Boris Benders Baby Blues - Matthias Herbert - E-Book

Boris Benders Baby Blues E-Book

Matthias Herbert

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Beschreibung

"Auf einmal sah er überall Kinder. Kleine, schrumpelige, rote Gesichter, dick eingepackt in weich gefederte Wagen, die Daunendecken darüber, trotz der Wärme des Sommers, und manchmal war ein heiseres Krähen zu hören, das ruhiggeschaukelt wurde. Er versuchte, Blicke in die wiegenden Wagen zu erhaschen, die von jungen Frauen geschoben wurden, die langsam gingen, mit kurzen, vorsichtigen Schritten." Frankfurt in den Achtzigerjahren. Der Lokaljournalist Boris Bender (Redaktionskürzel bb) hat sich gerade von seiner Elke getrennt und will jetzt das Solo-Dasein genießen. Doch schon landet er im nächsten Bett und in der nächsten, fordernden Beziehung. Boris bekommt nicht nur eine alternativ angehauchte Goldschmiedin, sondern gleich deren anderthalbjährige Tochter Anna-Maria dazu. Familie war in seiner Zukunftsplanung aber bislang gar nicht vorgesehen. Kann er es schaffen, Stadt und Land, Frau und Kind, Pils und Tofu, Job und Vatersein in seinem Leben gleichzeitig unterzubringen? Ein Roman aus der Zeit, als die Frauenversteher der 80er zu den Kinderverstehern der 90er werden durften.

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Seitenzahl: 191

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Inhalt

Lack ab

Trennung

Näherungen

Splitter

Wölkchen

Hände halten

Entdeckung

Landliebe?

Eingefärbt

Schweiß

Fremde Küche

Traditionen

Treppen

Kinderwagen

Ein Haus erwärmen

Wortwerk

Sonnenuntergang

Vorbereitet sein

Abstand

Doppelbett

Flucht

Termine

Saison-Ende

Born to run

Winterschlaf

Was muss

Der Autor

für Miri

Lack ab

Die Nachbarn waren gesichtslose Stimmen, die auf der Straße nach Heidi riefen und Antwort von Anna bekamen, nach 11er Schlüsseln suchten und Risse im Kühlerschlauch fanden, mit widerspenstigen Besen den Rinnstein auskratzten und mit bollernden Traktoren quietschende Güllewagen vorbeizogen, sich Grüße zuriefen und das Woher und Wohin in halbe Sätze und kurze Worte fassten, Worte die von den Häusern hin und her geworfen wurden wie Gummibälle, bis sie in den Hof sprangen, hinter das kleine Haus, noch einmal gegen das zerfallende Fachwerk der Scheune prallten und schließlich übereinander fielen, ohne einen Zusammenhang, aber laut und heftig und lebendig, so lebendig, dass er versuchte, sie nicht zu bemerken, nicht zu erfassen, zu ordnen, nicht Anna zu Heidi und den Schraubenschlüssel zum Kühler.

Nur das mühsame Stampfen des Diesels durfte sich vordrängen und er versuchte herauszuhören, ob es der schwarze Lanz war, oder der dunkelgrüne Fendt, oder vielleicht der graue ohne Namen, der manchmal noch spät in der Nacht am offenen Schlafzimmerfenster vorbeifuhr.

Er nahm die Schleifmaschine, spannte ein neues, feines Blatt Sandpapier ein, drückte den Knopf, und die Stimmen waren ausgeschaltet. Er war allein auf dem Hof hinter dem kleinen Häuschen mit den drei Zimmern oben und der großen Küche mit dem Kachelofen unten.

Allein auf dem Hof neben der Scheune, die nur noch von dem starken Eichentor gehalten wurde, das man nicht öffnen durfte, allein auf dem Hof mit dem Apfelbaum und dem verwilderten Garten daneben.

Allein hinter der Mauer aus Findlingen.

Allein mit sich, dem schrillen Singen der Schleifmaschine und der Tür des uralten, gekeilten Kleiderschranks, dessen Holz nach dem Abbeizen endlich getrocknet und nun faserig und rau geworden war. Feiner, heller Holzstaub wirbelte auf, legte sich auf seine Hände, und er dachte, dass die Haare auf seinen Armen aussahen wie dürre Äste unter gelbem Schnee.

