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Eine magische Liebe aus Tinte und Papier: Folge uns in eine Nacht, in der Träume wahr und Romanhelden lebendig werden ... Emma hält nicht viel von kitschiger Romantasy und über die beliebte Reihe "Zwanzig Minuten vor Mitternacht" kann sie eigentlich nur lachen. Doch dann steht Vinzenz vor ihr – nicht etwa der strahlende Held des Buchs, sondern sein böser Gegenspieler. Emma muss ihn dringend wieder loswerden, um nicht in seinen Roman hineingezogen zu werden. Aber je mehr Zeit die beiden miteinander verbringen, desto schwerer fällt Emma diese Entscheidung … Ein humorvoll-romantischer Schmöker – wie "Stolz und Vorurteil" mit magischem Twist.
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Seitenzahl: 436
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Über das Buch
Über vorhersehbare, kitschige Romantasy à la „Zwanzig Minuten vor Mitternacht“ kann sich die 14-jährige Emma eigentlich nur lustig machen. Doch dann steht ihr nachts in der Buchhandlung ihres Vaters plötzlich Bösewicht Vinzenz gegenüber – leibhaftig aus dem Roman entsprungen – und vorhersehbar ist in ihrem Leben gar nichts mehr! Sie muss ihn dringend loswerden, um nicht in seinen Roman hineingerissen zu werden. Dumm nur: Er ist ein Bad Boy zum Verlieben …
Ein lustig-romantischer Schmöker für alle Fans von Kerstin Gier!
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Elf
Zwölf
Dreizehn
Vierzehn
Fünfzehn
Sechzehn
Siebzehn
Achtzehn
Neunzehn
Zwanzig
Einundzwanzig
Zweiundzwanzig
Dreiundzwanzig
Vierundzwanzig
Fünfundzwanzig
Sechsundzwanzig
Siebenundzwanzig
Achtundzwanzig
Neunundzwanzig
Dreißig
Einunddreißig
Zweiunddreißig
Dreiunddreißig
Vierunddreißig
Fünfunddreißig
Sechsunddreißig
Und jetzt …
Danke
An diesem ganz speziellen Mittwoch in der letzten Woche der Sommerferien war von Anfang an irgendetwas faul. Es begann mit dem nervigen Läuten meines Handys. Quak, quak, quak.
Wäre es nicht mein total süßer Sitznachbar Jonas gewesen, der mir den Klingelton kurz vor den großen Ferien heimlich von Shawn Mendes’ There’s Nothing Holdin’ Me Back zu Quarks, der Frosch umgestellt hatte, hätte ich es längst wieder geändert. Doch so erinnerte mich jedes Quaken an Jonas’ honigbraune Augen, den knuffigen Leberfleck auf seiner linken Wange und vor allem an die Zeit vor seiner Erdbeer-Knutsch-Aktion … Als ich eine letzte Hoffnung gehabt hatte.
Seufzend vergrub ich mich unter der Bettdecke, bis nur noch meine Nasenspitze hervorblitzte, und ignorierte das Läuten. Leider war Quarks, der Frosch, ziemlich hartnäckig. Quak, quaak, quaaak, quaaaak.
Irgendwann reichte es mir. Wie automatisch tastete meine Hand nach dem Smartphone auf dem Nachttisch. Ich schaute gar nicht, wer mich anrief, sondern nahm einfach ab. Genau als ich es gegen mein Ohr drückte und dazu ansetzte, etwas zu sagen, musste ich laut gähnen.
»Ähm, Emma, du schläfst doch nicht ernsthaft immer noch?«, fragte die Stimme meiner besten Freundin Leona.
Ich riss die Augen auf. Immer noch? Es war gerade einmal acht! Das ist eine menschenunwürdige Zeit für die Ferien.
Aber das sah Leona anders. Sie hörte sich an, als würde sie einen Hochleistungsmarathon laufen, wahrscheinlich war sie wieder einmal mit ihrer frühmorgendlichen Joggingrunde beschäftigt. Was Sport betraf, konnte Leo einem echt ein schlechtes Gewissen machen. Ich war meistens froh, wenn ich es morgens schaffte, ohne Stress meine Cornflakes zu essen. Sie hingegen lief sogar vor Unterrichtsbeginn stets eine halbe Stunde durch den Park UND aß anschließend supergesunde, vollwertige Bio-Granola-Flocken mit frischem Obst.
Einmal mitlaufen hatte mir für den Rest meines Lebens gereicht. Neben Leona hatte ich mich wie eine Achtzigjährige gefühlt, die es höchstens mit den Nacktschnecken im Schrebergarten meiner Großeltern aufnehmen konnte.
»Nee, ein Frosch hat mich geweckt«, murmelte ich und rieb mir Schlafsand aus den Augen.
»Ein Frosch?« Leona kicherte. Den Geräuschen nach zu urteilen, machte sie gerade Dehnübungen an einer Parkbank. »Hast du diesen doofen Klingelton etwa immer noch nicht umgestellt? Hm, er passt natürlich wirklich gut zu Jonas, diesem Frosch. Aber man sagt ja, die werden zu Prinzen, wenn die richtige Prinzessin sie küsst.«
»Bestimmt«, murrte ich zerknirscht. »Betonung auf richtige.«
»Vielleicht kannst du ihn beim Back-to-School-Ball doch noch erlösen«, entgegnete Leona.
»Hast du vergessen, dass er mit Megan hingeht?«
»Na und? Ich komm übrigens gleich nach dem Joggen bei euch vorbei.«
Langsam rappelte ich mich auf, während Leona weiterkeuchte: »O Mann, ich hab die ganze Nacht nicht geschlafen. Es ist so aufregend und cool! Heute erfahre ich das Ende. Kannst du dir das vorstellen? Darauf warte ich seit zwei Jahren!«
Ich kniff die Augen zu kleinen Schlitzen zusammen. Welches Ende? O Gott, das Ende!
»Scheiße, Leo, sorry, aber ich muss jetzt sofort runter in den Laden. Also wenn du mich suchst, ich bin dort. Bis später!«, rief ich und pfefferte das Handy in hohem Bogen auf mein Kissen. Dann presste ich die Hände vor mein Gesicht und quiekte einmal laut: »Ahhhh!«
Mist. Mist. Mist. Heute war dieser verdammte Tag und ich war noch nicht unten in der Buchhandlung. Mit einem Schlag war die Müdigkeit verflogen. Wie von der Tarantel gestochen sprang ich auf und trat dabei mit dem nackten Fuß direkt auf die Kante eines am Boden liegenden Buches. Autsch. Das fing ja wirklich gut an. Warum hatte ich mich auch darauf eingelassen, für ein bisschen zusätzliches Taschengeld bei meinem Vater im Laden mitzuhelfen? Aber ich wollte Pa nun mal nicht im Stich lassen, nachdem seine zickige Aushilfe Philippa wieder einmal krank war. So wie jedes Mal, wenn wichtige Dinge bevorstanden.
Diese Sache heute Abend war sogar verdammt wichtig. Pa drehte seit Wochen völlig am Rad, weil die berühmte Bestsellerautorin Hannah Ruderer ausgerechnet in seiner kleinen Buchhandlung ihren neusten Fantasykitsch vorstellen würde. Ich hatte ja wirklich keinen blassen Schimmer, wie es dazu gekommen war, denn bei Bücher Grünwald handelte es sich eigentlich nicht um einen dieser Läden, in denen normalerweise große Events stattfanden. Dafür war der Laden viel zu winzig, altmodisch … unbedeutend. Pas Geschäft lebte vor allem von treuen Stammkunden und Touristen, die sich auf der Suche nach Briefmarken (obwohl Pa die gar nicht verkaufte) durch die Eingangstür verirrten.
Doch heute war alles anders. Hannah Ruderer las nämlich nicht aus irgendeiner ihrer Geschichten vor, sondern aus dem heiß ersehnten finalen Band der seit Monaten gehypten Fantasytrilogie Zwanzig Minuten vor Mitternacht. Die Meute würde uns also heute Abend die Bude einrennen. Mir graute jetzt schon davor!
Das lag nicht nur daran, dass ich grundsätzlich nicht besonders gerne im Laden aushalf – jeder, der meinen Vater schon einmal bei der Arbeit erlebt hatte, verstand das –, ich konnte die Begeisterung für diese kitschigen Romane einfach nicht nachvollziehen.
