Bornholmer Finale - Katharina Peters - E-Book
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Bornholmer Finale E-Book

Katharina Peters

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Beschreibung

Vergeltung auf Bornholm.

Im Frühsommer wird am Strand von Dueodde auf Bornholm eine männliche Leiche entdeckt, die durch einen Schuss ins Herz starb. Sarah Pirohl, Verbindungsbeamtin des BKA auf der Insel, bemerkt, dass die Leiche eine große Ähnlichkeit mit ihrem Vater aufweist, der angeblich bei einer Operation gestorben ist. Ihre Ahnungen bestätigen sich. Bernd Pirohl, der einem rechtsextremen Netzwerk angehörte, hatte offenbar Insiderwissen an die Behörden weitergegeben und dafür eine neue Identität erhalten. Doch wer hat ihn nun getötet? Und warum ist er zu ihr auf die Insel gekommen? 

Ermittlerin Sarah Pirohl und ihr persönlichster Fall – von der Autorin der Bestseller »Inselmord« und »Todesküste«.

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Seitenzahl: 485

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Über das Buch

Im Frühsommer wird am Strand von Dueodde auf Bornholm eine männliche Leiche entdeckt. Georg Hansen, ein deutscher Tourist, der bei der deutsch-schwedischen Handelskammer beschäftigt war, starb durch einen Herzschuss. Sarah Pirohl reagiert heftig beim Anblick des Toten – der Mann weist große Ähnlichkeit mit ihrem angeblich unlängst verstorbenen Vater auf. Wenig später stellt sich heraus, dass Hansens Identität im Zusammenhang mit einer Kronzeugenregelung entstanden ist. Bei der deutschen Polizei möchte man den Fall am liebsten zu den Akten legen, doch Sarah Pirohl, die als Verbindungsbeamtin für das BKA auf Bornholm arbeitet, braucht Gewissheit. Offenbar hat ihr Vater, der ein Hauptakteur in einem rechtsextremen Netzwerk war, Interna preisgegeben und dadurch eine falsche Identität erhalten. Aber was wollte er auf Bornholm? Und ist auch sie selbst in Gefahr? 

Über Katharina Peters

Katharina Peters schloss ein Studium in Germanistik und Kunstgeschichte ab. Sie begeistert sich für japanische Kampfkunst und lebt mit ihren Hunden in Schleswig-Holstein. An die Ostsee fährt sie, um zu recherchieren, zu schreiben – und gelegentlich auch zu entspannen.Aus der Ostsee-Serie sind »Todesstrand«, »Todeshaff«, »Todeswoge«, »Todesklippe«, »Todeswall«, »Todesbrandung« sowie »Todesküste« lieferbar.Mit der Kriminalpsychologin Hannah Jakob als Hauptfigur sind »Herztod«, »Wachkoma«, »Vergeltung«, »Abrechnung«, »Toteneis« und »Abgrund« lieferbar.Zuletzt erschienen von ihr: »Bornholmer Schatten«, »Bornholmer Falle« und »Bornholmer Flucht«.Mehr zur Autorin unter www.katharinapeters.com

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Katharina Peters

Bornholmer Finale

Kriminalroman

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Epilog

Impressum

Wer von diesem Kriminalroman begeistert ist, liest auch ...

Prolog

Krølle setzte sich mit dem Laptop und der ersten Tasse Kaffee auf die Terrasse. Eigentlich hieß er Erik Torba, aber auch das war nur ein Name von vielen. Ein dänischer Journalist, mit dem ihn einiges verband, hatte ihn so genannt, nachdem Erik sich für ihre erste Begegnung mit einer lockigen Perücke ausstaffiert hatte. Krølle – das dänische Wort für Locke – gefiel ihm mit Abstand am besten. Einen Moment lauschte er dem Flüstern des frühen Morgens, dann trank er einen Schluck und öffnete die Mail. Sie klang für Außenstehende nichtssagend und langweilig – ein Rosenzüchterverein lud zur Jahreshauptversammlung ein. Im Text versteckt war der Hinweis auf eine Adresse und die Vorgehensweise für ein Treffen. Dass Krølle tatsächlich Mitglied in dem Verein war und sich inzwischen als überaus begabter Rosengärtner bezeichnen durfte, war ein Detail, das ihn immer wieder amüsierte.

Krølle überprüfte die Daten zweimal und runzelte die Stirn. Er war sicher, dass die Informationen von Lennart Paulsen stammten – einem verdeckt agierenden Ermittler, der in einem ausgewählten Zirkel im Umfeld von BKA, BND und MAD in der Regel die Drecksarbeit erledigte, von der Außenstehende kaum etwas ahnten. Sie hatten sich vor ein paar Jahren kennengelernt, nachdem Krølle dem BKA nach all den Jahren seines erfolgreichen Schattendaseins dann doch ins Netz gegangen war und die Wahl gehabt hatte – entweder als Beschatter und Schnüffler und manchmal als Killer auch für diesen schillernden Auftraggeber tätig zu werden oder aber ins Gefängnis zu gehen und dort nicht lange zu überleben. Die Entscheidung war in denkbar kurzer Zeit gefallen. Besonders sympathisch waren sie einander nicht gewesen, zumindest anfänglich nicht. Krølle hatte Paulsen misstraut, weil er zu den wenigen Menschen gehörte, die er nicht mit seinem inneren Sensor erfassen und lesen konnte, und Paulsen hatte ihn für einen ebenso begabten wie gewissenlosen Killer gehalten, der für jeden tätig wurde, der ihn bezahlen konnte – was übrigens schlicht falsch war. Doch zu diesem Zeitpunkt war keiner von beiden zu einer Diskussion bereit gewesen. Sie hatten ihren Kontakt auf das Nötigste beschränkt und sich darüber hinaus misstrauisch beäugt.

Ihr Verhältnis änderte sich schlagartig, als Krølle den MAD-Mann aus einer brenzligen Lage befreit und dabei nicht gezögert hatte, fünf Typen einer rechtsradikalen Gruppe auszuschalten – eine waghalsige Aktion, die ihn im Rückblick immer noch mit diebischem Vergnügen erfüllte. Fünf Nazis, die es bei Kriegsspielen hinterrücks erwischt hatte – was wollte man mehr? Hinzu kam der erfreuliche Umstand, dass Paulsen seitdem nicht müde wurde zu betonen, dass er nun ewig in Krølles Schuld stehen würde, und das Bemerkenswerte war: Genauso meinte er es auch. Das klang zwar ebenso offen und direkt wie verdammt melodramatisch, und Krølle hatte wenig übrig für überschwängliche Beteuerungen und Melodramatik, doch er ließ es dann doch so stehen. In der Folge arbeiteten sie immer mal wieder zusammen oder unterstützten sich gegenseitig. Wer wüsste nicht besser als er, wie sich schicksalshafte Begegnungen anfühlten und was sie bewirken konnten?

Hannah Jakob und ihr Hund Kotti hatten sein Leben verändert – schlagartig. Zwanzig Jahre hatte er für den rumänischen Geheimdienst gearbeitet und sich stets eins gefühlt mit seinem Tun. Doch den Auftrag, den Hund der Kommissarin zu entführen und zu töten, um sie von weiteren Ermittlungen im Umfeld der organisierten Kriminalität abzuhalten, hatte er seinerzeit nicht befolgen können. Das klang so lächerlich und kitschig wie ein schnulziger Liebesfilm. Aber genauso verhielt es sich manchmal mit der Wahrheit. In den nachfolgenden Jahren hatte Krølle Hannahs Weg immer wieder verfolgt, ihre Ermittlungen aus der Nähe beobachtet und manches Mal auf seine ganz persönliche Art eingegriffen, so gefährlich diese Aktionen auch oftmals waren. Selbst als er im Geheimteam BKA mitspielte und nicht aus der Deckung kommen durfte, hatte er sich nicht davon abhalten lassen. So war er schließlich auch auf ihre Kollegin Kommissarin Sarah Pirohl, die auf Bornholm tätig war, und ihren Freund, den Journalisten Frederik Thomsen, aufmerksam geworden. Wenn ihm allerdings zu diesem Zeitpunkt jemand gesagt hätte, dass er mit diesem beherzten jungen Mann, dem er seinen hübschen Spitznamen verdankte, gemeinsame Sache machen würde, hätte er lachend abgewinkt. Doch genauso war es gewesen. Frederik war in eine ziemlich ausweglose Lage geraten, und die gemeinsamen Anstrengungen, ihn daraus zu befreien und zugleich auf die Ermittlungsarbeit der dänischen und deutschen Polizeibehörden Einfluss zu nehmen, waren in ein höchst geschicktes und aufwändiges Großmanöver ausgeufert. Es hatte Tote im Umfeld der Pirohl-Leute gegeben – Menschen, auf die man im Übrigen getrost verzichten konnte. Das sah Frederik inzwischen genauso. Er hatte sich von den hehren Zielen seines Berufsstandes mittlerweile verabschiedet, wie Krølle wusste. Das allerdings hatte Krølle so nicht kommen sehen. Frederik war ein mutiger Kämpfer, aber Attacken, die auch tödlich enden konnten oder zumindest im Zusammenhang mit Straftaten und gewalttätigen Finten standen, hatten bislang nicht zu seinem Repertoire gehört.