*

Am Morgen hätte er an einem Artikel arbeiten können. Sätze waren ihm zugeflogen, und er hatte sie aufgefangen, ein paar Worte in seinem Notizbuch, nicht mehr. Er hatte den Satz abgebrochen, den er gerade gesprochen hatte, hatte ihn in ein langgezogenes „und“ auslaufen lassen, hatte an die Wand gestarrt, einen Moment nur.

Dann hatte er mechanisch nach dem abgeschabten, dünnen Buch gegriffen, das immer in der Tasche der Jacke steckte, oder in der Hose links hinten und hatte ein paar Worte hineingekritzelt, mit dem Druckbleistift, den er jeden Sommer benutzte, weil Kugelschreiber bei ihm immer ausliefen. Es waren Abkürzungen gewesen, in seiner krakeligen Schnellschrift, die nur er wieder entziffern konnte, meistens.

Er wolle hier nicht arbeiten, hatte er ihr geantwortet, als sie ihn gefragt hatte, ob er etwas schreiben wollte.

Er hatte kein „weil“ oder „wegen“ angefügt, es war ein klares „Nein“ gewesen, eins, das keiner Erläuterung bedurfte.

Sie hatte nicht noch einmal gefragt, hatte nur einen Schluck aus ihrer Teetasse genommen und hatte hineingesehen, als gäbe es dort etwas zu erkennen, nur für sie. Er hatte das Büchlein wieder eingesteckt, in die Hosentasche hinten links und hatte den Druckbleistift mit dem Clip an den Saum seines T-Shirts gehängt und hatte sie angelächelt, bis sie aufgesehen hatte.

*

Er geht in die Kammer neben der Küche, von wo er den Kassettenrecorder hört, Klassik, Vivaldi, denkt er, und er weiß nicht sicher, dass es Vivaldi ist, aber er glaubt es, weil es auf der Kassette steht.

Es ist die Einzige, die sie besitzt und immer wieder spielt, immer wieder umdreht, wenn eine Seite zu Ende ist. Er ist sicher, dass sie nicht zuhört, die Musik ist einfach da, aber er weiß nicht, ob sie sie wirklich wahrnimmt, oder ob Vivaldi nur ihr ganz eigenes Mittel ist, die gesichtslosen Stimmen fernzuhalten, die Stimmen, die von der Straße auch hierher dringen wollen.

Sie schaut an ihm vorbei, und er fragt noch einmal, ob er etwas für sie tun könne, und sie wendet ihm den Blick nicht zu, und die Musik spielt, Vivaldi, wahrscheinlich.

Er fährt ihr mit dem Handrücken über die Wange, vorsichtig, und sie schaut auf. Eine Weile sieht sie ihn an, wortlos, mit ihren großen grauen Augen, als habe sie jemand anderen erwartet, als müsse sie sich erst erinnern, wer er überhaupt ist, dann lächelt sie und lehnt ihren Kopf gegen seine Hand, aber das Lächeln erreicht ihre Augen nicht.

Das müsse er selbst wissen, antwortet sie, als die Frage sie endlich erreicht hat, er selbst müsse das wissen.

Er lacht, ohne zu ahnen weshalb und sagt, dann würde er weiter am Kleiderschrank arbeiten, an dem Schrank, der in der Waschküche gestanden hatte.

Der Schrank, von dem Melchior gesagt hatte, dass sie ihn behalten dürfe, wie das Bett auch und den Nachttisch und den Spiegel im Flur.

Sie nickt und schaut wieder an ihm vorbei, nimmt dann den halbfertigen Silberring von dem kleinen Tisch, dessen Platte eine halbrunde Ausbuchtung hat, und zündet den Brenner an.

Sie antwortet nicht auf seine Frage, was das denn werden solle, und er steht noch einen Augenblick da, einen Augenblick, der immer länger wird, so lange, bis es zwei sind, dann drei Augenblicke, bis es für ihn zu spät ist hinauszugehen, ganz unbefangen, natürlich.

Schließlich schleicht er zur Tür, vorsichtig, als versuche er sich von einem verbotenen Ort zu entfernen, er dreht sich nicht noch einmal um an der Tür, und er weiß, dass sie ihm nicht hinterher schaut.

*

Ob sie wüsste, dass sie der einzige Mensch sei, den er kenne, der nie zurücksehen würde, fragte er einmal.

