll das? Du kommst unter die Haube, also müssen jetzt alle anderen auch vor Liebe den Kopf verlieren?»
Der Trottel lachte nur leise. «Ich bin nicht derjenige, der aussieht, als hätte man ihm gerade mit einem Ziegel ins Gesicht …» Die Worte verklangen in einem Keuchen, dann erstarrte Nate, den Blick auf den Weg gerichtet. «Heilige Scheiße», hauchte er.
Nakos drehte den Kopf und verstand sofort, was Nate meinte.
Einundzwanzig Jahre seines Lebens kamen in einem Brautkleid den Weg entlanggeschritten. Olivia sah so schön aus wie immer. Ihr Haar schwang offen um ihre Schultern, und ihr Lächeln strahlte auch aus ihren kornblumenblauen Augen. Das einfache Kleid ähnelte dem von Amy, nur dass es ihr bis auf die Knöchel fiel und elfenbeinfarben war. Schlichte Eleganz.
Ihre Tante Mae, die Olivias letzte lebende Blutsverwandte war, führte sie in einem pfirsichfarbenen Kostüm zum Altar. Die weißen Strähnen ihres Bobs bewegten sich leicht in der Brise. Stolz und Glück leuchteten in Maes feuchten Augen.
Als sie endlich den Torbogen erreichten, küsste Olivia ihre Tante, umarmte Amy für einen Moment, dann nahm sie Nakos’ Hand und erhob sich auf die Zehenspitzen, um ihm ins Ohr zu flüstern: «Danke, dass du all diese Jahre für mich da warst und dass du es jetzt auch für Nate bist. Das bedeutet uns beiden unglaublich viel.» Sie küsste seine Wange, sodass ihr an Regen erinnernder Duft ihn umhüllte. «Ich liebe dich.»
Nakos schloss die Augen und atmete tief durch. Verdammt sollte sie sein. «Ich liebe dich auch, Little Red.» Der Spitzname, den er ihr mit neun verliehen hatte. Sein Magen verknotete sich, und seine Augen brannten. Nach einem Augenblick nahm er ihre Hände und führte sie mit Nates zusammen. Kurz hielt er die Finger der beiden fest, bevor er losließ.
Und genau das tat er. Er ließ los. Olivia. Die Vergangenheit. Alles, was sie von nun an brauchte, stand direkt neben ihr, und das war es, was Nakos sich immer für sie gewünscht hatte. Von nun an würde er nach vorne schauen, in die Zukunft.
Er drehte den Kopf und … erblickte als Erstes Meerjungfrauenaugen, die ihn von der anderen Seite des Altars ansahen. Amy musterte ihn in einer Mischung aus Verständnis und etwas, das er nicht benennen konnte. Sehnsucht?
Nein. Das konnte nicht sein. Vielleicht war sie nach ihrer Scheidung etwas melancholisch. Hochzeiten konnten so etwas auslösen, konnten dafür sorgen, dass Leute sich einsam fühlten.
Trotzdem hielt Amy seinen Blick ein paar Sekunden fest. Und je länger sie sich in die Augen sahen, desto heftiger schlug sein Herz. Ein seltsames Gefühl von … Bewusstsein stieg in ihm auf und verwirrte ihn vollkommen.
Rip musste zweimal um die Ringe bitten, bevor Nakos ihn hörte. Als er den Blick wieder auf Amy richtete, hatte sie ihre Aufmerksamkeit der Zeremonie zugewandt.
Ernüchtert tat er dasselbe.
Amy versuchte, das unangenehme Schweigen ihrer Tischgenossen zu ignorieren. Stattdessen beobachtete sie, wie ihre beste Freundin und Nate den ersten Tanz als Ehepaar in der Mitte der großen Scheune tanzten. Die beiden zusammen zu sehen, wirkte so süß, so perfekt, so richtig, dass es Amy fast die Zehennägel aufrollte. Wäre sie nicht so verdammt glücklich für die beiden, hätte sie sich wahrscheinlich übergeben.