Manchmal schloss sich der Kreis auf unerwartete Weise, und Bernd Pirohl, Sarahs Vater, hatte dabei den Ausschlag gegeben. Der Wirtschaftsjurist, ehemaliger Leiter einer Wirtschaftskanzlei und viele Jahrzehnte Unterstützer und Mitglied des rechtsextremen Spektrums, bevor seine eigene Tochter gemeinsam mit Frederik entscheidend dazu beigetragen hatte, seine Gruppe zu entlarven und für seine Inhaftierung zu sorgen, lebte inzwischen nicht mehr. Und der dänische Journalist befand sich seit geraumer Zeit auf Reisen, auf der Suche nach neuen Herausforderungen und Verbündeten, und manchmal meldete er sich bei Krølle. Dem waren solche Kumpaneien ganz und gar nicht wichtig – von der Verbindung mit Paulsen abgesehen –, aber er brachte es auch nicht übers Herz, Thomsens Adresse zu blockieren oder die Nachrichten ungelesen zu löschen.

Krølle schob die Gedanken beiseite und beantwortete die Mail mit einer Zusage, bevor er den gesamten Vorgang löschte. Anschließend frühstückte er und machte sich keine Stunde später auf den Weg. Paulsen würde höchstens zehn Minuten am Treffpunkt auf ihn warten und dann verschwinden. Die Frage, warum er diesen Umweg für die Kontaktaufnahme gewählt hatte, statt eines der sicheren Handys zu benutzen, lag auf der Hand: Paulsen hatte einen neuen wichtigen Auftrag und musste in Deckung bleiben. Oder er war in Gefahr und brauchte Hilfe.

Krølle mied die Autobahn und fuhr über die B 96 in Richtung Buch. Er war eine halbe Stunde vor der Zeit am Treffpunkt und parkte am Arkenberger Kiessee. Frühsommer und doch schon ungewöhnlich heiß. Früher hatte es zu dieser Zeit manchmal wochenlang geregnet, und alle hatten sich danach gesehnt, dass die Sonne endlich die Oberhand gewann. An der Badestelle war bereits einiges los. Krølle packte seinen Rucksack und unternahm eine Inspektionsrunde. Als er zu seinem Wagen zurückkehrte, sah er sofort den kleinen Jeep, der hinter einem dichten Gebüsch stand. Die Fahrertür schwang auf, Paulsen stieg aus, tippte mit einer Hand an sein Cap und kam ihm entgegen – Krølle nickte. Sie gingen nach kurzer Begrüßung nebeneinander zum Kiessee hinunter.

»Du machst es spannend«, meinte Krølle, als sie die Badestelle passiert hatten. »Was ist los?«

»Ich habe einen Auftrag erhalten, bei dem ich Unterstützung gebrauchen könnte«, erwiderte Paulsen und blickte einen Moment in die Ferne, bevor er wieder Krølle ansah. »Unterstützung, von der niemand etwas mitbekommen sollte.«

»Du sicherst dich ab?«

Paulsen nickte. Er wirkte plötzlich angespannt. »In unserem Geschäft kann man eigentlich niemandem vertrauen. Mit dir ist das anders. Du hast mir schon mal den Arsch in höchster Not gerettet – was soll schon schiefgehen?« Er lächelte, aber es wirkte gezwungen.

Krølle sah ihn abwartend an. »Ein schmutziger Auftrag?«

»Könnte sein.«

Krølle drehte sich um und warf einen Blick zurück zum Parkplatz.

»Keine Sorge, ich habe den Wagen zweimal gewechselt«, erklärte Paulsen. »Sollte sich jemand an meine Fersen geheftet haben, wartet er nun vor einem Wellnessclub auf mich.«

»Das klingt gut. Also?«

Paulsen atmete tief durch. »Es geht um einen Kollegen. Er gehörte zum Team für eine Aktion im Rahmen des Zeugenschutzprogramms. Große Sache. Auslandseinsatz mit neuer Identität. Hervorragend organisiert.«

»Lass mich raten – es ist trotzdem was durchgesickert?«

Paulsen nickte. »Das zumindest ist zu befürchten. Der Zeuge ist verschwunden, nachdem anderthalb Jahre alles gut ging.«

»Von wem sprechen wir?«

»Kann ich nicht sagen.«

»Kannst du nicht oder darfst du nicht?«

»Ich kenne den Namen tatsächlich nicht, und man wird ihn mir auch nicht verraten. Ist durchaus so üblich bei solchen Geschichten. Der Kollege wurde jedenfalls kürzlich ausgewechselt, und mein Auftrag lautet, ihn zu observieren und zu durchleuchten, nach Anhaltspunkten für Geheimnisverrat oder auffallenden Kontakten Ausschau zu halten, und mir ist nicht wohl bei der Sache. Es muss ein handfester Verdacht gegen ihn bestehen, sonst würde man diese Maßnahme nicht anordnen. Die Zeugenschutzleute unterliegen einer hohen Geheimhaltungsstufe, und wenn was schiefgeht, ist Alarmstufe rot angesagt.«

»Verstehe. Hattest du schon mit ihm zu tun?«

Paulsen schüttelte den Kopf. »Nicht, dass ich wüsste.«

»Und warum sollst du das allein übernehmen?«

»Gute Frage.« Dann hob er langsam eine Braue.

Krølle rieb sich übers Kinn. »Verstehe. Sollte sich der Verdacht bestätigen, könnte sich womöglich eine pragmatische Lösung anbieten.«

Paulsen blieb stehen und sah Krølle direkt an. »Kann ich auf dich zählen?«

»Natürlich. Wie genau stellst du dir meine Unterstützung vor?«

»Behalte im Blick, ob jemand an mir dran ist.«

»Das dürfte kein Problem sein.«

»Der Job wird übrigens gut bezahlt. Wir teilen natürlich.«

Krølle lächelte. »Klingt verlockend. Ein Zuschuss zum Taschengeld kann nicht schaden.«

Es war später Nachmittag, als Krølle in sein friedliches Domizil am Roofensee zurückkehrte. Die Nachbarn hielten ihn für einen kauzigen und maulfaulen Einsiedler, der sich in die Natur zurückgezogen hatte, seinen Rosengarten pflegte und den Streunerkater Copper versorgte. Nach offizieller Lesart verfügte er über ein kleines Sparvermögen und verdiente sich regelmäßig mit der Gestaltung von Websites und anderen Internetjobs etwas hinzu. Inoffiziell hatte er keinerlei finanzielle Sorgen, und seine Aufträge konnte er sich aussuchen. Galt es, einen Tierquäler zu beseitigen, arbeitete er kostenlos. Hatte er den Eindruck, dass Auftraggeber mit gezinkten Karten spielten, lehnte er ohne jegliche Begründung ab.

Er stellte Coppers Milchschale bereit. Irgendwo hatte er mal gelesen, dass Katzen Kuhmilch gar nicht vertrugen. Copper wirkte allerdings putzmunter. Krølle ging in die Küche und briet sich ein Kotelett. Dazu gab es Bratkartoffeln und Gurkensalat. Ein deftiges Mahl an einem heißen Tag. Das hatte ihn noch nie gestört.

Später aktivierte er den GPS-Tracker, den er an Paulsens Wagen befestigt hatte. Eine Sicherheitsmaßnahme, die sich schon einmal bewährt hatte. Der Kollege, der im Verdacht stand, im Zeugenschutzprogramm gegen Geheimhaltungspflichten verstoßen zu haben, lebte unter dem Namen Gregor Tiegel in einer Altbauwohnung in Berlin-Tempelhof und hatte kürzlich eine Stelle beim LKA in der Verwaltung angetreten. Krølle lächelte. Dort kannte er sich ziemlich gut aus. Hannah Jakob hatte in der Vergangenheit häufig mit dem LKA-Team zusammengearbeitet. Womit sie aktuell beschäftigt war, würde Krølle, wenn nötig, schnell herausfinden.

1

Jemand rief einen Namen, und Sarah warf den Kopf herum. Der Klang der Stimme wehte über den Strand. Ein junger Mann lief eilig in ihre Richtung. Sie stockte. Einen Moment lang war sie fest davon überzeugt, dass es sich um Frederik handelte. Die Gestalt passte, auch die Stimme war ähnlich, dann rannte der Typ an ihr vorbei – höchstens Mitte zwanzig – und warf sich in die Wellen. Der Moment hallte in ihr nach, während ihr aufgewühltes Herz sich nur allmählich beruhigte. Schließlich stand sie auf, klopfte sich mit zitternden Händen den Sand aus der Hose und ging langsam durch das schmale Waldstück zur Straße. Sie hatte die Mittagspause für einen Ausflug an den Strand nördlich von Rønne genutzt und machte sich auf den Weg in die Dienststelle.

In den letzten Monaten war Kommissarin Sarah Pirohl so manches Mal davon überzeugt gewesen, dass sie das Aus der Beziehung endgültig hinter sich gelassen hatte und über den Berg war. Sie hatte sich auf den einen oder anderen Flirt eingelassen und immer seltener von Frederik geträumt. Wie trügerisch ihre Einschätzung war, hatte sich gerade auf eindrucksvolle Weise gezeigt. Ihre Liebe war schon lange Geschichte, und es war immer noch nicht vorbei.