„Das glaubst du nur...“, fauchte sie.

So heftig, dass er zusammenzuckte, als habe er sie geschlagen.

Er konnte ihr nicht erklären, wie er es gemeint hatte, nicht bildlich, sondern wirklich.

Sie schaute nie zurück, wenn sie sich verabschiedeten, winkte nicht, warf keine Küsse, ging einfach nur gerade, zielstrebig weiter.

Aber wenn sie von sich sprach, dann sagte sie immer nur „heute“ oder „morgen“, aber nie „gestern“ oder gar „früher“.

Es fiel ihm schwer, sie nicht zu fragen, weil er vieles gerne gewusst hätte, so vieles.

Aber sie schwieg und er wollte schließlich glauben, dass sie eine Übereinkunft hatten, eine stille, stumme.

Sie würden nie den anderen nach etwas fragen, das er nicht von selbst erzählen wollte.

*

Anna-Maria würde noch eine Stunde schlafen und sich nicht vom Lärmen auf der Straße wecken lassen, nicht von den Stimmen und den Traktoren und auch nicht vom Heulen der Schleifmaschine.

Wie Kinder einfach das, was sie stört, aus ihrem Leben verbannen, mit Missachtung strafen können, das hatte er so nicht gekannt, früher, hatte sich nie Gedanken darüber gemacht.

Eine Weile hatte er immer gelauscht, wenn nachts ein Traktor vorbeigefahren war, hatte den Atem angehalten, ob Anna-Maria aufgewacht war. Aber Anna-Maria hatte nicht geweint, hatte nicht gerufen, nicht „Mami“ geschrien.

„Mami“, das sich so deutlich von „Mama“ unterschied. „Mami“ kam nur, wenn Anna-Maria etwas wollte, sofort, und Anna-Maria würde es auch bekommen, sofort, weil Anna-Maria es wollte.

Er wechselte wieder das Schleifpapier, entschlossen, nicht vor einem hundertjährigen Kleiderschrank zu kapitulieren. Verbissen schob er die Maschine auf dem Holz hin und her. Was er sich vorgenommen hatte, würde er auch durchführen, er würde es tun, für sie, er würde jetzt hier draußen bleiben, er würde nicht noch einmal ins Haus zurück gehen, nicht in den kleinen Raum hinter der Küche, in dem sie ihre Werkstatt eingerichtet hatte.

Er würde sie nicht noch einmal stören, nicht wieder diesen Blick auf sich ziehen, diesen fragenden, zweifelnden Blick, der ihn erstarren ließ, diese mit den Augen hingeworfene Frage: „Was willst du überhaupt?“

Trennung

Es war ein Stühletag, wie er immer sagte, wenn er die Artikel in die Redaktion brachte, die Artikel, die er am frühen Morgen geschrieben hatte oder noch in der Nacht, gleich nach dem Konzert oder dem Theaterstück oder der Versammlung.

Stühletage zogen ihn einfach nach draußen. Er wehrte sich nicht dagegen, er hielt es nicht aus, nicht in einem der Zimmer seiner Wohnung, nicht auf dem Balkon, der immer zitterte, wenn die Straßenbahn vorüberfuhr und den Löffel in der Kaffeetasse zum Klingen brachte und die Zeitung auf dem kleinen, runden Marmortisch zum Knistern.

Er konnte es nicht ertragen, später in dem großen aber verwinkelten, staubigen Büro zu sitzen, das die vielen Bildschirme mit einem leisen, dichten, zähen Summen füllten, einem Summen, das er immer spürte, mal stärker, mal kaum wahrnehmbar, aber stets vorhanden. Wenn er den Staub vom Rand des grün flimmernden Monitors wischen wollte, zog er eine knisternde Spur und manchmal glaubte er, Funken zu sehen.

Sie wussten das, in der Redaktion, sie lachten darüber, sie sagten, das sei ein Spleen von ihm, und manchmal ließ sich Grever zu einem Witz hinreißen, über den keiner lachen wollte, weil keiner Grever leiden konnte, aber sie akzeptierten es, weil sie nicht anders konnten.

Er war ein „Freier“, wie er immer betonte. Er würde sich die Freiheit nehmen, seine Artikel rechtzeitig abzuliefern, wo er sie ausformulierte, das wolle er sich nicht vorschreiben lassen, sagte er, und legte vier Einspalter vor, die er aus einer einzigen Versammlung mitgebracht hatte, und niemand traute sich mehr etwas zu sagen.