Sehnsucht durchfuhr sie. Niemand hatte sie je so angesehen, wie Nate Olivia ansah. Als wäre sie sein Ein und Alles und es gäbe für ihn niemand anderen auf der Welt. Nach dreißig Jahren als das Mädchen, über das die Männer hinwegsahen, um ihre Freundin anzustarren, sollte Amy das Leben im Schatten inzwischen eigentlich gewohnt sein. Doch so, wie sich ihr Magen verkrampfte, war das anscheinend nicht der Fall.
Da diese Scheune vor allem als Arbeitsfläche diente – zum Beispiel wurden hier auch die Schafe geschoren –, gab es keine Boxen in dem dreißig mal dreißig Meter großen Raum. Alle Maschinen und sonstige Einrichtung waren entfernt worden. Amys Bruder Kyle stand in der gegenüberliegenden Ecke und bediente statt eines DJs die Anlage. Ungefähr zehn runde Tische mit weißen Tischtüchern und Kerzen waren entlang der Wände aufgestellt worden. Sowohl das vordere als auch das hintere Tor standen offen, sodass die kühle Brise durch den Innenraum wehen konnte. Lichterketten hingen von den Deckenbalken wie Sternenregen und erzeugten zusammen mit dem Mondlicht, das durch die Deckenfenster fiel, eine verträumte Atmosphäre.
Etwas in dieser Art hätte sie sich auch für ihre eigene Hochzeit gewünscht. Einfach, hübsch. Rustikal-schick. Stattdessen hatte sie nach einer stürmischen Romanze von gerade mal drei Monaten eine fünfminütige Zeremonie im Rathaus bekommen, gefolgt von Essen zum Mitnehmen aus der Bar im Ort.
Andererseits war es ja auch nicht so, als hätte ihr je jemand große Bedeutung beigemessen.
Nakos’ Vater drehte sich auf seinem Stuhl zu ihr um. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. «Unser Sohn sagt, alles läuft gut im Haupthaus. Dass du dich einlebst und Mae beim Kochen hilfst.» Er sprach in einem tiefen, angenehmen Bariton. Zusammen mit seinem ledrigen Gesicht, der dunklen Haut und den mitternachtsschwarzen Augen hätte er beängstigend oder unnahbar wirken können. Aber er hatte die sanfteste Seele, die Amy je erlebt hatte.
«Olivia war sehr nett zu mir.» Nach dem Martyrium mit ihrem Exehemann hatte Amy keine andere Wahl gehabt, als bei ihrer Freundin einzuziehen. Sie war mittellos zurückgeblieben, nachdem er wegen Körperverletzung und Kidnapping verurteilt worden war. Ihr Haus war an die Bank gefallen. Hätte Olivia sie nicht aufgenommen und ihr Arbeit gegeben, wäre sie geliefert gewesen. «Ich koche gerne.» Es war entspannend, und außerdem fühlte es sich gut an, sich nützlich zu machen.
Amys Vater, der an der anderen Seite des Tischs saß, wirkte vollkommen desinteressiert, während ihre Mutter abfällig schnaubte.
Jep. Diese Missbilligung war nichts Neues. Nach Meinung ihrer Eltern sollte Amy zu Hause sein, um für ihren Ehemann zu kochen und das perfekte Bild einer ergebenen Ehefrau abzugeben. Doch stattdessen hatte sie sie mit einer Scheidung beschämt, das heilige Sakrament der Ehe beschmutzt und lebte nun angeblich in Sünde mit ihrer besten Freundin.
Nakos, der neben ihr saß, zwinkerte ihr aufmunternd zu, ohne ihre Eltern zu beachten. «Ames macht den besten Hackbraten auf dieser Seite des Platte River.»
Es war lieb von ihm, das zu sagen.
Seine Mutter nickte. «Amys Suppe, die du letzten Monat ins Reservat mitgebracht hast, als ich die Grippe hatte, war köstlich.»
Das kommentierte ihre eigene Mutter nur mit einem weiteren Schnauben.
Die Hunts starrten unangenehm berührt auf den Tisch.
Amy schämte sich für das schlechte Benehmen ihrer Eltern. Sie waren fromme Protestanten und so engstirnig, wie man nur sein konnte. Allein aufgrund ihrer Hautfarbe betrachteten sie die Hunts nicht als ebenbürtig. Warum zum Teufel sie sich entschlossen hatten, sich an diesen Tisch zu setzen, war Amy vollkommen schleierhaft. Eigentlich fragte sie sich sogar, wieso ihre Eltern überhaupt gekommen waren.
