Der alte Meister Brack - Matthias Herbert - E-Book

Der alte Meister Brack E-Book

Matthias Herbert

0,0

Beschreibung

Die Siebzigerjahre zwischen Apollo 13, Träumen vom eigenen Bonanza-Rad, schulterlangen Haaren, Schlaghosen und Ölkrise. Ein Vierzehnjähriger bekommt bei einem kauzigen Fahrrad- und Nähmaschinenspezialisten seinen ersten Ferienjob. Für 5,-- D-Mark pro Stunde lernt er Reifen zu flicken, Schaltungen einzustellen, die geheimen Funktionen von Nähmaschinen zu verstehen und die Dinge zu schätzen und zu bewahren. Dabei bringt ihm der alte Meister Brack seine ganz eigener Sicht der Welt und des Lebens auf eine Weise nahe, die er nie wieder vergessen wird.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 108

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



für

Kurt und Eva

Inhalt

Die Siebzigerjahre

Arbeiten bei Meister Brack

Meister Brack und das Wasser

Meister Bracks Garten

Winter in Meister Bracks Werkstatt

Meister Bracks Reiselust

Meister Brack und das Geld

Meister Brack und seine Feinde

Meister Bracks Werkzeuge

Meister Bracks Rennrad

Meister Bracks Söhne

Meister Brack und die Sonntage

Osterzeit bei Meister Brack

Meister Bracks alte Werkstatt

Meister Bracks Jagd

Ein schlechter Tag bei Meister Brack

Meister Brack und die alten Fahrräder

Meister Bracks Freund

Meister Bracks Tricks

Meister Brack und der Fußball

Meister Brack und die Zeit

Meister Bracks Tante

Meister Bracks Vögel

Meister Brack und seine Helfer

Meister Brack und der liebe Gott

Der andere Mann bei Meister Brack

Meister Brack baut

Ein Besuch bei Meister Brack

Der Autor

Die Siebzigerjahre

Es war eine Zeit, die von Mondlandungen über Ölkrisen bis zur Friedensbewegung reichte, und wenn ich heute davon rede, dann schauen mich viele mit einem Blick an, den ich damals auch drauf hatte: Opa erzählt vom Krieg.

Dieser war den Menschen tatsächlich sowohl von den Jahren als auch von den Gefühlen her noch viel näher als die aktuelle Gegenwart den Siebzigern und sein Ende gerade einmal 35 Jahre her.

Auch der alte Meister Brack war davon geprägt.

Denn der Krieg hatte ihn aus seiner geliebten Heimatstadt vertrieben, wo er eine sehr große Werkstatt besessen hatte.

Doch all das lag nun unerreichbar hinter dem Eisernen Vorhang.

Den alten Meister Brack hat es wirklich gegeben.

Alle kannten ihn in der kleinen Stadt, in der ich die meiste Zeit meiner Jugend verbrachte, auch wenn er nicht dort geboren war und sein ganzes Leben lang eher ein Außenseiter blieb, obwohl er mitten im Leben stand.

Man achtete den alten Meister Brack und seine Eigenheiten und nahm sie als gegeben hin – eine Ehre, die wahrlich nicht jedem Zugereisten in dieser Stadt zuteilwurde.

Aber der alte Meister Brack war nun einmal die erste Adresse, zu der man in unserem Ort ging, wenn man ein Fahrrad brauchte oder der Frau eine neue Nähmaschine schenken wollte.

Oder wenn eine zu reparieren war, ob sie noch mit dem Fußpedal bedient wurde oder schon einen elektrischen Motor hatte. Den oft genug der alte Meister Brack selbst nachgerüstet hatte.

Es gab zwar noch einen weiteren Laden, der auch Fahrräder im Angebot hatte, aber der war keine Konkurrenz, weil es da niemanden gab, der alles wieder zum Laufen bringen konnte.

Den Namen meines alten Meisters habe ich geändert. Aber das, was ich über ihn erzähle, ist nicht frei erfunden, wie es immer so schön heißt. Es ist alles wahr und wirklich geschehen.

Oder vielleicht besser: Ich erinnerte mich genau so daran, als ich Anfang des aktuellen Jahrtausends begann, diese kleinen Episoden aus meiner Jugend aufzuschreiben. Erst war es nur eine einzelne Anekdote, dann wurden es mehr und mehr.