Fast zweieinhalb Jahre waren vergangen, seitdem die Hintergründe von Frederiks Entführung durch Täter der rechtsextremen Szene aus dem Umfeld ihres Vaters sowie mehrere damit im Zusammenhang stehende Tötungsdelikte und andere Straftaten weitgehend aufgeklärt werden konnten – und ähnlich lange musste sie sich der bitteren Wahrheit stellen, dass Frederik in seinem Kampf seinen inneren Kompass verloren hatte. Der Zweck heiligte die Mittel – er hatte sich damals auf die Unterstützung eines Killers verlassen, der ihn zweifellos in einer nahezu ausweglosen Lage auf seine ganz besondere Art begleitet und beschützt hatte. Nur zu welchem Preis? Der Mann, dem Frederik den charmanten Namen Krølle gegeben hatte, war seinem ganz persönlichen Erfahrungshorizont treu geblieben, und das bedeutete auch, dass er über Leben und Tod im Umfeld von offiziellen Ermittlungen entschieden hatte. Ein Umstand, der Frederik kaum noch berührt hatte. Immer wieder hatten sie hitzige Diskussionen darüber geführt, halbe Nächte miteinander gerungen, um sich dann stumm, fast verbissen zu lieben – eine verzweifelte Liebe von Sarahs Seite und die letzte noch verbliebene Möglichkeit, Nähe zu ihm zu spüren.

Sie wollte sich nie gemein machen mit Menschen, die bereit waren, sich ihr Recht selbst zurechtzubiegen. Das klang verdammt moralisch, dessen war sie sich durchaus bewusst, denn Frederik hatte Freunde verloren beim Kampf gegen übermächtige Gegner, die stets ihre eigenen Gesetze verfolgten und juristische Feinheiten nur dann in Waagschale warfen, wenn sie sich einen Vorteil davon versprachen. Dennoch war sie davon überzeugt, dass Frederik einen schweren Fehler begangen hatte, als er Anfang 2020 beschloss, unterzutauchen und sich andere Unterstützer und Gleichgesinnte zu suchen. Fast ein Jahr war er mitten in der Pandemie unterwegs gewesen, hatte zeitweise aufgrund von Reisebeschränkungen festgesessen und endgültig wichtige Brücken hinter sich abgebrochen.

Ihr letztes Wiedersehen lag inzwischen anderthalb Jahre zurück, rechnete Sarah nach, während sie an einer Ampel abrupt stoppte. Einen Moment war sie verblüfft, wie viel Zeit vergangen war. Sie hatte sich nach seiner Abreise in die Arbeit gestürzt und irgendwie versucht weiterzumachen – mit einer neuen Aufgabe in einer überregional agierenden Soko entlang der Ostseeküste, die sich mit einem großen Fall von Waffenschmuggel, in den mehrere Staaten involviert waren, befasste. Und sie hatte sich wenig später von Lottchen verabschieden müssen, ihrer wunderbaren Großmutter, die ihre Enkelin als Alleinerbin eingesetzt hatte. Einige Monate danach hatte es im Herbst 2020 den nächsten Todesfall in ihrer Familie gegeben. Sarah hatte die überraschende Nachricht erhalten, dass ihr Vater nicht mehr lebte. Sie erinnerte sich mit bemerkenswerter Klarheit daran, dass sie fast schon erschreckend emotionslos reagiert hatte. Ein Hirn-Aneurysma war geplatzt, und die Not‑OP hatte Bernd Pirohl nicht retten können. »Kein schöner Tod«, hatte ihre Mutter gesagt. »Egal, was zwischen euch beiden war und was so vorgefallen ist – das wünscht man niemandem.«

Was zwischen euch beiden war und was so vorgefallen ist. Sarah hatte es vorgezogen, nicht auf diese Bemerkung einzugehen, aber innerlich hatte es gebrodelt in ihr. Dieser Mann war verantwortlich für den Überfall auf Frederik – und für zahlreiche andere Straftaten, unter anderem jahrzehntelange Aktivitäten in der rechten Szene als Ratgeber und aktives Mitglied, als Vorbereiter und Berater, als Geldbeschaffer und hakenschlagender Jurist, der sogar seine eigene Mutter bedroht hatte. Dein Mann hätte geholfen, diese Demokratie zu stürzen, hatte sie gedacht und sich abgewandt. Und Ehefrauen und Partnerinnen wie ihre Mutter waren letztlich ein Teil des Problems.

Einige Zeit darauf endete der Prozess gegen Bernd Pirohls Mitstreiter mit zum Teil empfindlich langen Haftstrafen für etliche Angeklagte. Immerhin. Der Alptraum war vorbei – mehr als ein Jahr nach Frederiks Entführung. Die Kanzlei führten inzwischen andere Anwälte, und wie gerne hätte sie diesen Erfolg mit Lottchen gefeiert. Und wie groß war ihre Sehnsucht nach Frederik.

Kurz vor Weihnachten hatte er unangekündigt vor der Tür gestanden, und einen verführerischen Moment lang schien ein Neubeginn möglich – ein gemeinsamer Aufbruch zu einem perfekten Zeitpunkt, der auch bedeutete, Frieden mit der Vergangenheit zu schließen, und zwar in jeder Hinsicht. Sie entsann sich fast schmerzhaft intensiv daran, wie groß und mächtig der Wunsch gewesen war, dass Frederik aus genau diesem Grund zurückgekehrt war: um einen Neustart zu wagen – und zwar auf der Basis von gemeinsamen Überzeugungen, die auch sie als Polizistin mittragen konnte. Doch ihre Hoffnung war wenige Stunden später geplatzt wie die berühmt-berüchtigte Seifenblase. Frederik war gekommen, um sie davon zu überzeugen, sich ihm anzuschließen. Es tat immer noch weh, diese bittere Wahrheit zu akzeptieren.

Sarah parkte hinter dem Kommissariat, stellte den Motor aus und starrte ins Leere, während die Erinnerungen sie durchfluteten, als lägen sie erst wenige Tage zurück. Sie hatten sich stundenlang geliebt und danach in guter Tradition ein kleines Festmahl genossen – das Frederik zubereitet hatte. Auch das gehörte dazu. Der perfekte Liebhaber, der auch ein perfekter Koch war. Als das Dessert auf dem Tisch stand, hatte er sie plötzlich mit dunklem Blick angesehen und das Kinn gehoben. »Komm mit mir! Bitte. Lass uns gemeinsam diesen Weg gehen und alles versuchen, diese Leute mit ihren wahnwitzigen Ideen und menschenfeindlichen Vorstellungen aufzuhalten.«

Seine eindringlichen Worte waren verklungen, während sie das Besteck auf den Teller zurückgelegt hatte. Ihre Lippen hatten sich angefühlt, als wären sie eingefroren.

»Du bist unabhängig – hast genug Geld und bist nicht auf deinen Job angewiesen, und wir könnten zusammen so viel ausrichten!«, hatte er in beschwörendem Ton hinzugefügt.

Ich bin immer noch Verbindungsbeamtin des BKA in Dänemark, hatte sie gedacht. Das ist mehr als ein Job. Das ist etwas Besonderes, erst recht in diesen Zeiten.

»Ich habe neue Kontakte und Ideen, viele kluge Leute haben sich zusammengefunden, und wenn wir gemeinsam …«

»Ich will und werde so nicht leben, Frederik. Ich dachte …« Sarah hatte einmal tief eingeatmet.

»Dass es vorbei ist?«, hatte er sofort eingeworfen. »Weil ein Prozess ausnahmsweise einmal tatsächlich mit empfindlichen Strafen zu Ende gegangen ist? Was besagt das schon? In zig anderen Fällen wird erst gar nicht eröffnet, oder die Täter können sich rechtzeitig absetzen, weil sich einflussreiche Freunde einschalten. Zeugen verschwinden, Prozesse werden verschleppt, Monate vergehen, und schließlich greift irgendein Paragraph, und alles versandet – du kennst das doch. Es ist immer das Gleiche. Richtungsweisende Urteile sind die absolute Ausnahme. Das muss ich dir doch eigentlich nicht erzählen. Oder ist der entscheidende Punkt, dass dein Vater nicht mehr lebt und viel Zeit vergangen ist? Nur: Hier geht es doch nicht nur um ihn und deine Familie!«

»Worum geht es dann?« Sarahs Stimme hatte plötzlich genauso drängend und scharf geklungen wie seine.

»Weißt du das wirklich nicht? Erkennst du die Gefahren nicht, die sich weltweit abzeichnen? Hast du dich je mit den Entwicklungen in den USA und auch in Russland befasst und in zig anderen Staaten? Ist dir klar, welche Machtstrukturen die rechte gewaltbereite Szene nutzt, um ihrem Ideal Gewicht zu verleihen …«

»Und was genau willst du dagegen unternehmen – mit deinen neuen Kontakten? Es reicht dir ja offenbar längst nicht mehr …«

»Investigativ zu arbeiten? Stimmt, das reicht schon lange nicht mehr. Und das ist eine bittere Erkenntnis. Sauber recherchierte Texte schreiben, Zusammenhänge aufdecken, den Finger in die Wunde legen – das mache ich schon so viele Jahre. Und was habe ich, was haben wir bewirken können? Das Pack hat mich ins Visier genommen, und ich konnte nur überleben, weil ich mich gewehrt und selbst die Initiative ergriffen habe und Unterstützung hatte. Bis Behörden reagieren und sich über Ländergrenzen hinweg zusammentun, ganz selbstverständlich an einem Strang ziehen, ohne sich in Verordnungskleinkram oder Europolbestimmungen festzubeißen, vergeht unendlich viel Zeit, in der Dutzende von Hürden genommen werden müssen. Es muss viel mehr passieren, das ist mir mit aller Deutlichkeit klar geworden, und zwar ohne Umwege, die ausschließlich den Kriminellen nutzen. Das ist wie mit dem Steuerrecht – bevor der Staat regieren kann, sind Millionen längst in ganz andere Kanäle geflossen und auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Diese Leute müssen den Gegenwind direkt im Gesicht spüren, und der ist in einem behäbig reagierenden Rechtssystem, das viele Schwächen und Lücken aufweist, wenig mehr als ein laues Lüftchen – sie lachen uns in den meisten Fällen einfach aus.« Er klang leidenschaftlich bewegt und voller Überzeugung – wie immer in diesen Diskussionen.