Ach, natürlich. Sie liebten Olivia, die Tochter, die sie sich immer gewünscht hatten.
Amy suchte verzweifelt nach etwas, womit sie das Schweigen füllen konnte. «Danke für das Kompliment. Ich will mir allerdings möglichst schnell eine andere Unterkunft suchen. Natürlich helfe ich Mae weiter in der Küche.» Sie hatte gar keine andere Wahl. Meadowlark war eine Kleinstadt mit wenigen Jobangeboten, und ihre Eltern weigerten sich, sie in ihrer Eisenwarenhandlung arbeiten zu lassen.
Nakos’ Blick bohrte ihr quasi Löcher ins Gesicht, aber sie ignorierte ihn. Sie wusste seine Sorge zwar zu schätzen, doch gleichzeitig verstärkte das nur ihre Schuldgefühle. Hätten er und Nate nicht verhindert, dass Chris’ Überfall sich zu etwas Schlimmerem entwickelte, würde sie wahrscheinlich gar nicht hier sitzen.
«Aber warum? Olivia hat dich doch sicher nicht gebeten, das Haus zu verlassen.» Mrs. Hunt lehnte sich vor, Besorgnis in ihren braunen Augen. «Ihr beide seid schon seit eurer Kindheit befreundet.»
«Nein, hat sie nicht.» Stattdessen hatte ihre Freundin das Angebot, weiter bei ihr zu wohnen, immer wieder erneuert. Olivia hätte Amy ihr letztes Hemd geschenkt, und andersherum galt dasselbe. «Aber sie ist jetzt verheiratet. Die beiden brauchen Zeit für sich. Ich werde heute Nacht in Kyles Zimmer übernachten, um ihnen ein wenig Privatsphäre zu geben.» Olivias zehn Farmarbeiter, zu denen Amys Bruder gehörte, lebten in zwei Blockhäusern, die ein Stück entfernt vom Hauptgebäude standen. «Ich werde mir etwas Dauerhafteres einfallen lassen, sobald die beiden von ihrer Hochzeitsreise zurück sind.» Irgendeine Lösung würde sich schon finden.
Ihr Dad versteifte sich. «Was meinst du damit, dass du bei Kyle schläfst?»
«Als hättest du uns nicht schon genug Schande bereitet. Jetzt willst du auch noch deinen Bruder in die Angelegenheit verwickeln?» Ihre Mutter schüttelte den Kopf, die dünnen Lippen missbilligend verzogen. «In einem Haus mit all diesen Männern schlafen.» Sie sprach das Wort Hure nicht aus, aber es klang deutlich in ihrem Tonfall mit.
Nakos atmete tief ein. Seine Nasenflügel blähten sich, und die Hände auf dem Tisch ballten sich zu Fäusten. «Wenn Sie sich solche Sorgen um Amy machen, sollten Sie Ihrer Tochter vielleicht einen Ort bieten, an dem sie bleiben kann, statt sie zu beleidigen.» Seine tiefe Stimme war kaum lauter als ein Flüstern, doch gleichzeitig hart wie Stahl und fast schneidend.
Vollkommen schockiert starrte Amy ihn an, während er und ihre Eltern sich ein Blickduell lieferten.
Nakos war kein Mann großer Worte. Gewöhnlich redete er nur, wenn es absolut nötig war. Ja, sie waren gute Freunde, und ja, er hatte sie schon früher verteidigt. Doch in diesem Fall wusste er es besser. Er würde ihre engstirnigen Eltern nicht ändern, indem er sie daran erinnerte, dass ihr Blut durch Amys Adern floss. Das hatte nie eine Rolle gespielt. Nicht, als sie ein Kind gewesen war, und sicherlich nicht jetzt.