Nur Kraft rief: „Halb drei Redaktionskonferenz“ und meinte dann, er solle endlich verschwinden und für Kraft einen Kaffee mittrinken oder auch zwei, und er ging, weil es Sommer war und Stühletag.

Ein Stühletag kündigte sich an, meistens schon am Abend davor, wenn das Orange und das Rot und das Schwarz und die vielen Farben dazwischen, für die er keine Namen fand, ihn zur Kamera greifen ließen und er wieder einen ganzen Film verbrauchte, Bild für Bild für Bild immer wieder das gleiche Motiv, die Hochhäuser im Sonnenuntergang.

Wenn der Messeturm dann die Sonne aufspießte, fragte er sich wieder, warum er nicht Fotograf geworden war, wenn Fotografieren solche Bilder zu finden hieß.

Am nächsten Tag, um kurz vor neun würde Luka vor dem Café stehen, mit frisch gebügeltem Hemd, schwarzer Hose und fleckiger Schürze, würde prüfend nach dem blauen Himmel schauen, noch einen tiefen Zug aus der Zigarette nehmen, sie dann mit der flachen Sohle seines blank geputzten Schuhs austreten, die Kippe mit einer knappen Bewegung der Fußspitze beiseite schleudern und zu dem Laternenpfahl gehen, an dem die aufgetürmten Stühle und Tische angeschlossen waren, mit dicken Ketten und zwei Vorhängeschlössern aus braun verwittertem Messing. Luka würde die Stapel der Stühle an ihre Plätze tragen, und wenn Luka gerade damit angefangen hätte, sie in dem engen Raum zwischen Gemüsestand, Fotogeschäft und Straßenmitte, der ihm dafür zugestanden wurde, aufzustellen, dann würde er kommen und sich auf seinen Platz setzen.

Luka würde ihm zulächeln, „Kaffee?“ fragen, und er würde nicken, und Luka würde den Kaffee bringen, ohne Zucker, aber mit zwei Döschen Milch, und Luka würde fragen: „Gibt Regen?“, und er würde „Ja“ sagen, und sie würden sich anlächeln, nur ein wenig die Mundwinkel verziehen, wie Komplizen, wie zwei, die ein Geheimnis zu wahren wüssten, aber so, dass jeder um sie herum sehen könnte, dass sie eins hätten.

*

Er sitzt auf dem Stuhl, auf dem er immer sitzt, wenn er frei ist, in der zweiten Reihe rechts außen, und sieht dem Hund nach, der an jedem Baum schnüffelt und weiß nicht, ob er erleichtert ist, oder verärgert oder traurig.

Er möchte es eigentlich gar nicht herausfinden, weil das Gefühl nicht so weh tut. Manchmal ist es sogar ganz angenehm, das bisschen Traurigkeit zu spüren, wenn es so dicht neben der Erleichterung liegt.

*

Er sagte, dann sei es wohl besser, wenn sie sich erst einmal eine Weile nicht sehen würden, er und Elke. Elke nickte und drückte die halb gerauchte Zigarette auf der Untertasse aus, auf der Untertasse, die auf dem kleinen Bistro-Tisch auf seinem Balkon stand, und um die Kerze flatterten zwei Motten und warfen Schatten auf Elkes Gesicht.

Elke wohnte in derselben Straße, und es würde schwierig, dachte er, dann sah er Elke an und wusste, dass er Elke jetzt nicht gerne anfassen würde, Elke nicht gerne über die runden Schultern streichen würde, so wie Elke es gerne mochte, und dass er nicht gerne Elkes Hände spüren wollte in seinem Nacken, und er wusste, dass etwas anders geworden war, aber er wusste nicht genau, was.

Elke sagte, sie würde anrufen. Er nickte.

*

Er schaute in seinen Kaffee und dachte, dass sich jetzt in einem schlechten Film der Himmel darin spiegeln müsste, aber er war in keinem Film. Er goss Milch in den braunen Schaum und löffelte ihn wie immer, schmeckte die bittere Schärfe und dachte, dass es ihm ganz gut ging, eigentlich.