Die Sammlung an skurrilen Geschichten vom alten Meister Brack hatte sogar schnell einen kleinen Verlag gefunden.

Aber wie es damals eben so war, scheiterte der Nebenerwerbsunternehmer vor der Veröffentlichung meines Buchs an seinen allzu hochfliegenden Plänen, und die Geschichten vom alten Meister Brack landeten trotz Verlagsvertrages irgendwann irgendwo in meinem Archiv.

Genau dort habe ich sie unlängst wieder gefunden, gelesen und gedacht, es könnte sich vielleicht der eine oder die andere für derlei interessieren.

Für Anekdoten aus einer Zeit ohne Internet, Fußballbundesliga live, Smartphone 24/7.

Einer Zeit mit nur dreieinhalb Fernsehprogrammen und die erst ab 15 Uhr, frühestens.

Einer Zeit, in der man 7 Jahre darauf warten musste, dass einem die Deutsche Bundespost die Ehre erwies, sich endlich mit dem Antrag auf ein Telefon in der Wohnung zu befassen.

Einer Zeit, in der man Dinge nicht wegwarf, sondern reparierte, und man zu Menschen gehen konnte, die diese Kunst noch beherrschten.

Wie mein alter Meister Brack.

Man musste Geduld mitbringen, wenn man Werkstatt und Laden aufsuchte. Denn neben einer ausführlichen Beratung und Belehrung über Qualitäten und Funktion von Fahrrädern und Nähmaschinen bekam der Kunde stets auch eine angemessene Dosis Weltsicht und Lebensweisheit.

Gratis.

Der Junge, der in der Werkstatt arbeitete, spitzte die Ohren und bekam alles mit.

Vieles davon vergaß er nie wieder…

Limburg, Oktober 2021

Arbeiten bei Meister Brack

Mein erstes Geld verdiente ich mit vierzehn beim alten Meister Brack. In den Osterferien durfte ich bei ihm in der Fahrradwerkstatt Räder reparieren. Er gab mir fünf Mark für den halben Tag, wobei der Vormittag interessanterweise drei, der Nachmittag dagegen vier Stunden hatte, die sich besonders gegen Abend ganz schön hinziehen konnten.

Fünf Mark, das war eine Menge Geld in einer Zeit, in der noch immer der halbjährlich erscheinende Versandhaus-Katalog für mich das Maß aller Dinge war. Darin hatte er, meinem Alter entsprechend, den weihnachtlichen Spielzeugkatalog abgelöst, dessen Verlockungen ich mich inzwischen entwachsen fühlte, besonders nachdem ich einsehen musste, dass ich schon mit zwölf für den längsten angebotenen Go-Cart zu groß ge worden war.

Meinen persönlichen Reichtum versuchte ich in diesem 600 Seiten starken Werk daran abzulesen, was ich mir kaufen könnte, wenn ich wollte, wobei ich die erstaunliche Erfahrung machen musste, dass Dinge, die ich mir von meinem Ersparten hätte leisten können, plötzlich jeden Reiz verloren und ich mich dabei ertappte, wie ich neue Ziele anstrebte. Aber mit jedem Fünfmarkstück, das ich in meine abgewetzte alte Kasse legte, an der das Schloss nicht mehr funktionierte, wurde es schwerer, etwas davon auszugeben. Ich tauschte die Münzen in Scheine, möglichst neue und möglichst kleine, damit das Bündel nach mehr aussah und zählte sie jeden Abend langsam und sorgfältig. Es war ein ganz eigenartiges Gefühl, dieses Papier in den Händen zu haben, es war meins, nur meins, und dazu noch selbst verdient. Das war etwas ganz anderes als geschenktes Geld, das es sowieso nur selten gab, vielleicht einmal einen Zehn- Dollarschein meiner Tante aus Amerika. Aber selbst erarbeitetes Geld war etwas ganz anderes. Ich malte mir aus, wie es aussehen würde, wenn ich es ausgeben würde, es ganz selbstverständlich aus dem Kunstlederportemonnaie, in das sich bislang höchstens einmal ein einsamer Zehnmarkschein verirrt hatte, nehmen und bezahlen würde.

Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie ich eines Abends im Bett lag und darüber nachdachte, ob mir irgendetwas fehlen würde, ob ich noch irgendwelche Wünsche hätte. An diesem Tag hatte ich das alte Dreigang-Fahrrad bekommen, das als Inzahlungnahme in einer Ecke des Werkstatthofes vor sich hin gerostet hatte. Nachdem ich über zwei Wochen immer wieder heimliche Blicke darauf geworfen hatte, hatte ich mich endlich getraut, Meister Brack zu fra gen, was er damit vorhätte. Er hatte es mir ohne weiteres geschenkt. Seine Frau, die wie alle Handwerkerfrauen die Kasse verwaltete, hätte bestimmt dagegen protestiert, etwas, für das man auch noch ein paar Mark verlangen konnte, zu verschenken, aber sie war glücklicherweise an diesem Tag nicht da gewesen. Nach Feierabend hatte ich eine ganze Stunde an dem dunkelgolden lackierten Rahmen herumpoliert und den dicken Rost mit der Drahtbürste von Speichen und Felgen gekratzt. Das Rad sah nicht unbedingt wie neu aus, nicht einmal annähernd, aber es hatte eine Gangschaltung und war ein ganz anderes Gefährt als das alberne Klapprad, auf dem ich mich zu der Zeit durch die Gegend bewegte.

An diesem Abend lag ich im Bett und fragte mich nach meinen Wünschen. In meiner Kasse waren neun Zehnmarkscheine und ein Fünfmarkstück, morgen würde ich erstmals die magische Hunderter-Grenze überschreiten. In diesem Augenblick, an diesem Abend wusste ich, dass ich glücklich war...

Eine Woche später waren die Ferien zu Ende. Ich musste wieder jeden Morgen um halb sieben aufstehen und mit der Straßenbahn zur Schule in die Stadt fahren. Nach der letzten Stunde trieb es mich in die Elektroabteilungen der Kaufhäuser, wo meine Träume aus dem Katalog ganz real lockten. Eine volle Woche wehrte ich mich dagegen, all das schöne Geld, das dicke Bündel Zehnmarkscheine, gegen etwas einzutauschen. Dann stand ich am Montag, nachdem ich das ganze Wochenende lang schwere Gedanken gewälzt hatte, an der Kasse und zählte stolz hundertdreißig Mark auf den Tisch, Schein für Schein das erhebende Gefühl auskostend. Ungeduldig nahm die Kassiererin das Geld, stopfte die Kiste mit dem Cassettenre corder in eine Tüte, gab sie mir und sortierte achtlos meine Scheine zu den anderen in die Kasse.

Dann wandte sie sich dem nächsten Kunden zu. Sie hatte meinem Geld nicht angesehen, dass ich es selbst verdient hatte...

Meister Brack und das Wasser

Zu Wasser hatte der alte Meister Brack ein ganz besonderes Verhältnis. Er badete gerne und ausdauernd und er wäre mit Begeisterung in jeden See gesprungen.

Da es in der Nähe unseres Dorfes aber weder natürliche noch Baggerseen gab, und die Fischteiche zum Baden weniger geeignet waren, musste er mit dem modernen Hallenbad vorliebnehmen, das wegen seiner aufsehenerregenden Architektur der ganze Stolz der Gemeindeväter war.

Eine Folge der epochalen Baukunst war, dass sich in der Luft immer reichlich hohe Konzentrationen von Chlorgas befanden, was eines Nachts einmal zu einer genauso unerwarteten wie folgenlosen Explosion führte. Der alte Meister Brack mochte gechlorte Luft nicht son derlich und schon gar kein gechlortes Wasser - wer mag überhaupt gechlortes Wasser -, aber es war besser als gar keins und so fuhr er jeden Mittwochnachmittag, wenn die Werkstatt geschlossen war und das Wasser am Warmbadetag 32 Grad hatte, mit seinem alten Rennrad zu diesem merkwürdigen, an ein sturmerprobtes Viermannzelt erinnernden Gebäude. Er schwamm immer genau eine Stunde, eine Bahn nach der anderen, langsam, mit gleichmäßigen Zügen, den Kopf hoch aus dem Wasser gereckt, damit die Brille keine Spritzer abbekam. Dabei hatte er während des Schwimmens immer genug Zeit für ein Schwätzchen mit dem Schwimm-Meister, der neben dem Becken auf und ab ging, und Kinder, die sich erdreisteten, von der Seite ins Wasser zu springen, mit der schrillen Autorität der Trillerpfeife zurechtwies.