Alles drehte sich darin um den blonden Lackaffen Phil Brandfair, einen adeligen Zeitreiseschnösel aus dem britischen Sussex des neunzehnten Jahrhunderts, der mithilfe des Wandschrankes seines Opas eines Tages im einundzwanzigsten Jahrhundert landet – genauer gesagt, direkt im Zimmer des ahnungslosen Au-pair-Mädchens Esmeralda. Sie ist auf dem riesigen Landhaus der stinkreichen Familie Brandfair (Phils Nachfahren) dafür zuständig, sich um die dreijährigen Teufelsbraten William und Dorian zu kümmern. Ungefähr zehn Seiten später sind Phil und Esmeralda unsterblich ineinander verliebt, gäbe es da nicht ein Riesenproblem: Vinzenz, Phils hinterhältiger Ziehbruder, der ebenfalls über die besonderen Fähigkeiten dieses Wandschrankes informiert ist. Schlimmer noch, wie es sich für einen echten Fiesling gehört, setzt er alles daran, Phil die wunderschöne Esmeralda auszuspannen. Außerdem will er der mächtigste Zeitreisende der Welt werden, weshalb er Phil erst einmal aus dem Weg schaffen muss. Und das war es auch schon. Sehr viel mehr Handlung gab es nicht. Doch mit seinen blauen Augen, coolen Machosprüchen und vor Kitsch triefenden Liebesbekundungen brachte Phil auch ganz ohne Tiefgang tagtäglich Tausende von lesewütigen Mädchenherzen zum Schmelzen – eines dieser Herzen gehörte leider Leona.
Für einen Phil aus Fleisch und Blut hätte sie alles gegeben. Seitdem der erste Band erschienen war, erzählte sie mir ständig, dass ihr einzig wahrer, heiß ersehnter Mr Right genau diese Art Junge sein müsse. Blond, groß, muskelbepackt, strahlend blaue Augen und natürlich im Idealfall auch noch ein britischer Lord mit irgendwelchen magischen Fähigkeiten. Eine ziemlich verfahrene Sache, weil Phil nun einmal eine Romanfigur war und Pickel-Tommy aus der Schule, der Leona ungefähr seit der sechsten Klasse anhimmelte, diese Anforderungen nicht einmal annähernd erfüllte. Auch wenn ich verstand, dass Leona nicht scharf drauf war, herauszufinden, wie sich eine Zahnspange beim Rumknutschen anfühlte, hatte ich manchmal ein bisschen Mitleid mit Tommy. Besonders, wenn er Leo wieder einmal bereitwillig die Mathehausaufgaben zum Abschreiben zusteckte oder ihr die Schultasche trug. Kurz vor den großen Ferien hatte er sie sogar gefragt, ob sie im Herbst mit ihm auf den Back-to-School-Ball gehen würde. Allerdings war das ein wirklich schwacher Moment gewesen, nämlich fünf Minuten nachdem Leona ihre versiebte Matheklausur zurückbekommen hatte, weshalb ihr ein genuscheltes »Okay« über die Lippen gerutscht war (sie wollte ihm nicht das Herz brechen, immerhin gab er ihr gratis Nachhilfe).
Pickel-Tommy war aber allemal besser als gar keine Begleitung! Damit versuchte ich sie schon die ganzen Ferien hindurch zu trösten. Traurig war nur, dass ich diejenige war, auf die genau das zutraf, weil ich völlig unnötig auf Jonas’ große Frage gewartet hatte. Der hatte mir nur Blätter aus meinem Collegeblock geklaut und mich in der Bushaltestelle auf die Wange geküsst, um eine Woche später mit Megan Jonson (dem Mädchen mit dem hollywoodreifen Namen, dem amerikanischen Vater und alljährlichen Flugreisen zu ihren Großeltern nach Kentucky) in der Eisdiele rumzumachen. Dabei hatte er sie sogar mit Erdbeeren gefüttert … MIT DEM MUND. Am Ende blieb mir also nichts von Jonas außer Quarks, dem Frosch auf dem Handy.
Ich hetzte ins Badezimmer, spritzte mir kaltes Wasser in mein sommersprossiges Gesicht und versuchte den schulterlangen, fuchsroten Wirrwarr auf meinem Kopf in einen streng geflochtenen Zopf zu bändigen. Mit mäßigem Erfolg, meine Haare machten immer nur, was sie wollten – was leider bedeutete, dass sie mich heute wie eine wild gewordene Räubertochter aus dem Wald aussehen ließen. Manchmal waren diese roten Haare und die vielen Sommersprossen wirklich eine Strafe, aber immerhin erinnerten sie mich an Mama. Sie war gestorben, als ich erst zwei Jahre alt gewesen war. Bis auf die haselnussbraunen Augen, die ich von Pa hatte, sah ich ihr zum Verwechseln ähnlich.
In der Küche begrüßten mich eine leere Packung Cornflakes und saure Milch. Großartig. Damit fiel heute also auch noch das Frühstück ins Wasser. Was für ein Katastrophentag!
Die Krönung war dann aber definitiv der stuntreife Sturz über die Wendeltreppe, die unsere Wohnung direkt mit der Buchhandlung verband. Als wäre das nicht schlimm genug gewesen, endete meine Flugbahn auch noch unmittelbar vor den perlmuttfarben lackierten Fußnägeln der Spinatwachtel, Pas treuster Stammkundin. So hieß die natürlich nicht wirklich, aber wegen ihrer giftgrünen Klamotten und der komischen Vogelnestfrisur hatte ich ihr irgendwann mal diesen Codenamen verpasst.
Die Spinatwachtel kaufte sich gerade einen Roman mit dem Titel »Die flammende Lust des Highlanders« (oder so ähnlich) und fragte mich allen Ernstes, ob eine Vierzehnjährige nicht zu alt für lustige Rutschpartien auf dem Geländer wäre. Dann faselte sie irgendwas von Erwachsenwerden und Pippi Langstrumpf, während sie Giacomo Casanova – ihren Langhaar-Chihuahua mit einem Stammbaum, der sich laut Spinatwachtel bis in die tiefsten Tiefen des dunklen Mittelalters zurückverfolgen ließ – von einem Arm auf den anderen wechselte.
Leider sprudeln einem die schlagfertigen Antworten nicht unbedingt über die Zunge, wenn man mit einer schmerzenden Pobacke am Boden sitzt und einen alle anstarren.
Über diesen peinlichen Auftritt beklagte sich mein Hintern auch zwanzig Minuten später noch, als ich in dem winzigen Eckschaufenster mit Blick auf die kopfsteingepflasterte Kleegasse herumkroch und mich bemühte, Pas Anweisungen von draußen zu verstehen. Schlagartig war er auf den Gedanken gekommen, dass ihm die Dekoration, die er vergangenen Sonntag gemacht hatte, nun doch nicht sensationell genug für ein Event wie dieses war … Er konnte fürchterlich pingelig sein. Manchmal stellte ich mir die Frage, was wohl aus ihm geworden wäre, hätte er nicht diesen Laden von Uropa Heinrich geerbt. Aber die einzige Antwort war wohl, dass er dann trotzdem eine Buchhandlung eröffnet hätte. Pa war nun einmal ganz und gar besessen von Büchern.
Er zupfte sich unruhig am Kinn herum. »Emma, nimm noch etwas Glitzer für den Boden. Es soll richtig magisch wirken! Die Leute müssen in den Augen geblendet werden, wenn sie vorbeigehen. Ja, das kommt eher hin. Noch mehr! Ach nein, jetzt hast du das Bild verrückt. Man muss Phil und Esmeralda sehen können!« Seine Stimme drang dumpf durch die Scheibe hindurch. Er stand draußen auf der Straße, obwohl es in Strömen regnete. Sein graues Sakko war schon ganz nass und einzelne Regentropfen hatten sich in den Stoppeln seines hellbraunen Dreitagebarts verfangen.
Ich seufzte und zog eine Grimasse.
Pa tat, als würde er meine miese Laune gar nicht wahrnehmen, und rückte die runde Brille, die ihn immer ein bisschen wie eine Eule aussehen ließ, zurecht. »Karottenzwerg, ich mach das doch lieber selbst. Bau bitte die Stühle auf, da kann man nichts falsch machen.«
Das war der Grund, weshalb ich lieber nicht in der Buchhandlung aushalf. Was hatte ich denn, bitte schön, falsch gemacht? Als ob man mir nur Aufgaben für Kleinkinder zutrauen könnte. Außerdem verabscheute ich es, wenn Pa mir diesen absolut belämmerten Spitznamen gab, den mir der orange Flaum eingebrockt hatte, der mir als Baby auf dem Kopf gewachsen war. Karottenzwerg. Den würde ich wohl nie wieder loswerden.