*

Später kamen die anderen. Die, die er kannte, die, die er kennen musste, die, die er nicht kennen wollte, und die, die er gerne kennen gelernt hätte.

Die dürre Roswitha aus der Bäckerei gegenüber und der fette Mattern vom Telefonladen, dann Hauptmann mit der Glatze und dem grauen Beamtenbart, der immer einen jungen Mann und ein Mädchen dabeihatte, aber es waren nicht Hauptmanns Kinder.

Der zigarrenrauchende Student mit dem Sauerkrautbart, den er ZEIT-Mann genannt hatte, weil der immer nur DIE ZEIT las und alles um sich herum vergaß, und die zwei Kroaten, die sich mit den beiden Türken an einen Tisch setzten und deutsch redeten, und wenn er genau zuhörte, konnte er etwas aufschnappen, von Motoren und Benz und BMW und Adressen im Flüsterton.

Manchmal kam auch Burkhard vorbei, und er bemerkte, dass der immer runder wurde, seit Burkhard endlich im Stadtparlament saß. Aber auch dort trug Burkhard noch seine Blazer aus dem Secondhand-Laden um die Ecke und seine Hemden immer ohne Krawatte.

Burkhard schrieb für die Konkurrenz, aber nicht aktuell, sondern Anekdoten, Geschichten aus der Historie des Stadtteils. Über die von der Metzgerei Dorn schwarz geschlachteten Schweine aus Verstecken im Wald und über die Leihbadewannen von Haushalt Merkel, von Ärzten verordnet, und von der echten Stradivari, die der Trödler Senff bei einer Wohnungsauflösung gefunden hatte. Histörchen aus dem Stadtteil, in dem Burkhard geboren war, und den Burkhard wohl sein Leben lang nicht verlassen würde.

Burkhard wusste immer Vertrauliches und Vertraulichstes aus den Ausschüssen zu berichten, Vertrauliches, das Burkhard immer mit einem „aber das hast du nicht von mir“ absicherte, und Kraft fragte nie, woher diese Information stammte.

*

Gegen halb elf kommen die Woolworth-Gesichter, die mit schriller Stimme die neuesten Sonderangebote verbreiten, „beim Wollwortt“, dort wo es Hemden gibt für zwölf Mark, bügelfrei, mit Krawatte und Taschentuch.

Später tauchen die Mütter mit vollbepackten Kinderwagen auf, Gemüse vom Italiener, Dosen von Aldi, Fleisch von Dorn im Netz, eine Hand am Wagen, das Neugeborene schaukelnd, den Blick auf die Drei-, Vierjährigen, die die Tauben jagen, immer nur ein paar Schritt weit.

Mütter, die bei der kurzen Rast, in der Hand die Tasse Kaffee, ein paar Worte tauschen mit den anderen Müttern, Krankheiten und Mittagessen, Angebote und Schwangerschaften, Worte, die sie morgen, übermorgen zurückbekommen werden und nicht als die erkennen, die sie gestern selbst gegeben haben.

*

„Sonnentage sind Kindertage“, denkt er, fasst es zusammen in einer Überschrift, nicht zu breit für einen Dreispalter, so wie er alles ordnet, sortiert, klassifiziert, was er sieht, Bäume und Pflaster in Sätze presst.

„Das sommerliche Treiben auf dem Marktplatz“, denkt er, die drei alten Frauen am Esstisch heißen „Lebensabend“, der vor sich hinbrabbelnde Bettler an den Rolltreppen zur U-Bahn „Menschliches Strandgut“ und die beiden Schwarzhaarigen mit den Nylonjacken, die vor dem Reformhaus stehen, „Gewalt der Straße“.

*

Nachdem die Mütter gegangen sind, kommen die Mittagspausen, bleiche Bürogesichter, die noch den Geruch nach heißem Kopierpapier und Farbbändern mit sich herumtragen und den Streit mitgebracht haben, zum Nachtisch, auf ein Eis und ein Gespräch, unter uns, über ihn, oder sie, oder beide.

Bürogesichter, die laut und deutlich das, was sie sagen sollten, erörtern, das, was sie tun müssten, verabreden und das, was sie lassen werden, verschweigen.