Noch lieber als das Schwimmbad war dem alten Meister Brack aber seine Badewanne, das heißt, das ganz besondere Wasser in seiner Badewanne. Meister Brack war der einzige Mensch, den ich je kennengelernt habe, der in Regenwasser badete.

'Wissen Sie, das gibt eine so wunderbar weiche Haut', sagte er immer zu seinen Kunden, wenn er ihnen davon vorschwärmte, und strich sich mit der Hand über die braunen, verschrumpelten Arme.

Rund um Haus und Werkstatt waren Regentonnen verteilt, in denen er die kostbare Flüssigkeit mit ihren wunderbaren kosmetischen Eigenschaften sammelte. Damit ihm für den Fall eines Gewitters nur kein Tropfen entrinnen konnte, hatte er sich sogar eine raffinierte Konstruktion mit zwei Tonnen und einem Überlauf einfallen lassen, die, wenn das eine Fass voll war, automatisch zum nächsten überleitete.

Einmal in der Woche schöpfte er dann eine dieser Regentonnen mit seinem alten Zinkeimer leer und schleppte das Wasser durch die Hintertür ins Bad. Durch den Flur hätte er sich damit bei seiner Frau, die seine Regenwassermanie achselzuckend seinen vielen Spinnereien zugeordnet hatte, nicht wagen dürfen. Später dann konnte man ihn den halben Abend lang in seiner Wanne planschen hören.

Aber es reichte Meister Brack nicht, in diesem Wasser nur zu baden. Danach einfach den Stöpsel zu ziehen und diese herrliche Flüssigkeit in den Abfluss gurgeln zu lassen, das wäre für ihn, der nie etwas wegwarf, der alles behielt und in irgendeiner Form doch noch verwenden konnte, als die reine Verschwendung erschienen. In den Ferienwochen, wenn ich bei ihm arbeitete, war es eine meiner Aufgaben, nach einem Badetag mit dem besagten schweren Zinkeimer die Wan ne auszuschöpfen und mit dem ehemaligen Regen- und nunmehrigen Badewasser - den Garten zu gießen.

Jedes Jahr, wenn die Wasseruhren abgelesen wurden, gab es dann erstaunte Gesichter. Manchmal wurde extra noch einmal jemand zur Nachkontrolle geschickt, innerhalb von fünf Jahren bekam das Haus vier neue Wasseruhren, aber es änderte nichts: Auf dem Grundstück von Meister Brack wurde so wenig Wasser verbraucht, dass Kubikmeter beinahe ein zu großes Maß waren.

'Wenn das jeder so machen würde wie ich, dann bräuchten alle viel weniger,' sagte der alte Meister Brack und schaute den Angestellten der Wasserwerke von unten über den Rand seiner Brille hinweg an. 'Und außerdem', meinte er, und schob den Ärmel seines grauen Kittels zurück. 'Regenwasser gibt eine so wunderbar weiche Haut...'

Meister Bracks Garten

Der alte Meister Brack liebte seinen Garten. Immer wenn er nach Feierabend Zeit hatte, war er dort zu finden, falls er nicht gerade am Haus herumbastelte, irgendwo an einem bis dahin ungenutzten Platz noch eine weitere Regentonne aufstellte, oder in aller Ruhe und ohne störende Kunden eine Nähmaschine justierte, die sich bis dahin allen seinen Versuchen widersetzt hatte, sie doch noch zum Laufen zu bringen.

Obwohl das Haus aus den zwanziger Jahren stammte, waren die Bäume im Garten nicht annähernd so alt. Einer in unserem Dorf weit verbreiteten Sitte entsprechend hatte der Erbauer des Häuschens nämlich den Garten weitestgehend brachliegen lassen und von Gewächsen, die mehr als einen Meter hoch wurden, freigehalten. Man ließ sich hier