Ich schnaubte und ließ die Hand energisch in dem Eimer voll Glitzerkonfetti versinken, wodurch er links und rechts überquoll. Dann stand ich so rasch auf, dass ich dabei mit dem Hinterkopf gegen den aufgeklappten Schaufensterrahmen donnerte. Erschrocken trat ich in den Glitzerkonfetti-Eimer und rutschte aus. Um das Gleichgewicht zu halten, ruderte ich noch eine Weile mit den Armen in der Luft herum, doch es war längst zu spät. Ich plumpste mit voller Wucht rücklings auf den Bestsellertisch hinter dem Schaufenster. Die spitze Kante des neusten Thriller-Megasellers bohrte sich zielsicher in meinen Rücken, mein rechtes Bein schoss reflexartig in die Luft und der Eimer wurde einmal quer durch den Verkaufsraum gekickt. Na super. Damit war mein Höchstmaß an peinlichen Aktionen in der Öffentlichkeit für die nächsten paar Jahre hoffentlich endgültig erreicht … Wäre ja eigentlich alles nicht weiter tragisch gewesen, hätte sich nicht das ganze Glimmerkonfetti über mich, die Bücher und den Boden verteilt. Beziehungsweise … wäre der Eimer nicht mitten auf dem Kopf eines alten Mannes gelandet, der eben neben die Kasse getreten war und sich eines der Zitronenbonbons, die dort in einem bauchigen Glas standen, in den Mund geschoben hatte. Zum Glück trug dieser Opa einen schwarzen Hut in Melonenform, so war er wenigstens ein kleines bisschen vor dem unerwarteten Wurfgeschoss geschützt. Es klapperte gewaltig, als der Eimer auf den Boden fiel, dort noch eine winzige Drehung vollführte und schließlich bewegungslos liegen blieb.
»Nanu?« Der Opa hob eine seiner dichten Brauen.
Wenige Sekunden später kam Pa zur Tür hereingestürmt.
Ich warf ihm einen unschuldigen Blick zu und pustete mir eine rote Haarsträhne, die sich aus meinem Flechtzopf gelöst hatte, von der Stirn. Ich wagte es nicht, mich auch nur einen winzigen Zentimeter vom Fleck zu rühren, denn ich konnte genau fühlen, wie sich der harte Buchdeckel des Thrillers unter mir immer mehr verbog. Bestimmt war es besser, wenn Pa davon erst mal nichts erfuhr. Seiner Gesichtsfarbe nach zu urteilen, stand er auch so schon kurz vor einem Nervenzusammenbruch.
Er wandte sich an den alten Mann. »Entschuldigen Sie vielmals! Meine Tochter hilft aus, und sie ist wahrscheinlich der größte Tollpatsch, den die Welt jemals zu Gesicht bekommen hat. Haben Sie sich verletzt?«
»Ach was.« Der Opa schnippte ein Konfetti von seiner Schulter. »Ich finde, sie kann ruhig häufiger aushelfen. Ich bin ein großer Freund der Slapstick-Kunst im Stil des einzigartigen Charlie Chaplin.«
Slapstick-Kunst? Charlie Chaplin? Was quasselte der denn für seltsames Zeug? Und so was musste ich mir von einem Kerl anhören, der mit seinem schwarzen Mantel aussah, als wäre er geradewegs dem neunzehnten Jahrhundert entsprungen! Warum trug der überhaupt mitten im Sommer einen Mantel? Ich war mir ganz sicher, ihn noch nie zuvor in der Buchhandlung gesehen zu haben. Seine schneeweißen Haare reichten bis knapp über die Ohren, wo sie sich zu dünnen Locken kringelten, und seine Oberlippe wurde von einem beachtlichen Schnauzbart geziert, der sich seitlich links und rechts zu zwei abstehenden Schnecken kräuselte. Am auffälligsten war jedoch das eigenartige Monokel, das er soeben aus der Brusttasche seines Mantels zog und sich mit einem komischen Brummgeräusch vor das linke Auge schob.
Wer trug denn im einundzwanzigsten Jahrhundert noch ein Monokel?
Aber der Kerl schien sich damit keineswegs seltsam vorzukommen. Er trat näher an mich heran und beäugte mich durchdringend durch das Glas. »Uns steht ein großer Abend bevor. Nicht wahr?«
Endlich schaffte ich es, mich aus meiner Schockstarre zu lösen. Während ich vom Bestsellertisch kletterte, ließ ich das zerquetschte Buch mit einem geschickten Handgriff hinter meinem Rücken verschwinden und setzte dazu an, etwas zu sagen, aber meine Zunge war wie gelähmt. Ich brachte keinen Ton heraus.
Der Mann schien keine Antwort zu erwarten. »Ein wirklich, wirklich großer Abend«, murmelte er leise. Noch mitten im Sprechen machte er sich auf den Weg zur Tür. Bevor er den Laden verließ, nahm er seinen Hut ab und deutete eine leichte Verbeugung in meine Richtung an. Dann verschwand er schnellen Schrittes auf die Straße. Ich konnte ihn nur noch wie einen dunklen Schatten am Schaufenster vorbeihuschen sehen.
Ich drehte mich zur Kasse, hinter der Pa so tat, als sei ihm nichts aufgefallen. Kein Wunder, eigenartige Kunden waren für ihn Alltag. Da musste man nur mal an die Spinatwachtel denken.
Pa summte leise die Melodie von O Tannenbaum und zog frisch gedruckte Mitternachts-Trilogie-Fan-Lesezeichen aus ihrer Verpackung. Phil umgeben von lila Glitzer. Kitsch pur.
»Kanntest du den?«, fragte ich und bemühte mich, den krumm gebogenen Thriller hinter meinem Rücken zu verstecken.
Pa sah von den Glitzerlesezeichen auf. »Nein, Karottenzwerg. Aber er schien sich für die Lesung heute Abend zu interessieren.«
»Der Typ war mindestens achtzig«, wunderte ich mich. »Seit wann lesen alte Opas Romane für Teenies?«
»Ach was.« Pa zuckte die Schultern. »Manche Geschichten sind in jedem Alter schön zu lesen. All Age.« Offenbar war er jetzt mit der Position der am Kassentisch aufgefächerten Lesezeichen zufrieden, nachdem er sie mindestens zehnmal von links nach rechts gerückt hatte.
Er ging zum Schaufenster und sein Gesumme wechselte zu Hänschen klein. Bei jedem seiner Schritte drehte ich meinen Oberkörper mit. Wie sollte ich dieses doofe Buch bloß wieder loswerden?
»Kümmerst du dich jetzt um die Stühle?«, erinnerte Pa mich an meine eigentliche Aufgabe. »Und das Glitzerkonfetti muss auch vom Boden gesaugt werden.«
Das war die Lösung. Der Staubsauger! Ich nickte schwach und machte mich rückwärts auf den Weg in das kleine Büro hinter der Kasse.
Pa sah mich verwundert an. »Denkst du nicht, dass es schneller geht, wenn du dich umdrehst?«
»Äh, das Schaufenster wird wirklich schön«, lenkte ich ab und setzte das fröhlichste Lächeln auf, das ich draufhatte. »Aber guck mal, Vinzenz geht’s wohl nicht so gut.«
Der kleine Pappaufsteller mit Oberbösewicht Vinzenz lag umgekippt neben Phil und Esmeralda.
»Oh!«, rief Pa. Er ließ sich wirklich leicht auf andere Gedanken bringen, das war gut. Sofort widmete er sich dem armen Vinzenz und kümmerte sich nicht weiter um mich.
Ich erreichte den Kassentisch, wirbelte herum und verschwand mit einem Affentempo im Büro.
»Ich zittere jetzt schon vor Aufregung.« Leona hielt mir ihre ausgestreckte Hand mit den abgeknabberten, schwarz lackierten Fingernägeln unter die Nase. »Ist das ein Traum? Schlafe ich noch? Emma, zwick mich mal.«
Es war kurz vor achtzehn Uhr, wir hatten es uns in der letzten Stuhlreihe gemütlich gemacht. Zwei Stunden hatte ich gebraucht, um den Raum für heute Abend in Schuss zu bringen. Hin und wieder waren Kunden durch die bereits ordentlich zurechtgerückten Reihen spaziert und hatten alles durcheinandergebracht, aber jetzt war es geschafft. Die viele Arbeit hatte mir dabei geholfen, nicht mehr an den Thriller denken zu müssen. Wirklich widerlich, was man in so einem Staubsauger alles findet – von rosaroten Kinderhaargummis, halbgelutschten Pfefferminzbonbons bis zu Giacomo Casanovas Hundehaaren. Und neuerdings eben auch einen verbogenen Thriller. Mein Plan lautete, Pa zu erzählen, Philippa hätte das Buch versehentlich aufgesaugt. Das hätte zwei Vorteile mit sich gebracht: erstens Ärger für Philippa (die konnte ich sowieso nicht leiden), zweitens keinen Ärger für mich. Allerdings waren mir, noch während ich mit den Händen in diesem superekeligen Staubhaufen gewühlt hatte, bereits die ersten Zweifel gekommen. Wirklich glaubwürdig klang das alles ja nicht gerade, denn wie sollte der fette Schinken durch das Saugrohr gepasst haben …? Blöderweise blieb keine Zeit, den Plan zu perfektionieren. Mit jeder verstreichenden Minute wurde die Anspannung größer. Um in Ruhe letzte Vorbereitungen für die Veranstaltung treffen zu können, hatte Pa vorübergehend den Laden geschlossen. Doch jetzt war es fast achtzehn Uhr. Bald würde die Menschenmasse, die sich bereits den halben Nachmittag draußen auf der Kopfsteinpflasterstraße vor dem Eingang tummelte, hereinströmen.