Vor ein paar Jahren noch wäre sie die Erste gewesen, die aufgesprungen wäre und ihre Meinung kundgetan hätte. Doch ihre Ich-komme-mit-allem-klar-Sag-mir-wem-ich-in-den-Hintern-treten-muss-Einstellung war an dem Tag verschwunden, als sie vor den Altar getreten war. Und diese Attitüde würde auch nicht zurückkommen. Das war der Tag gewesen, an dem ihre selbstbewusste Fassade eingestürzt war; der Tag, an dem die Hoffnung begonnen hatte, langsam zu ersticken. Bis dahin hatte sie es ziemlich gut geschafft, Selbstbewusstsein vorzuspielen. Doch das uralte Mantra, dass echtes Selbstbewusstsein folgen würde, wenn man sich nur lang genug selbstbewusst gab, hatte sich irgendwie nicht bewahrheitet.
«Nach dem, was sie getan hat, werde ich ihr nicht erlauben, auch nur einen Fuß in unser Haus zu setzen.» Dad schüttelte entschieden den Kopf.
Amys erstes Verbrechen hatte darin bestanden, nicht in der Kirche zu heiraten. Aber sie hatte sich nur eine Eheschließung im Rathaus leisten können. Das zweite Verbrechen war ihre Scheidung. Doch schon vor diesen beiden Vorfällen war Amy eine Ausgestoßene in ihrer Familie gewesen. Aber der Grund dafür war eine Erinnerung, die sie begraben hatte und auch nie wieder hervorholen würde.
Nicht zum ersten Mal musterte Amy ihre Eltern und fragte sich, ob die beiden sie je geliebt hatten. Sie hatte das dunkle Haar und das schmale Gesicht von ihrem Vater geerbt, während ihre Augen denen ihrer Mom ähnelten, auch wenn sie etwas intensiver leuchteten. Die kurvige Figur kam ebenfalls von ihrer Mutter. Ihre beiden Eltern richteten den Blick auf sie, als wäre Nakos keine Antwort wert. Und das stellte es endgültig klar: Das Einzige, was sie mit diesen Leuten gemeinsam hatte, waren äußerliche Ähnlichkeiten.
Dad rümpfte die Nase. «Du hast deine Fehler gemacht. Jetzt lebe damit.»
Genau. Sie hatte darum gebeten, dass ihr Ehemann aufhörte, die Hypothekenraten zu zahlen und Tausende Dollar an Kreditkartenschulden anhäufte. Sie hatte darum gebeten, dass er sie zu Brei schlug, um ihr dann den Lauf einer Pistole vors Gesicht zu halten. Und sie hatte ihn darum gebeten, die einzige Sache zu zerstören, die ihr irgendein Vergnügen bereitet hatte – ihre Foto-Ausrüstung. Es war nur ein dummes Hobby. Trotzdem hatte sie zwei Jahre lang jeden erdenklichen Job angenommen und das Geld gespart, um sich die Kamera zu kaufen. Ein Schlag mit Chris’ Hammer hatte den Apparat – und sie – vernichtet.
Nakos erhob sich so schnell, dass sein Stuhl umfiel. «Tanz mit mir, Ames.» Keine Frage. Ein Befehl. Der ihm gar nicht ähnlich sah. Sein Blick richtete sie auf sie. Bittend. Wortlos flehte er sie an, ihn von diesem Tisch wegzubringen, weil er sonst nicht dafür garantieren konnte, was als Nächstes geschah.
Sie sah sich um und stellte fest, dass der erste Tanz vorbei war und sich inzwischen auch andere Paare auf der Tanzfläche tummelten. Als sie erneut Nakos anschaute, blieb ihr Blick an den langen Wimpern hängen, die die schwarzen Augen umrahmten. Diese Wimpern waren das Einzige, was seine finstere Intensität ein wenig dämpfte und seine Züge ein wenig weicher machten.
«Bitte.» Er streckte ihr die Hand entgegen und senkte seine Stimme zu einem Flüstern. «Ich werde tanzen. Und zwar mit einer wundervollen Partnerin.»
Ernsthaft? Ein Dirty-Dancing-Zitat? Dieser Mann war einfach unglaublich. Was sich schon allein an der Tatsache zeigte, dass er sich an den Satz erinnerte. Denn bisher hatte er stets protestiert, wenn Olivia und sie mal wieder darauf bestanden hatten, den Film anzuschauen.