»Wir hatten all das schon, Frederik. Wir haben nächtelang diskutiert, bevor du aufgebrochen bist«, entgegnete sie schließlich. »Ich habe dich unendlich vermisst, aber es hat sich nichts geändert. Du bist für dich selbst verantwortlich – genau wie ich. Und mein Entschluss steht fest: Ich werde mich dir nicht anschließen und abtauchen, um dort mein Glück zu versuchen und einen Kampf nach selbstaufgestellten Regeln zu führen. Ich bin Polizistin, BKA-Verbindungsbeamtin in Dänemark, und ich bin es immer noch gerne – trotz all der Hürden und Behäbigkeiten, die es uns oft so schwer machen, da gebe ich dir recht. Und ich will ein halbwegs normales Leben führen und mich nicht verstecken müssen – auch das ist mir wichtig. Typen wie dein Krølle gehören zu den Leuten, die ich normalerweise helfe festzunehmen und vor Gericht zu bringen. Ja, der Mann hat dich in einer Notlage unterstützt – er hat auch Hannah beschützt. Das weiß ich alles. Doch er ist immer noch ein Auftragskiller, ein Mörder, der Menschen verschwinden lässt, weil er dafür bezahlt wird oder seine eigenen Ideen verfolgt und …«

»Den kriegt ihr nie!«, fuhr Frederik dazwischen. »Er hat mir das Leben gerettet, und ich würde ihn jederzeit decken.«

Das war eine bemerkenswert deutliche Aussage gewesen. Stille trat ein. Damit war alles gesagt. Sarah hatte nur einen Augenblick gezögert, dann war sie aufgestanden und ohne ein weiteres Wort gegangen. Ein paar Monate später hatte sie zufällig mitbekommen, dass Frederiks Blockhaus in Hasle verkauft worden war. Das hatte ihr einen heftigen Stich versetzt. Das kleine Häuschen hatte Frederik so viel bedeutet. Ein echtes Zuhause, das ihm seine Mutter hinterlassen hatte, und eine wundervolle Zuflucht auf der Insel. Aber wahrscheinlich war nach dem Überfall das Vertrauen in diesen Ort zerbrochen, und nun existierte auch diese Brücke nicht mehr.

Mittlerweile herrschte Krieg in der Ukraine, und selbst der frühe Sommer war heiß wie selten zuvor. Brandherde, wohin man blickte. Sarah schüttelte die Erstarrung und die schweren Gedanken ab und betrat das Kommissariat. Sie hatte kaum an ihrem Schreibtisch Platz genommen, als sie ein Kieler Kollege aus der Soko Waffenschmuggel per SMS anschrieb. »Bin am Wochenende auf der schönen Insel. Lust, mich auf ein Strandfest zu begleiten?«

Sarah zögerte nur einen Moment. Dann sagte sie zu. Thilo Berger war ein charmanter und humorvoller Typ, außerdem ein überragender Tänzer. Mit ihm konnte sie ein bisschen vergessen oder verdrängen, erst recht auf einem ausgelassenen Fest an einem der schönsten Strände der Welt – zu Füßen des Leuchtturms von Dueodde. Ganz in der Nähe hatte Sarah sich im letzten Jahr ein Ferienhaus gekauft, verborgen im Kiefernwald südlich des Strandmarksvejen. Ein farbenfrohes Holzhaus mit knarzenden Dielen und einer sonnendurchfluteten Wohnküche. Ein Ersatz für Frederiks Blockhaus in Hasle, in dem auch sie sich wohl gefühlt hatte.

Als Sarah am Sonntagmorgen die Augen aufschlug, hatte sie das Gefühl, kaum geschlafen zu haben. Der Blick auf die Uhr bestätigte den Eindruck. Es war gerade sechs Uhr, und sie wusste nicht, was sie geweckt hatte. Sie stöhnte leise. Sarah hatte die Party vor nicht einmal drei Stunden verlassen, nachdem es ihr gelungen war, sich nach einem nächtlichen Bad im Meer von Thilo zu verabschieden – und ihn nicht noch zu sich nach Hause einzuladen, obwohl sie einen Moment lang geschwankt hatte. Der Mann war attraktiv und witzig, sie mochte seine Art, sich zu bewegen, und seine Hände lösten etwas in ihr aus, aber sie waren Kollegen, und außerdem … Das Handy klingelte, und sie richtete sich mühsam auf. Auf dem Display ploppte die Nummer von Mikkel Bentsen auf – dem Leiter des Kommissariats in Rønne –, und gleichzeitig klopfte es an der Haustür. Plötzlich war sie hellwach. Sie zog sich ein T‑Shirt über und eilte nach vorne. Bentsen stand in der Tür. Hinter ihm hatte der erwachende Morgen einen wundervollen Horizont gezaubert. Es war still und friedlich und bereits in aller Frühe warm.

»Dein Besuch ist kein gutes Zeichen«, sagte sie leise und wie selbstverständlich auf Deutsch, während sie die Tür aufzog. Ihr Dänisch hatte sich in den letzten Jahren zwar erheblich verbessert, aber mit Mikkel Bentsens Deutschkenntnissen konnte sie immer noch nicht mithalten – schon gar nicht nach einer langen Partynacht und nur wenigen Stunden Schlaf.

»Kann man so sagen. Wir haben eine Leiche«, entgegnete er nach kurzem Gruß. »Ein früher Spaziergänger hat ihn nicht allzu weit von hier gefunden.«

Und darum muss ich ihn mir ansehen? Sarah schloss für einen Moment die Augen.

»Ein Deutscher, wenn ich das richtig verstanden habe«, fügte Bentsen hinzu. »Und damit gehörst du dann ohnehin ins Team.«

»Verstehe.« Sie gähnte. »Ich zieh mir was an. Habe ich noch Zeit für einen Kaffee? Ich habe kaum geschlafen. Es war spät gestern – eher früh, und ich fühle mich alles andere als fit.«

»Gut, dass du es erwähnst. Ich koche den Kaffee, und du ziehst dich an«, entgegnete er und ging an ihr vorbei Richtung Kaffeemaschine. »Wie immer?«

»Ja, aber er sollte besonders stark sein.«

Wenige Minuten später stieg Sarah in Bentsens Wagen. Sie trank aus ihrem Thermosbecher. Der Kaffee war ziemlich stark. »Was heißt in der Nähe?«

»Er lag am alten Leuchtturm Dueodde Süd – unter einer Plane. Die hatte sich ein bisschen verschoben, und der Spaziergänger ging etwas näher heran … Du verstehst?«

»Natürlich. Er hat sofort die Polizei benachrichtigt.«

»So ist es.«

Der kleine alte Turm war gerade mal sechzehn Meter hoch und nicht mehr für die Öffentlichkeit zugänglich. Die meisten Touristen waren ohnehin am deutlich höheren Dueodde Fyr interessiert – er lag in direkter Nachbarschaft und ragte an der Südspitze Bornholms knapp fünfzig Meter in den Himmel. Hundertsechsundneunzig Stufen, erinnerte sich Sarah, und belohnt wurde man nach dem Aufstieg mit einem unvergleichlich schönen Panoramablick über die weite Dünen- und Heidelandschaft auf der einen Seite sowie Strand und Ostsee auf der anderen. Bei klarer Sicht konnte man in nördlicher Richtung den höchsten Punkt Bornholms im Zentrum des Almindinger Waldes ausmachen.

»Die Kollegen haben mich angerufen, als sie die Schussverletzung entdeckten«, fuhr Bentsen fort, bevor er vom Hauptweg in den Fyrvejen abbog, der direkt zu einem kleinen Hotel führte, daneben befanden sich ein Kiosk und ein Restaurant. Kaum dreihundert Meter weiter westlich hielt der alte Turm die Stellung.

»Der Mann ist erschossen worden?«

»Das hatte ich nicht erwähnt?«

»Nein, Mikkel – du hast nur von einem Toten gesprochen.«

Bentsen zuckte mit den Achseln. »Na ja, dass dem Mann etwas zugestoßen sein könnte, was die Polizei auf den Plan ruft, hast du dir wohl schon gedacht. Warum sonst hätte ich dich am Sonntag in aller Frühe aus dem Bett klingeln sollen?«

»Du wolltest einfach nicht allein sein.«

»Das könnte natürlich auch ein Grund sein.« Bentsen warf ihr einen schrägen Blick zu, bevor er einparkte. Sie stiegen aus. Mehrere Behördenfahrzeuge sperrten den Zugang ab. Polizisten suchten die Gegend nach Spuren und Hinweisen ab; erste Schaulustige hatten sich trotz der frühen Stunde eingefunden. Eine Beamtin der Kriminaltechnik beaufsichtigte die Lagerung und den Abtransport der Leiche. Sarah erkannte die Kollegin Astrid Larsen, als sie nähertraten – eine energische und durchsetzungsfähige Persönlichkeit, die selten ein Blatt vor den Mund nahm. »Wollt ihr noch einen Blick werfen, bevor ich den Sack zumache? Ich muss die Rechtsmedizin in Kopenhagen informieren.«

Bentsen nickte. »Darum sind wir hier. Habt ihr Papiere oder Ähnliches für uns?«

»Die Kollegen haben einen Dienstausweis und Schlüssel gesichert. Handy hatte er nicht dabei.« Sie wies in Richtung des Fahrzeugs der Techniker und öffnete den Leichensack. »Mann um die fünfzig, schätze ich.«

Das Geräusch des knarzenden Reißverschlusses ging Sarah durch Mark und Bein, aber sie wandte den Blick nicht ab. »Wie lange ist er tot?«, fragte sie leise. Der Kopf wurde sichtbar.