»Nein, Leo, das ist die Realität«, brummte ich genervt. Sie erzählte mir jetzt bestimmt schon zum hundertsten Mal, wie aufgeregt sie war. »Und wenn nicht, dann ist es ein Albtraum. Mein Tag war der absolute Horror. Mir tut jetzt noch alles weh!« Ich rieb mir den Rücken dort, wo ich beinahe von dem Thriller gepfählt worden war. Bestimmt prangte an dieser Stelle bereits ein blauer Fleck in der Größe einer Wassermelone.
Leona schenkte mir ein mitleidiges Lächeln. Sie trug ihre rabenschwarz gefärbten Haare heute zu einem knubbeligen Dutt hochgesteckt, aus dem links und rechts einzelne Strähnen ragten, und blinzelte mir durch die Gläser ihrer eckigen Brille mit den breiten Rändern entgegen. Wie immer wurden ihre smaragdgrünen Augen von einem dicken, schwarzen Kajal umrahmt, seit ein paar Wochen durchlebte Leona nämlich ihre »schwarze Phase«. So nannte Pa das zumindest jedes Mal, wenn er sie zu Gesicht bekam. Es bedeutete nicht nur, dass Leona sich schwarz schminkte, sondern auch nur noch schwarze Kleidung trug. Heute war es ein pechschwarzes Kleid, das bis knapp über die Knie reichte. Ihre Füße steckten in plumpen Doc Martens mit rosa Blümchenaufdruck, der einzige Farbklecks an ihrem Outfit. Sie sah ein bisschen aus wie Grufti-Schneewittchen.
»Hast du den ersten Band dann doch noch bis zum Ende gelesen?«, lenkte Leona ungerührt von meiner Verletzung ab und schob sich dabei einen Kaugummi in den Mund. Ein erfrischender Pfefferminzgeruch verbreitete sich. Das bisschen Mitleid, das sie eine Sekunde gezeigt hatte, war wohl schon wieder verflogen.
»Die Frage meinst du wohl nicht ernst?« Ich gähnte demonstrativ.
»Eigentlich schon.«
»Du weißt doch, dass ich den ersten Teil abgebrochen habe, als Esmeralda im Ententeich mit Phil geknutscht hat. Ich wusste bereits vier Kapitel früher, was aus den beiden wird. Und ich hasse es, wenn Storys so vorhersehbar sind.«
»Du kannst das gar nicht wissen, weil es noch nicht mal am Schluss von Band zwei geklärt wurde«, entgegnete Leona. »Wir erfahren es erst heute. Außerdem war es ein Badeteich!«
Sie pustete eine Kaugummiblase und ließ sie mit einem lauten Knall wieder platzen.
»Dann verrate ich es dir gerne schon einmal.« Ich lehnte mich lässig zurück und sah meiner Freundin direkt in die Augen. »Esmeralda und Phil werden nach Möglichkeit A: heiraten, natürlich erst, nachdem sie herausgefunden haben, dass doch auch Esmeralda durch den Zeitschrank gehen kann, weil die Zeitreisefähigkeit bei zu viel Körperkontakt ansteckend wirkt und sie in der Lage ist, eine umgedrehte Zeitschleuse zwischen dem einundzwanzigsten und dem neunzehnten Jahrhundert zu öffnen. Oder Möglichkeit B: gemeinsam durchbrennen, weil Phil dem Streit mit Vinzenz entkommen möchte. Möglichkeit B hat allerdings dann auch wieder Möglichkeit A zur Folge. Es besteht aber auch noch eine winzige Chance auf Lösung C: Sie sterben. Mein Favorit, dann gibt es nämlich sicher keine Fortsetzung. Passiert aber leider nicht, weil es ein Happy End geben muss.«
»Schwachsinn.«
»Du wirst schon sehen. Vielleicht bekommt Esmeralda aber auch noch vorher ein magisches Zeitreisebaby. Das wird der Protagonist vom vierten Band.«
»So ein Quatsch.« Leona stupste mich gegen die Schulter. »Esma ist fünfzehn! Und es muss sich jetzt erst einmal klären, wie die Sache zwischen ihr und dieser rätselhaften Ballbegleitung weitergeht.«
Ach ja. Das hatte ich glatt vergessen. Der miese Cliffhanger von Band zwei, bei dem Esmeralda auf einem Maskenball von einem geheimnisvollen Jungen – bei dem es sich nur um Oberfiesling Vinzenz handeln konnte – zu einem Tanz verführt worden war.
Leona hatte sich tagelang darüber aufgeregt, wie die Autorin ihren Fans so ein gemeines Ende hatte antun können, wenn sie doch genau wusste, dass die ein Jahr auf die Fortsetzung warten mussten.
»Ich hätte auch gern so ein aufregendes Leben wie Esmeralda, vielleicht sollte ich nächsten Sommer Au-pair in England werden«, schwärmte Leona weiter. Sie seufzte verträumt und knabberte am Nagel ihres Daumens, was nicht so klug war, da der Lack dadurch noch mehr bröckelte.
Ich schmunzelte. »Dann müsstest du aber erst der Schminke und den schwarzen Klamotten abschwören, sonst nimmt dich keine versnobte Adelsfamilie. Sie würden dich für eine teufelsanbetende Gruftibraut halten, die sich nachts auf Friedhöfe schleicht, um dort mit den Toten zu sprechen. Kann ja niemand ahnen, was für ein Hosenscheißer du in Wahrheit bist.«
Ausgerechnet in diesem Moment betrat Pa den Raum. Er musterte mich mit kritischer Miene, und es dauerte einen Augenblick, bis mir klar wurde, weshalb er so übertrieben streng guckte, obwohl er ganz genau wusste, dass Leona und ich nur miteinander herumalberten. Er war nicht alleine.
Das Erste, was ich von ihr wahrnahm, war ein pudriger Rosenduft, der sich innerhalb kürzester Zeit im ganzen Raum verbreitete. Ich kannte dieses Parfum von meiner Oma Frieda. Offenbar hatte Hannah Ruderer eine Vorliebe für Alte-Frauen-Parfums. Seltsam für jemanden, der aussah wie Mitte dreißig, romantische Schnulzen schrieb und dann auch noch einen derartig wild gemusterten Blazer über einer knallpinken Bluse mit weißen Tupfen trug. Minnie Maus wäre bestimmt vor Neid erblasst!
Ich konnte fühlen, wie sich Leonas gesamter Körper neben mir anspannte.
Hannah Ruderer stand direkt hinter Pa und hielt einen nagelneuen Mitternachtsroman in ihren Händen. Sie drückte das Buch so fest gegen ihren Oberkörper, als hätte sie Angst, es würde jede Minute runterfallen. Dabei musterte sie uns neugierig mit ihren dunkelbraunen Augen.
»Sind das die Mädchen, Cornelius?« Ihre Stimme hatte einen zuckersüßen Klang. Viel zu süß für meinen Geschmack. Wie jemand, der davon ablenken möchte, dass er eigentlich irgendeinen ganz bösen Plan verfolgt. Das machte mich sofort misstrauisch.
Wieso nannte sie Pa überhaupt ›Cornelius‹? Normalerweise taten Geschäftskontakte das nicht. Und wieso hatte er ihr von Leona und mir erzählt? Obwohl sich natürlich eigentlich viel mehr die Frage stellte, was Pa ihr gesagt hatte.
Gut, was Leona betraf, gab es da schon einige Dinge, die bestimmt nützlich waren, wenn man sich bei Hannah Ruderer einschleimen wollte. Mir fielen auf Anhieb hundert Sachen ein: Der größte Fan, den die Welt jemals gesehen hat, hat die ersten beiden Bände schon so häufig gelesen, dass sie selbst nicht mehr sagen konnte, wie viele Male es nun wirklich gewesen waren, und, und, und … Aber über mich?