*

Sie setzte sich an den Nachbartisch und rückte einen Stuhl an seinem etwas zur Seite, damit der Kinderwagen mit den abgefahrenen Reifen Platz hatte. Im Wagen saß das blonde Kind mit den grauen Augen, das Kind, das ihn anschaute, ihm ohne zu blinzeln ins Gesicht sah, während er notierte, auf den karierten Block schrieb, über Einbahnstraßen und Bürger und Initiativen und Gegenanträge.

Das Kind schaute ihn an, achtete nicht auf seine Hand, die die Kaffeetasse aufnahm, an den Mund führte, wieder absetzte, schaute nur nach seinen Augen, bis er endlich aufsah, dem Kind in die Augen schaute, da lächelte es, verknotete die kleinen Finger ineinander und lachte hell auf, und er lachte mit.

Er sah sie an, und sie sah ihn an, mit ihren großen, grauen Augen, in einem schmalen Gesicht.

Er fing ihr Lächeln auf, wärmte es und gab es zurück, und sie nickte.

Er fand einen Satz und griff danach und dachte: „Die Erotik junger Mütter“.

Näherungen

Die nächsten Tage wird sie kommen, wird sich irgendwo in seine Nähe setzen, wird den Platz nehmen, den sie findet, wird mit Anna-Maria sprechen und Anna-Maria wird schreien, weil sie Anna-Maria kein Eis kauft, und Anna-Maria wird schreien, weil Anna-Maria keine Kaffeetassen vom Tisch werfen soll, und sie wird Anna-Maria sagen, Anna-Maria müsse sie nicht schlagen.

Er wird sie erwarten, wird hoffen, dass er sie sieht, dass er sie heimlich betrachten kann, über den Block hinweg, eine Bewegung von ihr beobachten, zwischen dem Türken und dem Serben und neben Luka, der ihr ein Glas Tee hinstellt und Anna-Maria zulächelt, und Anna-Maria zieht an Lukas Schürze.

*

Er sieht, dass der Tisch vorne rechts frei ist und die beiden an der Eistheke, aber sie steht neben ihm, den Griff des alten Kinderwagens in der Hand und Anna-Maria auf dem Arm, und sie fragt, ob sie sich hierhersetzen dürfe, und er nickt.

Sie setzt sich nicht einfach, sie nimmt Platz, denkt er gleich, und Anna-Maria greift den Löffel, der neben seiner Tasse liegt und klopft damit auf den Tisch. Sie sagt Anna-Maria, Anna-Maria solle das nicht tun.

Er lächelt und erzählt, dass die Tochter seiner Schwester auch gerade zwei ist, aber Anna-Maria ist erst anderthalb. Er kann das nicht so gut unterscheiden, bei Kindern, noch nicht, und Anna-Maria lässt den Löffel auf den Boden fallen und der Löffel schlägt mit einem hellen Klingen auf, und er bückt sich danach. Sie legt Anna-Maria an die Brust, weil Anna-Maria das will.

Später greift Anna-Maria nach seiner Jacke und mit der kleinen Faust packt Anna-Maria so fest zu, wie er es nicht erwartet hat, und Anna-Maria schaut ihn an, mit grauen Augen und lächelt, genauso, wie ihre Mutter ihn anschaut und lächelt.

Dann ziehen Wolken auf, obwohl es nach einem Stühletag ausgesehen hat.

Luka wirft ihm einen Blick zu und fragt: „Gibt Regen?“, und er antwortet „Nein“. Doch die ersten Tropfen fallen, und die meisten springen auf, von den Tischen, und laufen nach drinnen. Der ZEIT-Mann hält sich seine Zeitung wie ein Dach über den Kopf, und ein dicker Wassertropfen klatscht auf die Zigarre. Hauptmann schützt den blonden Jungen neben sich mit einer Jacke.

Sie spannt rasch den Schirm über Anna-Marias Kinderwagen, und er flieht mit ihr nach drinnen, drängt sich zwischen die feuchte Menge. Hände halten Teetassen, Eisbecher, Wassergläser, jemand sagt: „Scheißwetter“, irgendwo schlürft ein Strohhalm. Ein alter Mann am Tisch ganz vorne ruft laut: „Zahlen“.

Draußen springen dicke Tropfen in Pfützen, Anna-Maria lacht und wischt Wasser von der Nase, eine vergessene Tasse steht einsam auf einem Tisch, füllt sich rasch, das Gemisch aus Kaffee und Regen läuft über, verteilt sich auf der Platte und zieht eine dünne, braune Spur.