»Ein paar Stunden – irgendwann heute Nacht, schätze ich. Ein Schuss aus unmittelbarer Nähe ins Herz, so mein erster Eindruck. Und das Ganze ist hier passiert.«

Sarah stockte einen Moment und sah auf. »Suizid?«

»Nein, Kollegin, sonst hätten wir die Waffe gefunden.« Larsen feixte. »Oder finden müssen. Und wer schießt sich schon selbst ins Herz?«

»Da ist was dran.« Sarah senkte den Blick wieder und beugte sich vor. Das Gesicht löste etwas in ihr aus. Die Linien um den Mund kamen ihr seltsam bekannt vor. Kraftvolles Kinn, ein zusammengekniffener Mund, das Haar, die Brauen … Ihre Augen weiteten sich plötzlich, und sie spürte, wie sie bleich wurde. Sie fuhr zurück und wandte sich ruckartig ab. Ihr Herz trommelte wie verrückt. Das war unmöglich …

»Sarah?« Bentsen legte eine Hand auf ihre Schulter. »Was ist los? Kennst du ihn? Oder ist dir einfach nur …«

Sie stolperte rückwärts und entfernte sich mit schnellen Schritten. Das war nicht möglich, durchfuhr es sie, ihr Hirn spielte ihr einen Streich, einen bitterbösen noch dazu. Bentsen hatte einen Moment abgewartet, bevor er ihr folgte. »Ist dir übel?«

Sarah starrte ins Leere. »Wir müssen einen Blick in die Papiere werfen«, sagte sie dann, und ihre Stimme klang selbst in ihren eigenen Ohren verzerrt. Sie zitterte. »Ich muss wissen, wer der Mann ist.«

Bentsen drehte sich um und ging hinüber zu den Kollegen. Wenig später trat er mit einem Plastikbeutel zu ihr und reichte ihr Handschuhe. »Sagst du mir jetzt bitte, was dich so aus der Fassung bringt?«

»Gleich. Wie heißt der Mann?«

Bentsen zog einen Dienstausweis aus dem Beutel. »Georg Hansen. Er hat bei der Deutsch-Schwedischen Handelskammer in Stockholm gearbeitet – diesem Ausweis nach zu urteilen.« Er hob den Blick. »Also?«

Sarah atmete tief durch und nickte langsam. »Er sieht aus wie mein Vater.«

Bentsen ließ die Hände sinken. Dann schüttelte er den Kopf. »Eine fatale Ähnlichkeit – so etwas kommt immer mal wieder vor, Kollegin, und natürlich reagierst du heftig nach den Geschichten, die du mit ihm durchgemacht hast.«

Sie nickte. »So wird es wohl sein.« Sie rieb sich mit beiden Händen übers Gesicht. »Tut mir leid, Mikkel. Ich bin nicht gerade eine große Hilfe.«

»Das wird wieder. Du solltest ein paar Stunden schlafen – bis dahin dürften genauere Daten vorliegen, und dann kümmern wir uns um alles Weitere.«

»Es geht schon«, wehrte Sarah ab. »Lass uns einfach weitermachen. Ich brauche nur ein paar Minuten, dann bin ich wieder bei dir.«

»Wie du willst.«

Bentsen wandte sich um und ging zurück zu den Kollegen. Sarah bekam von weitem mit, dass er nach dem Spaziergänger und anderen Zeugen fragte und mit der Dienststelle telefonierte. Es würde nicht lange dauern, bis die Informationslage erste Rückschlüsse ermöglichen würde – dabei spielten die Daten der Verkehrsüberwachung eine Rolle und natürlich die Unterkunft des Opfers. Astrid Larsen würde in der Zwischenzeit alles für die rechtsmedizinische Untersuchung der Kollegen aus Kopenhagen vorbereiten. Womöglich war bald eine Schlussfolgerung auf die Waffe möglich, und vielleicht würden sich Zeugen melden, oder eine erste Auswertung der Spurenlage bot weitere Anhaltspunkte.

Sarah spulte die üblichen Ablaufroutinen vor ihrem inneren Auge ab und beruhigte sich langsam wieder. Doch als einige Stunden später detaillierte Fotos von der Leiche vorlagen, geriet sie erneut aus dem Gleichgewicht. Die Ähnlichkeit war fatal. Nach ersten Erkenntnissen im Laufe des Vormittags hatte Georg Hansen in keinem Hotel eingecheckt. Auch sein Wagen war im Umkreis des Tatorts nicht entdeckt worden. Es war natürlich nicht auszuschließen, dass er eine private Unterkunft gebucht hatte und im Fahrzeug seines Mörders mitgefahren war. Ein Aufruf in den Medien sollte Klarheit bringen. Das zumindest hoffte Bentsen.

Sarah kümmerte sich währenddessen um die Recherche zum biographischen Hintergrund und nahm Kontakt zum BKA in Wiesbaden sowie zu den Kollegen in Schweden auf. Georg Hansens Vita bot wenig Anhaltspunkte, die im Zusammenhang mit einem Mord stehen könnten – zumindest auf den ersten Blick. Seine Akte war sauber – keine Schulden, keine Vorstrafen oder Auffälligkeiten. Der Mann war gebürtiger Freiburger, hatte eine kaufmännische Ausbildung absolviert und später ein Wirtschaftsstudium abgeschlossen. Sein beruflicher Werdegang hatte ihn nach München, Stuttgart und Kiel geführt, vor zwei Jahren hatte er die Stelle in Stockholm angenommen. Er galt als Experte für europäische Wirtschaftsbeziehungen mit dem Schwerpunkt Skandinavien. Seine Ehe war geschieden, die Frau lebte nicht mehr; Kinder gab es nicht. Die Frage war, was Hansen auf Bornholm vorgehabt hatte, falls sein Aufenthalt nichts mit einem Urlaub zu tun hatte. Seine Kollegen würden das hoffentlich bald beantworten können.

Sarah verließ das Kommissariat am späten Nachmittag. Es hatte keinen Sinn, an einem Sonntag auf Rückrufe zu warten oder zu hoffen, dass Anfragen schnell beantwortet wurden. Sie besorgte sich unterwegs etwas zu essen und nahm sich vor, früh schlafen zu gehen. Das Abendlicht kroch bereits über die Terrasse, als sie ihren Laptop noch einmal hochfuhr. Georg Hansen hatte nur dürftige digitale Spuren im Netz hinterlassen. Facebook und Co. hatten ihn nicht interessiert – bis auf eine Handvoll Fotos auf Instagram fand sich nichts, und die Bilder waren nichtssagend und oberflächlich. Ein beruflich erfolgreicher Mann wagte mit Mitte fünfzig den Aufbruch nach Schweden; sein Leben war unauffällig verlaufen, doch es endete mit einem Gewaltverbrechen. Das konnte nur zweierlei bedeuten – er war entweder zufällig Opfer geworden, oder hinter der Biographie verbarg sich eine andere Geschichte.

2

Ein Ferienhausvermieter meldete sich am nächsten Morgen. Sarah war gerade im Kommissariat eingetroffen, als Bentsen ihr mit dem Telefon am Ohr zuwinkte. Er machte sich eine Notiz, beendete das Gespräch und informierte die Technik. »Der Hauseigentümer hatte seinen Bungalow vermietet – über eine private Vermietungswebsite«, erklärte der Kollege. »Er hat die Meldung im Radio mitbekommen. Wir fahren da gleich mal hin.«

»Wohin genau?«

»Nach Hasle.«

Ausgerechnet, dachte Sarah.