Pa neigte sich zu Hannah Ruderers Ohr. »Ja, jetzt lernst du meine Emma kennen.«
Huch. Was hatte das denn zu bedeuten? Vermutlich hätte ich dieses Getuschel gar nicht hören sollen, so verschwörerisch klang es. Doch Heimlichtuerei war noch nie Pas Stärke gewesen. Schon als Vierjährige war mir keines seiner Geheimnisse entgangen, weshalb Weihnachten, Ostern und meine Geburtstage immer ein bisschen langweilig gewesen waren. Auf der anderen Seite mochte ich Überraschungen sowieso nicht.
»Wie aufregend«, machte Hannah Ruderer meine Verwirrung noch schlimmer.
Im Gegensatz zu Pa versuchte sie gar nicht erst zu flüstern. Ihr Blick durchbohrte mich, als wäre ich ein besonders wertvoller Gegenstand – zum Beispiel die letzte Zitrone auf Erden, die sie sich dringend in den Tee pressen wollte.
Ich spielte bereits mit dem Gedanken, mich aus dem Staub zu machen – die Sache wurde mir langsam, aber sicher zu bunt –, als sie näher kam und sich völlig unvermittelt direkt neben Leona und mich auf einen der Klappstühle plumpsen ließ. »Ach.« Sie sah uns an und schälte ihre Füße aus den rosaroten Pumps. »Diese Schuhe bringen mich um.«
Kein Wunder. Das waren ja echt Mörderabsätze!
Verwundert beobachtete ich, wie sie ihre Beine lässig auf die Lehne des vorderen Stuhles platzierte und sich, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, zurücklehnte. »Herrlich.« Jetzt wackelte sie zufrieden mit ihren großen Zehen herum. Ihre dunkelroten Nägel waren absolut perfekt lackiert, so bekam das bestimmt nur eine professionelle Pediküre hin.
»Seid ihr so nervös wie ich? Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan«, sagte sie. »Es ist immer wieder eine Zerreißprobe für mich, bis ich die Reaktionen meiner Leser kenne. Wer weiß, vielleicht werdet ihr mich nach diesem Band alle hassen?« Sie lachte leise.
Was sollte ich darauf erwidern? Ich konnte Hannah Ruderer schlecht sagen, dass sie sich, was meine Meinung zu ihren Texten betraf, keine Sorgen machen brauchte, da ich ihre Geschichten schon immer gehasst hatte und für den Rest meines Lebens hassen würde. Und zwar, weil sie nicht nur unrealistisch, einfallslos und kitschig waren, sondern auch vor Klischees nur so trieften.
Deshalb verpasste ich Leona einen sanften Seitenhieb mit dem Ellenbogen. Es war besser, wenn sie das Sprechen übernahm.
»S… solange Esmeralda nicht mit Vinzenz zusammenkommt«, stammelte sie heiser.
»Mmmh.« Hannah Ruderer ließ die Stirnfalten tanzen. »Das wäre schlimm, nicht wahr? Wir werden sehen.«
»Aber …«, setzte Leona an, doch sie konnte nicht aussprechen, weil Pa ihr zuvorkam.
Er tippte unruhig auf seine Armbanduhr. »Hannah, hättest du etwas dagegen, wenn wir langsam anfangen? Es ist schon fünf vor. Sonst zertrümmern mir deine Fans am Ende noch das Schaufenster.«
»So spät?« Hannah Ruderer rutschte mit den Beinen von der Lehne des Stuhles, im Aufstehen strich sie sich den zerknitterten Blazer glatt. »Na gut, lasst uns loslegen. Schade, ich hätte mich gerne noch ein bisschen mit den Mädchen unterhalten. Das holen wir nach, okay?« Ein breites Lächeln bildete sich auf ihren Lippen.
Ich brummte ein verhaltenes »Mhm«, was glücklicherweise niemand hören konnte, da Leona mich mit einem lautstarken »Jaaa, das wäre so krass!« übertönte.
Hannah Ruderer nickte. »Wird gemacht. Ach, ihr zwei Süßen, zieht niemals Schuhe an, die ihr vorher noch nie getragen habt. Das ist absolut tödlich.« Sie schaukelte abwägend mit dem Kopf. »Ich werde wohl barfuß lesen müssen.«
Der Raum war rappelvoll mit Leuten, es waren mehr, als eigentlich in die Buchhandlung passten. Viele mussten stehen oder hockten auf dem Fußboden. Ich weiß nicht, ob der Laden schon jemals zuvor so viele Menschen gesehen hatte. Aber dieses unfreiwillige Gruppenkuscheln schien kaum jemanden zu stören.
Ich rutschte mit dem Oberkörper ein wenig tiefer und musterte Hannah Ruderer kritisch. Unter dem Tisch konnte man deutlich ihre übereinandergeschlagenen, nackten Füße erkennen, mit denen sie immer wieder herumwackelte.
Dabei war sie die ganze Zeit damit beschäftigt, das kleine Mikrofon vor sich zurechtzurücken. Als es endlich ihrer Vorstellung entsprach, goss sie sich Wasser in ein Glas.
Auf Pas Stirn hatten sich kleine Schweißperlen gebildet. Hier drinnen war es durch die vielen Menschen aber auch echt so heiß wie in einer Sauna.
Nachdem er sich einige Male mit einem Stofftaschentuch das Gesicht abgetupft hatte, griff Pa ebenfalls nach einem Mikrofon, beugte sich nach unten und flüsterte Hannah Ruderer irgendwas ins Ohr. Sie lächelte ihn an und nickte. Ich bekam das komische Gefühl, ihre Augen wären dabei für eine Sekunde in meine Richtung gewandert. Zugegeben, in diesem Moment hätte ich schon gerne gewusst, was die beiden da Wichtiges zu tuscheln hatten. Es wirkte so geheimnisvoll, als würden sie einen Plan aushecken. In Wirklichkeit ging es wahrscheinlich nur um total langweiliges Zeug, die Lautstärke des Mikrofons oder so.
Dann begann Pa mit einer Vorstellung der Autorin. Ziemlich überflüssig. Wahrscheinlich wusste jeder Anwesende, wer Hannah Ruderer war. Aber anscheinend störte es auch niemanden, noch einmal aufgezählt zu bekommen, welche Meilensteine sie im Laufe ihrer Karriere schon erreicht hatte.
»Es ist mir eine große Freude, diesen außergewöhnlichen Gast bei uns begrüßen zu dürfen. Bitte einen großen Applaus für die einzigartige, tolle, wunderbare Hannah Ruderer«, beendete Pa nach gefühlt fünfundneunzig Minuten seine Lobeshymne. Mir war jetzt schon sterbenslangweilig.
Die Leute applaudierten. Ich klatschte ein bisschen mit, aber eigentlich nur, weil ich nicht auffallen wollte. Außerdem konnte ich bei Leos Begeisterung direkt neben mir gar nicht anders. Nach dieser persönlichen Begegnung zuvor war sie innerhalb von nur wenigen Sekunden vom Mega-Fan zum Hyper-Fan mutiert. Soweit das überhaupt noch möglich gewesen war.
»Hannah ist selbstverständlich nicht ohne Anlass zu uns gekommen«, nahm Pa seine Rede wieder auf. »Heute ist ein ganz besonderer Tag.«
»O ja, und wie!«, pflichtete Hannah Ruderer ihm strahlend bei. Wieder hatte ich das Gefühl, ihr Blick würde sich auf mich richten. Mann, warum machte sie das die ganze Zeit?
Pa lächelte ins Publikum. »Wir feiern gemeinsam das Erscheinen des großen Finales der grandiosen Romantrilogie Zwanzig Minuten vor Mitternacht – und da ich sicher bin, dass ihr alle kaum erwarten könnt, wie es mit Phil und Esmeralda weitergeht, will ich euch gar nicht länger auf die Folter spannen. Hannah, der Abend gehört dir.«
Sie bedankte sich in ihrer zuckersüßen »Ich tu ganz freundlich, aber werde euch anschließend alle töten«-Tonlage für die nette Vorstellung, bevor sie das vor ihr liegende Buch irgendwo in der Mitte aufklappte und mit einem verschwörerischen Lächeln sagte: »Ihr wisst noch, dass Esmeralda am Ende von Band zwei gemeinsam mit einem geheimnisvollen Jungen mit düsterer, venezianischer Maske auf den traditionellen Sommernachtsball der Familie Brandfair gegangen ist. Und wir alle können ahnen, wer das war. Esmeralda findet es kurz nach dem Tanz ebenfalls heraus. Was auf dem Ball passiert, müsst ihr selbst lesen. Aber eines, das kann ich euch verraten«, sie begann zu flüstern, »Esmeralda zerfrisst das schlechte Gewissen.«
Ich rollte unauffällig mit den Augen. Was denn sonst? War doch klar, dass sie mit dem »geheimnisvollen Jungen« (also Vinzenz) herumgeknutscht hatte, nur damit im dritten Band nun für mindestens die ersten hundert Seiten ordentlich Drama herrschen konnte.