Amy lachte, warf ihren Eltern ein kurzes, entschuldigendes Lächeln zu, weil sie sie am Tisch zurückließ, und ergriff Nakos’ Hand.
Er führte sie zu der freien Fläche in der Mitte der Scheune und zog sie an sich. Nah genug, um seine Hitze zu spüren und seinen erdigen Duft in sich aufzunehmen, aber nicht so eng, dass ihre Oberkörper sich berührt hätten. Eine warme Handfläche fand ihr Kreuz, während er mit der anderen ihre Finger umschloss.
Plötzlich nervös, folgte sie seiner Führung zu den Klängen der langsamen Ballade, die aus den Lautsprechern drang. Nach der Trauung hatte er seine Hemdärmel bis über die Ellbogen aufgerollt, sodass seine sehnigen Unterarme sichtbar waren. Auch die ersten zwei Knöpfe am Kragen hatte er geöffnet. Außerdem hatte er sein langes, seidiges Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden und sich den schwarzen Stetson wieder aufgesetzt, ohne den er eigentlich nie zu sehen war.
«Ich schwöre, Ames, hätten diese beiden Idioten nicht dich hervorgebracht, würde ich sie noch mehr hassen.»
Sie lachte atemlos. Ihre bornierten Eltern waren wirklich schrecklich, aber sie hatte schon vor langem gelernt, nicht auf sie zu achten. «Ignorier sie einfach. Sie sind den Frust nicht wert.»
«Sie haben dich verletzt, und das ohne jeden Grund.»
Ihre Eltern verletzten Amy schon ihr gesamtes Leben lang. Sie hatte sich daran gewöhnt. «Mir geht es gut.»
Sie bemühte sich, gleichmäßig zu atmen, während sie sich im Takt der Musik wiegten. Amy starrte Nakos’ Kehle an, den dunklen Bronzeton der Haut, das markante Kinn. Er war so ein gutaussehender Mann. Nicht so muskelbepackt wie Nate, aber trotzdem groß und schlank, mit einem durchtrainierten Körper. Lässig. Geschmeidig. Hohe Wangenknochen und ein ausdrucksstarkes Kinn. Breite Schulter und schmale Hüften.
Sie hatte immer ein wenig für ihn geschwärmt. Mit der Zeit hatte sich das gegeben, aber der Tanz sorgte trotzdem dafür, dass sie sich seiner Nähe unglaublich bewusst war. Was heute genauso dämlich war wie damals. Er hatte immer nur Augen für Olivia gehabt. «Wir haben seit unserem Abschlussball nicht mehr getanzt.»
Nakos war im Reservat in die Schule gegangen, aber zu Schulbällen und Tanzveranstaltungen hatten Olivia und sie ihn immer gebeten mitzukommen. Er war Amys Date für den Abschlussball gewesen. Sie hatte lächerlicherweise darauf gehofft, mit ihm auszugehen, würde dafür sorgen, dass er sie endlich als Frau wahrnahm. Sie hatte Stunden damit verbracht, das richtige Kleid und die richtigen Schuhe auszuwählen und sich zu schminken.
Er war mit dem gewohnt freundlichen Lächeln vor ihrer Tür aufgetaucht, ohne irgendein Aufflackern von Interesse in seinen Augen.
«Ist das wirklich so lange her?» Er sah auf sie hinunter, sein Blick zärtlich. «Nur für den Fall, dass ich es noch nicht gesagt habe: Du siehst heute Abend wirklich sehr schön aus.»
«Danke.» Wenn er das Kompliment ernst gemeint hätte, statt einfach nur höflich zu sein, hätte sie sich gefreut. Sie sah über seine Schulter, um seinem Blick nicht begegnen zu müssen, und versuchte sich an einem Lächeln, auch wenn sie vermutete, dass es eher unecht wirkte. «Und du bist so halb ordentlich angezogen auch ziemlich attraktiv.»
Er lachte rau, dieses Lachen, das er für spezielle Momente reservierte. «Ich bin nur dankbar, dass ich keine Krawatte tragen musste. Bei besagtem Abschlussball hast du mich dazu gezwungen.»
«Das ist zwölf Jahre her, und du bist immer noch nicht darüber hinweg.» Sie seufzte. «Gib es doch zu. Schick steht dir.»