Bentsen blickte auf seinen Notizzettel. Plötzlich runzelte er die Stirn. »Das ist ja …« Er hob den Blick. »Wenn mich nicht alles täuscht, ist das die Adresse von …«

Frederik, dachte Sarah. Ein dumpfes Gefühl stieg in ihr auf. »Er hat es verkauft«, sagte sie leise. »Vor gut einem Jahr.«

Bentsen schüttelte verblüfft den Kopf. Dann wandte er sich zum Ausgang. »Lass uns fahren.«

Viel hatte sich nicht verändert, seit Sarah das letzte Mal dort gewesen war – ein kleines Holzhaus, das sich hinter dichtem Buschwerk verbarg und von außen kaum einzusehen war. Doch der Garten wirkte belebter, und die Videoüberwachung war entfernt worden. Das erkannte sie sofort, als sie neben Bentsen das Grundstück betrat und sich unauffällig umsah. Unter dem Carport parkte ein Wagen; auf der Terrasse stand ein Tisch, an dem ein Mann saß – der Besitzer und Vermieter. Ein Mann um die vierzig mit dichtem Haarschopf und hellblauen Augen, er erhob sich und sah ihnen mit angespanntem Gesichtsausdruck entgegen. Nach kurzem Austausch wurde klar, dass Hansen das Haus für eine Woche gebucht hatte und am Vortag abreisen wollte. »Als ich heute Morgen ankam, um nach dem Rechten zu sehen, habe ich entdeckt, dass seine Sachen noch hier waren«, führte der Eigentümer aus. »Dann habe ich Nachrichten gehört, und mir ist klar geworden …« Er fuhr sich durchs Haar. »Wie furchtbar. Er ist ermordet worden?«

Bentsen nickte. »Dürfen wir uns ein bisschen umsehen?«

»Na klar – seine Sachen sind im Zimmer nebenan.«

»Haben Sie viel verändert?«

»Wie meinen Sie das?«

»Nun, Beamte der Kriminaltechnik werden gleich eintreffen und Spuren sichern. Falls Sie schon geputzt haben …«

»Ach so, nein – ich bin nur durch alle Räume gegangen, mehr ist noch nicht passiert.«

Das ist gut, dachte Sarah. Sie blickte den Mann an. »Die Buchung ist privat erfolgt«, ergriff sie in korrektem Dänisch das Wort.

»Richtig.« Er lächelte verlegen und kratzte sich am Hinterkopf. »Wir vermieten gar nicht regelmäßig …«

»Schon gut«, warf Bentsen ein. »Es geht hier nicht um einwandfreie Abrechnungen. Wie hat Georg Hansen Kontakt aufgenommen?«

»Per E‑Mail. Er hat bezahlt, als er ankam – in bar. Er war sehr großzügig und hat noch was draufgelegt. Dafür durfte er meinen Wagen benutzen. Ich bin meistens mit dem Moped oder Fahrrad auf der Insel unterwegs und kann gut und gerne aufs Auto verzichten.«

»Ist der Wagen abgeschlossen?«, fragte Sarah rasch nach.

»Ja – der Schlüssel hängt in der Diele neben der Haustür.«

»Darf ich?«

»Natürlich.«

Sie wandte sich um, griff sich den Schlüssel und ging nach draußen. Der Wagen war gut und gerne zwanzig Jahre alt und verfügte über keinerlei moderne technische Finessen, damit entfielen GPS-Hinweise von Navigeräten oder Ähnliches. Eine Tüte Bonbons lag im Handschuhfach sowie ein Päckchen Taschentücher, und eine Karte von Bornholm mit detaillierten Hinweisen zu touristischen Schwerpunkten war auf dem Beifahrersitz ausgebreitet. Der Rücksitz war leer. Sie wollte gerade aussteigen, als sie eine Tankquittung entdeckte, die zwischen die Sitze gerutscht war – Datum von vorletzter Woche. Sie tastete den Boden unter den Sitzen ab – Staub und Krümel. Eine leere Handyhülle war unter den Sonnenschutz geklemmt und fiel ihr auf den Schoß. Sie war aus Leder und wirkte abgegriffen; den Abmessungen nach zu urteilen war Hansen kein Freund von Smartphones mit großen Displays gewesen – oder die Hülle gehörte ihm gar nicht. Sarah griff hinein und zog eine Visitenkarte heraus. Auf der Vorderseite waren das Emblem sowie die Anschrift eines Lokals in Stockholm aufgedruckt, auf der Rückseite erkannte sie zwei Adressen: Frederiks ehemaliges Blockhaus und ihr Haus in Dueodde.

Sie wusste nicht, wie lange sie blind auf die Karte gestarrt hatte, während ein Dutzend Gedanken gleichzeitig durch ihren Kopf schossen und ihr plötzlich klar wurde, was geschehen war. Sie zuckte zusammen, als Bentsen abrupt die Fahrertür aufzog. »Seine Klamotten sind noch hier, allerdings kein Laptop oder Handy«, erklärte er. »Willst du gleich mal einen Blick werfen oder überlassen wir die gründliche Durchsuchung zunächst mal den Kollegen? Sarah?«, schob er hinterher, als sie nicht antwortete.

Sie hob langsam den Blick, reichte ihm die Karte und stieg aus.

Bentsen atmete scharf ein. »Was ist das denn schon wieder für ein Mist?« Er starrte sie an.

»Gute Frage. Ich werfe mal einen Blick auf die Klamotten«, erwiderte Sarah und ging ins Haus zurück.

Sie musste etwas tun – irgendetwas. Ihre Hände zitterten. Das Mobiliar war nicht großartig verändert worden, wie sie sofort feststellte. Der neue Eigentümer hatte das meiste übernommen. In den Regalen standen nun nicht mehr Frederiks Bücher, es hingen andere Bilder an den Wänden, und die Kommoden waren leer oder mit alltäglichem Kram gefüllt. Dazu fanden sich Hinweise zu Ausflugszielen für Feriengäste und eine Anrufliste mit den wichtigsten Rufnummern im Notfall.

Auf dem Kleiderschrank waren mehrere stabile Kartons verstaut. Offenbar hatte der Eigentümer seine Privatsachen beiseitegeräumt. Ein Karton stand halb auf, und die Einbände von Katalogen und Bildbänden waren zu erkennen, wahrscheinlich Werbematerial von Bornholm. Der Besitzer hatte sicherlich regelmäßig vermietet und meist schwarz abgerechnet, doch das stand hier nicht zur Debatte. Sarah öffnete den Kleiderschrank, die Türen knarzten leise – Freizeitkleidung, Sportschuhe, ein leichter Sommeranzug, ein Schirm. Den wird er kaum gebraucht haben, dachte sie und wandte sich um. Bornholm war die Sonneninsel schlechthin, in diesem Jahr noch mehr als sonst. Hinter der Tür stand ein schicker Rollkoffer, auf dem Nachtschrank lagen Zeitschriften – zwei englischsprachige Magazine zu Finanzthemen, ein deutscher Krimi. Sie blätterte die Seiten durch und wandte sich um, als sie Bentsen an der Tür hörte. »Sarah, was geht hier vor?«

Ein verdammt abgekartetes Spiel, dachte sie.

»Wie kommt der Typ an eure Adressen?«

»Dazu hätte ich eine Idee.«

Bentsen zog die Brauen zusammen.

»Doch zur Untermauerung müssen wir Hansens DNA abgleichen lassen.«

Bentsen verschränkte die Arme vor der Brust. »Das passiert doch ohnehin im Rahmen …«

»So meine ich das nicht.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich will einen inoffiziellen Abgleich. Mehr ist ohnehin nicht drin.«

»Wie meinst du das?«

»Der Tote ist mein Vater.«

Bentsen öffnete den Mund und schloss ihn wieder. »Das ist doch …«

»Unsinn? Oder nicht möglich? Nun, ich denke schon.«

»Und warum willst du einen inoffiziellen Abgleich?«

»Ganz einfach: Weil er offiziell schon seit knapp zwei Jahren tot ist, und niemand wird eine andere Lesart unterstützen und seine Identität bestätigen – weder in Stockholm noch beim BKA. Darauf halte ich jede Wette.«

»Sarah, die Ähnlichkeit hat dich verwirrt, aber bevor du anfängst, wilde Theorien zu entwickeln …«

»Sie haben ihn ins Zeugenschutzprogramm gesteckt und ihm eine neue Identität verpasst, nachdem er ausgepackt hat – ein wenig zumindest«, fuhr sie fort, ohne seinen Einwand zu beachten. »Etliche seiner Kameraden werden für sehr lange Zeit im Gefängnis sitzen. Und genau das war der Deal, auf den sich beide Seiten geeinigt haben«, fuhr sie fort und nickte langsam. »Mein Vater war nicht nur Dänemark- und Bornholm-Fan, Schweden hatte es ihm ebenso angetan. Meine Eltern sind häufig auch dorthin gereist. Er konnte ein paar Brocken Schwedisch, und auch der Job bei der Handelskammer passt hervorragend zu seinen Kenntnissen. Das stimmt an der Stelle also ebenfalls.«

Bentsen schloss kurz die Augen. Dann fuhren Fahrzeuge vor, er zeigte zur Tür. »Die Spurensicherung soll ihren Job machen. Lass uns zurückfahren.«

Dagegen hatte Sarah nichts einzuwenden. Etliche Minuten blieb es still im Wagen. Bentsen ergriff erst wieder das Wort, als sie durch Rønne fuhren. »Wenn du richtig liegst …«

»Ich liege richtig«, entgegnete Sarah schnell. »Der Abgleich wird es bestätigen und …«

»Ja?«

»Das Zahnprofil dürfte auch Aufschluss geben.«

»Sollten wir nicht abwarten, bevor wir uns den Kopf über eine Theorie zerbrechen, die mir gerade verdammt schlechte Laune macht?«

»Ich zerbreche mir meinen Kopf längst – und ich hätte da im Vorfeld noch einen Tipp. Mein Vater hatte vor etlichen Jahren einen Skiunfall mit einem komplizierten Beinbruch und musste damals operiert werden. Frag doch mal die Kollegin, ob es eine entsprechende Narbe am rechten Bein gibt.«

»Werde ich machen.« Bentsen knirschte mit den Zähnen. »Und was schwebt dir bezüglich des inoffiziellen Abgleichs vor? Seine Daten beim BKA dürften gesperrt sein.«

Ich könnte Hannah bitten, nachzuforschen, dachte Sarah. Und da wäre noch meine Mutter. Sie hat sicherlich noch Unterlagen und irgendein Kleidungsstück, auf dem sich ein Haar finden lässt …

Bentsen parkte mit Schwung auf dem Parkplatz hinter dem Kommissariat ein. Er stellte den Motor ab und sah sie an. »Und falls du recht hast …«

»Wenn ich recht habe, wollte er Kontakt zu mir aufnehmen – und zu Frederik. Und ich denke nicht, dass er gekommen ist, um sich mit uns zu versöhnen – ganz davon abgesehen, dass es Frederik und mich als Paar gar nicht mehr gibt.«

»Was hatte er denn sonst hier vor?«

Sie sah auf ihre Hände.