Hannah Ruderer trank einen Schluck, bevor sie loslegte. Ihre Lesestimme war ein leises Säuseln, wahrscheinlich sollte das die Romantik fördern. Während sie sprach, wackelten die Spitzen ihres hellbraunen Bobs so sehr hin und her, dass sie gegen ihr Kinn stießen. Das kitzelte schon alleine beim Zusehen.
Ich merkte, wie Leona immer stiller wurde. Eigentlich war ich nicht einmal sicher, ob sie vor lauter Spannung nicht völlig zu atmen vergaß.
Phil saß gegenüber, zerschnitt das Stück Truthahn auf seinem Teller und hob immer wieder den Blick. Esmeralda war wie elektrisiert. Seine wunderschönen, hellblauen Augen funkelten. Die Bilder ihres gemeinsamen Augenblicks im Badeteich schlichen sich in ihren Kopf. Wie sollte sie ihm nur sagen, dass sie mit Vinzenz getanzt hatte? Er würde ihr das niemals verzeihen. Aber sie wusste ja nicht einmal, ob sie selbst jemals wieder den eigenen Anblick im Spiegel ertragen konnte. Ihr Herz war zerrissen. Diese beiden Jungen brachten sie mit der Magie, die sie glitzernd umspielte, völlig um den Verstand. Esmeralda fühlte eine Sehnsucht in dem Ausmaß schierer Unerträglichkeit durch ihren ganzen Körper rasen. Sie wollte Phils Arm über den Tisch hinweg berühren, doch sie wagte es nicht. Sie war sicher, er würde ihre schändliche Begegnung mit Vinzenz einzig und alleine durch das heiße Pulsieren ihrer Fingerspitzen wahrnehmen.
Ich gähnte und beobachtete neugierig die Gesichter im Publikum. Alles war interessanter als Esmeraldas pulsierende Fingerspitzen. Plötzlich erspähte ich den alten Mann mit dem Monokel in der ersten Reihe. Verwundert kniff ich die Augen zusammen. Er hielt ein Notizbuch mit braunem Ledereinband auf seinem Schoß und schrieb konzentriert etwas hinein. Wer ging denn auf eine Lesung, um selbst zu schreiben? Oder notierte er sich etwa jedes Wort mit?
Ich tippte Leona am Oberarm an. »Schau mal, der alte Typ da vorne, der mit dem Monokel …«
Leona reckte den Kopf und musterte ihn flüchtig.
»Was soll mit ihm sein?«
»Der war heute schon mal bei uns. Was macht der da?«
Leo zuckte mit den Achseln. »Wer weiß, vielleicht gehört er zu Hannah Ruderer. Da muss er eben was aufschreiben.«
»Und was?«
»Weiß ich doch nicht, könnte ihr Imageberater sein.«
»Imageberater? Haben so was nicht nur Politiker? Außerdem würde ich ihr eher eine Stilberatung empfehlen.«
Leona winkte ab. »Ist doch egal. Vielleicht ist er ja auch ein Journalist, immerhin geht es hier um etwas.«
»Den Eindruck hat er am Vormittag aber nicht gemacht.« Ich stützte die Ellenbogen seufzend auf meine Oberschenkel und schaute wieder nach vorne. Pa sah mit gerunzelter Stirn zu mir. Er war wohl ein bisschen böse, dass ich während der Lesung herumtuschelte. Wie immer erwartete er, dass ich diese Angelegenheit als eine echte Grünwald besonders ernst nahm. Aber das tat ich ja auch! Wenigstens fiel mir, im Gegensatz zu allen anderen, das kuriose Benehmen dieses Mannes auf. Die gesamte Lesung hindurch ließ er nicht ein einziges Mal von seinen Notizen ab. Erst als Hannah Ruderer das Buch zuschlug (endlich!!!) und verkündete, nun Exemplare zu signieren, unterbrach er sein konzentriertes Schreiben und der Notizblock verschwand in seiner Manteltasche. Die musste ganz schön geräumig sein, mindestens so sehr wie der Koffer von Mary Poppins, denn nicht einmal eine winzige Ecke des Ledereinbands schaute noch heraus.
Gespannt verfolgte ich, wie der alte Mann sich erhob. Jedoch reihte er sich nicht in die Schlange von Mädchen ein, die aufgeregt darauf warteten, der Autorin ihrer Lieblingsgeschichte ganz nahe zu kommen und ein Autogramm zu ergattern, sondern eilte stattdessen aus dem Raum.
Sofort sprang ich von meinem Sitzplatz auf und wirbelte herum. Die Menschenmasse verstellte mir die Sicht, sodass ich unmöglich erkennen konnte, ob er dabei war, die Buchhandlung zu verlassen.
Ich lief erst mal zu Leona, die sich natürlich längst in der Warteschlange eingereiht hatte, und packte ihren Arm. »Schnell, wir müssen ihm hinterher!«
Leona zuckte erschrocken zusammen. »Was? Wem?«
»Dem alten Opa! Er ist gerade abgehauen.«
»Vielleicht geht er ja auf die Toilette? Alte Leute müssen ständig«, mutmaßte Leona. »Zum Beispiel mein Großonkel Albert. Der hält es bei keiner Familienfeier länger als eine halbe Stunde aus. Obwohl ich mir bei ihm nicht sicher bin, ob er nicht nur versucht, sich vor Papas Reden zu drü…«
»Komm jetzt.« Ich hatte nun wirklich keine Nerven für weitere Diskussionen. Es war offensichtlich, dass hier etwas nicht stimmte. Also zog ich Leona einfach mit mir, was das Mädchen, das hinter ihr anstand, sofort ausnutzte, um einen Schritt vorzurücken. Leona registrierte das mit einem wütenden Blitzen in den Augen. »Wenn das eine von deinen Spinnereien ist, dann bist du mir mindestens fünf Schokomuffins schuldig«, drohte sie mir. »So wie vor den Ferien, als du dachtest, unser Direktor wäre ein Dealer, und wir deinetwegen Mathe verpasst haben. Verdammt, Mathe! Kein Wunder, dass ich mit Pickel-Tommy auf den Ball gehen muss. Wenn ich noch einmal eine schlechte Note in Mathe bekomme, kündigt Mama das Netflix-Abo.«
Ich reagierte gar nicht auf ihre Einwände, denn ich hatte längst entdeckt, dass die Bürotür hinter der Kasse einen Spalt offen stand.
»Der Kerl ist ins Büro!«, japste ich.
Der Lichtschalter klickte. Einen kurzen Moment blendete die Helligkeit der grellen Neonröhren an der Decke in den Augen. Ich blinzelte und blickte auf das weiße Metallregal, in dem fein säuberlich die Kundenbestellungen standen. Gelbe Post-its mit Namen klebten auf den Buchrücken, alles in alphabetischer Reihenfolge angeordnet. Die meisten Bücher waren noch in eine transparente Folie eingeschweißt. Zaghaft tastete ich mich bis an das Regal vor und versteckte mich dahinter. Links um die Ecke konnte ich direkt ins Büro spähen. Hier lagerte Pa all die Ordner für die Buchhaltung und anderen todlangweiligen Kram, von dem ich absolut keine Ahnung hatte.
Irgendetwas raschelte dort. Es klang, als würde jemand mit hastigen Bewegungen einen Stapel Papier durchwühlen. Beunruhigt hielt ich die Luft an. Mein Herz pochte wie wild, und vor Aufregung durchfuhr mich ein heftiges Zittern. Ganz langsam, ich wollte so wenig Geräusche wie möglich verursachen, drehte ich mich wieder um. Hinter mir stand Leona und presste den Rücken gegen die verschlossene Tür zum Verkaufsraum. Ihr Gesicht war kreidebleich. Ohne Zweifel hatte auch sie gehört, dass gleich um die Ecke jemand herumschnüffelte. Eine falsche Bewegung, ein Ton zu viel, und dieser jemand hätte uns entdeckt. Im Gegensatz zu mir hasste Leona Abenteuer (solange sie nichts mit Jungs und Rumknutschen zu tun hatten). Sie las zwar gerne und träumte durchaus davon, so wie die Helden ihrer Lieblingsbücher in magische Irrungen und Wirrungen verstrickt zu werden. Wenn es dann aber mal tatsächlich ans Eingemachte ging, bevorzugte sie doch eher das stinknormale Leben einer durchschnittlichen Vierzehnjährigen.