Sie steht dicht neben ihm, er spürt ihren Arm an seinem, ihr T-Shirt ist nass, und sie hat nichts darunter.

Er sagt, nun habe es ein Ende mit dem schönen Tag und dem Draußensitzen und der interessanten Unterhaltung und er bedauere das. Er schaut sie an und sie ihn, und ihr Lächeln bildet kleine Fältchen rund um ihre Augen. Er könne doch mit zu ihr kommen, wenn er wolle, sagt sie. Es sei nicht weit, nur um die Ecke.

*

Er wusste, dass er enttäuscht war, aber wenn er es hätte schreiben sollen, hätte er es lieber „überrascht“ genannt, das klang besser, neutraler als „enttäuscht“.

Er hatte etwas anderes erwartet als dieses Wohnzimmer mit der wuchtigen Eichen-Wohnwand, die ihm wie angewachsen vorkam. Etwas anderes als die dicken Polstersessel mit den kratzigen, grauen Bezügen, bei deren Anblick er an seinen Lieblingsspruch zu billigen Klamotten denken musste: ´Wie viele arme Polyester sind denn dafür gestorben?`

Er hatte etwas anderes erwartet als den falschen Perserteppich, die Seenlandschaft im Mondlicht im schweren, goldfarben gestrichenen Rahmen, etwas anderes als die Tapete mit den hellblauen Blümchen und dem eingestreuten Glimmer.

Die Treppe war lang gewesen und die letzten Stufen steil. Den Kinderwagen hatte sie im Hausflur abgestellt, ihn neben zwei andere gezwängt, unter der langen Reihe von Briefkästen. Im ersten Stock hatte sie Anna-Maria auf den Arm genommen, weil Anna-Maria das gewollt hatte.

Er war neben ihr hergegangen, hatte die Stofftasche mit den Einkäufen getragen und hatte gedacht, er müsse wissen, dass etwas passierte, er müsse es fühlen, aber er hatte nur gespürt, dass er nervös gewesen war. Das rechte Augenlid hatte wieder einmal geflattert, und er hatte rasch etwas von Leuten gesagt, die so weit oben lebten, einer ganz besonderen Art von Oberklasse, und sie hatte gelacht und Anna-Maria auch, weil sie gelacht hatte. Das Lid hatte aufgehört zu zucken, und er hatte sich getraut, sie anzusehen.

*

Nun sollte er etwas sagen, über die Wohnung, die Einrichtung, irgendetwas Positives, etwas Auffälliges, aber er findet diese Behausung einfach nur spießig, kleinbürgerlich, er findet, dass nichts in diesem Raum zu ihr passt, und er sagt lieber gar nichts, schluckt ein „Hier wohnen Sie also“ herunter und trägt die Einkaufstasche in die Küche, in der in Eiche furnierte Einbauschränke einen Herd in die Ecke drücken.

Er hilft ihr beim Einräumen. Der Kühlschrank ist fast leer, nur ein paar Becher Bio-Joghurt und einen Teller mit Käse findet er, stellt die zwei Flaschen Bio-Milch dazu und legt die Äpfel in den Korb aus verchromtem Stahl, den er auf der Ablage findet. Sie setzt den Wasserkessel auf, trägt die ganze Zeit dabei Anna-Maria noch immer auf dem Arm, Anna-Maria, die jetzt müde aussieht.

Sie sagt, Anna-Maria sei müde und dürfe jetzt gleich ins Bett, nur noch etwas zum Mittagessen will sie Anna-Maria rasch kochen, einen Grießbrei.

Sie setzt Anna-Maria in den Kinderstuhl am Tisch und fängt an, mit Töpfen zu klappern, und er macht einen Schritt zur Seite, lehnt sich an den Kühlschrank, schaut ihr zu, wie sie den Brei rührt. Draußen prasselt der Regen gegen die schrägen Fenster, sammelt sich zu Strömen, die das Glas hinunterlaufen über die Schiefer-Schindeln rauschen und gurgelnd in der Regenrinne verschwinden.

Er sieht aus dem Fenster und erkennt verschwommen den Messeturm und bemerkt, dass in den vielen Büros die Lichter eingeschaltet sind, und auf der Spitze der Glaspyramide, die das Dach bildet, blinkt ein rotes Licht, wie nachts.