»Sarah – du glaubst doch nicht im Ernst …«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Ich habe dem Mann in den letzten Jahren so ziemlich alles an miesen Taten zugetraut, und ich lag richtig. Fest steht, dass er hinter der Entführung von Frederik gesteckt hat, mit der er und seine Leute gerade mich unter Druck setzen wollten. Ich denke nicht, dass er völlig bekehrt wurde und nun Familienfrieden schließen wollte – am Strand von Dueodde, an dem ich fast perfekte Kinderferien erleben durfte.« Ihr Ton klang plötzlich scharf und zynisch. »Wer soll den Scheiß denn glauben?«

Bentsen biss sich auf die Unterlippe.

»Und noch was, Mikkel. Wenn ich das richtig verfolgt habe, gibt es in Schweden eine rechte Bewegung, die gerade in den letzten Jahren erheblich an Zulauf gewonnen hat. Um deine Frage zu beantworten: Doch, ich halte es für möglich, dass er hier war, um erneut – sagen wir – Unfrieden zu stiften.«

»Aber nun ist er tot – falls er es ist.«

»Offenbar war er nicht allein unterwegs. Jemand hat ihn von seinen Plänen abgehalten.«

Bentsen zögerte noch einen Moment, dann öffnete er die Seitentür. »Ich rede mit Astrid«, stieß er schließlich hervor. »Kümmere du dich um deine Kollegen in Berlin. Aber zuerst brauche ich einen starken Kaffee.« Damit stieg er aus.

Hannah hatte sich nach den letzten gemeinsamen Fällen aus der aktiven Ermittlungsarbeit zurückgezogen. Sie leitete bundesweit Fortbildungen und Seminare zu kriminalpsychologischen Themen und fungierte als Beraterin für die Landeskriminalämter. Das war, wie Sarah wusste, keineswegs ihr erster Versuch, Distanz zwischen sich und der Tätersuche an vorderster Linie zu wahren und mit ihrem Engagement in die zweite Reihe zurückzutreten. Und doch hatte es in der Vergangenheit immer wieder Fälle und Tatermittlungen gegeben, in die sie sich mit ganzer Kraft und viel Herzblut einbrachte. Sarah war fest davon überzeugt, dass es genau diese intensiven Ermittlungen, die sie aufwühlten und nicht zur Ruhe kommen ließen, immer wieder geben würde.

Als sie das letzte Mal miteinander telefoniert hatten, war Hannah in Hamburg zu einer Tagung gewesen, wo sie sich anschließend mit ihrem Lebensgefährten getroffen hatte – auch ein BKA-Mann, den Sarah noch aus ihrer Zeit im Rostocker Team kannte und der inzwischen für die Identifizierungskommission des Bundeskriminalamtes tätig war. Hannah hatte munter und zufrieden geklungen, und sie hatten verabredet, dass sie im Sommer ein paar Tage auf Bornholm verbringen würde, gemeinsam mit Kotti natürlich.

Das wäre doch ein guter Einstieg, überlegte Sarah. Sie besorgte sich einen Kaffee und zog sich zum Telefonieren in ein leeres Büro im zweiten Stock zurück. Hannah nahm das Gespräch sofort an. Das heiter unbeschwerte Einstiegsgeplänkel ging Sarah ihrer eigenen Einschätzung nach sehr gut von der Hand, so dachte sie jedenfalls – bis Hannah in einer Gesprächspause kurzerhand das Thema wechselte. »Okay, Kollegin, was ist passiert?«

Sarah runzelte die Stirn. »Hört man das so deutlich?«

»Natürlich.«

»Du kennst mich ziemlich gut.«

»Ich denke schon. Hinzu kommt allerdings noch, dass sich der Leichenfund auf Bornholm auch schon bis zu uns herumgesprochen hat und ich hellhörig werde, wenn auf der schönen Insel Mordopfer entdeckt werden.«

»Ich verstehe.«

»Ich muss dich nur vorwarnen. Ich habe so gut wie keinerlei …«

»Bei der Leiche handelt es sich um meinen Vater.«

Sarah wartete einen Moment darauf, dass Hannah reagieren und Fragen stellen oder Einwände erheben würde, doch sie blieb still. »Ich bin sicher«, fuhr sie dann fort und berichtete in bemüht neutralem Ton von dem Leichenfund und den ersten Rechercheergebnissen.

Hannah schwieg einen weiteren Moment. »Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass du richtig liegst, selbst wenn die bisherigen Hinweise noch wenig Beweiskraft haben«, erwiderte sie schließlich in ruhigem Tonfall. »Die Ähnlichkeit allein und diese Adressnotizen besagen nicht viel, das muss ich kaum betonen. Dennoch … Wenn ich an den Prozess zurückdenke, könnte damit einiges klarer werden. Der Verlauf hat seinerzeit doch einige Verwunderung ausgelöst – zumindest intern.«

Sarah war verblüfft und erleichtert zugleich, dass Hannah sich kaum anstrengte, Bedenken und Argumente anzuführen, die ihren Eindruck widerlegen könnten. »Ihr habt euch gewundert, dass plötzlich so viel Belastungsmaterial auf dem Tisch lag?«, schob sie nach.

»So in etwa, insbesondere bezüglich mehrerer Anschlagspläne, und selbstverständlich kannten Außenstehende keine Einzelheiten«, fügte Hannah hinzu. »Etliche Sitzungen fanden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, wie du weißt. Doch die Urteile gegen die Truppe waren höchst eindrucksvoll.«

»Stimmt.«

»In dem Zusammenhang würde es mich nicht sonderlich wundern, wenn es einen Deal gab und jemand mit einer neuen Identität ausgestattet wurde, nachdem er wichtige, entscheidende Beweise geliefert hatte. Dass dabei gerade Pirohl die Nase vorn hatte … Also, das ist – oder wäre – schon ein starkes Stück. Er muss dem Gericht einiges angeboten haben.«

Sarah atmete tief ein. »Was ein weiterer Beleg dafür ist, wie tief er in all das verwickelt war.«

»Daran hast du doch ohnehin nicht gezweifelt«, meinte Hannah. »Und jetzt spielt all das auch keine Rolle mehr. Was immer er auf Bornholm vorhatte – nun ist es endgültig vorbei. Du wirst nicht herausbekommen, was dahintersteckt, denn einen Fall Bernd Pirohl wird es natürlich nicht geben.«

»Aber das kann man doch nicht einfach so stehen lassen!«, entgegnete Sarah. »Wir haben hier eine Leiche und …«

»Warte, Sarah«, warf Hannah energisch ein. »Du weißt doch selbst nur allzu genau, dass auch eindeutige Beweise hier nichts mehr ändern können. Selbst wenn es dir gelingt, eine DNA-Probe oder einen Zahnabgleich auf Umwegen vorzunehmen und Pirohls Identität eindeutig zu bestätigen – als Beweis wird es gar nicht erst zugelassen. Das kann sich die Behörde nicht leisten, die deinem Vater im Gegenzug zu wichtigen Informationen betreffend die innere Sicherheit eine zweite Chance gegeben hat. Das wird unter den Teppich gekehrt. Und du kommst in Teufels Küche, wenn du damit an die Öffentlichkeit gehst.«

Sarah schwieg einen Moment und wechselte mit dem Smartphone ans andere Ohr.

»Ihr werdet wahrscheinlich gemeinsam mit den Stockholmern einen Mordfall bearbeiten, bei dem das Opfer Georg Hansen heißt, aus Deutschland stammt und in den letzten Jahren in Schweden gearbeitet hat«, fuhr Hannah fort. »Und einen Täter werdet ihr sehr wahrscheinlich nicht ermitteln können. Das Ganze wird dann zu den Akten gelegt. Und damit ist es dann vorbei – endgültig. Oder das Ganze wird euch sogar vorher entzogen.«

»Das klingt alles sehr …«

»Realistisch und pragmatisch.«

»Ermittlungsalltag.« Sarah blickte zum Fenster hinaus.

»Niemand wird die Katze aus dem Sack lassen.«

»Und doch brauche ich diese letzte Klarheit«, sagte sie dann leise.