Ich legte den Finger vor meine gespitzten Lippen und wisperte: »Du bleibst hier und passt auf, dass niemand durch diese Tür geht.«
Leona nickte hastig. Sie hatte offensichtlich keine sonderlich große Lust, mich bei der Suche nach dem Eindringling zu begleiten. Ich holte einmal tief Luft, um mich selbst innerlich auf alle Eventualitäten vorzubereiten, und huschte ins Büro. Dort blieb ich abrupt stehen. Einige Ordner lagen offen über den altmodischen Sekretär verteilt und die grüne Schreibtischlampe brannte. Ein leises Surren ging von ihr aus. Doch von dem rätselhaften Monokel-Opa fehlte jede Spur, nur der Drehstuhl mit dem grauen Stoffbezug schwang noch ein wenig, als hätte sich gerade erst jemand mit einer hastigen Bewegung davon erhoben. Ich ließ meine Augen durch den Raum wandern. Unter dem Schreibtisch versteckte sich niemand, mal ganz davon abgesehen, dass der Kerl aufgrund seines Alters vermutlich nicht mehr beweglich genug war, um sich an diese Stelle zu verkriechen. Neben dem Sekretär befand sich ein schmaler, weißer Schrank. Schnell ging ich näher und riss die Türen auf, aber auch hier fand ich nichts, bis auf die händisch beschrifteten Rücken mehrerer Aktenordner. Grübelnd biss ich mir auf der Unterlippe herum. Eine andere Versteckmöglichkeit gab es in diesem Raum nicht. Der alte Mann konnte sich doch nicht einfach in Luft aufgelöst haben?
Ich trat an den Schreibtisch und begutachtete die Unterlagen in den aufgeschlagenen Mappen. Nur irgendwelche Bestellungen. Doch dann bemerkte ich ein lila Schillern unter einem der Blätter. Zaghaft streckte ich die Hand aus und lupfte es in die Höhe. Darunter verbarg sich eine Programmvorschau. Der dritte Band der Mitternachts-Trilogie wurde auf der aufgeschlagenen Seite prominent angekündigt. Verwundert nahm ich das kunterbunte Heft.
»Der Zeitenzauber geht in die letzte Runde. Herzschmerz und magische Romantik garantiert!«
Ein gezeichneter blonder Junge tanzte mit einem ebenso blonden Mädchen, während der Kopf eines dunkelhaarigen Jungen mit argwöhnischem Blick aus einem Schrank hinter dem verliebten Paar lugte. Daneben die Inhaltsangabe und eine Abbildung des schnulzigen Covers. Gerade wollte ich die Vorschau wieder weglegen, als mir eine handschriftliche Notiz ganz am Ende der Seite ins Auge fiel. Geschrieben mit blauer Tinte, die sich ein wenig verschmiert hatte. Die Buchstabenführung wirkte insgesamt ziemlich zittrig.
»Lies den Anfang! Heute noch!«
Das war nicht Pas Handschrift. Ein Schauer durchfuhr mich. Erschrocken pfefferte ich das Heft auf den Tisch und beschloss, zu Leona zurückzukehren.
Vielleicht wäre es besser, Pa von der ganzen Geschichte zu erzählen? Immerhin hatte sich hier eine fremde Person herumgetrieben und geschäftliche Informationen durchwühlt. Blieb nur die Frage, ob er mir das alles glauben würde, ich konnte schließlich nichts beweisen. Und er hielt mich für einen Menschen mit – seine Worte – überbordender Fantasie.
Gerade als ich mich umwenden wollte, blieb meine Aufmerksamkeit bei einem weiteren Gegenstand hängen – unmittelbar neben der Programmvorschau lag ein altes, abgegriffenes Buch. Es handelte sich dabei mit Sicherheit nicht um Ware, die versehentlich bei den Unterlagen auf dem Schreibtisch gelandet war. Bei Bücher Grünwald gab es nämlich keine antiquarische Abteilung und dieses Werk hatte definitiv schon ein paar Jahrhunderte auf dem Buckel. Der Einband war aus dunkelblauem Stoff. Vorsichtig griff ich danach und las die auf dem Buchdeckel eingeprägte Goldschrift: Das sonderbare Leben des Krötensammlers Korbinian Krötenstaub.
Was für ein beknackter Titel! Bei Gelegenheit musste ich Pa fragen, was das für ein Roman war. Ich legte ihn zurück.
Leona stand immer noch dicht bei der Tür, in der Zwischenzeit war aber wieder etwas Farbe in ihr Gesicht zurückgekehrt. »Und, hast du ihn erwischt?«, flüsterte sie.
Ich schüttelte betreten den Kopf. »Er hat sich aus dem Staub gemacht.«
»Hm, hier ist niemand vorbeigekommen. Gibt es einen anderen Weg?«
Bei diesen Worten erstarrte ich vor Schreck. Natürlich, ich war so dumm! Er war über den Hinterausgang in den Hof abgehauen. Mit etwas Glück konnten wir ihn noch abfangen. »Schnell!«, rief ich und rannte los, dieses Mal dicht gefolgt von Leona. Wir stürmten durch das Büro bis zu dem winzigen Übergang, der zu einer Toilette und anschließend weiter in den Hof führte. Vor der verschlossenen Tür hielt ich an und drückte die Klinke herunter. Es war abgeschlossen. Verärgert rüttelte ich noch einmal und trat dann mit dem Fuß gegen das Holz. Das hier war der einzige Eingang, für den ich keinen eigenen Schlüssel besaß, weil Pa es nicht nötig fand, dass ich jederzeit durch den Hintereingang ins Büro konnte. Geschäftsunterlagen blablabla … Jetzt zeigte sich, wie sinnvoll seine Übervorsicht war.
Leona bückte sich und stützte die Hände auf ihren Knien ab. »Emma, er kann nicht rausgegangen sein. Wie sollte er denn die Tür geöffnet haben?«
»Aber dann muss er noch da sein, es gibt nur diese beiden Ausgä…« Ich hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, als ein lauter Knall ertönte. Die Lichter der Neonröhren gingen schlagartig aus. Von einer Sekunde auf die andere standen wir in völliger Dunkelheit. Auch die Schreibtischlampe leuchtete nicht mehr.
»Ein Stromausfall?«, wunderte ich mich.
An einem Tag wie dem heutigen würde Pa eine derartige technische Panne mit Sicherheit völlig aus der Fassung bringen.
Nachdem wir uns durch die Finsternis getastet hatten und ich endlich die Türklinke zum Verkaufsraum niederdrückte, staunte ich nicht wenig darüber, dass es im Kassenbereich vollkommen still war. Bei über hundert Leuten, die während einer Signierstunde von einem Stromausfall überrascht wurden, war das doch ziemlich merkwürdig. Meine Verwunderung wurde noch ein ganzes Stück größer, als ich den Raum betrat und nicht einmal die dunklen Umrisse anderer Personen sehen konnte. Alles schien perfekt aufgeräumt, so wie es gewöhnlich nur der Fall war, wenn Pa bereits Feierabend gemacht hatte und über die Wendeltreppe nach oben in unsere Wohnung gegangen war.
»Wo sind die denn alle?«, flüsterte Leona.
Ich gab keine Antwort, kramte hastig das Handy aus meiner Hosentasche und starrte fassungslos auf den Bildschirm. Es war bereits dreiundzwanzig Uhr. Wie konnte das sein? Bestimmt hatten wir uns nicht länger als eine Viertelstunde im hinteren Bereich des Geschäfts aufgehalten. Wenn die Anzeige aber stimmte, dann waren es in Wahrheit ganze VIER Stunden gewesen. Ratlos schlich ich weiter bis zum gläsernen Eingangsbereich, um das Metallschild zu betrachten, das daran hing. In großen Buchstaben zeigte die Seite mit der Aufschrift »Geschlossen« hinaus auf die Kleegasse. Ich konnte fühlen, wie das gesamte Blut aus meinem Gesicht wich.
Nervös kramte ich in den Seitentaschen meiner Jeans nach dem Wohnungsschlüssel. Noch während ich suchte, schlich ich vorsichtig die Holzstufen der Wendeltreppe empor.