»Sarah …«

»Im Übrigen finde ich die Frage nach dem Täter und den möglicherweise besonderen Umständen durchaus berechtigt – ob das Opfer nun Georg Hansen oder Bernd Pirohl heißt. Falls mein Vater sterben musste, weil jemand aus seiner ehemaligen Truppe den Verräter getötet hat, ist es ganz und gar nicht unbedingt vorbei, wie du sagst. Denn selbstverständlich muss ich mich an der Stelle fragen, was die Hinweise auf mich und Frederik sollen.«

»Das kann alles Mögliche bedeuten. Du weißt nicht, wie …«

»Richtig. Aber diese Leute haben uns ja nicht zum ersten Mal ins Visier genommen«, fiel Sarah ihr erneut ins Wort. »Warum sonst ist das Ganze wohl hier passiert? Warum hat man ihn nicht einfach in Schweden ausgeschaltet – auf dem Heimweg oder Zuhause, ganz unauffällig? Warum ausgerechnet auf Bornholm, wenige Meter entfernt von meinem Haus? Ich habe in der Nacht, als er erschossen wurde, am Strand von Dueodde gefeiert, einen Steinwurf vom Tatort entfernt.«

Dazu sagte Hannah eine ganze Weile nichts. »Das klingt schon merkwürdig, das gebe ich zu …«

»Aber?«

»Ich kann in dieser Sache nichts tun. Ich bin raus aus diesen Geschichten. Und das fühlt sich gut an. Ich mache einen wichtigen Job, der mir aber nicht mehr Frieden und Schlaf raubt. Ich kann meine Freizeit genießen und leiste trotzdem meinen Beitrag … Du musst vorsichtig sein, Sarah.«

Die Botschaft war unmissverständlich. Hannah wollte sich nicht erneut mit einem brisanten Fall befassen, schon gar mit einem, über dem erneut der Name Pirohl schwebte und der garantiert eine Menge Ärger und Stress versprach, und sie riet ihr im Grunde zu einer ähnlichen Zurückhaltung, auch wenn der Tatort berechtigterweise Fragen aufwarf. »Ich verstehe«, erwiderte Sarah. »Und ich kann deine Haltung nachvollziehen und respektiere sie. Grüß Kotti und bis hoffentlich bald mal.«

Sie unterbrach die Verbindung, ohne auf Hannahs Entgegnung zu warten, dann schob sie das Handy in die Tasche. Eine leise Enttäuschung machte sich in ihr breit. Sekunden später ging eine Nachricht von Hannah ein. Es tut mir leid. Ja, mir auch, dachte Sarah. Ich wünschte, all das wäre nie passiert, und ich müsste niemanden um Hilfe bitten – oder auch nur um ein offenes Ohr.

Wenig später ging sie hinunter zu Bentsen. Er hatte ihr eine Datei mit dem Zahnprofil geschickt. »Die Sache mit der Narbe stimmt«, bemerkte er leise und trat neben sie.

Sie sah ihn gespannt an.

»Wir sollten einfach unseren Job machen.«

»Das heißt?«

»Ganz einfach: Dein Verdacht bleibt erst mal außen vor – wir behalten ihn für uns.«

Sarah wartete ab.

»Georg Hansen ist ermordet worden«, fuhr Bentsen fort. »Wir ermitteln, recherchieren, sichern die Fakten, soweit sie für uns greifbar sind, das übliche Programm. Mehr können wir zurzeit gar nicht unternehmen. Und glaub mir, das ist die schlaueste Vorgehensweise«, betonte er und nickte ihr zu. »Alles andere wird sich finden, früher oder später.« Das klang eindringlich und fast ein wenig beschwörend. Er hätte auch sagen können: Verbrenn dir nicht die Finger und lass die Sache auf sich beruhen, solange von offizieller Seite keine anderen Hinweise oder Anordnungen vorliegen.

Damit befand Bentsen sich auf dem gleichen Kurs wie Hannah, und sie hatten wohl beide recht, überlegte Sarah. Auch ihm dürfte klar sein, dass die Behörden, die in das Zeugenschutzprogramm involviert waren und nun ein großes Problem bekommen könnten, auf keinen Fall mit offenen Karten spielen würden. Ein ermordeter Kronzeuge konnte alles Mögliche bedeuten, und kein Beteiligter aus Polizeikreisen würde freiwillig zu Fehlern und Pannen aussagen. Das war nichts, was an die Öffentlichkeit dringen durfte. Irgendwo beim BKA und der zuständigen Abteilung in einem LKA saßen jetzt wahrscheinlich einige Beamte, denen es abwechselnd heiß und kalt den Rücken hinunterlief, sobald ihnen aufging, dass Pirohl zum einen durch die Weltgeschichte gereist, zum zweiten einem tödlichen Angriff zum Opfer gefallen war und nicht ausgeschlossen werden konnte, dass seine Tochter ihn wiedererkannt hatte.

Georg Hansens Vita war überzeugend – oberflächlich betrachtet. Die Ergebnisse der Nachforschungen im beruflichen und privaten Umfeld klangen schlüssig, wenn auch insgesamt das Bild von einem Mann entstand, der wenig Kontakte gepflegt und kein sonderlich aktives Leben geführt hatte. Arbeitskollegen in Schweden beschrieben ihn als zurückhaltend. Über seine Urlaubspläne und Reiseziele wussten weder die Büronachbarn noch seine unmittelbare Vorgesetzte etwas. Allerdings sagten sie übereinstimmend aus, dass Hansen bereits einige Zeit zuvor nicht mehr im Büro gewesen war, weil er im Homeoffice gearbeitet habe. Das könnte bedeuten, dass er möglicherweise bereits Wochen zuvor unterwegs gewesen war. Fest stand inzwischen auch, dass er mit der Fähre aus Ystad gekommen war. Das belegte zumindest die Passagierliste. Auffälligkeiten hatte niemand bemerkt.

Hansens DNA wurde wenige Tage später ebenso bestätigt wie das Zahnprofil von seinem Arzt in Stockholm. Das Gesamtergebnis passte zu der neuen Identität, was bis zu diesem Punkt nicht weiter verwunderlich war, weil eine neue Biographie bis in solche Details vorbereitet wurde. Das Profil bekam erst Risse, als Sarah sich die Angaben zur Schul- und frühen Unilaufbahn genauer ansah und einige Kommilitonen persönlich befragte. Niemand erinnerte sich an einen Georg Hansen. Natürlich nicht. Was zur endgültigen Gewissheit noch fehlte, war der Abgleich des Zahnprofils, auch wenn Sarah inzwischen hundertprozentig davon überzeugt war, dass Hansen nie existiert hatte. Sie hielt jede Wette, dass es die entsprechende Akte in der Zahnarztpraxis, bei der ihr Vater seinerzeit in Behandlung gewesen war, nicht mehr gab. Für einen Abgleich blieben demnach nur noch die persönlichen Unterlagen, in deren Besitz ihre Mutter möglicherweise noch war. Sarah hatte nur sporadisch Kontakt zu ihr, und es würde alles andere als einfach sein, entsprechende Nachfragen zu stellen, ohne dass sie verwundert reagierte.

Vielleicht sollte ich es einfach lassen, dachte Sarah. Ich weiß doch längst, dass es seine Leiche war. Warum weitere Beweispunkte sammeln? Und was sollte sie stattdessen tun? Die Hände in den Schoß legen und abwarten, dass etwas passierte? Oder darauf hoffen, dass es vorbei war, ohne dessen ganz sicher sein zu können? Je länger sie darüber nachdachte, desto schlüssiger schien ihr der Ansatz, dass die Leute, die ihren Vater getötet hatten, aus seinen eigenen Reihen stammten – und damit rückte die Gefahr auch für sie wieder näher. Und Frederik hatte womöglich den richtigen Weg gewählt, als er sich entschloss unterzutauchen. Ihn würden sie garantiert nicht aufstöbern.

Eine gute Woche nach dem Leichenfund gab Bentsen einen ersten Zwischenbericht in Kopenhagen ab, nachdem er die Einzelheiten noch einmal mit Sarah und den Kollegen von der Kriminaltechnik durchgegangen war.

Hinweise auf einen Verdächtigen waren nach wie vor Fehlanzeige, auch die Tatwaffe blieb verschwunden – das Projektil stammte aus einer Allerweltswaffe, und die Suche nach Zeugen hatte zu keinerlei Ergebnissen geführt. Auch die rechtsmedizinischen Befunde blieben unauffällig. Abgesehen von der Schussverletzung wies Hansen keine Spuren von Gewaltanwendung auf. Demnach war es denkbar, dass er seinen Mörder gekannt hatte – warum sonst wäre er freiwillig in dessen Wagen gestiegen, noch dazu mitten in der Nacht? Der Täter hatte ihn in sein Fahrzeug gelockt und ihn wenig später am Leuchtturm erschossen, bevor er die Leiche mit einer Plane abgedeckt hatte und verschwunden war.

Sarah machte nach der Abschlussbesprechung Feierabend und fuhr nach Hause. Der große Schock im Angesicht der Leiche war komplett verklungen, auch die anfängliche Aufregung hatte sich im Alltag verflüchtigt, stellte sie während der Heimfahrt fest. Zwischendurch hatte sie mehrfach das eindringliche Gefühl beschlichen, als sei das Ganze ein schlechter Traum gewesen. Dennoch blieb unbestreitbar ein dumpfes Gefühl von drohendem Unheil zurück, das sich auch bei strahlendem Sonnenschein am Strand von Dueodde bemerkbar machte.

Das Smartphone klingelte, als sie aus der Dusche stieg. Sarah stockte einen Moment – die Nummer ihrer Mutter war aufgeploppt –, dann nahm sie das Gespräch an.

»Ich bin es«, erklärte ihre Mutter überflüssigerweise, und sie klang seltsam unsicher.

»Ich weiß. Alles in Ordnung?«

»Ach ja, es geht alles seinen gewohnten Gang.«