Oben stellte ich verärgert fest, dass ich meinen Schlüssel in all der Eile heute Morgen wahrscheinlich irgendwo in meinem Zimmer vergessen hatte. Er befand sich nicht in meiner Hosentasche und natürlich war der Wohnungseingang abgeschlossen. Ich klopfte laut. »Pa, kannst du bitte öffnen?« Eine Minute verstrich, in der nichts geschah, dann hämmerte ich erneut gegen die Tür. »Hallo, du hast uns eingesperrt!« Wieder nichts. Zaghaft presste ich mein Ohr an die Tür und lauschte. Totenstille. Nicht einmal ein Schnarchen war zu hören. Pa legte sich nach der Arbeit meistens aufs Sofa und las. Aber so laut, wie ich geklopft hatte, hätte er mich dabei garantiert gehört, selbst wenn er eingenickt wäre. Solange er nicht schnarchte, hatte er normalerweise einen relativ leichten Schlaf. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht …
Ich ging die Treppe wieder hinunter, knipste das Licht meines Handys an und leuchtete direkt in Leonas verängstigtes Gesicht. Ihr strubbeliger Dutt hatte sich fast aufgelöst, was sie ein wenig aussehen ließ, als stünden ihr die Haare vor Schreck zu Berge. »Die können doch nicht alle einfach verschwinden, eben waren noch fast hundert Leute hier«, keuchte sie. »Ruf deinen Vater an, er muss uns hier rausholen!«
Ich hielt Leona den Bildschirm des Smartphones vor die Nase, auf dem unübersehbar »Kein Netz« stand. Leonas Augen weiteten sich und wirkten verdächtig wässrig. »O Mist, Emma, was ist hier los? Waren wir in einem Zeitloch?«
Wir kannten einander seit dem Kindergarten und es war kein großes Geheimnis, dass Leo immer schon Schiss in der Dunkelheit gehabt hatte (außerdem vor Spinnen und den Schwänen im Park).
Ich legte tröstend einen Arm um ihre Schulter. »Nein, Zeitlöcher gibt es in der Realität nicht. Wir haben einfach nur vor lauter Aufregung übersehen, wie lange wir im Büro waren. Ich bin sicher, Pa merkt bald, dass er uns hier vergessen hat, und dann kommt er uns holen.« Das hoffte ich wirklich.
»Und was machen wir bis dahin?«, schniefte Leona.
»Keine Ahnung.« Mein Blick fiel auf das Lesepult, an dem Hannah Ruderer zuvor barfuß gesessen hatte und ihre neusten kitschigen Ergüsse vorgelesen hatte. Dort lag noch eine letzte signierte Ausgabe Zwanzig Minuten vor Mitternacht. Lächelnd löste ich mich von Leona und nahm das Buch in die Hand. »Wir können das Ende lesen, darauf hast du dich doch schon gefreut.«
»Ich lese doch nicht das Ende zuerst«, antwortete Leona entsetzt und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie ließ sich auf einen der Stühle plumpsen. Wenigstens war darüber ihre Angst für einen Moment vergessen. »Dafür muss ich erst einmal wissen, was dazwischen alles passiert. Wie Phil die Sache mit Esma und Vinzenz löst … und so.«
»Hm.« Ich nahm hinter dem Lesepult Platz und legte den Roman vor mich auf die Tischplatte. Mit der rechten Hand hob ich die Handylampe an, sodass der Buchdeckel gut beleuchtet wurde, mit der anderen blätterte ich fast bis an den Schluss. Dieser Wälzer war beinahe vierhundert Seiten stark, aber die Fans wären vermutlich sogar in Begeisterungsstürme ausgebrochen, hätte er über tausend Seiten gehabt. Jede Kapitelüberschrift wurde von kringeligen Rosenranken umrandet, auf denen die schemenhaften Schattenzeichnungen kleiner Figuren tanzten.
Ich räusperte mich übertrieben, sah Leona an und sagte in nasalem Tonfall: »Vielen Dank für das zahlreiche Erscheinen, heute lese ICH, gefeierte Bestsellerautorin Emma Grünwald, aus meinem neusten Werk. Wir beginnen mit dem …« Verwundert hielt ich inne. Plötzlich hatte ich das eigenartige Gefühl, jemand hätte dicht an meinem Ohr »Anfang« geflüstert. Mist. Wahrscheinlich spielte die eigene Angst mir einen Streich, denn selbst wenn ich das Leona auf gar keinen Fall zeigen durfte, fand ich die Buchhandlung in der Dunkelheit auch nicht unbedingt wenig spooky. Besonders die düsteren Ecken zwischen den Regalen.
»… Ende«, fuhr ich fort. »Ein Flüstern in der Nacht.«
Und in diesem Moment war mir, als würde es bei den Kinderbüchern eigenartig knarzen. Gab es Mäuse im Laden?
Vielleicht sollte Pa die dicke Perserkatze Kunigunde in Zukunft nicht immer wegjagen, wenn sie sich wieder einmal aus der Nachbarswohnung über den Hof ins Büro geschlichen hatte, um ein Nickerchen auf den Aktenordnern zu halten. Obwohl ich bezweifelte, dass Kunigunde mit ihrem pelzigen Schwabbelbauch tatsächlich noch in der Lage gewesen wäre, eine wendige Maus zu jagen. Vor zwei Wochen war das Zottelvieh erst in der Katzenklappe stecken geblieben, woraufhin ich unserer alten Nachbarin dabei geholfen hatte, die verzweifelt zappelnde Kunigunde zu retten.
Aber was, wenn die Geräusche gar nicht von Mäusen kamen? Sondern von … Nee. Ich räusperte mich und schob alle Überlegungen beiseite. Bloß nicht reinsteigern. Das war genauso, wie wenn man sich nachts nicht mehr aufs Klo traut, nur weil man sich vorher einen blutrünstigen Horrorschinken mit dämonenbesessenen Dreijährigen oder üblen Psychomördern reingezogen hatte. Nichts weiter als Kopfsache. Dieses Zeug entstammte der Fantasie abgedrehter Drehbuchautoren, solche Dinge passierten nicht in echt. Ich musste vernünftig bleiben. Also las ich mit möglichst gelassener Stimme:
Esmeralda schlich durch den nachtdunklen Wald. Aus allen Winkeln glaubte sie …
»Lies den Anfang.«
Scheiße. Schon wieder. »Was soll das, Leo?«, rief ich erschrocken.
Leona hob verwundert den Kopf. »Ich habe doch gar nichts gemacht!«, sagte sie alarmiert.
»Ja, klar. Haha, ich lach mich tot.« Genervt wendete ich mich wieder den Buchseiten zu. »… ein gespenstisches Raunen …«
»Anfang!«
Okay. Jetzt reichte es. Irgendwo hatte der Spaß sein Ende. Ich donnerte den Einband zu. »Hör auf! Das ist nicht lustig!« Doch als ich meine Freundin anschaute, merkte ich, dass ihr Gesicht ganz blass war. Wie ein heller Punkt stach es aus der Dunkelheit hervor. »Ich war das echt nicht«, flüsterte sie mit erstickter Stimme. »Aber ich hab es gehört.« Sie griff sich ängstlich an den Hals. In der Finsternis konnte man es nicht sehen, aber vermutlich bildeten sich dort gerade ihre roten Panikpusteln. Die bekam Leona vor jeder Matheklausur und offenbar auch, wenn es spukte.
»Logisch warst du das«, entgegnete ich ein bisschen hoffnungsvoll. Ehrlich gesagt, wollte ich mir wirklich nicht überlegen, ob mein Uropa im Laden herumspukte. Das hatte ich Philippa erzählt, um ihr Angst zu machen. Aber heute fand ich den Gedanken selbst nicht mehr witzig.
Und Leona offensichtlich auch nicht. Sie klapperte bereits panisch mit den Zähnen. »Nein, Emma, das war ich nicht«, sagte sie. »Wie lange dauert das denn noch, bis dein Dad bemerkt, dass er uns vergessen hat?«
Genau in diesem Moment klappte der Buchdeckel wie von selbst auf und legte die erste Seite frei. Ach du Schande, was lief hier für ein abgefahrener Scherz? Hockte Pa gemeinsam mit dieser aufgeblasenen Autorenschnepfe in einem Versteck und lachte sich einen Ast? Wenn dem so war, dann fand ich das alles andere als unterhaltsam.
Ich schlug das Buch hastig wieder zu, als sei nichts gewesen.
»Ist ein Fenster offen?«, flüsterte Leona mit starrem Blick auf das Lesepult. Jetzt war sie nicht mehr bleich vor Angst, sondern fast schon weiß wie Milch.
»Welches Fenster?« Ich lehnte mich mit meinem ganzen Gewicht auf den Einband, damit er sich im Fall der Fälle nicht wieder öffnen konnte. »Außer dem Schaufenster gibt es hier keins.«